Der Schweizer macht sich auf – wird aufgemacht.

Die Welt hier scheint in einem anderen Takt zu ticken. Es scheint auch ein anderes Selbstverständnis der Arbeit zu herrschen. Überall Sicherheitsleute, Polizisten, Taxifahrer, Verkäuferinnen, die warten. Eine Eigenschaft, die mir immer schwerer fällt.

Ca Mau ist eine Stadt ganz im Süden Vietnams. Hier liegt das Zentrum des Crevettenhandels weltweit. Ursprünglich war geplant, unsere kleine Reisegruppe im Haus einer vietnamesischen Familie einzuquartieren. Aber weil auch dort die Zimmer ohne Fenster, die meisten ohne Klimaanlage und überall voller Schimmel sind, werden wir auf der anderen Seite der Stadt in ein überdimensional scheinendes Hotel einquartiert. Gerade weil die Gastgeberin untröstlich ist, lädt sie uns trotzdem zu sich ins Haus zum Essen ein. Natürlich Fisch, Gemüse, Tofu und Früchte. Ein köstliches Mahl, das die Gäste ganz selbstverständlich zuerst am runden Tisch im Vorbau begleitet vom Zirpen unzähliger Grillen geniessen dürfen. Erst wenn alle Gäste satt im Wohnzimmer auf Sofas und Hängematte verdauen, setzt sich die Gastgeberin mit ihren Helferinnen und Helfern an den Tisch.

Mit in der Runde ist der über neunzigjährige Vater. Ein schmaler Mann ohne Zähne, mit wachem Blick und unstillbarem Bedürfnis, sich seinen fremden Gästen mitzuteilen. Natürlich vietnamesisch! Der Sohn der Gastgeberin übersetzt. Manchmal fordert er uns einfach auf, Sätze oder Satzfetzen zu wiederholen: „Leidenschaft, Gesellschaft“, „An der Gesellschaft teilhaben“, „Zwei Menschen sprechen“… Er war früher Soldat, später Beamter. Auf der Vitrine mit grossem Bildschirm steht ein retuschiertes Foto seiner verstorbenen Frau mit drei elektrischen Räucherstäbchen davor. Darüber huschen Gekos über die Wand und fressen von den kleinen Insekten, die durch das Licht angezogen werden. Tiere, die wie bei Stubenfliegen. Auf dem kleinen Tisch vor dem alten Mann giesst dieser immer wieder kalten Tee ein, bietet uns welchen an, bitter und gesund!

Aus unserem Hotel machen wir einen kurzen Spaziergang. Erste Station ein Supermarkt gleich ums Eck. Er steht alleine an der Strasse, als hätte man ihn vergessen oder an den falschen Ort hingebaut. Ein kleiner Laden mit den Dingen des täglichen Gebrauchs: Chips, Putzmittel, Hygieneartikel, Getränke (kein Alkohol!). Keinerlei Frischprodukte, nichts. Ich kaufe scharfe Chips mit Fischgeschmack und einen Fünfliterkanister Mineralwasser.  Über dem Feld ein „Retortenquartier“ mit lauter identischen Häusern in kolonialem Stil, rechtwinklig angeordnet, junge Bäume entlang den geraden Strassen. Jedes zehnte Haus ist ein Café, davon zwei Drittel geschlossen, einige Häuser bloss Hüllen, daneben ein Einkaufszentrum mit Kino, halb leer mit Personal, dass seit Jahren auf Kundschaft zu warten scheint. Alles in diesem Quartier wuchs einmal schnell und mit viel Enthusiasmus. Man hatte Pläne. Wahrscheinlich wie vieles hier mit chinesischem Geld.

Etwas später fahre ich mit meinem vietnamesischen Begleiter durch die Stadt, mit einem viel zu kleinen Helm (Dickschädel wie der meinige!) und einem Regenponcho im Rucksack. Zum ersten Mal in diesem Jahrtausend fahre ich Sozius auf einem Motorrad. Und schon gar nicht auf vietnamesischen Strassen vom Haus am Stadtrand von Ca Mao ins Zentrum. Wir wollen „shoppen“! Speziell genug, dass in den Strassen Markenprodukte verkauft werden, die sich die meisten VietnamesInnen niemals leisten können, neben Geschäften, in denen Kunstfaserkleider für Spottpreise auf KonsumentInnen warten. Ein Arbeiter soll nicht viel mehr als 200 Franken verdienen, eine Ärztin 1000. Als wir dann doch noch ein Geschäft betreten, in dem Süssigkeiten verkauft werden, verbeugt sich Verkäufer und Kassenfrau gleich mehrfach. Ist hier der Kunde noch König? Hier in diesem Geschäft schon, sonst aber eher als potenter Fremdling mit eigenartigen Gewohnheiten und permanent suchendem Blick.