Jonas Hassen Khemiri «Die Schwestern», Rowohlt – ein Keil aus dem Norden (2)

Mit seinem neuen Roman „Die Schwestern“ schreibt sich der aus Schweden stammende Romancier Jonas Hassen Khemiri in die erste Liga der Europäischen Autoren.

Popcorn im Haar
Gastrezension von Frank Keil

Es gibt diese Bücher, dieses eine Buch. Man schlägt es auf, fängt an zu lesen und es ist um einen geschehen. Ein Satz, den man selbst nie hinschreiben würde, zu kitschig, zu pathetisch, wahrscheinlich auch falsch, wann ist es schon um einen geschehen. Und doch: Eine Welt hat sich aufgetan, und man ist ganz in ihr versunken. Es gab für einige Tage nur dieses Buch, nur dieses eine. Deswegen hat man einst mit dem Lesen angefangen. Und deshalb hat man damit nicht wieder aufgehört, und deshalb wird man dabei bleiben.

Und worum es geht? Um drei Schwestern, die auf die Namen Ina, Evelyn und Anastasia hören und die englisch miteinander sprechen, die Mikkola-Schwestern, sobald sie die Straße betreten und durch die Siedlung gehen, was natürlich besonders ist und auffällt und es sonst niemand in ihrem Umfeld macht (da spricht man Schwedisch, da spricht man vielleicht einen wirren junge-Leute-Slang, zu Hause sprechen die Eltern oftmals Arabisch). Es geht daher um das Aufwachsen und dann Leben in der migrantischen Community der großen Städte Schwedens, wo man gleichermaßen dazugehört und nicht dazugehört und man also nichts falsch und nichts richtig machen kann, und das hat natürlich Folgen, über die zu erzählen ist; Stoff, um daraus Geschichten zu entwickeln, ergibt es sowieso genug. Es geht um verlorengegangene Väter, die zuweilen wieder auftauchen und die auch im zweiten oder dritten Anlauf keinen Platz in ihren Familien finden (was sie ehrlich schmerzt, was aber dennoch nicht dazu führt, dass sie mal ins Denken kommen, traditionell-verspannte Männer, die sie sind und rechthaberisch und eigenbrötlerisch dazu, das wird nichts). Es geht entsprechend um Mütter, die versuchen ihre immer wieder aufs Neue auseinanderfliegenden Familien zusammenzuhalten, was sie selbst an die Grenzen ihrer Kräfte kommen und zuweilen auch seltsam werden lässt (die Mutter der drei Schwestern etwa springt zwischendurch aus dem Fenster, das geht einigermaßen glimpflich aus, trotzdem bleibt das Verhältnis zwischen den drei Töchtern und ihr – sagen wir mal – schwierig). Es geht in einem zweiten, immer wieder kreuzenden und sich abwechselnden Erzählstrang um einen Jungen, der den drei Schwestern immer wieder über den Weg läuft, sich mal mit der, mal mit der befreundet, und der Junge heißt Jonas Hassen Khemiri, was Zufall sein mag und der heranwächst und nach diversen Irrungen und Wirrungen am Ende Schriftsteller wird, was ja vorkommen kann. Es geht um einen Zeitraum von 30 Jahren und was da alles passieren kann, an einem kalten Januartag im Jahr 1994, im Sommer 1997, im Jahr 2003, während eines Auslandssemesters in Paris; was möglich ist, was scheitert, was noch dazwischen schwankt, darum geht es.

Jonas Hassen Khemiri «Die Schwestern», Rowohlt, 2025, aus dem Schwedischen von Ursel Allenstein, 732 Seiten, CHF ca. 36.90, ISBN 978-3-498-00497-2

Es geht um einen Fluch, der auf den drei Schwestern lastet oder lasten soll und ihnen das Leben schwer macht (kann man da nichts machen, sich von jemanden entfluchen lassen, etwa?). Es geht um Partys in hippen Büroetagen, in denen alle alles auf einer Karte setzen, wo der Alkohol fließt und es auch nicht an anderen Drogen fehlt und wo bullige Türsteher den Einlass kontrollieren, so dass man, steht man wie die drei Schwestern nicht auf der Gästeliste, heimlich durchs Fenster hineinklettern muss und ebenso heimlich wieder hinaus und dazwischen ist viel passiert. Es geht um das Aufwachen mit Popcorn im Haar. Es geht um Basketball, um einen Alley oop, um einen Dunk, wie man einen harten Press-Defence über das ganze Feld spielt, vielleicht wird man ein Basketballstar oder wenigstens ein Profi, das wäre doch eine Option, großgewachsen und gelenkig, wie Anastasia und Jonas nun mal sind, und um ihren sagenumwobenen Trainer aus der amerikanischen NBA-Liga geht es, der tatsächlich dort nur einmal für ein Spiel eingesetzt worden war, um nicht einen Punkt zu erzielen, nicht einen Rebound, nicht einen Block, nicht mal einen Freiwurf, und alles fällt wie ein Soufflee in sich zusammen, aber da spielen die beiden schon kein Basketball mehr, sie googlen nur mal kurz im Nachhinein, wer ihr Trainer eigentlich gewesen war.

Es geht also auch um Wahrhaftigkeit, es geht um Illusionen und um Träume und ob das, was man sich vorstellt, irgendeine Chance auf Verwirklichung hat und wenn, was dann. Es geht um die Bewerbung auf eine angesagte Schauspielschule, jedes Jahr bewerben sich um die 3.000 bis 4.000 junge Leute, dort und zu zehn von ihnen werden angenommen, und auch Evelyn und ihre beste Freundin Cecilia versuchen es, und das ist nur begrenzt eine gute Idee, man sollte nicht alles teilen wollen. Es geht um eine Verlagsgründung, der Schlachthaus Verlag will nur Bücher verlegen, an die sich sonst kein Verleger herantraut und wenn das kein Geld einbringt, dann ist es umso besser. Es geht um Liebe und um Ehen und um eine Beerdigung in Tunesien auf einem entsprechenden staubigen Friedhof, aber vorher muss der Leichnam noch aus dem Krankenhaus abgeholt werden, und also besticht man zwei Krankenwagenfahrer, man kann den toten Körper ja schlecht im Kofferraum seines eigenen Wagens mitnehmen, was, wenn einen die Polizei anhält, was sagt man dann. Und es geht um diesen einen Moment beim Lesen, womit man plötzlich geradezu erschreckt versteht, wie das alles, was einem aus so vielen Winkeln und an so vielen Orten über viele Seiten hinweg so überaus packend und komplex erzählt wurde, mit einem mal zusammenhängt („Ach, so!“, ruft man laut aus, in seinem Lesesessel), und dann werden die Erzählfäden wieder lockergelassen und man fällt zurück in das weich-warme Rätseln und sich Treiben lassen und muss gar nicht wissen, ob man tatsächlich richtig liegt mit seiner Vermutung oder ob man etwas nur nicht richtig verstanden hat: Es warten ja noch so viele Seiten auf einen, zum Glück.

Und es geht immer wieder um die Frage: Was ist eine Geschichte? Was erzählen wir uns, wenn wir erzählen; erzählen wir, um dem Leben einen Sinn zu geben und was wäre das für einer oder wollen wir anderen Leuten schlichtweg nur gefallen? Und was ist erst, wenn wir Erzähltes aufschreiben? Wenn wir versuchen, Leben in Schreiben zu verwandeln und dann Geschriebenes vor uns liegt und lebendig wird …

Das alles ist schon spannend genug, reicht locker aus, dieses Buch bedingungslos zu empfehlen. Aber dann ist da noch dieser Sound, dieser Jonas-Hassen-Khemiri-Beat, der vom ersten Satz an auf eine sich durchziehende Bass-Line und auf Tempo und auf Tempowechsel und auf Dichte und auf Unterströmungen aller Arten setzt und der dabei zugleich so kunstvoll schreibt, so entspannt und sicher auch, dass jeder Satz (der zuweilen locker über eine Buchseite mäandert und noch ein paar Zeilen mehr, wenn es nötig ist) in den am Ende 137 Kapiteln je genau an dem Ort steht, an dem er zu stehen hat und an keinem anderen. Was also für ein Buch! Wirklich! Und ja, es gibt viele gute Bücher, auch viele sehr gute – aber dieser Roman ist dann doch noch mal – besonders. Ach, also einzigartig. Richtig toll ist er. Und wunderbar noch dazu.

Jonas Hassen Khemiri, geb. 1978 in Stockholm, ist einer der renommiertesten Autoren Skandinaviens. Seine sechs Romane wurden in über dreissig Sprachen übersetzt, und seine Dramen werden in der ganzen Welt inszeniert. Er wurde mit zahlreichen schwedischen und internationalen Preisen ausgezeichnet, darunter der Per-Olov-Enquist-Preis, der Augustpreis und der Prix Médicis Étranger. Sein Roman «Die Vaterklausel» war für den National Book Award nominiert. Seit 2021 lebt Khemiri in New York, wo er Kreatives Schreiben unterrichtet.

Ursel Allenstein, 1978 geboren, übersetzt u.a. Sara Stridsberg, Johan Harstad und Tove Ditlevsen. 2011 und 2020 erhielt sie den Hamburger Förderpreis, 2013 den Förderpreis der Kunststiftung NRW und 2019 den Jane-Scatcherd-Preis für ihre Übersetzungen aus den skandinavischen Sprachen.

Beitragsbild © Max Burkhalter

Thomas Korsgaard «Stadt», Kanon Verlag – ein Keil aus dem Norden (1)

Thomas Korsgaard gilt als eine Art wildes Wunderkind der jungen dänischen Literatur. Was entschieden an seiner autofiktionalen Familientrilogie liegt. Ein Sprung in den zweiten Band: „Stadt“, so der schnörkellose wie passende deutsche Titel.

Nix mit Hygge
Gastrezension von Frank Keil

Ob das eine gute Idee ist, das Wohnzimmer schwarz zu streichen? Wäre nicht ein simples weiß oder vielleicht ein helles blau passender und besser? Selbst an ein zunächst aufdringliches flieder-lila könnte man sich gewöhnen oder an ein ländliches grün. Aber schwarz? Nur schwarz …

Da muss man schon über einen besonderen Humor verfügen.

Oder man hat ernsthafte Probleme, wie Tues Mutter, die mal artig ihre Tabletten nimmt, nachdem sie aufgestanden ist, die Pillen gegen Migräne, später die, um besser zu schlafen zu können oder die anderen, die sie in der Familie ‚die Glückspillen‘ nennen und die sie immer mal wieder absetzt, um bald darauf tagelang im Bett gefangen zu liegen, einerseits. Andererseits waren die zwei Eimer schwarzer Farbe in dem Geschäft in der Stadt nun wirklich günstig.
Und sie fangen an zu malern, Mutter und Sohn, sie legen den Fußboden mit alten Werbeprospekten aus, sollten sie kleckern, müssen sie nichts wegwischen, das ist doch praktisch gedacht, sie streiten sich bald, um Geld geht es nebenher, doch mehr darum, das Tue doch gestört ist, so wie Tue findet, dass seine Mutter gestört sei, draussen an der Fahnenstange hängt statt des obligatorischen rot-weissen Danebrog ein Gartenstuhl aus Plastik.

Wir sind nicht in Kopenhagen (in einem der angesagten, einst proletarisch-kleinbürgerlichen und nun gentrifizierten und damit unbezahlbaren Vierteln oder am Rande der Stadt, wo sie langsam ins Gesichtslose ausläuft). Wir sind auch nicht in Aarhus. Nicht mal in Odense sind wir oder in Aalborg oder in Esbjerg, wo der Hund seit langem begraben ist. Wir sind auf dem Lande, abseits von allem, wir sind in der Provinz, wo sich die Schweineställe aneinanderreihen, wie man weithin riecht, besonders in der Nacht; wo der Regen von der Seite her weht und das tagelang, wo morgens und mittags der Schulbus fährt, und dann war es das. Also hat man ein Auto, irgendeine Blechkiste, die doch anspringt, wenn man ihr gut zu redet, was manchmal Zeit braucht, die man hat. Der Tag zerrinnt einem ohnehin zwischen den Fingern.
Es wird überhaupt viel Auto-gefahren in diesen Romanen, das Auto ist ein eigener Ort, ein Rückzugsparadies: Tues Mutter etwa fährt manchmal scheinbar kopflos durch die Gegend, Kilometer für Kilometer und beruhigt sich dabei oder versucht es wenigstens und schon das zählt; ins Auto flüchtet man, wenn man nicht weiterweiss vor Streit und vor Verzweiflung und vor Hoffnungslosigkeit, und selbstverständlich wird in diesen Autos geraucht. Warum denn auch nicht.

Thomas Korsgaard „Stadt“, Kanon Verlag, 2025, aus dem Dänischen von Justus Carl und Kerstin Schöps, 280 Seiten, CHF ca. 35.90, ISBN 978-3-98568-141-9

Wer hier aufwächst und wer hier ist, wo Tue mit seinen Eltern lebt und seinem jüngeren Bruder Morten und der noch jüngeren Schwester Nina, auf einem heruntergekommenen Hof, den sich kaum zu bewirtschaften lohnt, der will – weg. Und das möglichst früh und dann möglichst schnell, eher vorgestern, denn übermorgen will er seine ohnehin wenigen Sachen gepackt haben und sein Glück woanders suchen und daher finden, in der nächsten Stadt, wo sonst.
Erst recht, wenn man als junger Kerl merkt, dass Mädchen ganz okay sind, manchmal mehr als das (Tues bester Freund ist eine Freundin, Iben heißt sie, sie kennen sich seit der Schule, und sie werden viel zusammen erleben, weil sie sich aufeinander verlassen können), aber dass es nicht um sie geht, am Ende, lässt sich schließlich nicht mehr ausblenden, um es mal so zu umschreiben. Was Tues robust-brachialer Vater (der die Zeitung Buchstabe für Buchstabe liest, den Zeigefinger auf der Zeile) besser nicht wissen sollte und der doch ahnt, was er nicht wahrhaben will.

Als Thomas Korsgaard mit zarten 21 Lebensjahren mit dem ersten Band seiner Familientrilogie die literarische Bühne seines Heimatlandes Dänemark betrat, ging ein Raunen durch dessen Feuilletons. Das sich nicht legte, als Band zwei erschien und dann Band drei. Die im ersten Schwung verkaufte Auflage: 300.000 Exemplare. Das ist für ein Land mit knapp sechs Millionen Einwohnern keine kleine Nummer; dazu gesellten sich literarische Auszeichnungen. Was besonders gefiel: wie aufrichtig schonungslos und zugleich emphatisch ehrlich Korsgaard ein Familienleben weit abseits der gediegenen, wohlreflektierten (nicht nur) dänischen Mittelschicht schilderte, was einem vielleicht nur als jungem und entsprechend unbefangenen Autoren gelingt; wo also die Fliehkräfte der Relativierungen und der Erklärungen mit ihrem Rechtfertigungsgehalt noch nicht greifen. Stattdessen ist hier nix hyggelig. Hier wird es auch nicht gemütlich. Hier wird es schwer, sich seiner Haut zu erwehren und zugleich seine Herkunft nicht leichtfertig zu verraten (man hat ja keine andere, woher sollte die auch kommen), und mit Gelassenheit kommt man schon gar nicht weit.
Und so führt „Stadt“ (der dänische Titel lautet ‚En dag vil grine af det‘, also ‚Eines Tages werden wir darüber lachen‘) uns in die Zwischenwelt des Helden Tue, der längst kein Kind mehr ist, aber für den der Weg in eine aufbauende Schule, möglicherweise weiterführend zu einem Studium noch Langstrecke bedeutet.

„Stadt“ vorausgegangen ist „Hof“, auch dies ein Deutsch prägnant-verkürzter Titel (im Dänischen heißt es etwas gelassener ‚Hvis der skulle komme et menneske forbi‘, also ‚Falls da ein Mensch vorbekommen sollte‘), wo wir Tue kennenlernen, wo wir eintauchen in seine Welt. Wie es wohl wäre, wenn der Vater morgen sterben würde, was für eine Rede würde sein noch so junger, gerade mal 12jähriger Sohn in der Kirche halten vor den Trauergästen (weisse, langstielige Lilien schmücken den Kirchenraum, der Leichenwagen des Bestatters ist unterwegs liegengeblieben, die Dänische Pannenhilfe hilft eben aus), nur mal ausgedacht, nur mal taggeträumt, in der Kirche eines Ortes namens Nørre Ørum, wo in der Ferne der Fernzug Hamburg – Kopenhagen vorbeifährt, einen „Vorort der Finsternis“, wie Tue es für sich beschreibt, so geht es los, so steigen wir ein und sind froh, von nun an dabeibleiben zu dürfen. Tag nach Tag, Woche für Woche, bis es in die Monate und dann Jahre geht, die spurenreich vorbeiziehen.

Und dieser Sog, er wird nicht aufhören. Was vor allem an der wunderbaren Erzählkunst von Thomas Korsgaard liegt (und an den Übersetzungskünsten seiner ÜbersetzerInnen) über den eigentlichen Stoff hinaus; an seiner Art, die scheinbar alltäglichen Erlebnisse vom Aufwachsen in einer – sagen wir mal – eher nicht so glücklichen Familie mit den grundsätzlichen Fragen von Herkunft, Selbstbestimmung und Identität zu verknüpfen und daraus eine eigene Welt des Großen wie Kleinen zu erschaffen, in die man sich hineinliest wie in einen Rausch. Was noch mal unterstützt wird durch die klare Erzählstruktur: kurze, knappe und aufeinander aufbauende und in sich geschlossene Kapitel reihen sich aneinander zu einem Reigen des familiären Stillstandes und der überraschenden Wendungen. 53 Kapitel sind es bei „Hof“, 67 Kapitel sind es bei „Stadt“.

Noch ein Kapitel lesen, denkt man sich, es ist ja nicht so lang; zwei, drei Seiten, auch mal fünf, sehr selten mehr. Und dann noch das nächste und das nächste Kapitel lesen, ach, das übernächste passt auch noch, man will ja auch ganz klassisch wissen, wie es weitergeht, was nun passiert, hat Tues Mutter wirklich einen Liebhaber oder was ist das für ein Mann, mit dem sie da ständig chattet und wird sie deswegen die Familie verlassen, was so unvorstellbar ist wie möglich, eine Rettung oder eine Katastrophe oder beides zugleich, und schon hat man die nächste Seite umgeschlagen, und fängt das nächste Kapitel an zu lesen.

Der dritte Band „Paradies“ ist in deutscher Übersetzung für das Jahr 2026 angekündigt. Und dann werden wir erfahren, wie es Tue in Kopenhagen ergehen wird, dort im Westen, im Stadtteil Valby, wo die Busse den ganzen Tag über fahren, auch am Abend, bis in die Nacht, man muss sich nur an eine Haltestelle stellen und dann kommt einer vorbei und nimmt einen mit.

Thomas Korsgaard «Hof»,Kanon Verlag, Berlin, 2024, ebenfalls von Justus Carl und Kerstin Schöps aus dem Dänischen übersetzt

Thomas Korsgaard, geb. 1995, schrieb seinen Debütroman «Hof» mit gerade mal 21 Jahren. Band 2 und 3 der Trilogie folgten wenige Jahre später. Seine Romane haben sich in Dänemark mehr als 300.000 Mal verkauft. Für seinen letzten Roman wurde Thomas Korsgaard mit dem Literaturpreis Goldene Lorbeer ausgezeichnet und ist damit der jüngste Preisträger aller Zeiten. Bei Kanon erscheinen Band 2 »Stadt« im Frühjahr 25 und Band 3 »Paradies« im Herbst 26.

Beitragsbild © Lis Kasper Bang

Kristin Valla „Ein Raum zum Schreiben“, mare

Ach, wie wunderbar die norwegische Schriftstellerin Kristin Valla schreibend vom Schreiben erzählt! Man möchte ein Haus kaufen … aber erst einmal dieses Buch!

Gastbeitrag von Frank Keil

Es gibt eine Art Schlüsselszene in Kristin Vallas wunderschönem Buch „Ein Raum zum Schreiben“, da kommt einiges mit einem Mal zusammen: das Gefühl, bald etwas Schwieriges geschafft zu haben, das Wissen, sie kann sich auf sich und sie kann sich auf die Welt verlassen, und eine tiefe Ruhe, auf der sich aufbauen lässt. Sie hat den Bus genommen, der vom Bahnhof aus fährt, in das kleine Dorf, in das sie muss; also sie hofft, dass er bis dorthin fährt, der Bus und sein Fahrer, die Schrift des Fahrplans ist so klein, dass sie die einzelnen, aufeinanderfolgenden Stationen nicht zu entziffern vermag, vermutlich fährt er nicht so weit, wie er für sie fahren muss. Und nun sitzt sie in dem Bus, der sie von Ort zu Ort schaukelt, längst ist es dunkel, am Ende ist sie der einzige Fahrgast, der noch in dem Bus sitzt, einen ganzen Bus hat sie für sich allein, und der Fahrer wird an den letzten Station, die er für heute anzufahren hatte, nicht anhalten, er wird weiterfahren zu ihrem Dorf, erst dort wird er stoppen, und er wird mit einem Lächeln sagen: „Ich konnte Sie ja nicht einfach da stehen lassen.“


Kristin Valla, die norwegische Schriftstellerin, die sich ein Haus in Südfrankreich angelacht hat, hat in diesem, ihrem Buch viel zu kämpfen: Wird sie es schaffen, sich einen Raum zum Schreiben zu besorgen, ihn zu gestalten und dann in ihm zu schreiben? 

Gewiss, man denkt bei dem Buchtitel schnell an Virginia Woolf und ihr programmatisches Buch „Ein Zimmer für sich allein“, dass man als griffige Parole auch dann verwenden kann, wenn man es gar nicht gelesen hat – und natürlich werden wir noch Virginia Woolf begegnen. Erstmal aber geht es um einen Raum im umfassenden Sinne und bald um mehr als das: Es geht gleich um ein ganzes Haus, mit Küche und Badezimmer und Schlafgemach und über allem ein Dach, aus dem es leckt und tropft und rinnt, wenn es regnet, und es regnet auch in Südfrankreich oft und dann zuweilen recht ausgiebig, wie wir lesen werden, und kalt werden kann es auch, dass man sich alles anzieht, was man an Kleidung mitgebracht hat von daheim, wo man eigentlich lebt und wohnt und seine Familie hat (einen Mann, zwei Kinder, zwei Jungs).

Ein Haus lernen wir kennen, dass sich eine Schriftstellerin erst wünscht, dann sucht, dann kauft, auch wenn es Schulden-machen nach sich zieht (ihr Mann bürgt für den Kredit, aber es ist vor allem ihr Haus, ihr Risiko), und die dann nach und nach realisiert, was ein Haus zu besitzen bedeutet – um einen Ort für sich und ihr Schreiben erst zu finden und dann zu haben.

Kristin Valla „Ein Raum zum Schreiben“, aus dem Norwegischen von Gabriele Haefs, Mare, 2025, 272 Seiten, CHF ca. 34.50, ISBN 978-3-86648-737-6

Aber erst einmal sind wir noch in Oslo, Kristin Valla, die recht erfolgreich als junge Schriftstellerin gestartet ist (gleich ihr erster Roman „Muskat“ wurde in mehrere Sprachen übersetzt, darunter ins Deutsche; auch der zweite Roman lief nicht schlecht), hat seit Jahren kein Buch mehr veröffentlicht und – was wichtiger ist – sie hat sei Jahres keines mehr geschrieben. Stattdessen hatte sie beizeiten für lange Zeit einen festen Job als Redakteurin angenommen; die Sicherheit, das monatliche Gehalt Jahr für Jahr, die Lebensverlässlichkeit, die damit einher geht, das hat nicht nur Charme, das ist auch gut, wenn man Kinder hat, die auf ihre Romane folgten. Nicht nur Schriftstellerinnen bleiben in dieser Falle hängen, aber meistens sind es doch die Frauen, denen es so ergeht. 
Immerhin hat sie diese Anstellung nun gekündigt, als wir lesend dazukommen, sie arbeitet jetzt frei und selbstständig für dieses und jenes Magazin, aber wer gut ist und wer schreiben kann, und das eine ist sie und das andere kann sie, der bekommt eben Auftrag nach Auftrag nach Auftrag, und auch so vergeht die Zeit. Literarisch schreiben? Es gibt da ein paar Ideen, auch Skizzen, erste Entwürfe, doch ein Buch wird daraus noch lange nicht. Man muss es auch schreiben.

Und dann gibt es diesen einen Abend (wieder ein Schlüsselmoment, wie überhaupt Schlüsselmomente sich durch dieses Buch ziehen), ein Abend, wo sie den großen amerikanischen Romancier John Irving moderieren darf, im örtlichen Literaturhaus, große Bühne also, viel Publikum. Und hinterher gehen sie etwas essen, das macht man so, ein junger Schriftsteller-Kollege kommt hinzu. Die beiden Männer unterhalten sich schnell über das Schreiben und also über das Leben, und sie hört still zu.

Und warum erzählt sie ihrerseits nichts, warum beteiligt sie sich nicht am Gespräch? Sie hätte durchaus etwas dazu beizutragen, sie ist doch eine von ihnen! Oder nicht oder nicht mehr? Und tief verstört über ihr eigenes sich-unwichtig-machen, geht sie nach diesem Abend-zu-dritt grübelnd nach Hause, und bald wird sie sich auf die Suche nach jenem Raum zum Schreiben machen, findet ihn in diesem seltsam verwohnten Haus in Südfrankreich (das einer Schweizer Familie gehörte, die es nicht mehr haben wollte, die es Hals-über-Kopf verliess, allen möglichen Krempel, liess die Familie zurück, nur weg! Ist das ein gutes Zeichen?) und dass sie nun gekauft hat, obwohl mehr als tausend Gründe dagegensprechen. Das Haus in seinem Zustand, etwa.
Sie wird viel weinen in diesem Haus. Und sie wird immer wieder aufstehen und sich die Tränen vom Gesicht wischen und dann irgendetwas machen: aufräumen (oder es wenigstens versuchen), die Wände streichen (die Küche etwa wird knallgelb), Vorhänge aufhängen (in einem Gebrauchtwarenladen erstanden und nicht bei IKEA, wie sonst manches, Decken und Kissen für das kommende Wohlbehagen); sie wird versuchen das Haus mal ordentlich durchzuwärmen, damit man es überhaupt in ihm aushält.

Und zwischendurch geht sie auf literarische Reisen und schaut nach schreibenden Frauen, die gleichfalls ein Haus oder manchmal auch ein ganzes Gehöft erworben hatten, in dem sie glücklich oder unglücklich wurden oder beides nacheinander oder beides zugleich: Tania Blixens und Suzanne Brøggers und Sigrid Undsets Häuser lernen wir kennen; das elterliche, zuvor in Konkurs gegangene Gut von Selma Lagerlöf wird uns nahegebracht; bei Marguerite Duras schaut Valla erzählend vorbei, die zeitweise einen alten Bauernhof auf dem Lande, eine Wohnung am Meer und noch eine Wohnung in Paris besass und die zwischendurch so runter war mit dem Leben und dann mit den Nerven, dass sie das Schreiben morgens mit dem Leeren einer ersten Flasche Rotwein begann, womit sie glücklicherweise eines Tages aufhörte. Und auch bei Virginia Woolf wird vorbeigeschaut (ebenso bei Doris Lessing, bei Patricia Highsmith, die zeitweise zurückgezogenst in einem verschrobenen Dorf lebte, ohne Laden, ohne Bäcker, ohne Schlachter), und immer wieder wird sie von diesen Ausflügen zurückzukehren in ihr eigenes Haus, immer auch ein wenig mehr als erholt, manchmal geradezu gestärkt von den imaginierten wie recherchierten Besuchen in den Leben und in den Häusern der Anderen.

Und wie sie davon erzählt, wie sie zwischen den Orten und den Leben schreibender und Häuser-besitzender Frauen hin und her switcht, das ist einfach ganz wunderbar, wie es überhaupt sehr tricky ist, dass Kristin Valla gar nicht viel über ihr Schreiben schreibt. Nicht, an was sie arbeitet, was das Thema ist, erfahren wir; was die Geschichte ist, die sie entwickelt, die Handlungsstränge, die sie auslegt, die Erzähl-Perspektiven, mit denen sie experimentiert, womöglich, solche Sachen. Kaum bis wenig bis zuweilen nichts wird davon erzählt, nur dass ein Roman erscheinen wird (der erste seit sechzehn Jahren!) erzählt sie uns zum Ende hin, als sie sich eingelebt hat in ihrem Haus, auch in dem Dorf, das zum Haus gehört, zu dem sie von Norwegen aus das Flugzeug nehmen muss und dann den Mietwagen, Oslo liegt nun mal nicht gerade um die Ecke, und in den Ferien kommt die Familie mit und stört sich nicht an dem Chaos, das sie umgibt, sondern genießt das sanfte Durcheinander, dass sie selbst so oft in den Wahnsinn wirft.

Stattdessen erfahren wir viel über feuchte Wände, in denen der Schimmel steckt, wie zu riechen ist, kaum ist man durch die Tür und hat man eingeatmet. Über Steckdosen, die nicht angeschlossen sind, schreibt sie; über Deckenbalken, die ausgetauscht werden müssen, was nicht so einfach ist, wenn es um darunter stehende, tragende Wände geht, was man da macht. Aber sie beisst sich durch, Kristin Valla wird eine richtige Handwerkerin (gleich zu Anfang kauft sie sich einen Bohrer und eine Latzhose), durchsetzungsstark auch gegenüber den professionellen Handwerkern, die sie immer wieder engagieren muss, weil das Haus mit seinen Schäden und Macken schlicht eine Nummer zu gross für sie zu seien scheint.

Und wenn sie so ziemlich gen Schluss, so viel soll verraten werden, kurz davor ist, dieses Haus zu verraten, fügt sich alles auf wundersame Weise, und man liest dieses Buch mit immer wachsendem Vergnügen und immer öfter ist da dieser heimlicher Gedanke, man sollte sich auch ein Haus kaufen oder wenigstens eines mieten, manchmal, vielleicht.

Kristin Valla, aufgewachsen im norwegischen Nordland, ist Autorin, Journalistin und Lektorin und schreibt u. a. für das Dagbladet Magasinet und das Kulturmagazin K der Zeitung Aftenposten. Mit ihrem Roman «Das Haus über dem Fjord» eroberte sie 2022 die Herzen deutscher Leserinnen und Rezensentinnen.

Gabriele Haefs, geboren am Niederrhein, studierte Volkskunde, Vergleichende Sprachwissenschaft und Keltologie. Heute lebt sie in Hamburg und ist seit vielen Jahren freie Autorin und Übersetzerin u.a. aus dem Irischen und Norwegischen. Ihre Arbeit wurde vielfach prämiert, u.a. mehrmals mit dem Hamburger Förderpreis für literarische Übersetzungen.

Beitragsbild © Julie Pike

Zara Zerbe «Phytopia Plus», Verbrecher

Generation Setzlinge

Die Kieler Schriftstellerin Zara Zerbe bietet mit ihrem Debüt-Roman PHYTOPIA PLUS elegante und kluge Unterhaltung. Nebenher nimmt sie sich das Genre der ‚Climate Fiction‘ zur Brust.

Gastbeitrag von Frank Keil
Der Journalist lebt und arbeitet in Hamburg und Norddeutschland, Schwerpunkte Kunst und Kultur, Geschichte sowie Bildung und Soziales.

Das hätte auch schiefgehen können! Hätte ein Anklagestück werden können, schwer und düster, das man bald halbgelesen liegen lässt: wo wir doch alle wissen, das es nicht gut aussieht mit den Gletschern, den Polarkappen, den Regenmengen, die auf uns niederprasseln und den Südsee-Atollen, an denen der wachsende Meeresspiegel nagt – also mit dem Klima und der Zukunft, um mal zu untertreiben.
Doch das Gegenteil ist der Fall: Man liest Zara Zerbes dystopisches Roman-Debüt schnell ein wenig wie früher, als man erstens Bücher las, um sich zu unterhalten, zweitens um den Kopf weit hinaus in die Welt zu strecken und drittens um sie unbedingt weiterzuempfehlen. Was alles auch an dem präzisen und gleichzeitig so lockeren Erzählstil liegt und überhaupt an dem dramaturgischen Geschick, mit dem Zerbe zu Werke geht.

Der Clou und vielleicht auch der Trick: Zara Zerbe führt uns in eine durchweg vertraute Welt wie der von heute, nur ist sie einige Jahrzehnte in die Zukunft verlagert, so dass alles ein bisschen schief und verdreht ist und doch zugleich vertraut.

Die Stadt, in der wir nun eine Zeitlang lesen lebend, Hamburg nämlich, ist dabei in einem durchaus desolaten Zustand: Das Vorland hat sich in eine sumpfige Elbuferlandschaft zurückentwickelt, entsprechend drückt das Flusswasser beständig in die Straßen, unterhöhlt die Straßen und Gebäude, weshalb im Süden die Menschen leben, schon immer nicht zu den Gewinnern unseres Wirtschaftssystems gehörten. „Ich fand es sehr eindrücklich, als ich mir mal den Überschwemmungsstatus von Hamburg angeschaut habe; also was wäre, gäbe es all die Deiche nicht“, sagt Zara Zerbe. Längst gibt es dort mehr Waschbären als Menschen; die Waschbären randalieren des Nachts in den Hinterhöfen, holen sich aus den Mülltonnen, was zu holen ist; so sieht das also aus, wenn das, was wir Natur nennen, aus den Fugen geraten ist.

In den im doppelten Sinne höheren Norden der Stadt dagegen haben sich die der zurückgezogen, die genügend Geld und gesellschaftliche Kontakte und damit Beziehungen haben, um auch in schwierigen Lebenslagen nicht ganz verzagen zu müssen; leben hier hinter hohen Mauern in gut abgesicherten Wohnquartieren, wortkarges Wachpersonal sorgt für zusätzliche Sicherheit; an den Pforten kreiseln die Überwachungskameras.

Und wie eine Art Zwischenwelt, fast wie eine Schleuse fungiert der Gewächshäuserkomplex der Drosera AG, ein fiktives Biotech-Unternehmen, in dem es sprießt und wächst (und wer jetzt kurz an den Science Fiction Film „Lautlos im Weltall“ von 1972 denkt, der ist zumindest atmosphärisch auf keiner falschen Spur).

Zara Zerbe «Phytopia Plus», Verbrecher, 2024, 300 Seiten, CHF ca. 36.90, ISBN 978-3-95732-581-5

Doch es geht dem Unternehmen, dass wir anhand seiner MitarbeiterInnen nach und nach kennenlernen, nicht allein  um die Pflege oder der Erhalt der Pflanzenwelt: Man vielmehr ein Verfahren entwickelt und erprobt es jetzt, um das menschliche Bewusstsein so zu digitalisieren, dass es sich in der DNA ausgewählter Pflanzen speichern lässt. „Länger bleiben mit Phytopia Plus“, lautet entsprechend der Werbespruch, der ein Weiterleben auf einer mehr als bedrohten Erde verspricht, denn wer weiß, was in den nächsten Jahrzehnten noch alles passiert. Und das mit dem Weiterleben funktioniert so: Noch zu Lebzeiten wird dem Speicherwilligen ein Bio-Chip in die Hirnrinde implantiert, der nach dem Ableben dann in den Gewebeteil einer Pflanze wechselt, der das Pflanzenwachstum steuert.

Heldin des Geschehens ist Aylin. Eine junge Frau, die bei der Drosera AG als Aushilfsgärtnerin arbeitet, sich um Setzlinge kümmert, deren Wurzeldichte scannt, sie vor Pilzbefall schützt, für den entsprechend kargen Mindestlohn, bis ihr etwas Besseres einfallen sollte. Ein bisschen verpeilt ist Alyin, wie wir Norddeutschen das nennen, wenn jemand sehr engagiert sein kann und es zuweilen auch ist, aber sich zugleich ständig verzettelt und daher nicht zu Potte kommt, auch das eine lokale Formel. Oft kommt sie zu spät und leicht zerzaust zum Arbeitsbeginn, ermahnt von der KI-Stimme Bella, die alles im Blick hat und entsprechend schwer auszutricksen ist. Und um all das gut auszuhalten, um zugleich wenigstens finanziell ein bisschen besser über die Runden zu kommen, hat sie sich eine Art Nebenerwerb ausgedacht: Sie knipst hier und da den einen und anderen Trieb ab, pflanzt ihn daheim ein, zieht das Gewächs groß und verkauft es unter der Hand weiter. Ist das streng verboten, könnte das Konsequenzen haben, wenn es auffliegt, stände der Rauswurf bevor oder würde sich der Ärger in Grenzen halten, so ganz genau weiß Aylin das nicht. Und diese diffuse Spannung wird uns bald durch die Seiten tragen.

Und weil ein Mensch eine Familie braucht, auch in der Zukunft wird das so sein, bleibt Aylin nicht ganz allein. Und Zara Zerbe lacht: „In einer meiner frühen Geschichte taucht gleich im ersten Satz meine Mutter gleich auf, aber ich wollte meine arme Mutter nicht noch mal nerven; also dachte ich, ich gönne es mir mal, die Elterngenerationen auszulassen.“ Dabei ist ihre Mutter Gärtnerin!
„Ich wollte den Stoff in der Zukunft ansiedeln, aber ich wollte auch gerne eine Figur aus der gegenwärtigen Generation haben; Elternbeziehungen sind ja immer so schwer, sind nicht mein Ding, mit einem Großvater kann ich ganz gut arbeiten, wobei der mit meinem tatsächlichen Großvater nichts zu tun hat“, setzt Zara Zerbe hinzu.

Und so muss den familiären Bindungsjob Aylins Großvater übernehmen, ein einstiger Gärtner, ursprünglich hat er Philosophie studiert, doch dann ist er vor langer Zeit aus Kroatien nach Norddeutschland eingewandert, hat hier sein Leben lang hart gearbeitet und muss sich nun Mühe geben, mit Aylins jugendlichem Tempo mitzuhalten. Jedenfalls mögen sich die beiden, und wieder einmal klappt das Spiel mit dem Aufeinandertreffen der jungen und übernächsten Generation, entwickelt sich aus dem Aufeinandertreffen von von Opa und Enkelin immer wieder ein munteres Geschehen.

Erst recht weil Aylin sich um ihren Großvater nicht nur sorgt, sie will auch sein durch Lebenszeit und -sinn gewonnenes Wissen nicht kampflos dem Vergessen übergeben, nur kostet es flotte 350.000 Euro, sein Bewusstsein in eine pflanzliche Form zu überführen – wobei Aylin als Mitarbeiterin der Drosera AG auf einen Rabatt von 50 Prozent zählen könnte, was immer noch 175.000 Euro wären! Und was nun passiert, wird facettenreich und spannend, wird so kunst- wie humorvoll erzählt, auf ein durchaus offenes Ende hin. Und Zara Zerbe sagt: „Oh, ob es eine Fortsetzung gibt, das werde ich immer wieder gefragt“, und wenn dem so ist, dann scheint es dafür ja gute, wenn nicht beste Gründe zu geben.

Zara Zerbe lebt und schreibt und arbeitet in Kiel, immerhin eine bundesdeutsche Landeshauptstadt, die Ostsee fast vor der Tür, davor verbreitert sich nur die Förde, gesegnet mit erstem Wind und Wellen; Kiel ist eine lebenswerte Stadt, die zugleich einen schlechten Ruf hat: verbaut und langweilig, ach wie provinziell und dergleichen mehr hört man, wenn man etwa in Hamburg oder Berlin bekennt, dass man gerne nach Kiel fährt und sich dort auch noch wohlfühlt. Mag alles sein, doch zugleich und vor allem ist Kiel ein Ort, von Fläche und Einwohnerzahl nicht zu klein und nicht zu groß und damit geradezu geschaffen, sich einigermaßen anstrengungsfrei durchzusetzen, wenn man ein junger Mensch ist, den es nun mal ins Kreative verschlagen hat. Und so sagt Zara Zerbe mit der ihr eigenen Lässigkeit: „Kiel als Literaturort, das passt schon.“ Und dass der Nachteil, dass man das, was man kulturell erleben möchte, selbst organisieren und auf die Beine stellen müsse, sofort durch den Vorteil ausgeglichen werde, dass man dieses in Kiel auch könne und wenn man das ein paar Jahre mache, dann kenne man alle interessanten Leute. Von daher gelte auch: „Die Leute, die meine Konkurrenten sein könnten, mit denen bin ich eh befreundet.“ Mithin: Die Wege sind kurz und vor allem sind sie nicht versperrt.
Also gehört sie auch zum Team der Kieler Literaturzeitschrift „Der Schnipsel“, auch das ein Name, der in Berlin, Hamburg oder München sofort Spott und Hohn auslösen würde, in Kiel geht er aber sowas von in Ordnung. 23 Nummern hat man so seit 2012 realisiert. Und nebenher hat sie in den vergangenen Jahren alle lokalen Literatur-Preise eingeheimst; für das Schreiben an ihrem Debüt etwa konnte sie zuletzt auf das Arbeitsstipendium der Kulturstiftung Schleswig-Holstein zurückgreifen.

Und so strahlt sie die gelassene Zufriedenheit einer jungen Autorin aus, die wichtige Schritte gegangen ist: Die Kritiken waren durchweg positiv, erste Lesungen hat sie hinter sich, nächste sind verabredet, auch wenn es sich noch immer ein wenig unwirklich anfühle, dass nach diversen einzelnen Erzählungen nun ihr erster Roman tatsächlich gedruckt und gebunden vorliege. Und der will ja auch verkauft werden, will unter die Leute, und so geht sie regelmäßig bei sich um die Ecke zum Buchladen ihres Herzens, schaut dort vorbei, signiert weitere Bücher und hilft gelegentlich auch dem Buchhändler, einem Herrn alter Schule, mit dem Genre der Online-Bestellung besser klarzukommen, auch das ist Kiel.

Zara Zerbe wurde 1989 in Hamburg-Harburg geboren, hat Literatur- und Medienwissenschaften studiert und lebt als freie Autorin in Kiel. Sie ist Mitherausgeberin des Literaturmagazins „Der Schnipsel“ und veranstaltet die „Lesebühne FederKiel“ in der Hansa48 in Kiel. Ihre Erzählung „Limbus“, für die sie mit dem Preis Neue Prosa Schleswig-Holstein 2018/2019 ausgezeichnet wurde, ist 2020 im Sukultur Verlag erschienen. 2021 erschien die Novelle „Das Orakel von Bad Meisenfeld“ im stirnholz Verlag. 2022 wurde sie mit dem Kunstförderpreis des Landes Schleswig-Holstein ausgezeichnet. „Phytopia Plus“ ist ihr Debütroman.

Webseite der Autorin

Beitragsbild © Corinna Haug

Karl Ove Knausgård «Die Wölfe aus dem Wald der Ewigkeit», Luchterhand

1050 Seiten sattes Leben voller Verzweiflung und voller Hoffnungen: Karl Ove Knausgård schickt uns in ein sympathisch-chaotisches Universum und switcht dabei zwischen dem Südnorwegen der mittleren 1980er-Jahre und dem heutigen Russland – ein Stern am Himmel inklusive. 

Gastrezension von Frank Keil

Er erwacht, als die Lautsprecherstimme den Landeanflug ankündigt. Ein wenig enttäuscht ist er von sich, dass er eingeschlafen ist, statt den Flug zu genießen, den Blick auf die russische Landschaft, auf langgestreckte Wälder und sich schlängelnde Flüsse, vielleicht zwischendurch eine kleine Stadt, die auftauchen und dann wieder verschwinden würde. Syvert heißt unser Held, mit Nachnamen Løyning; verheiratet, die Kinder sind groß und also aus dem Haus, sein Bestattungsunternehmen läuft gut, sehr gut sogar, und nun ist er unterwegs zu seiner Schwester, die er noch nie gesehen hat. Er hat sich in Moskau in einem Hotel einquartiert, dass sich nicht weit vom Bolschoi Theater und vom Roten Platz entfernt befindet, das also recht zentral liegt. Er meldet sich via Facetime bei seiner Frau, gut angekommen sei er, vielleicht sollten sie sich ein Segelboot kaufen, wäre das nicht eine gute Idee? Er isst noch im Flughafen einen Hamburger, dazu Pommes und eine Cola. Dann lässt er sich zum Hotel fahren, checkt ein, schreibt seiner Schwester eine Nachricht, er sei jetzt in der Stadt, er freue ich auf das morgige Treffen, ein Zeichen soll es sein, mehr ist es nicht. Er nennt sie „little sister“. Wir sind auf Seite 924 angekommen, wir sind gespannt, was nun passieren wird.

In Südnorwegen beginnt alles zuvor, im Jahr 1986, in einer kleinen, vordergründig gesichtslosen Stadt an der Küste kommen wir hinzu, wo Syvert aufgewachsen ist: einerseits ist das lange her, in einer irgendwie anderen Zeit. Und andererseits ist alles wieder da, kaum hat er seine Tasche abgestellt, ist alles so wie neulich, weil sich in solchen Nestern mit Tankstelle und Videothek und der Schnellstraße und dem Fußballverein (Karl Ove Knausgård ist Fußballfan), wo er sofort wieder seinen Platz zugewiesen bekommt, dann doch wenig ändert, so wie auch die Kumpels von damals sich sofort umhören, wo er einen Job finden könnte, übergangsweise, bis er eine Idee hat, wie es weitergehen könnte mit seinem Leben (er hat keine Idee, gar keine), na ja, und da bietet sich der Job beim hiesigen Bestatter an, der immer Hilfe gebrauchen kann; besser als nichts, und im örtlichen Werk, wo sonst alle unterkommen ist gerade nichts frei, und seiner Mutter will er nicht länger auf der Tasche liegen, wie man so sagt, auch weil auf seine Mutter etwas zurollt, das sie zu verschlingen droht und sie hat doch schon ihr ganzes Leben so hart geackert, da will er sie unterstützen.

Syvert ist 19 Jahre alt, hat gerade seinen Militärdienst absolviert, als Koch bei der Marine. Kochen also kann er, als er zurückkehrt in sein Elternhaus, dass genaugenommen sein Mutterhaus ist, denn sein Vater ist seit einigen Jahren tot, bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen, nur noch schwach kann er sich an ihn erinnern, was sich ändern wird. Weil er nun nach und nach manches erfährt, dass er nicht wusste und was seinen Blick auf die Welt und besonders auf seine Eltern neu ausrichten wird, ob er das will oder nicht (er will es nicht, aber das Leben fragt ihn nicht, sondern es geht seinen Weg und nimmt ihn entsprechend an die Hand, falls er stolpert, und das tut er).

Er muss sich nur irgendwas halbwegs Überzeugendes ausdenken, was er Lisa sagt, was er jetzt arbeitet, übergangweise; Bestatter-Gehilfe klingt und wirkt da vielleicht nicht ganz so gut, wenn er mit ihr ausgehen will, dabei hat sie ihm klipp und klar gesagt, dass er absolut nicht ihr Typ ist und er sich keinerlei Hoffnung machen soll, aber so wie sie ist, wenn sie sich treffen, kann das eigentlich nicht sein.

Karl Ove Knausgård „Die Wölfe aus dem Wald der Ewigkeit“, aus dem Norwegischen von Paul Berf, Luchterhand, 2023, 1056 Seiten, CHF ca. 39.00, ISBN 978-3-630-87635-1

Ach ja: Karl Ove Knausgård, das ist der norwegische Romancier, dessen autofiktionales Werk „Min Kamp“, auf Deutsch zu übersetzen mit „Mein Kampf“, die Literaturgemeinde so tief spaltete: Sechs je kiloschwere Bände erschienen zwischen 2009 und 2011: „Sterben“, „Lieben“, Spielen“, „Leben“, „Träumen“ und dann „Kämpfen“, in denen er jeweils sein eigenes (Er)Leben zum Ausgangspunkt und noch mehr zum Fundus seiner Romane machte. Für die einen war das nicht mehr als manische und eitle Selbstbespiegelung von begrenztem Wert, für andere dagegen belebte er die Grundtechnik des Erzählens neu, gab er dem bis heute anhaltenden Siegeszug des autofiktionalen Erzählens den Grundimpuls. Nun hat sich Knausgård nach einer Art Zwischenschritt (einer Tetralogie von romanähnlichen Büchern, benannt nach den Jahreszeiten) dem rein fiktionalen Erzählen zugewandt und eine neue Reihe mit ebenfalls sechs Bänden angekündigt: der vorliegende ist nach „Der Morgenstern“ der zweite Band, so wie auch Syvert in Moskau einen Stern am Himmel sehen wird, der nicht weichen will und der die Millionenstadt in ein eigenes Licht tauchen wird.

Und dann ist damals noch etwas passiert, als wir Syvert als jungen Mann auf seinem Weg durch sein anfangs so zielloses Leben begleiten, in einem fernen, im mittleren Teil der Sowjetunion (mit dem Norwegen nordostwärts ein schmales Stück Grenze hat), in einem Krenkraftwerk in einem Ort bei Kiew mit Namen ‚Tschernobyl‘ und ist das nun beruhigend oder ist beunruhigend, was Syvert dazu im Radio hört, was die Experten sagen und was sind das zugleich für Briefe, die er beim Aufräumen in der Scheune bei den Sachen seines Vaters findet: Briefe auf Kyrillisch, Briefe offenbar von einer Frau, wer könnte die für ihn übersetzen und will er wirklich wissen, was dann da auf dem Papier vor ihm steht?

Und als wir wissen, was da zu lesen ist, so wie nun Syvert es weiß, eine Flasche Rotwein hat ihn dieses Wissen gekostet, verlassen wir ihn vorerst (keine Sorge: Wir treffen ihn wie schon erwähnt wieder, viele Jahre und eben einige Hundert Seiten später, die Sowjetunion gibt es entsprechend nicht mehr, und wir lernen Alevtina kennen, als desillusionierte Dozentin in der Post-Sowjetunion, doch Jahre vorher als aufgeweckte und vorwärtsstrebende Studentin, die zu Pilzen und ihren Verbindungen zu Bäumen forschte („Leben. Leben. Leben“, das sei der Sinn des Daseins, da ist sie sich sicher, als sie während einer Forschungs-Exkursion durch die einen nordkarelischen Wald taumelt und in Folge dieser Erkenntnis, wird sie sich bücken und einige der aus dem Boden ans Licht wachsenden Pilze essen), die nun gleichfalls in ihren Heimatort zurückkehren wird, um mit ihrem Vater dessen 80sten Geburtstag zu feiern, ein Geschenk hat sie nicht mit, dass muss sie noch besorgen (dringend!), am besten ein Buch (nur welches?), denn ihr Vater ist ein Büchermensch, ist es durch und durch, draußen liegt Schnee, es ist kalt, es ist richtig kalt, förmlich gefroren ist die Welt, und bei ihr ist es die Mutter, die schon lange tot ist, was nicht heißt, dass es auch zu ihr eine irgendwie magische Verbindung gibt, schwer zu erklären.  

Ein ganz spezielles Verhältnis haben entsprechend Tochter und Vater, dieser ein einstiger Komponist, wie in diesem Roman alle auftretenden Personen zu ihren Mitmenschen ein spezielles Verhältnis haben, wie sie sich begegnen, wie sie miteinander leben, wie sie wieder auseinandergehen, zunächst oder vorübergehend oder endgültig.

Und das sind nur einige, wenige Handlungsfäden, die hier stellvertretend skizziert und ausgerollt werden sollen (man könnte auch andere nehmen, es sind genug da), denn kaum hat man angefangen zu lesen, die ersten 50, dann 100 Seiten, hat man einerseits die Übersicht über das sich vor einem ausbreitenden Geschehen verloren und es gleichzeitig absolut genau erfasst.
Wie Knausgård so seinen Helden vertraut, wie er sie in die Welt schickt, wo sie sich verlieren, wo sie sich wiederfinden (und umgekehrt), suchen sie in beiden Fällen nach Orientierung – entlang der großen Fragen: Wer bestimmt mein Leben? Wovon hängen meine Entscheidungen ab? Weiß ich, was ich tue? Und wenn nicht, wer dann?

Und was ist mit dem Tod? Wie lässt er sich erklären – und wie lässt er sich überwinden? ‚Komismus‘ ist ein Stichwort, das zwei-, dreimal fällt, eine zunächst philosophische und damit gedankliche Richtung, entstanden und auf den Weg gebracht im Russland in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, die nichts Geringeres forderte (und fordert), als: Unsterblichkeit für alle! Dann in den praktischen Wissenschaften weitergeführt im sowjetischen Kommunismus, in der Biologie, der Physik, mal offiziell, mal im Verborgenen, je nach Stand der Kämpfe im innersowjetischen Machtgefüge. So dass dieser Roman in einer ganz eigenen Schwebe gehalten wird: Wir betreten die intime Alltagswelt unserer Helden, versuchen es uns dort wohnlich zu machen, was Seite für Seite immer besser gelingt – und zugleich wirkt und durchdringt all das ein so rätselhaftes wie magisches Denksystem, das verwirrt und angenehm verstört. 

Wunderbar geschrieben (übrigens), dramaturgisch hervorragend komponiert (dito), von einer sprachlichen Wucht getragen, die seinesgleichen sucht – und so sollte man sich vom Umfang dieses Werkes (!) so gar nicht beeindrucken oder gar einschüchtern lassen: Wenn es auf das Ende zugeht, möchte man nicht, dass es endet, möchte man, dass es weitergeht, dass es immer weitergeht (dass auch die Geschichte(n) von Jewgenij und von Vasilisa weitererzählt werden und sich weitere Erzählfäden vernetzen) und welches Buch vermag das schon, einen in so einen nüchternen Rausch zu versetzen. Was ein Glück also, dass Karl Ove Knausgård weitere Bände angekündigt hat, die sicherlich je ganz andere Wege gehen, vielleicht begegnen wir den uns gerade liebgewonnen Helden wieder, vielleicht auch gerade nicht, wie auch immer, es wird ein Fest werden.

Karl Ove Knausgård wurde 1968 geboren und gilt als wichtigster norwegischer Autor der Gegenwart. Die Romane seines sechsbändigen, autobiographischen Projektes wurden weltweit zur Sensation. Sie sind in über 30 Sprachen übersetzt und vielfach preisgekrönt. 2015 erhielt Karl Ove Knausgård den WELT-Literaturpreis, 2017 den Österreichischen Staatspreis für Europäische Literatur. Er lebt in London.

Paul Berf, geboren 1963 in Frechen bei Köln, lebt nach seinem Skandinavistikstudium als freier Übersetzer in Köln. Er übertrug u. a. Henning Mankell, Kjell Westö, Aris Fioretos und Selma Lagerlöf ins Deutsche. 2005 wurde er mit dem Übersetzerpreis der Schwedischen Akademie ausgezeichnet.

Beitragsbild © Sølve Sundsbø

„Ich bin in erster Linie ein Leser“

Über volle Satteltaschen, das eigene Schreiben und die Lust am Moderieren – eine Begegnung mit dem Literaturliebhaber und Kritiker Gallus Frei-Tomic, nach 1000 Artikeln auf seiner Literaturwebseite literaturblatt.ch.

Frank Keil

von Frank Keil; Hamburg
freier Journalist

Am frühen Morgen wie versprochen, die E-Mail:
„Lieber Frank, als ich dann merkte, wie schwer die Bücher sind, packte ich doch nur 5 ein: Ulrike Edschmid „Levys Testament“, Wolfgang Hermann „Herr Faustini bekommt Besuch“, Pascal Janoviak „Der Zoo in Rom“, Peter Terrin „Blanko“ und Patricia Melo „Gestapelte Frauen“.

Am Tag zuvor hatte mich Gallus Frei-Tomic mittags vom Bahnhof von Frauenfeld abgeholt. Er hatte auf den kleinen Rollkoffer gezeigt, den er gleich ratternd durch die Straßen ziehen würde: „Meine Abendgarderobe“, die Erklärung. Dann die Frage: „Magst du etwas essen?“ Gerne! Ich war schließlich einmal durch die halbe Schweiz gefahren, durch dieses für mich so fremde, freundliche und aufgeräumte Land.
Wir setzen uns ins ‚La Terrasse‘, ein großer Schirm hält die Sonne fern, wir bestellen das Menü Eins und das Menü Zwei. Alle viertel Stunde fährt grollend der Stadtbus vorbei. Auch zu hören: die Glockenschläge der Stadtkirche St. Nikolaus, ebenso aller 15 Minuten, aber zeitversetzt. Mein Aufnahmegerät steht zwischen uns; manchmal, wenn wir im Eifer des Gesprächs mit den Beinen oder den Ellenbogen gegen den Tisch stoßen, fällt es um und will wieder aufgerichtet werden und das geschieht dann.

Er ist so selbstverständlich gut gelaunt wie ich ihn von unseren zugegeben wenigen Treffen kenne. Strahlt und macht sich über den das Menü einleitenden Salat her. Und fängt gleich an zu erzählen: von der Fahrradtour, die er morgen in aller Frühe starten wird, den Rhein hinauf bis hoch nach Köln, wenn alles gut geht. Er sagt: „Ich stelle mir vor, ich fahre so mit dem Fahrrad, komme irgendwo um zwei Uhr an, ziehe meine Radlersachen aus, dann lege ich mich irgendwo auf eine Wiese oder – keine Ahnung – ich sitze in einem Garten-Restaurant, lese, schreibe.“
Entsprechend wird er in den Satteltaschen Bücher haben. Aber welche? Schwierig. Nur eines ist gewiss: „Ich nehme viele Autoren mit, die ich nicht kenne. Ich muss mich bei der Rezensiererei sehr fest bemühen, dass ich nicht immer wieder meinen Lieblingen verfalle, manchmal werde ich auch von den Lieblingen enttäuscht.“ 
Die Getränke kommen. Für ihn eine Selter, für mich eine Rivella (rot), weil ich das immer witzig finde, in der Schweiz eine Rivella zu bestellen, ich bleibe damit immer der einzige, bisher jedenfalls.

Also die Reise, die Fahrradtour: Er plündert dafür seine Extrakasse; die Kasse, in der sich das Geld sammelt, das er nebenher für Rezensionen in Zeitungen außerhalb seiner handschriftlich verfassten und auf echtem Papier gedruckten Literaturblattes und seiner Plattform www.literaturblatt.ch bekommt, also verdient. Und dass er eben bewahrt und sammelt, dieses Geld der Leidenschaft, für Unternehmungen, für die er nicht die häusliche Familienkasse belasten möchte. Extrageld, also, seine Vergnügungspauschale.

Aber wie hat es eigentlich alles angefangen mit dieser so Gallus’schen Bücherleidenschaft? Das will ich natürlich wissen. Aber noch ist es nicht so weit. Noch sind wir beim Warmplaudern, schauen nebenher nach links und nach rechts, wer da so neben uns sitzt. Der Himmel ist hoch und blau.

(Wir werden später, satt und zufrieden, noch in die Buchhandlung am Ort gehen und zueinander Sätze sagen wie „Habe ich noch nicht gelesen, soll aber richtig gut sein …“ oder „Diesmal war ich enttäuscht, dabei ist sie so eine gute Autorin …“ oder „Einer meiner Lieblingsautoren, ist aber Geschmackssache …“, während uns die Buchhändlerin ein wenig säuerlich beobachtet, weil wir ja doch nichts kaufen werden, wie wir da um die vollgepackten Büchertische tänzeln, wir bekommen ja so gut wie alles an Büchern geschickt, aber dieser Buchhandlungsbesuch kommt noch, am Ende).

Also: Wie hat es eigentlich angefangen? 
Oder soll ich nicht erst mal fragen, ob er eigentlich selbst schreibt? Oder ist das zu direkt, zu sehr mit der Tür ins Haus gefallen, wie man bei uns sagt? 
„Also weißt du …“, sagt er nach einer langen Pause, als ich dann frage: ‚Schreibst du eigentlich auch literarisch?‘ „Probiert habe ich es schon oft, schon ganz früh.“
Er legt sein Besteck kurz zur Seite, faltet die Hände, als müsse er sich sammeln: „Ich habe schon mal ein Manuskript fertig gemacht, das hieß ‚Der Bruch‘. Ich habe es sogar verschickt, denn ich fand es gut“, sagt er schließlich. 
Er bekam damals bald von den Verlagen leicht erkennbar vorgefertigte Absagen zugeschickt. Was auch einem Freund so erging, der gleichfalls ein Manuskript bei diversen Verlagen eingereicht hatte: „Wir haben dann diese Absagen auf einer großen Platte aus Messing abgelegt, haben sie ritisch verbrannt und sind um dieses Feuer getanzt.“ Er lacht und nimmt Messer und Gabel wieder in die Hand: „Damit war es vergessen und weggelegt, aber ich schreibe eigentlich immer Tagebuch.“
Er beugt sich zur Seite und holt aus dem Koffer ein dickeres Heft, Format etwa Din A 5, schlägt es auf, zeigt die Seiten, engstens Zeile für Zeile eng beschrieben. Robert-Walser, denke ich, „So Robert-Walser-mäßig“, sagt er. „Wobei: Es ist schon lesbar.“ 
Und nach einer Pause, ich merke, die Frage nach seinem Schreiben, dem eigenen, lässt ihn nicht los, er nimmt einen neuen Schwung: „Vor zwei Jahren habe ich mich um einen Schreibaufenthalt bemüht und war tatsächlich einen Monat im Meran, und ich habe mich bemüht, dass ich mir nicht allzu viele Hoffnungen mache, dass in diesen vier Wochen irgendwas passiert.“
Also: kein Plan, keine Ideen-Skizze, nichts habe er sich vorgenommen, rein gar nichts. Stattdessen dabei: ein Koffer voller Bücher. „Ich habe mir gesagt: ‚Gallus, alles gut‘.“ Denn wenn nichts passiere, lese er eben den Koffer leer, und dann schrieb er vier Wochen lang: „160 Seiten, wie in Ektase, das habe ich genossen, in diesem ekstatischen, völlig ungestörten Zustand zu sein – aber am Schluss gab es einen Rohling.“ Er wiegt seinen Kopf leicht hin und her: „Ich habe es dann gewissen Leuten zum Lesen gegeben, die haben gesagt, es hätte gutes darin, aber es sei ungeschliffen.“ 
Er hebt ein wenig abwehrend die Hände: „Ich sage nicht ‚Diamant‘ – sondern: ‚ungeschliffen‘.“ 
Aber er hätte dann nicht den Ehrgeiz gehabt, vielleicht nicht die Kraft, noch mal in die Vollen zu gehen: „Gallus, habe ich mir gesagt, da musst du dich entscheiden, willst du auf die Fährte setzen, ich schreibe selbst was und vielleicht wird was draus und vielleicht auch nicht – oder machst du weiter, wo ich jetzt schon weiß, dass ich es kann und dass es zumindest von ein paar Leuten gelesen wird.“
Er hat sich entschieden. Aber ist die Entscheidung auch gültig? „Es tut nicht weh“, sagt er nun abschließend: „Ich denke auch nicht von mir: Eigentlich geht der Welt was ab, geht ihr was verloren, wenn ich nicht dran bleibe.“ Will zum nächsten Thema springen (gleich!), sagt dann: „Obwohl, manchmal lese ich schon ein Buch, wo ich ein wenig überheblich denke …“

„Es sind die guten Bücher, die mich wirklich verblüffen und die meine Welten bei weitem überschreiten“, setzt er nach. Wie bei Rolf Lappert. „Dieser Rolf Lappert“, sagt er und schnalzt fast mit der Zunge: „Dieses episch breite Erzählen – ich habe keine Ahnung, wie ich das angehen würde. Also was der Rolf Lappert jedes Mal abliefere: „Ein Monolith! Und nicht eine Ansammlung von Steinen.“

Heute Abend wird er ihn moderieren, im Literaturhaus Thurgau, sozusagen nebenan, das Haus, dass er seit einiger Zeit leitet, dazu später mehr: „Ich mache das wahnsinnig gerne, ich moderiere extrem gerne.“ Der Rolf Lappert war schon bei ihm zu Hause, war zu Gast, las, man sprach, man aß gemeinsam, am Familientisch, „Literatur am Tisch“, heißt die Veranstaltung, falls ‚Veranstaltung‘ noch der richtige Begriff ist. „Wenn ich dann noch die Autoren persönlich kenne“, ist er wieder bei heute Abend, bei den Stunden, die noch kommen werden, „macht das nur Freude, und ich genieße dieses Engagement. Wenn ich Programm mache, das ist wie ein Geschenk. Ich habe quasi eine Freikarte, mir die Leute ins Haus zu holen, die ich gerne habe. Wer kann das schon? Ich! Finde ich super.“

Das Beste sei gewesen, dass ihn die Stiftung, die das Literaturhaus Thurgau führt und also finanziert, angefragt habe, ob er sich das vorstellen kann: eben jenes Haus die nächsten drei Jahre zu leiten: „Das setzt ja voraus, dass man das Gefühl hat, ich sei der richtige Mann für diese Aufgabe. Weil: Hätte ich mich bewerben müssen, hätte ich niemals den Mut gehabt.“ Er habe ja nicht Literaturwissenschaft studiert. Er sagt und sagt es mit schlichter Präsenz: „Ich bin in erster Linie ein Leser.“

Und nun steht der abschließende Kaffee vor uns, in Espresso-Form und wuchtig-schaumig als Latte macciato, der danach ruft, dass man mit dem langstieligen Löffel rührt und rührt, dass sich Kaffeebraun und Milchweiß mischt: „Mein Glück ist, dass ich vor fünf Jahren mit dieser Bloggerei begonnen habe. Weißt du, da fängst du an und dann siehst du Besucherzahlen, hast pro Tag zwei Besucher. Das war für mich schon verblüffend, dass diese fünf Jahre, die ich das jetzt mache, das Bloggen, das sie gereicht haben, dass ich zumindest in der kleinen Literaturszene Schweiz meinen Platz bekommen habe. Das war nicht mein Ziel! Es war eine schöne Begleiterscheinung.“

Sein eigentliches Rückgrat sind zuvor seine ‚Literaturblätter‘, handschriftlich niedergeschrieben empfiehlt er je vier herausragende Bücher fünfmal im Jahr; seit zehn Jahren gibt er sie verschickend heraus, nur an zahlende Abonnenten, von denen er gut 200 hat, die „Freunde der Literaturblätter“. 
Und dann, vor fünfeinhalb Jahren, hat er, der hauptberufliche Lehrer („‘Primarlehrer‘ sagt man bei uns in der Schweiz, also ‚Grundschullehrer‘ bei euch“, sagt er), ein Burnout: „Vor dem Burnout hat mir mein Schwiegersohn auf meinen Geburtstag die Domäne geschenkt, weil er der Meinung war: ‚Gallus, du musst Werbung machen für dein Literaturblatt‘.“ Und dann hat er diese Domäne. Mehr nicht. 
Er holt tief Luft: „Ja, dann war dieses Burnout, ich musste mich irgendwie beschäftigten, habe angefangen mit diesem Literaturblatt.ch, aus einer Not heraus, ich musste eine Aufgabe haben – in einer Zeit, wo ich dachte: Ich kann nie wieder unterrichten, ich hatte Angst auf der Straße meinen Schülern zu begegnen, ich hatte Existenzängste, ich war ja schon über 50 und fragte mich: Wozu kann man mich noch brauchen?“ Er nickt: „Und da war dieses Literaturblatt.ch genau das Richtige.“

Das war die erste Initialzündung. Und dann die zweite, da ist der März vorbei, das Frühjahr steht vor der Tür, er kann sechs Einträge, also Beiträge auf seinem Literaturblatt-Blog vorweisen: „Und dann habe ich stinkfrech das Literaturfestival im Leukerbad angefragt, ob ich für meinen Blog über das Festival berichten darf.“ Ja, natürlich dürfe er. 
Er fährt hin, er meldet sich bei der Festivalleitung an, stellt sich vor; sagt, wer er ist: „Ich hatte schon erwartet, dass ich eine Dauerkarte für die Lesungen bekomme – aber die haben mir das Hotel bezahlt!“
Und dann, nach einem kurzen Moment, platzt es aus ihm heraus, eine kleine Freudenexplosion: „Das war so schön!“ Sagt: „Ich hatte noch keine Klicks, hatte gar nichts, niemand hat mich gekannt und die bezahlen mir das Hotel.“ Und er weiß damals, dass er gelesen wird, dass man ihn wahrnimmt, und er sagt abschließend: „Es war eine Erleuchtung.

“
Ich schaue ihn an, sehe, wie er sich noch heute freut, wie er glücklich ist, nebenan wird neu eingedeckt, der Stadtbus ist zu hören, wie der Fahrer die Gänge schaltet, die nächste Uhrzeit wird glockenschlagend verkündet, wir nicken uns zu, stehen auf, rücken dabei die Stühle knarrend zurück, er greift nach seinem Rollkoffer: „Wollen wir noch eine kleine Runde gehen? Da oben gibt es noch eine Buchhandlung …“

Michael Buselmeier «Elisabeth. Ein Abschied», Morio Verlag

Sie fällt vom Fahrrad, weiss dann kaum noch, wo sie ist, und er schreibt gegen das Verschwinden an – Michael Buselmeier erzählt in „Elisabeth“ herzergreifend von der Demenzerkrankung seiner Frau und kommt selbst nicht gut weg dabei.

Frank Keil

Bilanz eines Abschieds
von Frank Keil

Es beginnt schleichend, man weiss das, man hat das oft genug gelesen, hat es auch gehört, aus dem Freundes- und Bekanntenkreis, womöglich aus der Familie: Da wird jemand unkonzentriert, fahrig, wirkt kurz orientierungslos und dann ist alles wieder gut und alles an seinem Platz. Bis die nächsten Irritationen einsetzen, Seltsamkeiten, ‚das musst du doch wissen‘, sagt man dann; fragt, was denn los sei. Und will den naheliegenden Gedanken nicht denken.

Bei Elisabeth Buselmeier, Michael Buselmeier Frau, er selbst Jahrgang 1938, damit nach unseren heutigen Massstäben solide alt, aber noch nicht hochbetagt, das kommt noch, beginnt die Verwirrung sich zu verstärken nach ihrer Pensionierung, nach einem aufreibenden Leben als Dozentin an der Frankfurter Hochschule und noch dazu hat sie sich um das Haus zu kümmern, um den Haushalt, um den Garten und die Texte ihres Mannes, die abzutippen waren. Und nun notiert er: «Elisabeth ist nicht mehr die Frau, die ich vor einem halben Jahrhundert geheiratet habe.» Zuvor hat er sich nicht ohne ironische Selbstbetrachtung an all die Dichter erinnert, deren Frauen oft weit vor ihren Künstler-Männern starben: Orpheus, Novalis, Benn, Pound, Rilke, Kafka. «Und andere», wie er verlegen hinzu setzt.

Dabei sollte anderes geschehen: Seine Frau sollte endlich Zeit und Ruhe und Kraft finden ihr eigenes Werk in Angriff zu nehmen, es durchzuarbeiten und es zu beenden, wo es doch seit Jahrzehnten auf den Weg geschickt ist: eine grosse wissenschaftliche Arbeit, die Geschichte der Heidelberger Germanistik zu schreiben. Das Material füllt dicht aneinandergereihte Aktenordner, prall bestückt mit Exzerpten, mit Entwürfen, mit ausgewerteten Archivfunden; mit Zeitzeugenberichten greiser Professoren, wie Buselmeier Michael diffizil schreibt. Doch das Scheitern dieses schreibenden Projektes ist unübersehbar, das geht nicht spurlos an einem vorbei, der fürs und der mit dem Schreiben lebt: «Schon lange ist sie mir keine Gesprächspartnerin mehr», auch diese Notiz findet sich, gemeint ist natürlich seine Frau.

Die langsam wegdriftet, die auch tagsüber Stunden im Bett liegt, sich hin und her wälzt, die dafür nachts durchs Haus irrt, die sich ihre Hemden falsch herum anzieht, die keine Termine mehr einzuhalten versteht, bei der Gymnastik, beim Klavierunterricht, die während freudig erwarteter Familientreffen teilnahmslos danebenhockt, die auf Depressionen hin durchgecheckt und behandelt wird, bis weitere ärztliche Untersuchungen sachliche Gewissheit bringen.

Michael Buselmeier «Elisabeth», Morio Verlag, 2021, 200 Seiten, CHF 27.90, ISBN: 978-3-945424-86-5

Buselmeier erzählt immer auch von sich, wenn er von seiner Frau erzählt, er lässt tief blicken, wie er, ohnehin vom eigenen Alter mehr als gebeutelt, versucht noch zum Schreiben zu finden, während seine Frau im Haus lärmt oder mit dem Fahrrad unterwegs ist und womöglich schon bald von besorgten Nachbarn oder gleich der Polizei zurückgebracht wird, mit leichteren oder schwereren Blessuren, auf jeden Fall ohne Fahrrad, das wird er nun irgendwo im Dunklen in der Gegend suchen und finden müssen. Dabei muss er doch schreiben, muss weiterschreiben, muss sich fertigschreiben, es ist nicht noch genug und lange nicht zu Ende, was er bisher zu Papier gebracht hat, wie man so sagt.
Wütend schreibt er zugleich gegen das Schreibende an, gegen die Unverschämtheiten des Alters, die mürben Knochen, die Halsentzündung, die Rückenschmerzen, die längst dazugehören; dazu der Druck der nachrückenden Dichtergeneration, die einen aus dem Weg drängt, all die jungen Kerle, die ihren Platz wollen, während sich schon die nächsten aufmachen, die ‚Hier!‘ und ‚Ich!‘ schreien und es eilig haben.
Reicht das nicht allein? Ist das nicht schon schwer genug und schon so kaum auszuhalten? Und nun muss noch die eigene Frau dement werden und alles vergessen, am Ende auch ihn?
Obwohl: Wer weiss, wer sich in zehn, zwanzig Jahren überhaupt noch an ihn erinnern wird, trotz der Literaturpreise und der Ehrungen und der Bücher mit seinem Namen auf dem Einband, auf dem Cover, die man ins Regal stellen kann; was er dann für Figur ist im Literaturkanon, der ja selbst immer mehr an Bedeutung verliert, auch das ist Schmerz, der kaum auszuhalten ist.
Und so ist es kein Wunder, das er an einigen, wenigen Stellen die Kollegen heranzieht, er ist ja nicht der erste, der mit Demenz zu tun hatte und der – wozu ist er Schriftsteller – schreibend zu reagieren und das mit ihm Geschehene zu erfassen sucht: Arno Geigers freundlich-lustiges Roman-Porträt seines Vaters in ‚Der alte König in seinem Exil‘, das so erfolgreich war für den Sohn, haben wir das nicht alle gerne gelesen, voraustankend Trost darin vermutet – er glaubt ihm heute kein Wort mehr. Dagegen setzt er das am Ende kurz, brutale Schicksal des wesensverwandten Schriftstellers Günter Herburger, nicht nur ein Altersgenosse, sondern auch einer, der mit dem Leben so schwer hadert (drei gebrochene Lendenwirbel, niemand will seinen gewiss letzten Gedichtband herausgeben, das könnte man doch erwarten); und der bald an den Folgen eines Hausbrandes stirbt, den vermutlich seine Alzheimer-kranke Frau gelegt hat. Da – und das ist die Botschaft, die ankommt – ist es dann endgültig vorbei mit dem Schick der Demenz.

Denn und dann – der Schluss: Buselmeier, der Mann, der Schriftsteller, der Chronist der Krankheit, er zieht sich zurück, er lässt seine Frau zu Wort kommen. Erlaubt uns in einige, wenige, aber prägnante Dokumente schauen: Zettel, Notizen, kurze Berichte, Notate. Aus dem Krankenhaus, in dem sie untersucht wird und aus dem sie nur noch raus will. An einen Hund erinnert sich Elisabeth Buselmeier, der überfahren wurde, recht schnell, ein Dackel. Einen letzten Artikel – schreibt sie – hat sie noch veröffentlicht, unter grossen Mühen. Ihr grosses Schreibprojekt aber, es verweht: «Unsere Kinder, spätestens die Enkel, werden diese Fragmente einmal wegwerfen müssen, um sich von ihnen zu befreien.» Bilanz eines Abschieds.
Und vieles, das man eben gelesen und dem man gefolgt ist, erscheint in einem doppelt schlaghellen Licht: wie Elisabeth, die Schriftstellerfrau, notiert, wie ihr nach und nach die Gewissheiten verloren gehen. Wie sie einsamer und einsamer wird, in sich selbst. Wie ihr Mann ihr immer weniger der Mann und der Gefährte und der ‚Lebensmensch‘ ist, wie Thomas Bernhard den anderen genannt hat, den man doch so braucht, erst recht zum Schluss. 

Michael Buselmeier wurde 1938 in Berlin geboren und wuchs in Heidelberg auf, wo er bis heute als Schriftsteller, Publizist, Herausgeber und Literarischer Stadtführer lebt. Zahlreiche Veröffentlichungen. 2010 erhielt Buselmeier den Ben-Witter-Preis der ZEIT-Stiftung, 2011 stand er mit «Wunsiedel» auf der Shortlist zum Deutschen Buchpreis, 2014 wurde ihm der Gustav-Regler-Preis der Stadt Merzig und des Saarländischen Rundfunks verliehen. Zuletzt erschienen bei Morio die Heidelberger Schloß-Anthologie «Alles will für dich erglühen» und der Gedichtband «Mein Bruder mein Tier» (beide 2018).

Beitragsbild © Philipp Rothe

Katrin Seddig «Sicherheitszone», Rowohlt

Als die Hubschrauber über der Stadt kreisten und Staatschefs durch die Strassen eskortiert wurden – Katrin Seddig nutzt die bis heute diskutierten Auseinandersetzungen um das G20-Treffen 2017 in Hamburg für einen fulminanten Familienroman: „Sicherheitszone“.

Frank Keil

„Menschen enttäuschen andere Menschen“
von Frank Keil, freier Journalist

Als es zum eigentlichen Geschehen geht, haben wir schon 216 Seiten gelesen. Sind wir eingetaucht in das Leben der Familie Koschmieder, sind vertraut worden mit den verschiedenen Mitgliedern, jung und alt, Männer und Frauen. Haben unsere Sympathien mal diesem, mal jenem zuweilen recht grossherzig gegeben – und sie bald wieder abgezogen. Denn Familie – oha! Da weiss man nie, da fühlt man sich schnell selbst angesprochen – und ertappt.

„Eine deutsche Familie“, so nüchtern sollte er ursprünglich heissen, ihr Familienroman. Der von einer Familie zu erzählen sucht, in dem Moment, wo sie noch besteht und sich zugleich auflöst, aber auch eine Familie bleibt, irgendwie. Katrin Seddig skizziert die Ausgangssituation: „Die Kinder gehen aus dem Haus und die Eltern fangen an sich aus der Familie zu befreien, die ja keine Familie mehr ist.“

Bei den Koschmieders in Hamburg-Marienthal, einem gediegenen und zugleich abgeschiedenen Hamburger Stadtteil, zu dem eine gewisse Unauffälligkeit gehört, wohnen drei Generationen unter einem Dach, noch. Und auch das mit „unter einem Dach“ ist eine nicht ganz eindeutige und damit zu deutende Sache: Denn Thomas Koschmieder, Vater, Ehemann und Sohn in einer Person, wie das oft vorkommt, wohnt neuerdings in der Gästewohnung über der Garage. 52 Jahre ist er alt, was einerseits kein Alter ist, wie man so sagt, aber jung ist er nun mal auch nicht mehr. Weshalb er wohl selbst am meisten überrascht ist, dass er sich so schnell wieder verliebte – und dass dieses Verlieben mit Verlieben beantwortet wurde: von der Lehrerin seiner Tochter, ausgerechnet.

Was ihn auch irritiert: wie er ebenso von Eifersucht geplagt die gleichfalls neue Liebschaft seiner Exfrau Natascha verfolgt, sie beobachtet, die plötzlich so aufblüht, so locker und so entspannt wirkt – und die trotzdem weiter seine Wäsche bügelt! Was er auch nicht versteht: Warum ausgerechnet er bald eine Ladung Pfefferspray ins Gesicht bekommt, als er an einer Polizeikette vorbeikommt, einfach so, eben im Vorübergehen. Und dann sind da noch seine Kinder, die ihm entgleiten und seine Mutter, die ihn bittet, sich bitte-bitte zusammenzureissen. Auch als Chef eines kleinen Antiquitätenladens (er hat ursprünglich Linguistik studiert) ist er nicht unbedingt immer Herr des Geschehens.

„Auf dem Fensterbrett stehen Zimmerpflanzen, die nicht lebten und die nicht tot waren“, so skizziert Katrin Seddig ein Detail in seinem neuen Übergangsheim. Sie lacht: „Solche Zimmerpflanzen kennt man doch! Man muss sich nur entscheiden, ob man sie nun wegwirft oder ob man sie noch mal beschneidet, düngt, sie vielleicht umtopft.“ Aber diese Entscheidung sei, wenn man um die 50 ist, einfach sehr schwer: „Man hat sie schon zu oft umgetopft.“
Überhaupt, der Thomas: „Er ist einsam, er ist mittelalt, aber er fährt Fahrrad“, ist über ihn zu lesen. Sie nickt wieder: „In dem Alter, indem er ist, werden viele Männer noch mal sportlich; sie haben dann ein Rennrad für 1000 Euro.“ Denn es müsse ja nicht immer das neue Auto sein oder die neue junge Frau. „Fahrradfahren ist schon okay, auch wenn es nicht die Revolte ist“, sagt sie.
„Thomas ist die Figur, die am nächsten an mir dran ist“, sagt sie langsam. Sagt: „Wenn ich schreibe, sind die Figuren, die ich am meisten verachte, die, in denen ich mich am meisten wiederfinde.“ Es sei dann eine Art von Liebe, von Fürsorge mit im Spiel. „Mich interessiert nicht der Böse, der komplett anders ist als ich, sondern der Mensch, der sich falsch oder lächerlich verhält und in dem ich mich wiedererkenne“, sagt sie.

Und das ist entsprechend das Schöne an Katrin Seddigs Romanen: Sie sind weder Aufrechnungen noch Abrechnungen, wo Eins und Eins unbedingt Zwei und keine andere Summe ergibt. Das gilt auch für ihre Heldin Helga, die Mutter von Thomas, die zu Zusammen-Reisserin. 87 Jahre ist sie alt, die verlässlich ihre Pillen nehmen muss, aber die das immer wieder vergisst und dann durch die Siedlung irrt, bis eine gnädige Nachbarin sie dann auf eine Tasse Kaffee rettet. Entsprechend verstört, aber auch verbittert schaut sie auf das Leben, dass sich für sie dem Ende entgegen neigt. Obwohl selbst Flüchtlingskind, damals auf einem Treck aus Ostpreussen, die kämpfenden Truppen im Nacken und eingehüllt in eine Wolke aus Angst, Panik und Entsetzen, schlägt ihr Herz nicht für Geflüchtete. Im Gegenteil: die sollen verschwinden, dies Packzeug. Eines ihrer Lebensmottos lautet daher: „Gefühle sind was für Kinder.“ Und wenn sich ihr Sohn ihr mal anvertrauen will, heißt es schnauzend: „Red‘ mir doch nicht von Liebe!“

Katrin Seddig holt tief Luft: „Ich kenne diese Einstellung dieser Generation, eine recht harte Generation.“ Liebe werde nicht so romantisiert, wie wir das heute tun würden: „Da hat man zu seinem Partner gestanden, weil das eine Art von Pflicht war; man hat auch nicht die Familie verlassen, weil es für viele von Vorteil war, für die Kinder zum Beispiel“, sagt sie.
„Ich hätte Helga auch als alte Nazi-Frau skizzieren können, sie ist wirklich politisch ungebildet, da geht vieles durcheinander“, erzählt sie weiter. Aber – Helga liebt ihren Enkel Alexander; ist dann voller Mitgefühl und Verständnis für ihn, der seine ganz eigenen Probleme hat: Alexander ist Polizist, er wird beim G20-Gipfel eingesetzt werden, aber weit mehr beschäftigt ihn, ob sich sein Kollege Simon auch in ihn verliebt hat, wenn er denn in Simon verliebt ist. Da ist sie: die Kompliziertheit der Welt, die Katrin Seddig schreibend antreibt.
Jedenfalls Helga: „Menschen sind sehr schwierig. Sie sind vielschichtig, ambivalent in ihren Einstellungen, deswegen sind sie so schwer zu fassen, wenn man ihnen gerecht werden will“, greift Katrin Seddig den Faden wieder auf. Oder wie sie es noch eine andere Heldin, Thomas Tochter, die 17jährige Imke, engagiert bei „Jugend gegen G20“, sagen lässt: „Menschen enttäuschen andere Menschen.“ Katrin Seddig nickt. Nickt nochmals.

Und das eben wird erzählt im Schatten wie im Scheinwerferlicht des G20-Gipfels, was am Anfang, als Katrin Seddig erste Szenen entwarf, so gar nicht vorgesehen war. Aber dann ist viel unterwegs, in den frühen Juli-Tagen 2017, als tage- und vor allem nächtelang die Hubschrauber über der Stadt kreisten, das Schanzenviertel in eben Sicherheitszonen eingeteilt war und als selbst Hamburger Medien, die sonst so heimattreu berichten, kritische Fragen stellten von wegen: muss das alles wirklich sein? Und was holt man sich mit Trump, Putin und Bolsonaro eigentlich für Leute ins Haus?

Katrin Seddig war nicht als Aktivistin auf den Beinen, sondern als Beobachterin. Sie hat entsprechend vieles gesehen und vieles auch nicht gesehen, an Friedlichem, an Heftigem, von dem dann überall erzählt wurde. „Ich war sehr verwirrt in dieser Zeit“, gesteht sie, „weil ich so viele verschiedene Geschichten gehört habe und sich auch mein Standpunkt ständig verschoben hat.“
Was sie daher bis heute auch beschäftigt: „Bei G20 war es oft so, dass Leute, die nicht in Hamburg leben, die auch nicht vor Ort waren, genau wussten, was hier losgewesen ist.“ Sie schüttelt den Kopf: „Sie wissen, was hier passiert ist, obwohl sie nicht da waren und auch nichts gesehen haben.“ Noch immer staunt sie darüber.

Es ist dieses Staunen und es ist der Versuch zu fassen, was passiert sein mag, im grossen Politischen wie im scheinbar kleinen, Familiären, das diesen Roman immer wieder anfeuert. Und der eben auch davon erzählt, wie schnell Gewissheiten ins Wanken geraten, wie uneindeutig Eindeutigkeiten werden, wenn man nur mal auf die Rückseite schaut und was es daher an Aufmerksamkeit braucht, um halbwegs für sich eine vage Gewissheit von etwas formulieren zu können, die vielleicht auch morgen noch Bestand hat.
Das letzte Wort gehört daher Natascha Koschmieder, Thomas Ex-Frau, jedenfalls ist sie das noch zu dem Zeitpunkt, wo wir das Romangeschehen leider wieder verlassen müssen. Sie sagt zwischendurch, schreibt Katrin Seddig: „Man müsste jede einzelne Geschichte jedes einzelnen Menschen erzählen.“ 

© Bruno Seddig

Katrin Seddig, geboren in Strausberg, studierte Philosophie in Hamburg, wo sie auch heute mit ihrer Familie lebt. Über ihren Roman «Runterkommen» (2010) schrieb die «taz»: Ein brillantes Debüt … Anrührend, witzig und nüchtern. Über «Eheroman» (2012) meinte «Der Tagesspiegel»: Grandios, wie Katrin Seddig jeder ihrer Figuren einen eigenen Ton verleiht; zuletzt erschien 2017 «Das Dorf». Katrin Seddig wurde mit dem Calwer Hermann-Hesse-Stipendium 2020 und für den noch nicht veröffentlichten Roman «Sicherheitszone» mit dem Hamburger Literaturpreis 2019 ausgezeichnet.

Rezension von «Das Dorf» auf literaturblatt.ch

Beitragsbild © Bruno Seddig

Christian Baron «Ein Mann seiner Klasse», Claassen, Gastbeitrag von Frank Keil

Christian Baron erzählt in seinem Debütroman „Ein Mann seiner Klasse“ von Armut, von seinem prügelnden Vater, seiner depressiven Mutter – und wie ihm der Aus- wie Aufstieg gelang.

Frank Keil

Von dort, was man ‚unten‘ nennt
von Frank Keil

Doch, es gibt Lichtblicke. Es gibt Momente, in denen der Vater noch nicht so heillos betrunken ist, dass er hemmungslos um sich schlägt und seine Gewaltausbrüche keine Grenzen kennen. Helle Momente, in denen er vielleicht angetrunken ist, daher gut gelaunt, lustig gestimmt bald, zu Scherzen aufgelegt; wo er aus heiterem Himmel den einen oder anderen Geldschein springen lässt und dann können sich seine Kinder was kaufen, was sie grad wollen; dann umgarnt er seine Frau, auf charmante Art. Oder Momente, wo er seinem ältesten Sohn plötzlich sagt, der könne sein, wie er will, seinetwegen auch schwul – Hauptsache er sei auf das, was er sei, stolz. Richtig stolz. So wie auch sein Vater stolz auf sich sei, egal was die Nachbarn sagten oder die Polizei oder das Jugendamt. Es sind – wie gesagt – Lichtblicke. Meistens aber ist es dunkel. Sehr dunkel. Bis rabenschwarz.

Christian Baron kommt von dort, dass man „unten“ nennt, wenn man nicht von dort kommt; sondern von „oben“ oder – noch beliebter, weil unverfänglicher: „so aus der Mitte“. Er hat einen anderen Weg erst einschlagen können, nachdem das Jugendamt zugriff und dem Vater nach dem Tod seiner Frau die Kinder entzog. Er hat nicht nur die Schule abgeschlossen, er hat studiert und er ist Journalist geworden, Redakteur. Aktuell ist er beim Berliner „Der Freitag“ beschäftigt. Und als die Wochenzeitung eine Kulturbeilage zum Weltfrauentag produzierte, schreibt er für diese einen Essay: „Ganz egal, ob geprügelt und ob das Geld versoffen wurde: Ich wollte immer genau so werden wie mein Vater“, der Untertitel (www.freitag.de/autoren/cbaron/ein-mann-seiner-klasse). Die Literaturagentin Franziska Günther bekommt ihn in ihre Hände, und sie kontaktet Baron und schlägt ihm vor, genau darüber ein Buch zu schreiben. Und er setzt sich hin und schreibt seine Lebensgeschichte auf, und er hat sie vor allem literarisch geformt. 

Die Kapitel heissen ZORN, GLÜCK, SCHMERZ und ÜBERRASCHUNG. Sie heissen SCHAM, STOLZ, ANGST, LIEBE, dann HASS und HOFFNUNG. Und das letzte Kapitel heisst ZWEIFEL. Jeweils in Grossbuchstaben.

Christian Baron «Ein Mann seiner Klasse», Claassen, 2020, 288 Seiten, CHF 30.90, ISBN 978-3-546-10000-7

„Vom Laster gefallen“ murmelnd der Vater, wenn er von der Arbeit kommt und irgendetwas mit nach Hause bringt, was er sich sonst nicht leisten könnte, manchmal Spielzeug für die Kinder. Er ist kräftig und stark, der Vater, er arbeitet als Möbelpacker, der alles tragen kann, im doppelten Sinne des Wortes. Und er fürchtet sich nicht – und das hat seine guten, aber vor allem hat es seine schlechten Seiten. Von denen er durchaus weiß, die ihm nicht unbekannt sind. Dass er, der so stolz auf seine körperliche Arbeit ist, die er jeden Tag stemmt, genau davon nicht leben kann, macht die Wut aus, die ihn immer wieder packt. Hätte es einen Ausweg gegeben? Gibt es einen für einen wie ihn?

Baron, 1985 in Kaiserslautern geboren, erzählt die Geschichte seiner Kindheit einerseits gradlinig und direkt; andererseits wechselt er hin und wieder in sachte Rückblenden. Schaut sich zu wie er schaut, auf sich und seine Geschwister und die Eltern, damals. Ist aber auch unterwegs in der erzählerischen Gegenwart, sitzt dann mit seinem entsprechend erwachsenem Bruder zusammen und sie reden über das, was damals war; an das sie sich durchaus unterschiedlich erinnern, wie das so ist. Und im nächsten Moment geht es wieder zurück ins damalige Geschehen, mit einer Unmittelbarkeit, die einen packt, als sei man dabei. Im Schlechten wie im manchmal im Guten.

Und so ist sein Buch entsprechend auch keine blanke Abrechnung mit seinem Vater. Es ist kein hasserfülltes Buch, das ist es so gar nicht. Baron schreibt von dem, was damals war; schlüpft als erwachsener und als entsprechend distanzierungsfähiger Autor in die Sicht eines Kindes, dass sich seine Welt, in der es nun mal lebt, so erklären muss, dass das Leben in ihr aushaltbar bleibt. Und am besten mehr als das. Und er erzählt auch davon, dass es helfen kann, das Lebens (s)eines Vaters zu verstehen, was nichts damit zu tun hat, es zu entschuldigen oder zu billigen. Sondern: verstehen, um wichtiges für sich selbst zu erfahren. Etwa: Warum man seinen Vater, der einen schlägt, trotzdem liebt. Das es kein entweder/oder ist, als Kind. Und später dann auch nicht mehr.

Wobei wir bei alledem nicht im luftleeren Raum bleiben, sozusagen. Es gibt schliesslich auch Nachbarn, die wegschauen oder die mal gegen die Wand hauen, wenn es drüben in der kleinen Wohnung drunter und drüber geht und sie der Lärm stört. Es gibt Mitschüler, die dem Erzähler immer wieder klar machen, dass er unter ihnen nichts zu suchen hat; dass er wieder dort hingehen soll, wo er herkommt. Und dass er dort zu bleiben hat. Auch davon erzählt Baron.

Und es gibt starke Frauenfiguren, offenbar im Leben wie erst recht im Buch. Die Mutter etwa, die in ihren Jugendjahren Gedichte schrieb – und es gibt eine Szene, in denen ein Lehrer diese Gedichte vor der versammelten Klasse verhöhnt und die nun sichtbare Brutalität steht in nichts dem nach, was ihr Mann später mit ihr anrichtet, wenn er ihren Kopf greift und zuschlägt. Gewalt – auch davon erzählt Baron – sind nicht nur Schläge. Man kann auch einen Menschen niederschlagen, ohne ihn zu berühren.

Und es gibt die Tante, die zu retten versucht, was noch zu retten ist: ihre Schwester, die immer wieder in tagelange Depressionen versinkt und dann das Bett nicht verlässt; die Kinder, die in dem Wechselspiel von unerwarteter Zuneigung und plötzlich ausbrechender Gewalttätigkeit unterzugehen drohen. Wie soll man das auch verstehen, dass mit einem Mal wieder alles ganz anders wird?

Es sind denn auch immer wieder die hoffnungsvoll aufscheinenden Momente, die einen durch die Lektüre leiten und die davon erzählen, dass Menschen auch in Momenten großer Bedrängnis versuchen sich ihre Freiräume zu sichern und seien es noch so weniger: Die Mutter tanzt hingebungsvoll zur Musik der Kelly Family. Mit dem Vater spielen die beiden Jungs eine Runde Super Mario auf der Konsole, die rein zufällig vorher vom Laster gefallen ist. Und gelegentlich taucht auch ein ganz feiner Humor auf; der Humor der vordergründig Unterlegenen, die nicht daran denken, dass sie klein beigeben; die darauf bestehen, dass auch ihr Leben eine eigene Würde und immer auch Geschichte hat.

Ja, es gab Momente, in denen sass man gerne mit dem Erzähler, seinen drei Geschwistern und der Mutter in der kleinen Küche und schaute zu, was sich ergab; hörte zu, was gesprochen wurde, was gescherzt. Und wenn der Vater hinzukam, dann war das zuweilen auch okay. Eher selten, eigentlich fast nie. Aber manchmal eben doch. Und genau diese Momente versucht der Autor zu bewahren. Auch um sich zu retten, vielleicht bis heute.

© Hans Scherhaufer

Christian Baron wurde 1985 in Kaiserslautern geboren. Er studierte Politikwissenschaft, Soziologie und Germanistik in Trier. Nach Stationen bei der Lokalzeitung Die Rheinpfalz und Neues Deutschlandsowie Veröffentlichungen bei nachtkritik, Neue Zürcher Zeitung und Theater der Zeit arbeitet er seit 2018 als Redakteur bei der Wochenzeitung der Freitag.

Das Harbour Front Literaturfestival vergibt den Klaus-Michael Kühne-Preis zum elften Mal an das beste Romandebüt des Jahres. Der mit 10.000 Euro dotierte Preis soll junge Literatur fördern und deren Bedeutung unterstreichen.

Die Mitglieder der Hauptjury – Felix Bayer (Spiegel), Stephanie Krawehl (Buchhandlung Lesesaal), Stephan Lohr (NDR Kultur a.D.), Maximilian Probst (Zeit) und Meike Schnitzler (Brigitte) – begründen ihre Entscheidung für Christian Baron und seinen Roman „Ein Mann seiner Klasse“ (Claassen) wie folgt:

„In seinem autobiografisch angelegten literarischen Debüt «Ein Mann seiner Klasse» beschreibt Christian Baron auf sehr eindrückliche Art das Aufwachsen in einer dysfunktionalen Familie in Armut. Die Jury hat besonders überzeugt, dass die Leserinnen und Leser in ein Milieu geführt werden, das oft nur als statistische Grösse auftaucht. Hier bekommt diese Welt eine Stimme und das in einer literarisch klug gestalteten Weise. Christian Baron verzichtet auf Klischees und ideologische Zuordnungen. Vielmehr entlarvt er die Muster gesellschaftlicher Kategorisierungen und überzeugt durch die Bestandsaufnahme eines Lebens mit einem stets betrunkenen und prügelnden Vater und einer depressiven und früh an Krebs gestorbenen Mutter – Mit allem Schrecken, mit allem Schmerz, aber auch mit den Momenten von Stolz und Glück.

Beitragsbilder © Hans Scherhaufer

Thorsten Nagelschmidt «Arbeit», S. Fischer

Es geht nicht immer gut aus. Manchmal ist es wenigstens knapp. Oder es steht noch nicht fest, ob sich die Sache nicht doch noch zum Guten wendet. Wie bei Bederitzky, dem Taxifahrer, der nachts unterwegs ist, weil es sich dann wenigstens ein bisschen lohnt im Gegensatz zu tagsüber, wo es sich nicht mehr lohnt. Und in dessen Taxi wir immer wieder lesend einsteigen, der uns so durch eine Berliner Nacht führt wie fährt, durch den Prenzlauer Berg, durch Charlottenburg, durch Berlin Mitte und all die Strassen dazwischen. Also, wenn neben oder hinter ihm ein Fahrgast sitzt.

Frank Keil

Stimmt so.
von Frank Keil

Willkommen in Berlin – der, wenn man als Deutscher ehrlich ist – einzigen Grossstadt Deutschlands, wenn man mehr erwartet, als nur eine grosse Stadt. Und versprochen ist ein Berlin-Roman und das ist jetzt eine ganz hohe Hürde, die da genommen werden will; ist ein heikles Versprechen. Aber Thorsten Nagelschmidt schafft es, leitet er uns doch mit leichter Hand, klarem Blick und einer wortwörtlichen Unermüdlichkeit in seinem rasant-brachial-empfindsamen Roman „Arbeit“ durch die Berliner Nacht und stellt uns deren Bewohner vor: die einen schlafen, aber die anderen arbeiten. Arbeiten, damit die anderen schlafen können. Ob es sich für sie lohnt, also für die, die arbeiten? Finden sie wenigstens ein bisschen Glück?

Und dazu wieder eingestiegen bei Bederitzky (der eigentlich aus der DDR stammt, diesem anderen deutschen Staat, also, als es ihn noch gab, fest und unwidersprochen, nicht, als er schon sinnbildlich in Trümmern lag, wie wir noch erfahren werden und der auf den Vornamen Heinz-Georg hört, Heinz-Georg Bederitzky). Dabei ist gerade – Funkstille; Pause, niemand will mit, niemand will irgendwohin und Bederitzky ist dennoch unterwegs. 60 Minuten kurvt er bereits durch die Stadt, fährt durch Kreuzberg und Neukölln, schaut und sucht, aber niemand braucht ihn und dann will doch einer mit. Steigt dazu ein, riecht nach Parfüm, viertel nach Zwölf ist es auf der Uhr. Und wo will er hin, der parfümierte Fahrgast, mit einem Stück Pizza vom Pizzaschnellimbiss in der Hand? Eine weite Strecke, eine lange Strecke soll es werden. Nach Halle an der Saale, weil Zugausfall. Halle an der Saale, sieh‘ an, denkt sich Bederitzky, da warst du lange nicht mehr. 

Und auch endlich eine Fahrt durch die Nacht, die lohnt, aber so richtig, denkt er. Und dann klingelt Bederitzkys Telefon, Freisprechanlage, versteht sich. Anna ist dran, seine Liebste, die einen der legendären und besonders bei Touristen so beliebten Späti betreibt, dabei hatte sie in diesem Leben eigentlich was anderes vor, als hinter dem Tresen eines Spätverkaufs bis eben spät zu stehen, aber was will man machen. Und nun zum zweiten Mal in diesem Jahr überfallen, von so einem Bubi, einem Jugendlichen mit einem Messer, ein halbes Kind noch, aber Überfallen ist nun mal Überfallen. Sie bräuchte jetzt seine starke Schulter, selbst wenn die nicht stark ist, Hauptsache Schulter, seine. Aber er hat doch jetzt einen Bord, der nach Halle an der Saale will, für 350 Euro, immer geradeaus. Soll er den raussetzen? Und Anna schreit ins Telefon, bricht das Gespräch ab, sie wird sich schon wieder beruhigen, aber was, wenn nicht?

Ein Kapitel heißt: Sag jetzt nichts. Ein Kapitel heisst Zwölf Stunden sind kein Tag. Ein anderes hört auf den Namen Wenn’s um Geld geht Arschkarte.

Thorsten Nagelschmidt «Arbeit», S. Fischer, 2020, 336 Seiten, CHF 32.90, ISBN 978-3-10-397411-9

So fahren wir durch die Nacht, sind mal kurz und dann mal länger bei Bederetzky ausgestiegen, keine Sorge: man trifft sich wieder. Lernen Leute kennen, die zur Nacht gehören wie die Nacht zu diesen Leuten. Felix etwa, 39 Jahre jung. Der Drogen vertickt, aber selbst keine nimmt, also er hat sich vorgenommen, dass er besser die Finger lässt von all dem Zeug, dass er da verkauft, seine Wohnung ein Drogenumschlagplatz und was sind das immer für Typen, die bei ihm in der Küche sitzen und schon mal probieren, was sie kaufen wollen oder gekauft haben in grösseren Mengen, wieso gehen die nicht wieder, wieso quatschen die sich immer fest und hocken auf seinen Küchenstühlen wie angeklebt und haben beste Laune, während seine immer schlechter wird? 

Wir lernen Marcela kennen, die sich in Berlin ein besseres Leben erträumt als daheim in Kolumbien und die per Fahrrad Essen ausliefert für die, die keine Lust zum Kochen haben und keine Lust zum Einkaufen oder gleich beides, und es ist doch irre praktisch, da gibt es so eine App, da tippt man was ein und dann kommt Marcela und bringt das Gewünschte (Sushi, Italienisch, vielleicht auch was vom Spanier), hoffentlich dauert es nicht so lange und ist noch warm. Wir lernen Tanja kennen, die Rettungssanitäterin, die neben dem Studium jobbt, dabei müsste sie lernen ohne Ende, denn was studiert sie, Medizin natürlich. Weshalb sich Tarek, ihr Kollege, mehr als Sorgen macht, wie sie das schaffen soll, nachts arbeiten, tagsüber studieren und dazwischen noch lernen, das funktioniere doch nicht, sagt er ihr immer wieder, während sie unterwegs sind, mit Sondersignal, um zu retten, was noch zu retten ist, aber Tanja will das nicht hören, was wäre denn die Alternative und überhaupt: Was will Tarek von ihr? Doch nicht etwa? Oh, je! Und noch immer ist die Nacht nicht zu Ende, so eine Nacht ist lang, sie ist verdammt lang. Besonders für die, die arbeiten müssen, für die, die nicht wissen, wohin sonst. 

Nagelschmidt (der gleichzeitig Musiker der Berliner Band „Muff Potter“ ist) geht nah heran, er bleibt seinen Protagonisten nah, er verlässt sie nicht und er verrät sie nicht. Egal, wie schräge sie drauf sind, wie seltsam sie mit sich umgehen und wie mit anderen, er will wissen, wie es ihnen geht und er will erkunden, warum sie tun, was sie tun und wie es ihnen dabei geht. Und er schaut nicht von oben herab auf sie herunter, er ist in einem fast schon christlichen Sinne bei ihnen, wobei man das „fast“ ruhig streichen kann.

Und das alles drückt sich auch in seiner Sprache aus: direkt, schnörkellos, alltagsnah und manchmal fast protokollhaft. Schnelle, kurze Sätze, viele und vor allem gute und sehr Dialoge. Ein stetes Ineinanderfliessen von Beobachtetem, Kommentiertem und dem, was im Moment geschieht, während die verschiedenen Protagonisten und Helden, von vielleicht Gewinnern und vielleicht Verlierern sich in dieser einen Nacht begegnen, mit einander sprechen, manchmal auch kreuzen sich nur kurz ihre Wege, ohne dass ein Wort fällt. Und nie ist der Autor derbe dabei oder obszön oder künstlerisch aufgeladen tabuverletzend, wie das oft genug vorkommt, wenn da ein Schreibender aus besserem Stall sich mal auf die Strasse wagt oder das, was er für die Strasse hält. Und dann so richtig vom Leder zieht, weil es ihm gut tut, egal, was die Menschen, über die da einer schreibt und die einer schreibend erfasst, damit anfangen können und ob es ihnen hilft oder ob es ihnen wenigstens ihre Würde lässt.

Und nicht zuletzt ist „Arbeit“ ein hochpolitischer Roman. Er fragt danach, wer des Nachts den Laden am Laufen hält, wie es heute auf neudeutsch heisst. Wer zahlt den Preis? Wer macht den Rücken krumm und macht doch immer weiter? Wer bringt uns von A nach B, wer passt auf uns auf, wer stellt im Spätverkauf rechtzeitig den Sekt kalt, damit kalter Sekt da ist, wenn uns nach kaltem Sekt ist, wer räumt den Dreck weg, die Scherben, den Müll, die Absperrbänder, rund um die Uhr und eben nachts, wenn es zwischendurch mehr als tiefdunkel ist – es ist eine nur sehr begrenzt romantische Welt, diese Nacht, für die, die dann arbeiten müssen, was immer sie auch tun und auch für die, die wenigstens in der Nacht ein wenig Halt und Schutz und Orientierung finden und haben, wenn es hell wird, wird für sie die Welt nicht unbedingt besser.

Ach ja: Ein Kapitel heisst Stimmt so. Eine Floskel, die man sich abgewöhnen sollte, dringend.

© Verena Brüning

Thorsten Nagelschmidt, geboren 1976 im Münsterland, ist Autor, Musiker und Künstler. Er ist Sänger, Texter und Gitarrist der Band Muff Potter und veröffentlichte die Bücher «Wo die wilden Maden graben» (2007), «Was kostet die Welt» (2010) und «Drive-By Shots» (2015). Zuletzt ist von ihm der Roman «Der Abfall der Herzen» (2018) erschienen. Thorsten Nagelschmidt lebt in Berlin und veranstaltet dort die Lesereihe «Nagel mit Köpfen».

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Beitragsbild © Thorsten Nagelschmidt (vom Autor selbst geschaffener Linoldruck!, hier abgebildet mit freundlicher Genehmigung des Autors)