Übers Wasser fliegen

Unser letzter Ausflug. Zusammen mit der Gastgeberin dürfen wir ihren Vater zu seinem Zuhause bringen. Eine Fahrt mit dem Boot, einem „Boot des langen Schwanzes“. Eine Fahrt in höllischem Tempo, angetrieben von einem 42 PS-Motor am Ende „des Schwanzes“. Potenz total!

Wir sitzen auf dem Boden des Bootes und als es wie befürchtet zu regnen beginnt, wird eine Plastikfolie über alle gebreitet und die Reise geht nicht weniger schnell weiter. Während der alte Vater in stoischer Ruhe neben dem knatternden Motor sitzt, meldet sich beim ungelenkisch gewordenen Schweizer der Rücken und die Sorge, die Reise unbeschadet zu überstehen. In meinem ganzen Leben bin ich noch nie derart schnell übers Wasser geflogen!

Keine Strasse, nicht einmal mit einem Motorrad erreichbar. An einem Seitenarm des Cửa Lớn Rivers. Wer hier einkaufen will, winkt das Boot zu sich, auf dem die wichtigsten Dinge verkauft werden, was Fluss und Garten nicht hergeben. Der 93jährige wohnte schon mit seiner vor 16 Jahren verstorbenen Frau hier. Ihr Grab liegt hinter dem Haus. Und weil der alte Mann aber nicht mehr alleine leben kann, wohnt ein geschiedener Sohn mit seiner Tochter hier. Hier gibt es kein Wlan, ein einfaches Klohäuschen neben dem Haus und auf der anderen Seite des Hauses unter Dach und vor Regen geschützt ein niederer Tisch, der auch als erhöhter Schlafplatz genutzt wird.

Kaum angekommen, giesst sich der alte Mann von seinem bitteren Tee ein. Hinter dem Haus ein Hühnerstall und in der Verlängerung des Wohnhauses ein länglicher Verschlag aus Holz und Palmenblättern mit weiteren Schlafräumen, Vorratskammer und der immer gleichen Küche. Ein Gasherd auf einem Tisch, die eigentlichen Arbeiten aber passieren auf dem Boden. Ein tönerner Kübelgrill neben der Gastgeberin, die mit Stäbchen das Fleisch wendet und gleichzeitig Gemüse rüstet. Kaum angekommen machen sich alle Frauen an die Zubereitung des Essens. Die Männer kümmern sich ums Bier, frischen Tee und wichtige Gespräche, bei denen der alte Herr der Hauses an seiner „Damenzigarette“ nippelt.

Bei der umständlichen Frage an die ca. 12jährige Tochter des Onkels, der hier wohnt, erfahre ich, dass Kinder wohl zur Schule gehen, die Eltern aber für alles bezahlen müssen. Kinder armer Eltern gehen nicht zur Schule, bleiben Analphabeten. Folglich sind die Chancen, aus dem Kreislauf der Armut aussteigen zu können, klein. Die meisten aus der Familie gehören zur Mittelschicht. Auf der Fahrt mit dem Boot oder mit dem Auto wird ziemlich schnell klar, dass viele weit ärmer sind. Viele haben nicht einmal ein fixes Dach über dem Kopf und schlafen in Blechherbergen in denen Duzende Hängematten nächteweise gemietet werden. Am Fluss bei der rasanten Vorbeifahrt sehe ich Verhaue aus Blech, die einen nächsten Sturm nicht zu überstehen scheinen.

Ich bin während der ganzen Reise hin und hergerissen, fasziniert und schockiert, begeistert und geprügelt. Am schlimmsten ist der untypische Schweizer, der sich auch ungefragt immer wieder meldet, der Selbstverständlichkeiten markiert, die hier nicht gelten. Vietnam mahnt mich, die Klappe zu halten. Was weiss ich schon!