Lukas Sam Schreiber «Aitutaki-Blues», Goldmann

Mit 60 brach mit der Diagnose Alzheimer eine sich langsam abwickelnde Katastrophe ins Leben der Schriftstellerin Claudia Schreiber. Eine Katastrophe für sie und ihre Familie. Zusammen mit ihrem Sohn Lukas unternahm die Autorin 2019 eine letzte grosse Reise ans andere Ende der Welt.

Ich lernte die Schriftstellerin Claudia Schreiber 2013 persönlich kennen, als ich mich nach der Lektüre ihrer Bücher traute, ihr zu schreiben und von meinen Leseerlebnissen schwärmte. Genau in jenem Jahr inszenierte das Theater Konstanz ein Stück für Kinder, das aus einem ihrer Bilderbücher entstand; „Sultan und Kotzbrocken“. Und weil die Kölner Schriftstellerin beabsichtigte, eine der Vorstellungen zu besuchen und für ein paar Tage bei einer Freundin in Friedrichshafen wohnte, machte sie den Vorschlage, ob ich nicht Lust hätte, eine Lesung in der Schweiz zu organisieren. Weil ich zusammen mit meiner Frau damals schon Hauslesungen in unserem Wohnzimmer durchführte, taten wir dies mit Freude auch mit Claudia Schreiber. Und weil die Begeisterung für diese Autorin überschwappte, war die Stube rappelvoll, als Claudia Schreiber mit ihrer Freundin vorfuhr. Sie las aus ihrem Roman „Süss wie Schattenmorellen“, ein Roman, von dem ich erst viel später erfuhr, wie viel Eigenes darin zu Literatur wurde.

Aus dem Besuch damals wurde eine Freundschaft. 2019 kam sie noch einmal auf einer Lesereise in den Süden bis nach Überlingen, wo wir viel Zeit bei Spaziergängen und in Restaurants verbrachten und sie mir von ihrer Diagnose Alzheimer erzählte. Gespräche, die mich mehr als traurig machten, weil sie durch nichts zu trösten waren. Alzheimer lässt keine Hoffnung, ist unbarmherzig. Ich kenne kaum jemanden, die oder der fähiger gewesen wäre, den Kampf aufzunehmen. Claudia Schreiber hatte viele Kämpfe aufgenommen und wenn auch mit vielen Niederlagen stets den Kopf oben behalten. Alzheimer aber gibt niemandem eine Chance.

«Das Vergessen ist für mich wie Wasser, das wegrinnt. Die Gedanken fliessen unweigerlich aus meinem Kopf. Ich wünschte, ich könnte es …aber ich kann das Loch nicht stopfen. Ich habe überhaupt keine Erinnerung an irgendwas.»

Im Sommer 2021 besuchte ich sie ein letztes Mal. Mit dem Fahrrad. Ich gab mir zehn Tage Zeit, von Basel bis Köln. Zehn Tage, die ich brauchte, um mich auf die Tage zusammen mit ihr vorzubereiten. Ich hatte mir ein Zimmer ganz in der Nähe ihrer Wohnung gebucht, hatte am Abend vor dem ausgemachten Klingeln an ihrer Wohnungstür vom Strampeln erschöpft eingecheckt und in der Nacht danach schlecht geschlafen. Die Tage mit ihr waren ein grosses Geschenk. Aber als wir uns verabschiedeten und am letzten Abend mit einem Glas Wein anstiessen, hatte der Abschied etwas Endgültiges. Sie würde auf eine Reise gehen, von der es kein Zurück gibt, in eine Zukunft ohne Vergangenheit, hinein in eine grosse Leere.

Lukas Sam Schreiber «Aitutaki-Blues», Golmann, 2022, 224 Seiten, CHF 25.90, ISBN 978-3-442-14285-9

Damals, als ich die Tage mit Claudia Schreiber verbrachte, war die gemeinsame Reise mit einem ihrer beiden Söhne, mit Lukas, kein Thema mehr. Claudia hatte die Reise vergessen, oder mir gegenüber mit keiner Silbe erwähnt. Die Reise auf eine kleine Insel, Aitutaki, ihre Wunschreise ans andere Ende der Welt. Und weil ich kein Potcast-Konsument bin und Sam Lukas Schreibers Hörgeschichte an mir vorbeiging, musste die Geschichte dieser Reise als Buch zu mir kommen. Ein Buch, das keinen literarischen Anspruch erfüllen will, aber die Geschichte vieler Reisen erzählt, auch von einer, von der es kein Zurück gibt.

«Claudias brillantes Hirn ist inkontinent geworden. Die Welt wirft ihr tausend Sachen in den Schoss und sie kann die Dinge nicht mehr halten. Dabei findet alles, was wir empfinden und als unser Leben wahrnehmen, doch in unserem Kopf statt. Wir sind nur das. Claudia zieht in eine Welt, die ich nicht kennen kann.»

Claudia Schreiber schrieb ihr Leben lang, zuerst als erfolgreiche Mitarbeiterin im Hörfunk, später als Schriftstellerin. Eine Frau, die von ihrem Leben schrieb, die das Schreiben als Lebenselexier brauchte, die aber auch wirtschaftlich davon abhängig war, in einigermassen regelmässigen Abständen ein Buch herauszugeben und auf Lesereise zu gehen. Dass sie mit ihrer Krankheit genau diese Fähigkeit verliert, dass ausgerechnet sie, die immer unabhängig und proaktiv war, zunehmend abhängig und orientierungslos wird, an Kleinigkeiten verzweifelnd, muss sowohl für die Betroffenen wie für die Angehörigen schrecklich sein. Claudia Schreiber hat sich aus einer baptistischen Vergangenheit geschält, die Übergriffe eines dominaten Vaters ein Leben lang mit sich herumgeschleppt, zwei Söhne grossgezogen, zehn Bücher geschieben und mit der preisgekrönten Verfilmung ihres Roman „Emmas Glück“ grosse Höhepunkte erlebt. Heute schreibt Claudia Schreiber nicht einmal mehr Notizen, führt aber noch immer Gespräche mit ihrer Familie, wenn die Themen auch immer wieder die selben sind; der Tod, das Verblöden, die Angst und der Zorn.

„Aitutaki blues“ ist der Reisebericht des Sohnes, eine Reise mit seiner an Alzheimer erkrankten Mutter. Eine Reise, von der die Mutter ein Leben lang sprach, manchmal als Wunsch, manchmal als Drohung. Und als die Diagnose wie ein Komet in das Leben der Familie einschlug, fasste sich Lukas ein Herz und trat die Reise an, solange die Mutter noch etwas davon haben würde. Eine Reise ins Ungewisse, ein Stück auf einem unendlich langen Abschied von seiner Mutter, ein Stück Nähe, das Geschenk einer paradiesischen Erinnerung. „Aitutaki blues“ ist Auseinandersetzung mit den sich immer wiederholenen Gesprächen über das Sterben, das Versinken, das Verschwinden. „Aitutaki blues“ ist der Liebesbeweis eines Sohnes, einer Familie, an eine Mutter und Freundin, die alles gegeben hat.

Claudia Schreibers Bücher sind noch immer lesenswert! Ob „Emmas Glück“, eine tragikomische Liebesgeschichte von der Schweinezüchterin Emma, die im Wrack eines Ferraris einen bewusstlosen Mann und eine Plastiktüte voller Dollarnoten findet: endlich ein Mann und genügend Geld, um ihren verschuldeten Hof zu retten. Ober „Süss wie Schattenmorellen“, die Reifung eines Mädchens zur Frau, umgeben von kuriosen Figuren. Oder „Goldregenrausch“, die Abrechnung mit einer Familie, bei der nur Arbeit und Erfolg zählt. Oder die beiden „Sultan und Kotzbrocken“ Bilderbücher, die allen Witz der Autorin auf den Punkt bringen!

Interview:

Das Buch ist Teil eines langen Abschieds. Oft gibt es keinen Abschied. Menschen sterben einfach weg. Tröstet dich dein eigenes Buch?
Ich würde sagen Ja. Auch weil ich mich ihr im Schreibprozess wahnsinnig nahe gefühlt habe. Das war ihre Leidenschaft, ihr Instrument – und das auf eine intensive Art zu erleben hat mich nochmal ganz anders verstehen lassen, welche Arbeit sie hatte. Teilweise war es auch echt zäh und schwer, nicht emotional abzuschalten, weil es teils auch echt schwer war so in die Gefühle reinzugehen. Letztendlich bin ich sehr dankbar, dass ich das Buch geschrieben habe.

Stellt sich irgendwann Resignation ein? Bei dir? Bei deiner Mutter?
Definitiv. Ist auch gar nicht zu verhindern. Sie ist ja nicht nur krank. Es strahlt auf alles aus. Das Familienleben, Feste, den Alltag, ihr Essverhalten, die psychische Verfassung aller Angehörigen, Freunde die bleiben & Freunde die nicht mehr bleiben können. Manchmal kann man nur resignieren und weitermachen. Lachen geht trotzdem immer. Meistens ist es sogar das Einzige, dass Licht bringt.

Bildet man als Sohn einer an Alzheimer erkrankten Schriftstellerin nicht auch irgendwann eine Art Schale, einen Abwehrmechanismus, vielleicht sogar einen gewissen Zorn, weil man nicht dauernd darauf reduziert werden will? Auch als Fachmann im „Umgang mit dieser Krankheit“?
Nein, zum Glück nicht. Das war ein Lebensabschnitt. Ich denk oft an ein Gedicht von Bukowski «Roll the Dice»: ‹If you’re going to try, go all the way. You will ride life straight to perfect laughter. It’s the only good fight there is». Wenn man das Buch schreibt, dann macht man es richtig. Mit allem was dazu gehört. Gut und schlecht. Das habe ich mir so ausgesucht. Das ist unser Familienhandwerk. Wir sind die Schreibers. Da wird aufgeschrieben und erzählt. Bis keiner mehr zuhören will.

Wäre Lukas Schreiber heute ein anderer, hätte es diese Krankheit in seiner Familie nicht gegeben? Was bedeutet diese Krankheit für Dich, Deine Zukunft?
Zu eintausend Prozent. Ich hatte mal eine Phase, in der ich mich sehr schuldig gefühlt habe, da ich den Eindruck hatte – dass die Dinge sogar insgesamt besser geworden sind durch die Krankheit. Ein viel engeres Verhältnis zu meinem Vater, meinem Bruder, anderen Verwandten. Eine tiefe Verbindung zum Leben und zum Tod. Eine Sehnsucht, das Leben intensivst zu lieben. Alles mitzunehmen auf eine verantwortungsvolle Art und Weise. Ich habe ausgerechnet auf Aitutaki zum ersten Mal Camus gelesen. Das ist in mein Herz gesprintet wie nichts Anderes. ‹One must imagine Sisyphus smiling›. 

Ich vermisse meine Mutter wie sie war. Vermisse jeden Tag ihre Ratschläge, die jetzt nicht mehr kommen. Ihre nicht zu bändigende Kraft. Ihre Arbeitswut. Ihr Lachen ist zum Glück geblieben. Und dann weiß man, dass es schlimmer werden wird mit der Krankheit. Ich würde sagen, darauf sind wir vorbereitet. Und so viele schöne Momente wir bis dahin noch erleben dürfen, desto besser

Ich fahre Claudia in einigen Wochen zu einer Theateraufführung von ihrem Buch «Goldregenrausch». Wird sie verstehen, was auf der Bühne passiert? Wird sie sich wenige Stunden danach noch an eine einzelne Szene erinnern? Nein. Ist es das trotzdem wert? Auf jeden Fall!

Danke Lukas!
© Jens Oellermann

Lukas Sam Schreiber, geboren 1991, ist Podcastproduzent. Er ist viel rumgekommen in der Welt, doch die weite Reise zum Atoll Aitutaki hat ihn am nachhaltigsten bewegt – vor allem wegen seiner Reisebegleitungen: seine Mutter Claudia und ihr Alzheimer. Seither denkt Lukas über vieles anders, vor allem über das Leben und den Tod.

Claudia Schreiber, geboren 1958, studierte Kommunikationswissenschaften und Pädagogik in Göttingen und Mainz, war für den SWF3 und das ZDF tätig, bevor sie mit ihrer Familie für sieben Jahre nach Moskau und Brüssel zog. Danach arbeitete sie bis zu ihrer Alzheimerdiagnose mit Anfang sechzig als Autorin und Journalistin in Köln. Claudia Schreiber hat fünfzehn Romane und Kinderbücher geschrieben. Ihr bekanntestes Werk ist der mehrfach ausgezeichnete Roman »Emmas Glück«, der in neun Sprachen übersetzt und mit Jördis Triebel und Jürgen Vogel in den Hauptrollen verfilmt wurde.

Rezension von «Goldregenrausch» auf literaturblatt.ch

Beitragsbild © privat

Claudia Schreiber las am «WortMenue», dem literarisch-kulinarischen Festival Bodensee

Zum 11. Mal lud das literarisch-kulinarische Festival am Bodensee mit Schriftstellernamen wie Franz Hohler, Claudia Schreiber, Karl-Heinz Ott oder Thomas Meyer in Überlingen und Umgebung zu Tisch. Ein Festivalkonzept, eine Genussmischung, die zu funktionieren scheint, denn die meisten der Veranstaltungen waren schon kurz nach Beginn des Vorverkaufs ausverkauft.

An der Rezeptur des „WortMenues“ hat sich in den zwanzig Jahren seines Bestehens so gut wie nichts geändert; „Die Verbindung von anspruchsvollen Inhalten renommierter Schriftsteller mit gepflegter Gastlichkeit und Kochkunst in kleineren, dafür atmosphärisch ansprechender Gaststätten.“ Und weil Festivalchef Peter Reifsteck vor 14 Jahren mit der der damals noch wenig bekannten Autorin Claudia Schreiber und ihrem eben erschienenen Roman „Emmas Glück“ ein Volltreffer gelang, lud er sie mit ihrem neusten Roman „Goldregenrausch“ wieder ans „Wortmenue“ nach Überlingen. Damals begann die Erfolgsgeschichte von Claudia Schreibers Roman „Emmas Glück“, der wenige Jahre später mit der ebenso erfolgreichen Verfilmung mit den Schauspielern Jürgen Vogel und Jördis Triebel 2016 ihren Höhepunkt feierte. Eine Produktion, bei der Claudia Schreiber auch beim Drehbuch mitwirkte und die bei Presse und Publikum viel Beachtung und grossen Erfolg erntete.

Mit „Goldregenrausch“ wollte Claudia Schreiber noch einmal „so richtig reinhauen“, von jenem Milieu erzählen, in dem sie aufgewachsen ist, einem Dorf, das nichts zu tun hat mit LandLiebe-Idylle, dem verkörperten Sehnsuchtsort all jener, die dem städtischen Dichtestress entfliehen wollen und  zwischen Obstbäumen und putzigen Fassaden das Glück vermuten. Claudia Schreiber erzählt in „Goldregenrausch“ das harte Aufwachsen eines Mädchens, das nicht besser oder liebloser gehalten wird, wie die Kälber und Ferkel im Stall. Ein Kind eben, mehr nicht. Claudia Schreiber wuchs auf dem Land auf, klaute als Kind unendlich viele Süsskirschen und besass als Studentin 700 Sauerkirschenbäume, die es zu bewirtschaften hiess, mit denen sie sich ihr Studium finanzierte. Sie weiss, dass Nahrungsmittel nicht aus dem Supermarkt kommen und Liebe nicht wie Sauerkirschen an Bäumen wächst. Claudia Schreibers Schlag gilt all jenen, die Dummheit, Stumpfheit und Borniertheit von Generation zu Generation mit Überzeugung weitergeben als wäre es ein Naturgesetz und widerspricht all jenen, die glauben, dass sich der Liebreiz einer Gegend automatisch in die Herzen ihrer Bewohner überträgt, weder damals noch heute.

Greta steckte die Zigarette an, sog gierig, inhalierte tief. Kam dem Mädchen nah, umschloss mit ihren Lippen dessen kleine Nase und pustete dem wimmernden Kind die tröstende Betäubung in keinen Schüben ein.

«Veritables Drama, in das ich als Leser so sehr einsteige, dass ich am liebsten Brandbeschleuniger hinzuschütten würde, um ein Schrecken ohne Ende abzuwehren.“

Resilienz beschreibt die Fähigkeit, allen Widrigkeiten zum Trotz ein „guter Mensch“ zu werden, trotz aller Lieblosigkeit und Kälte lieben zu lernen, nicht unterzugehen, jenen Kern nicht zu verlieren, der glühen soll. Das Interesse an der kleinen Marie ist schnell verloren, schon allein, weil sie von produktiver und gewinnbringender Tätigkeit auf dem Hof abhält. Die grossen Brüder helfen, haben sich längst eingefügt in das zweckgebundene Handeln auf einem Hof, der immer zu wenig helfende Hände hat. Wäre da nicht die Schwester des Bauern, die im Nebenhaus Wohnrecht auf Lebenszeiten „geniesst“, die sich unwiederbringlich mit ihrem Bruder verstritten hat, wäre Marie längst an Unterernährung, seelischer und körperlicher Kälte gestorben. Aber Marie gedeiht, den Umständen zum Trotz, erst recht.

Claudia Schreiber mag Konflikte, in ihren Protagonisten genauso wie zwischen Drama und Witz, zwischen scheinbarer Idylle und abgrundtiefer Finsternis, mag Szenerien, die ebenso erotisch wie komisch sein können. Sie taucht tief in eine Welt, die während des Lesens phasenweise fast unerträglich wird, weil sie „Dampf“ ablassen kann, ohne die Menschen dabei durch Klischees platt zu machen, weil sie flucht und wettert, weil sie die Verteilung aus dem Paradies bis in alle Details schildert, weil sie erzählt, wo andere längst rot werden und zu stottern beginnen, weil sie authentisch ist.

© Holger Kleinstück

Claudia Schreibers Freundin Dorothea Neukirchen las und Claudia Schreiber erzählte im Landgasthof Keller in Lippersreute. Eine überaus gelungene Mischung, die einen ganzen Saal zum Beben brachte.

Claudia Schreiber wurde 1958 in einem nordhessischen Dorf geboren, als viertes von fünf Kindern, die Eltern waren erst Obstbauern, später Konservenfabrikanten. Nach dem Studium wurde sie 1985 Redakteurin beim Südwestfunk Baden-Baden, später Redakteurin und Moderatorin beim ZDF. Seit 1992 ist sie Autorin mehrerer Romane und Kinderbücher. Besonders erfolgreich war sie mit «Emmas Glück», verfilmt mit Jördis Triebel und Jürgen Vogel in den Hauptrollen. Bei Kein & Aber erschien 2011 ihr ebenfalls erfolgreicher Roman «Süß wie Schattenmorellen», neu lieferbar als Kein & Aber Pocket. Seit 1998 lebt und arbeitet Claudia Schreiber in Köln.

Rezension zu «Goldregenrausch» auf literaturblatt.ch

«Die Brautmutter» auf der Plattform Gegenzauber

Webseite der Autorin

Claudia Schreiber «Goldregenrausch», Kein & Aber

Ein Hof und daneben ein Haus. Eine Familie mit ein paar Kindern und daneben eine ledig gebliebene Tante, die Schwester des Bauern. Was als Setting so gar keine Spektakel verspricht, wächst sich in Claudia Schreibers neuem Roman „Goldregenrausch“ zu einem veritablen Drama aus, in das ich als Leser so sehr einsteige, dass ich am liebsten Brandbeschleuniger hinzuschütten würde, um ein Schrecken ohne Ende abzuwehren.

Marie, das fünfte Kind der Bäuerin, flutscht. Ein ungewollter Nachzügler, ein Mädchen nach vier Rabauken, nachdem sich das Leben auf dem Feld, mit der Hacke in der Hand längst endgültig eingespielt hatte. Während die Bäuerin im Wochenbett das süsse Nichtstun geniesst und mit ihrem kräftigen Busen stillt, bringt sie ihr Arzt darauf, die überflüssige Muttermilch zu verkaufen. Interessierte verschiedenster Couleur gäbe es genug. Und so wird aus dem Wochenbett ein monatelanger, ärztlich abgesegneter Dauerzustand. Es fliesst Geld, viel Geld, von dem der Bauer keine Ahnung hat und das die Träume der Bäuerin beflügelt.

Aber kaum ist das nicht mehr länger aufrecht zu haltende Wiegenfest zu Ende, beginnt für die kleine Marie, das Mädchen, das noch nicht einmal spricht und noch in Windeln liegt, ein Leben im Abseits. Während die Eltern von morgens bis abends auf dem Feld rackern und die viel älteren Brüder die Schule und Umgebung verunsichern, parkiert man Marie in einem Laufstall, mit einer Flasche Milch und einer Flasche Wasser, überlässt sie dem Schicksal, im Sommer im Garten und im Winter in einem leeren Zimmer mit psychodelischer Tapete.

Bauer und Bäuerin erwarten von Greta, der Schwester des Bauern, die im kleinen Häuschen neben dem Hof Wohnrecht geniesst, keiner geregelten Arbeit nachgeht und eine begnadete Gärtnerin ist, dass sie sich um die kleine Marie kümmert. Aber Greta wurde nie gefragt, so wie sie im Leben nie gefragt wurde, wenn man über ihr Leben entschied. Der Bruder ist davon überzeugt, Greta sei zurückgeblieben, protzt in Gesellschaft, „der Vater habe nach Gretas Geburt versehentlich ihren Körper im Garten vergraben und statt dessen deren Nachgeburt grossgezogen“.

Aber irgendwann schafft es die kleine Marie, die gehärtete Seele ihrer Tante zu erweichen. Nicht durch Überzeugung, aber mit der Erkenntnis, es den Pflanzen gleichtun zu müssen, freundlich zu erblühen, selbst mit ganz wenig Wasser.
So entgleitet Marie immer mehr den herzlosen, abgestumpften Eltern. Selbst Arzt und Klerus können nichts bewegen. Zwischen Marie und Greta wächst eine Allianz der Verschmähten, zwei Vergessener. Marie, ganz im Stillen zum grossen Mädchen geworden, an den Eltern vorbei heimlich bis zum Abitur, findet allen Widrigkeiten zum Trotz den Zugang zur Welt. Zusammen mit ihrer Tante. Manchmal auch im Goldregenrausch, da die Tante sehr gut weiss, wie die heilende und tröstende Wirkung des Krauts einzusetzen ist.

In einer „Familie“, in der nur Arbeit und Erfolg zählt, in der Probleme mit flotten Sprüchen weggewischt werden, in der man sich am Feierabend zudröhnt, muss eine Frau wie Greta, die nie einer geregelten Arbeit nachging und trotz allem in ihrem Gleichgewicht nicht gestört werden kann, eine permanente Provokation. So sehr, dass die kleine Bühne von Hof und Nebenhaus Schauplatz eines Dramas wird, dass niemand aufzuhalten vermag. Am wenigsten ich Leser, der zurufen will: „Nimm endlich das Gift!“

Kein Kind verdient, wohin es geboren wird. Nicht die Kinder in Kriegsgebieten, nicht die Kinder in familiären Kriegsgebieten. Die Schäden und Traumas, die Kinder in ihr Erwachsensein schleppen, lassen sich untereinander nicht vergleichen und nicht einstufen. Schrecklich sind sie allemal. Und jeder, der in irgend einer Weise mit dem Schicksal solcher Kinder konfrontiert ist, weiss, wie schwierig es ist, Einfluss zu nehmen, etwas bewirken zu wollen. Wie schnell «elterliche Gewalt» zur existenzbedrohenden, realen, körperlichen und psychischen Gewalt werden kann.

Claudia Schreiber schreibt markig, unverblümt und direkt. Beschönigungen und Vorsicht liegen ihr nicht. Es lässt sich auch nicht verbergen, dass Männer in ihrer Geschichte alles andere als gut wegkommen. Marie und ihre Tante Greta sind einsame Kämpferinnen. Eine ganz junge und eine alte, die mit dem, was ihnen geblieben ist, den Kampf aufnehmen. Einen Kampf mit ungleichlangen Spiessen. Eine Kampf allerdings, der erst auf den letzten Seiten des Buches ausgetragen ist. Ein Kampf, bei dem man bei der Lektüre zum schweigenden Mitlesen gezwungen ist. Wahre Kraft verbirgt sich nicht hinter denen, die den Mund aufreissen. Und wer wie Greta den Menschen durch Enttäuschungen abgeschworen hat, mit der Natur, den Pflanzen und Tieren aber mehr als nur verbunden bleibt, dort ist auch die Liebe geblieben.

Ein in vieler Hinsicht starkes Buch von einer starken Frau über starke Frauen!

Claudia Schreiber wurde 1958 als das vierte von fünf Kindern geboren, die Eltern waren Landwirte, Obstbauern und später Konservenfabrikanten. Nach dem Studium wurde sie 1985 Redakteurin und Reporterin beim Südwestfunk Baden-Baden, später Redakteurin, Reporterin und Moderatorin beim Zweiten Deutschen Fernsehen Mainz, wo sie die Kinder-Nachrichtensendung logo! realisierte. 1992 begann – in Moskau – ihre Arbeit als Autorin, seit 1998 lebt und arbeitet Claudia Schreiber in Köln.

«Die Brautmutter» von Claudia Schreiber, eine Kurzgeschichte auf der «Plattform Gegenzauber»

Webseite der Autorin

Beitragsbild © Sandra Kottonau

Claudia Schreiber „Die Brautmutter“

​Sie führte die Friseurin zu dem Mädchen ins Badezimmer, schminken und den Schleier am Hinterkopf befestigen, für zehn Euro schwarz, da konnte man nicht meckern. Das Kleid hing auf einem Bügel, bodenlange Spitze aus Polyester, dazu Schmuck, Schuhe, Täschchen, Blumenstrauß, alles war bereit. Make-up bitte dezent, bestimmte sie. Allenfalls getönte Tagescreme mit etwas Puder, Gloss auf den Lippen, die Augen betont. Mehr nicht. Eine gesunde Röte stand einer Braut eh im Gesicht. Sie verließ den Raum. In einer Stunde würde ihre einzige Tochter verheiratet sein.

Es war ein warmer Maitag und sie schwitzte stark, wegen des Wetters, der bevorstehenden Ereignisse oder der Wechseljahre, sie wusste es nicht: Ihre Haare waren regelrecht nass, ihre Frisur zerzaust. Ihre Augen hatten dunkle Ränder. Seit Tagen schlief sie erst nach Mitternacht ein und wachte morgens viel zu früh auf, immer in Gedanken an die Dinge, die noch zu erledigen waren.
Draußen auf der Straße sammelten sich die ersten Gäste, Autos formierten sich zu einem Konvoi, angeführt vom Wagen für das Brautpaar mit einem Blumenbouquet auf der Motorhaube. Die anderen waren an den Außenspiegeln oder Antennen mit weißen Schleifen geschmückt, wie das so üblich war.
Sie atmete schwer, weil der neue Body-Shaper ihren Leib eine Konfektionsgröße kleiner quetschte. Sie musste es aushalten, öffnete das Flurfenster, schnappte erschöpft nach Luft.
Vor zwanzig Jahren waren sie von hier aus in dieselbe Kirche gefahren, auch damals Schleifen, Blumenschmuck, Konvoi. Sie seufzte. Wo war bloß die Zeit geblieben? Da war die Hochzeitsreise nach Tirol gewesen. Gut. Dann die Einschulung des Mädchens. Süß. Drei Jahre später der Lotteriegewinn, das Auto. Krass. Und sonst, so richtig selige Stunden? Sie warf einen Blick in Richtung des Mannes, dem sie ihr Jawort gegeben hatte. Er stand mit zusammengekniffenen Augen hastig rauchend bei den Blumenmädchen, die Zigarette zwischen Daumen und Zeigefinger geklemmt, als wollte er sie jeden Moment wegwerfen. Er zog an der Filterlosen, bis die Glut der Haut gefährlich nah kam. Schaute abwesend, als ginge ihn das alles nichts an. Griff zwischen seine Beine, er fühlte sich offenbar unbeobachtet, trotz der vielen Leute.
Sie schüttelte den Kopf. Für ihn hatte sie sich seinerzeit die Haare hochstecken lassen, in demselben Bad, Schleier am Hinterkopf. Sie durfte gar nicht dran denken!
Dieselben Rituale und Lieder, derselbe Vers aus dem 1. Korinther: „Die Liebe ist“ und so weiter, sogar derselbe Pfarrer. Aufmarsch in zwei Reihen, auch heute würden alle auf Blüten treten, von Kindern gestreut. Willst du, danke, willst du, bitte, bis dass der Tod euch scheidet. Für andere mochte das eine Floskel sein, wenn’s nicht lief, lief’s halt nicht, fertig, aus. Doch bei ihnen daheim nahm man noch ernst, was man in Kirchen versprach. Zum Schluss würde heute das Halleluja gesungen, in der Shrek-Version, Disneyfilm, vom Kinderchor. Hatte sich Mr. Pickel gewünscht. War das einzig feierliche Lied, das er kannte, ansonsten nur Gedröhne.

Ihrer stand damals auf Wolfgang Petry, der mit den Bändern am Handgelenk. Hölle! Hölle! Hölle! Im Bett benahm er sich, als müsste er den letzten Bus erreichen. Sie hätte gern einfach nur dagelegen, damit er sie streichelte. Fünf Minuten hatte er eben so ihre Haut gerieben, dann wurde es ihm zu langweilig. Nach der Geburt der Tochter lief es noch schlechter, die Entbindung war so fürchterlich gewesen, dass sie nie mehr schwanger werden wollte, aber Lust hatte sie doch. Hatte ihm Kotelett mit Bratkartoffeln gebraten und endlich schüchtern gefragt, ob er sie mal untenrum streicheln könnte, sie ist beinahe gestorben vor Scham, aber sie wünschte es sich so, mit der Zunge, wenn’s ging.
Er hatte sie groß angesehen: „Jetzt?“
Mehr links oder weiter unten bitte. Sie fürchtete, dass er es nie wieder versuchen würde. Er war nicht zärtlich genug. Mach es wie ein Schmetterling. Ein Schmetterling, der fliegt. Er mühte sich minutenlang, sie war ihm dankbar, so könnte es klappen! Ein Wohlgefühl schlich sich an, bald, nur ein ganz klein wenig länger. Sie wünschte sich, dass er es mochte, dass es ihm nichts ausmachte, es ihr zuliebe zu tun. Ein letzter Schmetterlingsschlag, dann! Da tauchte sein Kopf zwischen ihren Beinen auf, und er fragte kühl: „Wie lang dauert’s denn noch?“

Sie war in derselben Sekunde aufgesprungen, aus dem Schlafzimmer gerannt, hatte die Tür geknallt und laut geschrien, durchs ganze Haus. Das Kind war wach geworden. Sie hatte es in den Arm genommen, getröstet, seinen süßen Geruch eingeatmet und auf seinen Kopf geweint.
Seitdem war es vorbei mit der Liebe. Er fand eine andere, irgendwo. Hauptsache, die Leute bekamen es nicht mit. Das war Bedingung. Warum hatte eine Frau was mit dem? Ihr Herz war seitdem schwer. Im Hals ein Gefühl, als hätte sie mehrere Knödel verschluckt. Seit Jahren kein Mensch mehr in ihren Armen, bloß tausend Wünsche, die nie über ihre Lippen kamen.

Sie hat alles allein vorbereitet: Torte, Deko, DJ und Spiele. Auf dem Rasen vor dem Festsaal stand der Holzbock bereit, mit einem Stamm, den das Brautpaar gemeinsam zersägen musste. Die Freiwillige Feuerwehr stand Spalier, danach würden sie zum Dank einen Schnaps bekommen, bloß nicht die Flasche vergessen.
Noch fünf Minuten bis zur Abfahrt. Ihre Kopfhaut war inzwischen wieder trocken, sie drückte ihre Frisur mit beiden Händen in Form. Blieb am offenen Fenster stehen. Sie mochte frische Luft, und dennoch hätte sie jetzt gern eine geraucht. Hatte sie längst aufgegeben, der Gesundheit zuliebe, aber die Gier danach war geblieben.
Als ihre Schwiegereltern goldene Hochzeit feierten und die Gäste endlich aus dem Haus waren, saß sie mit der alten Dame im Wohnzimmer auf eine letzte Zigarette. Da sagte die, den goldenen Brautkranz noch im Haar: „Wenn es nach mir gegangen wär, ich hätte ihn schon vor vierzig Jahren verlassen.“
Was für ein Satz: vor vierzig Jahren! Warum war sie um Himmels Willen geblieben? Die Kinder, das Geld. Was würden die Leute sagen. Alle faselten dasselbe.

Ihr war das Gerede nicht wichtig, sie hätte ihn so gern an ihrer Seite gewusst. Als das damals anfing mit seinen Geschichten, was hatte er da für einen Unsinn zusammengelogen! Er müsse ein Klassentreffen organisieren in einer Vorbereitungsgruppe, mittwochabends. Dann später, man plane nun gar gemeinsam eine Reise nach Wien. Die Schulkameraden wussten von nichts, sie hatte sich erkundigt. Ihrem Mann schließlich die Pistole auf die Brust gesetzt, da rückte er damit raus. Es gäbe da eine Arbeitskollegin. Mit ihr hat er gemacht, was sie selbst zu gern erlebt hätte: einen Ausflug an die Nordsee, eine Wanderung am Strand. Wie er es wohl mit ihr tat, auch so hastig? Ihre Schwiegermutter winkte ab: „Vergiss die Männer. Genieß den ungestörten Schlaf.“

Es wurde Zeit. Sie klopfte an die Badezimmertür.
„Wir müssen los.“
„Drei Minuten noch.“
„Was braucht ihr denn so lange?“
Sie lugte hinein. Das Kind war grell geschminkt, die Haare hochgetrimmt wie eine Puppe. Sie war schockiert: „Du siehst aus wie eine Nutte.“
Die Braut verscheuchte ihre Mutter mit ausgestrecktem Zeigefinger: „Das ist meine Sache, raus.“

Sie stand im Flur, zitterte. Sie verlor ihre Tochter an allen Fronten. Wollte weinen, konnte nicht. Atmete flach. Nuttig war sie selbst gewesen. Damals, sie war im dritten Lehrjahr, hatte der Chef ihr angeboten, gutes Geld zu machen nach Feierabend. Ein lieber Mann, graue kurze Haare, schlank und hochgewachsen. Hatte sie oft angelächelt, ihre Schulter leicht berührt und auf Zuneigung gehofft. Zuletzt hatte er bitterlich in ihren Nacken geschluchzt, seine Frau sei krank und er sei doch auch nur ein Mann. Und weil sie so schäbig herumlief, hatte sie tröstend genickt und zehn Mark erbeten. Für jedes Mal.
Er war ein großer Küsser, Zunge minutenlang in den Hals, hin und her. Wollte, dass sie ihn in der Hand hielt, bis er kam, das war´s im Grunde. Als die Eltern ahnten, dass da was lief, war Schluss mit allem. Nicht mal die Lehre hat sie beenden können. Hat geheiratet, Ende Gelände.

Sie holte ihre seidene Stola, legte sie sich um die Schultern und betrat das verwaiste Kinderzimmer. Warmes Holz, natürlich die üblichen Poster und ein Schreibtisch mit Blick in den Garten. Einige Sachen hatte die Braut bereits ins neue Heim geschleppt, der Schrank fehlte, Lampe, Kommode.
Das Kind hatte eben erst ihr Abitur gemacht, beste Noten. Schon vor drei Jahren hatten alle gestaunt, dass sie so gut war in Chemie und so, in Bio und Physik auch. Für viele unverständlich, doch das Mädchen hatte seine wahre Freude dran. Ist zu Wettbewerben gefahren, bis zum Landesausscheid gekommen. Hat sich auch in Englisch gemacht. Beim Elternsprechtag meinte der Lehrer, sie könnte mit den Leistungen ohne Probleme ein Stipendium bekommen, ein Jahr Amerika. Danach wiederkommen, Abi machen und studieren. Naturwissenschaftlerinnen würden händeringend gesucht.
Sie waren stolz, die Oma hatte gestaunt, der Pfarrer genickt. Man hatte bereits Fotos von der amerikanischen Familie in Händen gehabt, wo sie leben würde. Anständige Leute, Jimmy und Susanna aus Milwaukee mit drei Töchtern. Doch plötzlich wollte sie nicht mehr weg.
„Ich hab mich verliebt!“
Und nun heiratete sie den, obwohl sie nicht mal schwanger war.

Draußen hupten die Fahrer, starteten ihre Motoren. Verdammt noch mal, was brauchte die so lange im Bad! Alle warteten auf das Fräulein.
Hat sich für diesen Tag partout runterhungern müssen auf Größe 34, so ein Irrsinn. Hat ihr für Amerika angespartes Geld in das Brautkleid gesteckt. Einmal Prinzessin sein im Leben, mit allem drum und dran.

Sie sah auf die Uhr, jetzt reichte es aber. Sie riss die Tür auf. Die Friseurin packte eben ihre Sachen zusammen, nickte dem Mädchen lächelnd zu und verließ den Raum.
Die Kolonne wartete draußen, hin zum Jawort. Da platzte der Brautmutter der Kragen. Die holte aus, und knallte ihrer Tochter eine links und eine rechts, dass es nur so klatschte. Ein Schrei, die Wangen rot, der Schleier schief, der Haarknoten aufgelöst. Tränen verschmierten das Mascara der Braut.

Claudia Schreiber, 1958 geboren, war Redakteurin, Reporterin und Moderatorin für den SWF und das ZDF, bevor sie Romane, Sach- und Kinderbücher schrieb. Ihre Texte wurden fürs Theater, TV und Kino adaptiert. 2004 erschien ihr Kinderbuchdebüt „Sultan und Kotzbrocken“ bei Hanser. 2014 folgte mit „Sultan und Kotzbrocken in einer Welt ohne Kissen“ die Fortsetzung der Geschichte. Ihr Bestseller-Roman „Emmas Glück“ wurde 2005 u. a. mit Jürgen Vogel und Jördis Triebel verfilmt. Gemeinsam mit Yayo Kawamura realisierte sie das Bilderbuchprojekt „Ich, Luisa, Königin der ganzen Welt“ (2015). 2016 folgte ihr Jugendbuch „Solo für Clara“. Claudia Schreiber wurde u. a. mit dem »Journalistenpreis Entwicklungspolitik« des Bundespräsidenten ausgezeichnet. Sie lebt in Köln.

Foto: Tim Löbbert

Claudia Schreiber «Solo für Clara», Hanser Verlag

Soll ich ein Jugendbuch lesen? Ja, weil dieses Buch ganz besondere Einblicke und Eindrücke zulässt!

Clara van Bergen spielt schon mit fünf Klavier, erst nur aus Spass und um ihre Neugier zu stillen. Aber aus blosser Freude wird wörtlich Leidenschaft, manchmal Besessenheit. Claras Eltern erkennen schnell, dass die Fähigkeiten ihrer Tochter weit über den Durchschnitt hinausgehen und wagen, angestachelt durch Claras kompromisslose Entschlossenheit, den Weg hin zur Konzertpianistin. Dass der Weg hart sein würde, wusste die Familie. Niemand aber warnte sie vor so viel Schmerz, Verletzung, Intrige und Einamkeit. Clara und ihre Familie hangeln sich über Jahre an Katastrophen vorbei.

Claudia Schreiber, Autorin von Romanen für Erwaschsene (z.B. «Emmas Glück», auch verfilmt mit Jürgen Vogel oder «Süss, wie Schattenmorellen»…) und Kinderbüchern (Sultan und Kotzbrocken …) hat sich intensiv mit Geschichten um junge Klaviertalente auseinandergesetzt, erzählt die Geschichte von Clara zwischen 5 und 17 Jahren, ganz nah, als wäre die Autorin durch mehr als ein Jahrzehnt mitgegangen. Ein «Jugendbuch» oder «All-Age»-Buch, das mich in die mir fremde Welt einer werdenenden Starpianisten einblicken lässt, ganz frei von Pathos und Romantik. Auch ein Buch über die «Schattenseiten» von Hochbegabung, der Statik von Schule und der Enge auf der Spitze einer Pyramide.

Ganz besonders gefällt am Buch, dass sämtliche Musikstücke mit einem Smartphone mittels QR-Code-Links abgerufen werden können. Was für ein Vergnügen, sich während der Lektüre durch so viel Musik streicheln lassen zu können!

claudiaschreiber.de