5. Randnotiz: Vogel im Spiegel

Vogel im Spiegel

Morgens und abends fliegt eine Elster aufs Nachbargrundstück und setzt sich auf den Aussenspiegel des schwarz glänzenden BMWs. Dort sitzt sie und flirtet mit ihrem Spiegelbild, flattert wild mit ihren Flügeln, vielleicht sogar ein unbeholfener Paarungsversuch mit ihrem Spiegelbild. Jeden Morgen und jeden Abend. Aber eine ähnliche Beobachtung mache ich auch mit den menschlichen Eitelkeiten. Keine Ahnung, wann ich das innige Interesse an meinem Spiegelbild verloren habe. Allenfalls am Morgen noch einen Kontrollblick. Am Abend laufe ich zum Zähneputzen lieber im Obergeschoss herum. Hernach ein Kontrollblick, ob aller Zahnpastaschaum weg ist. Aber wenn ich durch die Strassen der Stadt gehe, dann ist es bei weitem nicht die Elster allein, die sich am liebsten mit dem Spiegelbild paaren möchte, die sich übermässig für ihr Spiegelbild interessieren. Und es sind nicht nur die Jungen, die sich in allen verfügbaren Scheiben, Spiegeln, Schaufenstern und Gläsern betrachten, posieren, im Vorübergehn die Frisur korrigieren, mit den Fingerspitzen die Strähne hinters Ohr schieben, den Kopf um Zentimeter höher tragen, die Brust um Nuancen vorgestreckt. Im Zug nachts der Geck, der sich an der Eingangstür in den schwarzen Fenstern die gelverstärkten Strähnen zurechtzupft, die Kapuze im Nacken richtet. Der Vogel ist nicht allein, der Vogel am Spiegel meines Nachbarn.

Gallus Frei-Tomic

4. Randnotiz: Das Loch

Das Loch
Im Zentrum klafft ein weites Loch. Trockener Staub brennt in meinen Augen, wenn ich an der riesigen Baustelle vorbeiradle. Männer, vorwiegend älteren Semesters, stehen am Absperrgitter und schauen ins Treiben auf dem Grund dessen, was einmal ein neues Einkaufszentrum werden soll. Die Männer am Absperrgitter erinnern mich an Ausgesperrte, von der Arbeit Verbannte. Da drinnen, in diesem Geviert aus Maschinen, Helmen, Staub und Erde findet das echte Leben statt, von dem man sie mit der Pensionierung abgeschnitten hatte. An der Grenze zur Strasse ist die Baustelle durch einen Kunststoffsichtschutz abgedeckt. Ein langes, weisses Band, noch fast jungfräulich und unbefleckt, das ergeben auf seine Bekritzelung und Besprayung wartet. Und manchmal sehe ich einzelne Fussgänger, letzthin einen alten Mann, nicht mehr gut zu Fuss, der sich tapfer und unbeirrt dem weissen Band entlang fast mitten auf der Strasse Richtung Kirche bewegte. Auf der anderen Seite wäre das Trottoir mehr als breit genug gewesen, auf seiner Seite aufgehoben, weil die Baustelle Platz braucht. Da schlurfte er, langsam und beharrlich. Bis zur Kreuzung waren es schon ein paar Autos, die im Schritttempo hinter ihm herrollten. Keiner hupte. Vielleicht aus Angst, den alten Mann zu Tode zu erschrecken. Wahrscheinlich war der alte Mann schon immer auf der rechten Seite Richtung Kirche gegangen. Das war seine Seite. Von einem Loch, auch von einem riesigen, klaffenden Loch liess er sich nicht vertreiben. Ein schönes Bild für manch eine politische und gesellschaftliche Situation, in der wir uns befinden.

Gallus Frei-Tomic

3. Randnotiz: Jeder in seiner Welt

Jeder in seiner Welt
Manchmal setze ich mich ins Café, um in Ruhe schreiben zu können, bestelle mir einen Kaffee, eine Praline dazu, lasse den Blick kurz schweifen, um zu beginnen. Mir gefällt das Gemurmel, das mich nichts angeht. Es scheint meine Konzentration anzustacheln. Aber manchmal klappt das nicht. Sie kennen das. Sie sitzen im Zug und müssen das Abteil verlassen, weil jemand kaum einen Meter Luftlinie entfernt mit Stöpseln in den Ohren so laut über die Untreue ihres Freundes schimpft, dass man sich zu schämen beginnt und zur Flucht genötigt wird. Im Café wars diesmal anders. Zwei ältere Männer hinter mir hielten mich vom Schreiben ab. Sie sprachen im Minutentakt über alle möglichen Themen; Motorräder, Frauenschuhe, Fussball, Energieineffizienz, Ferien in der Türkei, Trump, Rasentrimmer, Überstunden… Ich sass mit dem Rücken zu den beiden, sah sie nicht. Aber irgendwann legte ich den Stift weg. Ich war nicht überrascht über die Sprunghaftigkeit, auch nicht erschüttert über die deftige Wortwahl. Auch nicht über Meinungen, die ich nicht teilen konnte. Aber darüber, wie weit ich in meiner Welt von der ihren entfernt bin. Als ich dann doch genug hatte, ein erneuter Versuch zu schreiben gescheitert war, packte ich meine Sachen, legte die Münzen neben die Tasse und stand auf. Am Tisch hinter mir sassen zwei Männer so alt wie ich, die meine Brüder hätten sein können.

Gallus Frei-Tomic

Titelfoto «Sprengtafel» von Philipp Frei

1. Randnotiz: Der Hund im Theater

Der Hund im Theater

Ich sass in der hintersten Reihe. Der dämmrige Saal füllte sich. Und dieses Auffüllen entpuppte sich als ganz besonderes Schauspiel. Vorne auf der Bühne würde in wenigen Minuten die Première eines Schülermusicals stattfinden. Mehr als 250 Kinder vom Kindergarten bis in die 6. Klasse! Folglich war der Saal voll mit Eltern, Grosseltern, Tanten und Göttis, mit Geschwistern in Windeln und der Behördenvertretung ganz vorne in der ersten Reihe. So gar nicht das übliche Theater- oder Musicalpublikum, das Unterhaltung oder Erbauung sucht, so gar nicht. Seitlich in meinem Rücken stand ein älterer Herr ganz in Schwarz, einer der Lehrer von Kindern, die bald als Giraffen, Zebras oder Erdmännchen ihr Bestes gaben. Neben ihm stand ein ebenfalls älterer Herr mit Lederweste, tätowierten Unterarmen und Charles-Bronson-Schnurrbart. Er fragte den Lehrer, ob es okay wäre, wenn er seinen Hund mit in den Zuschauerraum nehmen wird. Nicht wirklich eine Frage. Während der Angesprochene ganz offensichtlich um Fassung rang, konnte ich mit ein stilles Grinsen nicht verkneifen. Ob er seinen Hund auch ins Kino oder in der Kirche mitnehmen musste? Genügte es nicht, wenn sich in den Reihen vor mir Windelpakete tummelten, das Geschnatter fast ohrenbetäubend war und es in Kürze nicht einmal während der Vorstellung Ruhe oder ein Abklingen von permantem Raus und Rein geben würde? Ein Hund im Theater. Ich schüttelte im Halbdunkeln den Kopf und schmunzelte. Aber nur bis sich der Bronson-Verschnitt mit seinem Schosshündchen direkt neben mich setzte: «Er bleibt schon ruhig. Ist noch viel zu jung, um alleine zuhause zu bleiben.» Er lächelte, ich quälte mich damit. Ich mag keine Hunde. Vielleicht ein Überbleibsel einer kindlichen Angst. So ergab ich mich tapfer meinem Martyrium zwischen röchelndem Schosshündchen mit eingedrückter Schnauze, Zwischenrufen quengelnder Kleinkinder und dem verzückten Winken militanter Mütter.

Gallus Frei-Tomic

Literaturvorschläge aus dem Turm

Liebe Bücherfreunde

Zusammen mit Elisabeth Berger stellte ich am Nikolaustag im Tröckneturm St. Gallen lesenswerte Bücher vor. Elisabeth Berger sechs – ich ebenso. Bücher, die man schenken kann. Bücher, die sich  lohnen zu lesen. Bücher, die man vorlesen kann. Bücher für viel mehr als ein paar schöne Stunden.

Falls sie noch ein Weihnachtsgeschenk brauchen, vertrauen sie dieser Liste!

bildschirmfoto-2016-12-04-um-17-42-50

«Die Annäherung» von Anna Mitgutsch für alle, die sich für das vom letzten Weltkrieg dominierte Geschehen eines Jahrhunderts interessieren, für Familiengeschichte mit viel Unausgesprochenem.

«Wenn du dein Haus verlässt, beginnt das Unglück» von Max Küng für Neugierige, die hinter Fassaden schauen wollen, Witziges mögen.

«Schlaflose Nacht» von Margriet de Moor, für jene, die bereit sind, mit der Erzählerin mitten in der Nacht in der Küche zu stehen, um zuzusehen, was der Suizid des Mannes im Gewächshaus hinter dem Haus anrichtet.

«Das achte Leben – für Brilka» von Nino Haratischwili für fleissige LeserInnen, die sich von 1300 Seiten nicht abschrecken lassen und dafür belohnt werden mit einem georgischen Epos in Breitleinwand über beinahe 100 Jahre – ein fantastisches Buch!

«Cox oder Der Lauf der Zeit» von Christoph Ransmayr für jene, die sich vor einer mächtigen chinesischen Kulisse von einem Meister der Sprache in die Fremde entführen lassen wollen.

«Hier können sie im Kreis gehen» von Frédéric Zwicker, die erfahren wollen, warum sich ein alter Mann hinter einer vorgespielten Demenz im Altersheim verstecken will.

bildschirmfoto-2016-12-04-um-17-43-03

«Bella Mia» von Donatella di Pietrantonio für jene, die sich in eine der vielen Behelfsunterkünfte nach dem grossen Beben 2009 in Italien versetzen lassen wollen, ins Schicksal dreier Menschen, die sich neu erfinden müssen.

«Nora Webster» von Colm Toibin für jene, die sich literarisch entführen lassen wollen in die irische Provinz der 60er Jahre, an einen Ort, wo der Verlust des Mannes die persönliche Katastrophe der hinterbliebenen Frau vervielfacht.

«Hinter Büschen, an eine Hauswand gelehnt» von Zora del Buono, für jene, die wissen wollen, was eine unmögliche Liebe bewirkt in einem Land, das von den NSA-Enthüllungen gebeutelt ist.

«Der lange Atem» von Nina Jäckle, die sich auch vor dem Trauma eines erlebten Tsunamis in Japan nicht abschrecken lassen, vom Tod in all den entstellten Gesichtern, im Buch von einer eindringlichen Sprache belohnt.

«Der Hut des Präsidenten» von Antoine Laurain, für jene, die wissen wollen, was ein verlorener Hut des ehemaligen französischen Staatspräsidenten François Mitterrand anrichten kann. Heiter!

«Lügen sie, ich werde ihnen glauben» von Anne-Lare Bondouz und Jean-Claude Mourlevat für jene, die sich gerne gut unterhalten lassen von einem E-Mail-Roman voller Witz und Charme.

Zwei Büchermenschen: Gallus Frei-Tomic und Elisabeth Berger

mehr Infos unter lebendiger-advent.ch

Das 33. Literaturblatt ist druckfertig!

Liebe Freundinnen und Freunde der Literaturblätter

Die Schar der Empfängerinnen und Empfänger der Literaturblätter wächst stetig. Was zu Beginn eine Idee war, wächst sich zu einer richtigen Serie aus, zu einer Arbeit, zu etwas Besonderem. Die Blätter brauchen Zeit; Zeit zum Lesen, Auswählen, Zeichnen, Schreiben, Drucken, Einpacken, Adressieren und Verschicken. Dass es immer mehr Menschen gibt, die mich dabei mit Komplimenten, Zuspruch, Ermunterungen und Geld unterstützen, freut mich sehr und macht mich stolz.

So ist literaturblatt.ch nicht einfach nur ein Blog, sondern ein Veranstalter, ein Vernetzer, eine Plattform und eine kleines, eigenwilliges Schreibwerk, das so ganz anders ist, als alles andere, was für das gute Buch wirbt.

Zwei Reaktionen auf das 32. Literaturblatt:

«Lieber Herr Frei-Tomic,
haben Sie vielen Dank für den schönen Beitrag. Überhaupt gefällt mir Ihre Seite sehr gut, wie auch die Literaturblätter; eine wunderbare Idee, finde ich, Büchern derart fein ein kleines Denkmal zu setzen. Ihnen alles Gute, herzlich grüsst
Ursula Fricker»

«Lieber Herr Frei-Tomic,
haben Sie vielen Dank für Ihr genaues Lesen, auf das ich – und jeder, der veröffentlicht, angewiesen bin. Herzliche Grüße,
Reinhard Kaiser-Mühlecker»

Vielen Dank!

In der Rubrik «Literaturblätter Übersicht» sind alle bisher erschienen Literaturblätter sichtbar. Wer das 33. Literaturblatt mit der Post «old school» zugesandt bekommen möchte, kann dieses bestellen über das Kontaktformular der Webseite,

über gallus.frei-tomic@gmx.ch

oder «old school» per Post:
Gallus Frei-Tonic
Literaturport Amriswil
St. Gallenstrasse 21
8580 Amriswil

Rolf Lappert wird noch lange nachhallen!

Am 9. April 2016 las Rolf Lappert aus seinem neuesten Roman «Über den Winter» in Amriswil. Zur 8. Hauslesung trafen sich mehr als zwei Dutzend LauscherInnen in unserer Stube, um Lennard Salm zurück nach Hause zu begleiten.

Im Herbst 2012 war es die Claudia Schreiber, im Frühling 2013 Patrick Tschan, im Herbst 2013 Jens Steiner, im Frühling 2014 Yusuf Yesilöz, im Herbst 2014 Christine Fischer, im Frühling 2015 Andreas Neeser, im Herbst 2015 Michèle Minelli und im Winter 2015 Margrit Schriber.

DSC_0192pgDSC_0213.2jpg

DSC_0201.2jpg

Zum Buch: Lennard Salm ist fünfzig, als Künstler durchaus erfolgreich, wenn auch nicht er- und ausgefüllt. Er dümpelt bei Freunden in einer Ferienkolonie am Mittelmeer und sucht nach Strandgut (nicht bloss metaphorisch gemeint) bis ihn zwei Ereignisse aus der Ausweglosigkeit reissen: Ein totes, angeschwemmtes Kind (Das Buch nahm das schreckliche Foto voraus!) und die Nachricht, dass seine ältere Schwester gestorben ist. Salm kehrt zurück nach Hamburg in ein Haus in Wilhelmsburg, wo sein Vater immer mehr auf Hilfe angewiesen ist. Mir als Leser wird dabei nicht nur der Mikrokosmos eines Hauses ausgebreitet. Rolf Lappert versteht es meisterlich, Szenen kunstvoll und genau zu schildern und tief in das Wesen eines ganzen Reihe von Personen einzudringen, nicht nur in jene des Rückkehrers Lennard Salm. Wer stand nicht schon einmal vor der Fassade eines Hauses und dachte sich, was da wohl alles gelebt wird. Salm kehrt zurück zu seiner Familie, die ihn verloren hatte, zurück in eine Rolle, die Salm abgestreift hatte, mit der wachsenden Erkenntnis, dass nichts wichtiger sein kann als Familie. Salm ordnet neu, diesmal nicht Strandgut für Kunst, sondern einen Platz, an dem er kein Gesicht wahren muss.

DSC_0204.2jpg DSC_0205jpg

DSC_0207 DSC_0209.2jpg

Rolf Lappert: Ich las in ihrer gemütlichen, bis auf den letzten Sitzplatz besetzten Stube, und es war sehr schön und heimelig, ganz anders als in einem großen Saal vor fünfzig oder hundert Menschen, intimer natürlich und auch intensiver, weil näher. Eine gute Erfahrung. Nur die drei Gläser Rotwein um elf Uhr morgens sollten nicht zur Gewohnheit werden. Danke, Irmgard und Gallus und allen, die nach Amriswil gekommen sind.

Ich danke auch, all denen, die mit ihrer Unterstützung und ihrem Besuch zum Gelingen dieser Lesung beitrugen, uns trotz grossem Aufwand Mut machen ganz speziell meiner Frau Irmgard!

Fotos: Philipp Frei