Jan Wagner ist Institution. Jan Wagner ist eine Säule im HeldenInnensaal der deutschsprachigen Lyrik. 1971 in Hamburg geboren scheint sich sein Leben schon im Studium ganz auf die Sprache, auf die Lyrik ausgerichtet zu haben, als wäre es ein Plan des Schicksals gewesen, aus dem jungen Studenten damals dereinst einen grossen Dichter zu machen.
Seit mehr als zwei Jahrzehnten als freier Schriftsteller, reiht er Buch an Buch, ob Lyrik oder Prosa, Übersetzungen oder Essay, ob als Dichter oder Herausgeber – niemand, dem Lyrik wichtig ist, wird an Jan Wagner in irgend einer Form vorbeikommen.
Spätestens mit seinem Gedichtband „Regentonnenvariationen“, mit dem er 2015 den Preis der Leipziger Buchmesse erhielt und sich viele die Augen rieben, weil da ein Lyriker mit einem Gedichtband den Preis entgegennahm, wo man eigentlich eher Namen von RomanautorInnen erwartet hätte, ist Jan Wagner in den Olymp der Dichter aufgestiegen. Und weil Jan Wagner zwei Jahre danach auch noch den Georg-Büchner-Preis entgegennehmen durfte, den wahrscheinlich bedeutendsten Preis im deutschsprachigen Raum, scheint es für das was kommen kann, keine Grenzen mehr zu geben.
Dass Jan Wagner die Reise nach Gottlieben unter die Räder nahm, freute nicht nur Heike Brandstädter, meine Mitmoderatorin, Literaturwissenschaftlerin aus Konstanz, und mich ausserordentlich. Es ehrt auch das kleine Literaturhaus am Seerhein. Ich bin sicher, dass der Geist Emanuel von Bodmans, der fast 40 Jahre in diesen Mauern wirkte und vor bald 80 Jahren in diesen Mauern starb, irgendwo im Gebälk dieses ehrwürdigen Hauses mit andächtiger Freude dem Mann zuhörte, der uns einen ganzen Strauss seiner Kunst mitgebrachte. Einem Mann, der es in der Elbphilharmonie in Hamburg schaffte, einen ganzen Saal in Bann zu schlagen und uns hier im beschaulich kleinen Gottlieben mit seinen Gedichten beglückte.
Dass das Literaturhaus die Lesung zu dritt bestritt, nämlich zusammen mit Dr. Heike Brandstädter, war nicht zum ersten Mal ein Glücksfall für das Haus. Sie schafft es, die Welt, das Schaffen des Dichters mit klaren Strichen zu skizzieren und in ihren Fragen, die im Gegensatz zu den meinigen, die stets aus dem Bauch gestellt sind, das notwendige Gewicht zu geben.

Als Jan Wagner zu dichten begann, waren seine Gedichte etwas Neues – heute sind sie unverwechselbar. Er lehrte uns die Wahrnehmung der kleinen Dinge – Dinge, die niemand meint, in den Blick nehmen zu müssen: Teebeutel, Weißkohl und Champignons, Mücken, Servietten und Seife, Krähen, Mais und Tomaten, Melde und Giersch. Auch wenn das eine oder das andere in Gedichten anderer Autor*innen vorkommt, nimmt Jan Wagner sich seine Gegenstände doch so konsequent und systematisch vor, dass man von einem Kaleidoskop sprechen könnte: es geht darum, die schöne Form zu sehen, aber auch das Wesenhafte, das Verwandte, das Assoziierte, auch das Widerständige aus dieser Form herauszuschälen.
Hunderte von Gedichten sind auf diese Weise entstanden.
Ob Natur, Personen oder Dinge: Jan Wagners Gedichte sind nicht nur berühmt dafür, etwas minutiös zu destillieren, sondern durch ihre Beschreibung zugleich etwas anderes zur Darstellung zu bringen. Indem er sich vollständig auf seinen Gegenstand einläßt, kann im kleinsten Fall eine faszinierende, poetische Geschichte entstehen, oft aber zugleich eine übergeordnete Idee oder ein zugrunde liegendes Prinzip erscheinen.
In dem Gedicht „Giersch“, also der Beschreibung eines wuchernden Krauts, könnte man zum Beispiel etwas Aufständisches beschrieben finden oder auch das Subversive oder auch das Prinzip jeder Ideologie, insofern sie ausufert und Alleinherrschaft beansprucht. Diese Richtung: vom kleinen Objekt auf eine übergeordnete Idee oder Struktur – genau so herum und nicht anders – ist geradezu ein Motiv seiner Dichtung. In den Worten Jan Wagners: „Wer ansetzt, ein Gedicht über das Thema ‚Freiheit‘ zu schreiben, mag scheitern. Wer sich ganz auf einen fallen gelassenen weißen Handschuh im Rinnstein konzentriert, wird vielleicht ein großartiges Gedicht über die Freiheit zustande bringen.“
Es ist also das Kleine, das Unscheinbare, auch das Abseitige, Fallen-Gelassene, Periphere, das Jan Wagner aufgreift, verfremdet und uns dadurch Großes über Welt und Gesellschaft, über Politisches und Kulturelles, nicht zuletzt über Wahrheit und Schönheit zu erzählen vermag. Aber so schön sie oft sind, seine Klangwunder und Sprachspiele – sie sind nicht stromlinienförmig, idyllisch oder gefällig. Unter der glatten Oberfäche blitzt immer auch etwas Verstörendes, Bissiges, Finsteres auf. Und: sein virtuoses Spiel mit der Sprache hat immer auch einen Gegenpart, nämlich die strenge Form. Gottfried Benn hat einmal gesagt: „..nicht das Inhaltliche, sondern die Form ist das Eigentliche an einem Gedicht.“ Die strengen Formen der Gedichte Jan Wagners stammen aus Antike und Klassik, aus Orient und Okzident: Haiku und Ghasel, Hymne, Ode und Elegie, Anagramm und Sonett. Oft werden diese Formen bereits mit dem Titel verraten: elegie für einen lateinlehrer, requiem für einen friseur, kleiner krähenhymnus, krähenghasele, angel-ode, selbstporträt mit bienenschwarm.
Neben die strengen Formen der Dichtkunst treten mit dem Requiem, dem Porträt auch Formen der Musik und der bildenden Kunst. Ein Gedicht ist dann auch ein Musikstück oder ein Gemälde. Ein wenig furchteinflößend sind sie immer, solche Formen, scheinen sie sich doch an Gebildete zu richten. Aber: Jan Wagner setzt sie mit einem Augenzwinkern, er setzt sie spielerisch ein – und vielleicht wählt er sie sogar, um sie im Spiel zu unterlaufen.
Das Motto für das aktuelle Programm des Literaturhauses Thurgau stammt von Jan Wagner: „Das Wunderbare am Schreiben ist, dass man reisen kann, ohne das Haus verlassen zu müssen.“ Dieses Bonmot kann man in zweifacher Weise abändern, nämlich im Sinne des Lesens wie auch des Vorlesens. Es lautet dann: Das Wunderbare am Lesen wie auch am Vorlesen ist, dass man reisen kann, ohne das Haus verlassen zu müssen. Dr. Heike Brandstädter

«Noch sitze ich auf dem prachtvollen Holzbalkon des Gästezimmers mitten zwischen den Baumkronen, auf dem ich gestern Nacht, rauchte ich noch, stundenlang hätte rauchen mögen, und trinke einen Kaffee, ergänzt durch ein ofenwarmes Gipfeli aus dem hübschen Laden nebenan. Dauerhaft Wärme spendete allerdings Eure Gastfreundschaft, der herzliche Empfang, der von Euch gestaltete und rundum beglückende Abend; ein bißchen von diesem Wärme- und Wohlgefühl hoffe ich gen Norden, nach Berlin retten zu können.» Jan Wagner am Morgen nach der Veranstaltung im Literaturhaus Thurgau

„Die Jungfrau“ – Der neue Roman von Monika Helfer
Bei zwei Fahrspuren in einer Richtung gehört die linke ganz aussen den unzähligen Motorrädern, auf den manchmal auch eine vierköpfige Familie mit Hund fährt. Die Spur rechts dem Rest, den noch schnelleren Schlafbussen, den klapprigen Lastwagen, all den grossen und kleinen Taxis und all den „Normalen“. Öffentlichen Verkehr, staatlich organisiert und finanziert, gibt es nicht. Die eine, einspurige Eisenbahnlinie, die aber in Saigon endet! Wer in Vietnam reist, nimmt den Fernbus, wer sich sonst fortbewegt, ein motorisiertes Vehikel. Fahrräder sieht man kaum noch, Fussgänger schon gar nicht.
Einen der Stopps machen wir an einer Busraststätte. Bus an Bus parkiert vor einer riesigen Halle, in der man essen, sich erleichtern und immer auch ein bisschen shoppen kann. Eigentliche Fressmaschinen. Nicht anders als auf Schweizer Autobahnraststätten. Nur die Färbung ist eine ungewohnte.
Am späten Nachmittag erreichen wir Ho Chi Minh Stadt – Saigon. Ein Moloch. Bald 10 Millionen Einwohner. Die Luft stinkt, im Einbahnverkehr spült es den Verkehr durch die Stadt. Wer sich als Fussgänger fern eines Zebrastreifens mit Ampel über die Strasse will, muss sich trauen und rennen. Freiwillig hält niemand, man verringert nicht einmal das Tempo. Auf der Strasse herrscht das Gesetz des Stärkeren. 
Aber weil es der letzte Tag in der südlichsten, grösseren Stadt Ca Mau war und uns der Bus nach Saigon zum Flughafen am nächsten Morgen schon um sechs vor dem Hotel einsammeln wird, wagte ich mich nachmittags noch einmal hinaus in die feuchte Hitze.
Es gibt sie überall, die entzückenden Details, aber man muss sie sehen, nach ihnen suchen oder den Ausschnitt wählen. Ganz in der Nähe unseres Hotels befindet sich der „Vogelpark“, wohl eher einer der unzähligen Parks im Land zu Ehren Ho Chi Minhs, dem eigentlichen Landesvater Vietnams (1890 – 1969, vietnamesischer Revolutionär, kommunistischer Politiker und von 1945 bis zu seinem Tod Präsident der Demokratischen Republik Vietnams). Prächtig angelegt, aber zu grossen Teilen verkommen und kurz vor dem „Kollabieren“. Stehendes Wasser stinkt und von den Vögeln auf verblichenen Plakaten ist keiner geblieben, zumindest habe ich keinen gesehen. Der Park wurde wohl einst als zukünftige Sehenswürdigkeit der Stadt angelegt. Aber weil die erhofften Touristenströme ausblieben, verkommt nicht nur der Park, auch die Promenade am Fluss, das Shoppingcenter oder das Hotel, in dem wir logieren.
Wir spazieren der Hauptstrasse entlang. Die Läden sind vielfältig, vom Süsswarenhersteller über Apotheken alle paar hundert Meter, Handwerksschuppen, Möbelgeschäfte, offene Schlachtereien (an einem Stand sitzen mehrere Frauen um ebenso viele Plastikwannen und zerschneiden mit Scheren Frösche), Läden für Monsterkühlschränke und Tresore, Textilgeschäfte hinter Schaufensterpuppen mit westlichen Gesichtern und Läden, bei denen zumindest meinerseits nicht eruierbar ist, was die Produktpalette ausmachen soll.
Und überall Imbiss- und Verpflegungsmöglichkeiten, die einen angeschrieben mit „Café“, aber der Kaffee ist mit Eis, gesüsst mit Zucker und Kondensmilch, klebrig geil.
Wer zu Fuss geht und einen Blick hinter Absperrungen, Sichtsperren oder in kleine Gassen wirft, sieht als biederer Schweizer Dinge, die einem mehr als nachdenklich machen; nicht nur die komplett schimmelschwarzen Gebäude, nicht nur all der liegengebliebene Müll, sondern die Ahnung, dass dort Menschen leben, Kinder aufwachsen und bei Regen eine trübe Suppe fliesst.
Ich werde morgen in den Bus steigen und Tage später mit Sicherheit ungläubig den idyllischen Ausschnitt vieler Fotos bewundern.
Zumindest in den europäischen Sommermonaten ist der Süden Vietnams ein Land mit feuchtem Klima, schwülheissen Temperaturen und sintflutartigen Niederschlägen. Kein Wunder wächst in diesem Treibhausklima alles fast von selbst. Alle Arten von Früchten werden an jeder Ecke angeboten und es scheint Menschen zu geben, die ihren Lebensunterhalt mit einem Kleinststand mit drei Büscheln Bananen verdienen, während in Supermärkten, in den ich in der Schweiz meine Früchte kaufen würde, das Angebot an frischen Früchten eher bescheiden ist.
Aber es wachsen auch unliebsame Dinge. Nicht nur viele Hausmauern sind schwarz vor Feuchtigkeit und Schimmel. Feuchtigkeit und Schimmel hocken überall, selbst in den Bustaxis. Von den Hotels, in denen wir einquartiert waren , und die aus vietnamesischer Sicht bestimmt zu den besseren gehören, war nur ein einziges ohne Schimmel. Und wahrscheinlich nur deshalb, weil jenes Hotel noch nicht lange seine Dienste anbietet. Der Schimmelbefall ist in manchen Zimmern derart hoch, dass wir uns gezwungen fühlten, das Zimmer, manchmal gar das Hotel zu wechseln. In einem Zimmer schien der Schimmel beim Einschalten der Klimaanlage förmlich aufs Bett zu regnen.
Fast alles ist klimatisiert. Aber wenn man sich wie wir abseits vom Tourismus bewegt und all die Blechverhaue sieht, in denen die Menschen leben, die sich ein Kühlaggregat gar nicht leisten können, höchstens einen Ventilator, von denen überall welche stehen, wundert man sich nicht, dass eine westlich orientierte Bauweise in diesem Klima nur schwer funktionieren kann. Früher waren wohl alle Behausungen hier luftdurchlässig, offen, wie die Tempel auch, die ein erstaunlich frisches Klima verströmen.
Die Menschen ganz im Süden, wo die Niederschläge noch häufiger sind, nehmen Regenschübe mit stoischer Gelassenheit. Wenn man überhaupt reagiert, unterbricht man seine Arbeit im Freien. In der Stadt besitzen die meisten Motorradfahrer einen Plastikregenschutz und Fussgänger unter einem Schirm sieht man sowieso nicht. Warum sollte man zu Fuss gehen, wenn es leichter und schneller mit einem Motor geht. So sind in den Städten „Fusswege“ entlang von Strassen auch sehr oft mit Verkaufsständen, Motorrädern, Abfall oder sonstigem zugestellt. Ein Vorbeikommen zu Fuss unmöglich. Wasserpfützen in Strassen wird, wenn überhaupt möglich, mit grösster Vorsicht ausgewichen, weil niemand weiss, wie tief die Untiefen darunter sind.
Unsere Gastgeber ganz im Süden, die ihren Lebensunterhalt mit Fischzucht mitten im Wasser, einem einst angelegten System aus Dämmen, Teichen und Kanälen verdienen, fragte ich einmal, wie sie die Klimaveränderungen feststellen. Trotz Dolmetscher schien man meine Frage nicht zu verstehen. Vietnam ist im Aufbruch. Man versteht sich als Gesellschaft am Anfang einer „glorreichen“ Zeit. Ich bin mir nicht sicher, wie sehr sich die Menschen in der Propaganda ihrer kommunistischen Regierung verfangen haben. Es gibt nur den Weg nach vorne, zu welchem Preis auch immer.

Kaum angekommen, giesst sich der alte Mann von seinem bitteren Tee ein. Hinter dem Haus ein Hühnerstall und in der Verlängerung des Wohnhauses ein länglicher Verschlag aus Holz und Palmenblättern mit weiteren Schlafräumen, Vorratskammer und der immer gleichen Küche. Ein Gasherd auf einem Tisch, die eigentlichen Arbeiten aber passieren auf dem Boden. Ein tönerner Kübelgrill neben der Gastgeberin, die mit Stäbchen das Fleisch wendet und gleichzeitig Gemüse rüstet. Kaum angekommen machen sich alle Frauen an die Zubereitung des Essens.
Die Männer kümmern sich ums Bier, frischen Tee und wichtige Gespräche, bei denen der alte Herr der Hauses an seiner „Damenzigarette“ nippelt.
Ich bin während der ganzen Reise hin und hergerissen, fasziniert und schockiert, begeistert und geprügelt. Am schlimmsten ist der untypische Schweizer, der sich auch ungefragt immer wieder meldet, der Selbstverständlichkeiten markiert, die hier nicht gelten. Vietnam mahnt mich, die Klappe zu halten. Was weiss ich schon!

Die Schwester unserer Gastgeberin ist hier im Süden Besitzerin einer Fisch-, Krabben- und Crevettenzucht und lud uns für zwei Tage zu sich ein. Kaum da, schaue ich zu, wie Jungfische aussortiert und für den Transport verpackt werden. Später lädt man mich ein, mit einem kleinen, schmalen Ruderboot die ausgelegten Krabbenfangkörbe mit Fischköder anzufahren. Kleine Sagexbojen markieren die Körbe. Die Ausbeute ist klein, das interpretiere ich aus den vietnamesischen Kommentaren meiner Begleitung. Kleine Tiere wirft er zurück ins Wasser, genauso die Weibchen. Allen grossen Männchen geht es wörtlich an den Kragen. Er bindet die Scheren, vor denen sich auch der Profi in Acht nimmt. Später sehe ich zu, wie er gefangene Krabben von gestern in die kochende Suppe wirft. Drei Sekunden dauert der Todeskampf. Eine Stunde später lange ich am Tisch trotzdem zu und knacke die orange-rot gewordenen Panzer. Wahrscheinlich war der Bootstripp auch mehr für mich als aus wirtschaftlichen Gründen.
Hier wachsen Ananas am Stassenrand, Sternfrüchte gleich neben dem Eingang. Kein Karaokelärm, kein Gehupe, kein Dieselrauch, nur ab und zu das laute Knattern der Boote, deren Motoren wie überdimensionale Stabmixer das Wasser quirlen. Hier sitzen die Menschen zusammen, plaudern, reden und sticheln. Hier lacht man. In den Städten ist es, als ob das Smartphone alles ersetzt, selbst bei den Kindern das Spielzeug
Die Männer sitzen um einen der runden Tische, rauchen, trinken Tee mit Eis, später dann Bier. Während es am Tisch staatsmännisch zu und her geht, geht in der Küche die Post ab. Man lacht, jauchzt, macht Witze und wenn der Schweizer in der Küche erscheint und mit Gesten seine Bewunderung für das bereits Zubereitete zeigt, kichern die Frauen.
Bei den Männern zirkuliert ein Papier. Man erklärt, dies sei die Rede für den Jubilaren, aber der Redner weigere sich, das Geschriebene vorzutragen, weil zu viel „schöngeschrieben“ sei. Man diskutiert und streicht und schlussendlich trägt einer der vielen Brüder der Gastgeberin den Lobpreis vor. Anschliessend Fotoshootings mit dem Gefeierten, der auf seinem Schoss all die Flugpostumschläge mit Geld festhält.
Die Vorbereitungen dauern noch. Ein junger Mann wäscht mit Mineralwasser Pilze vor dem Haus. Wenn die Flaschen leer sind, wirft er sie ins mannshohe Grün gleich nebenan. Ich mache einen kleinen Spaziergang (Vietnamesen machen keine Spaziergänge). Von dem einstigen Paradies ist nicht viel übrig geblieben. Hier steht ein neueres Haus, dort gammelt ein verlassenes vor sich hin. Überall Abfall, viel Plastik und Sagex. Das Wasser in den ehemals angelegten Teichen ist braun. Man sieht keine Vögel, kaum Tiere, nur Hühner. Bauruinen und Strassen ins Nichts.
Vor dem eigentlichen Essen wird der vor vielen Jahren verstorbenen Mutter gedacht. Auf einem kleinen Tisch vor der Vitrine mit ihrem Bild tischt man auf und verbeugt sich mit einem Räucherstäbchen in der Hand mehrfach vor Tisch und Bild, verharrt einen Moment, die Andacht ist spürbar. Es scheint, als wäre sie die eigentliche Jubilarin.
Man bittet mich zu Tisch. Es gibt einen Gästetisch, zwei Männertische, zwei Frauentische. Wieder bestimmen die Frauen die Feierlaune. Sie johlen und kreischen. Die Männer bitten mich zu sich. Immer und immer wieder wird mit Bier angestossen, als wolle man mich in einen Rausch stossen. Dazwischen ein Selfie mit mir hier, eines dort. Immer wieder zischt die Öffnung einer Bierdose, bis drei davon vor mir stehen, die ich im Unterschied zu den Einheimischen aus Furcht vor unliebsamen Nachwirkungen ohne Eis, direkt aus der Dose lauwarm trinke.
Was dann auf dem Programm steht, ist für meine Ohren ziemlich unverträglich. Nicht aus ästhetischen Gründen, sondern aus akustischen. So wie es die Vietnamesen grell und bunt lieben, so lieben sie es laut und emotional. Karaoke. Was ursprünglich aus Japan kam, ist hier fester Bestandteil einer Feier geworden. Im Vorraum des Hauses steht ein riesiger Lautsprecher mit einem Bildschirm, den man mit Draht an die Wand gehängt hat. Die Songs der Neuzeit sind triefend und die Gesten der Interpreten auf dem Bildschirm theatralisch. Die Lieder aus der vietnamesischen Tradition für meine Ohren fremd, manchmal schräg, aber viel einfacher, meist nur Gesang mit Saiteninstrumenten. Was mir Mühe macht, ist die Lautstärke. Nicht erst hier am Fest beim Karaoke. Auch in Restaurants ist es laut, in Hotellobbies, auf Booten (wobei es dort der Motor ist, der jedes Gespräch unmöglich macht). Eine der Verwandten singt sicher und mit Esprit, lässt sich auch nicht zweimal bitten, wenn man ihr eines der Mikrofone hinhält.
Mit in der Runde ist der über neunzigjährige Vater. Ein schmaler Mann ohne Zähne, mit wachem Blick und unstillbarem Bedürfnis, sich seinen fremden Gästen mitzuteilen. Natürlich vietnamesisch! Der Sohn der Gastgeberin übersetzt. Manchmal fordert er uns einfach auf, Sätze oder Satzfetzen zu wiederholen: „Leidenschaft, Gesellschaft“, „An der Gesellschaft teilhaben“, „Zwei Menschen sprechen“… Er war früher Soldat, später Beamter. Auf der Vitrine mit grossem Bildschirm steht ein retuschiertes Foto seiner verstorbenen Frau mit drei elektrischen Räucherstäbchen davor. Darüber huschen Gekos über die Wand und fressen von den kleinen Insekten, die durch das Licht angezogen werden. Tiere, die wie bei Stubenfliegen. Auf dem kleinen Tisch vor dem alten Mann giesst dieser immer wieder kalten Tee ein, bietet uns welchen an, bitter und gesund!
Etwas später fahre ich mit meinem vietnamesischen Begleiter durch die Stadt, mit einem viel zu kleinen Helm (Dickschädel wie der meinige!) und einem Regenponcho im Rucksack. Zum ersten Mal in diesem Jahrtausend fahre ich Sozius auf einem Motorrad. Und schon gar nicht auf vietnamesischen Strassen vom Haus am Stadtrand von Ca Mao ins Zentrum. Wir wollen „shoppen“! Speziell genug, dass in den Strassen Markenprodukte verkauft werden, die sich die meisten VietnamesInnen niemals leisten können, neben Geschäften, in denen Kunstfaserkleider für Spottpreise auf KonsumentInnen warten. Ein Arbeiter soll nicht viel mehr als 200 Franken verdienen, eine Ärztin 1000. Als wir dann doch noch ein Geschäft betreten, in dem Süssigkeiten verkauft werden, verbeugt sich Verkäufer und Kassenfrau gleich mehrfach. Ist hier der Kunde noch König? Hier in diesem Geschäft schon, sonst aber eher als potenter Fremdling mit eigenartigen Gewohnheiten und permanent suchendem Blick. 
Die Hitze bietet kaum eine Pause, auch in der Nacht nicht. Selbst ein Wind ist nicht auffrischend, höchstens ein Regenguss, von denen es im Süden reichlich gibt. Einheimische wohnen deshalb nicht in geschlossenen Räumen. Als einer der vietnamesischen Führer uns zu seiner Familie einlud, empfing man uns freundlich und grosszügig und liess uns auch einen Blick in Haus werfen. Alles ist offen und im Gegensatz zur Umgebung so sauber wie nur irgend möglich. Das Wohnzimmer jener Familie soll repräsentieren, die Erfolge einer ganzen Sippe zeigen.
Die älteren Leute kommunizieren meist nur durch scheue Blicke. Dafür sind die Gesichter der Kinder umso freundlicher. Und weil sie einige Brocken Englisch sprechen, sind die beiden immer wiederkehrenden Fragen jene nach der Herkunft und nach dem Namen. Kinder winken und lächeln einem zu, selbst mir, von dem man sagt, ich hätte einen ernsten, fast grimmigen Blick.
Hotels gibt es, zumindest dort, wo ich mich meistens aufhalte, wie Sand am Meer. Meist in die Jahre gekommen, viel Schein, mit ein paar Zimmern übereinander an der Front zur Strasse. Nur jene Zimmer haben Fenster, die sich wohl öffnen lassen aber ganz offensichtlich nicht dafür gedacht sind. Die meisten anderen Zimmer sind fensterlos, mit mehr oder weniger lauten und schimmligen Klimaanlagen. In einem unserer Hotelzimmer versuchten wir eine Nacht ohne Klimaanlage. Zumindest für mich war es ein erfolgloser Versuch. Lieber ein bisschen Schlaf mit einem Duett an Gebrumm von Kühlschrank und Klimaanlage, als stickig feuchtwarme Luft und das Gefühl wegzuschmelzen. Aber ein Hotelzimmer ohne Fenster mit bescheidenen Ausmassen vermittelt schnell ein klaustrophobisches Gefühl. Wenn man aber durch die Strassen fährt, verraten Blicke nach rechts und links, dass die meisten Einheimischen in solchen Höhlen leben und Klimaanlagen Normalausstattung sind, die sich nicht zur Unterschicht zählen müssen. Unvorstellbar, was Klimaerwärmung und Klimaveränderungen in diesen Breitengraden anrichten werden.
Infolgedessen brauchte es einige Zeit, bis sich mein Schlaf an die klimatischen Bedingungen anpasste, ebenso wie mein Magendarmtrakt, meine Lust morgens auf einen Kaffee mit Schäumchen, ein Glas Wein am Abend, kross gebackenes Brot und vieles andere. Und wenn einem dann bewusst wird, dass die meisten Einheimischen auf dem Boden oder in einer Hängematte schlafen, ist meine Anpassung an örtliche Gegebenheiten minim.
In einem der Hotels in der Stadt Cá Mao, nicht weit vom Mekong, das Personal äusserst freundlich und hilfsbreit, wenn auch dem Endlichen noch weniger mächtig als ich selbst, nahm ich, wie oft in Hotels sonst die Treppe und nicht den Lift, wollte mir in den Morgenstunden, weil ich das Gefühl hatte, keinen Schlaf mehr zu finden, die Füsse in den Strassen vor dem Hotel vertreten. Aber weil die Besitzerfamilie in der untersten Etage hinter der Rezeption wohnt, führte der Weg direkt durch die Küche der Familie, wo eine junge Frau in Hoteluniform unter einer leichten Decke in einer Hängematte schlief. Auch in der Rezeption, wo die Rollläden noch geschlossen waren und mir bewusst wurde, dass ich mit meiner Absicht wohl noch warten musste, schlief ein junger Mann mit der selben Uniform auf der einen grossen Ledercouch, die den Gästen sonst zum Warten diente. Noch so ein kleiner Hieb in Richtung Selbstverständnis.