Annina Haab las in Gottlieben aus ihrem Debüt «Bei den grossen Vögeln», einer eigentlichen Liebesgeschichte zwischen einer jungen Frau und ihrer Grossmutter, von der sie nicht will, dass sie ihre Geschichte, ihre Geschichten mit in den Tod nimmt. Ein Buch über beiderseitiges Loslassen.
Seit 2019 präsentiert die Literaturvermittlerin Judith Zwick unterstützt durch das Kulturamt Konstanz, das Literaturhaus Thurgau, thurgaukultur.ch, die Buchhandlung Homburger und Hepp und den Fonds Neustart Kultur des Deutschen Literaturfonds die Reihe «Debüt. Der erste Roman.» Eine grenzüberschreitende Veranstaltungsreihe, die sich ausdrücklich jenen Autor:innen widmet, denen nicht schon ihr Ruhm vorauseilt.
In ihrem im Frühling erschienenen Roman «Bei den grossen Vögeln» sieht eine junge Frau ihre Grossmutter sterben. Sie will, dass Ali, so heisst sie ihre Grossmutter, weil sie keine Oma und auch keine Grossmutter ist, aus ihrem Leben erzählt. Ali wird sterben. Nur noch nicht jetzt. Sie ist fast 90 Jahre alt und liegt im Krankenhaus – Leberzirrhose. Sie entscheidet sich für das Altersheim. Weil sie es so will. Und der Familie zur Last fallen, das will sie nicht. Aber Ali will nicht erzählen, weil sie sich in ihrem langsamen Sterben viel lieber mit dem Gegenwärtigen beschäftigen will. Und weil sie sich dann doch zum Erzählen drängen lässt, erzählt sie dann eben doch, auch wenn ihr Erzählen manchmal vom Boden abhebt.
«Was wir erinnern, erinnert an uns.»
Ein Roman, der stark dialogisch gestaltet ist, weder Biographie noch Erinnerungsbuch. «Bei den grossen Vögeln» ist eine Huldigung an das Erzählen. Eine Liebesgeschichte an eine unerschrockene, humorvolle, alte Frau. Eine Frau, die sich immer wieder ihrer scheinbaren Bestimmung verweigerte, wegging, wegfuhr.
Älter werden wir alle, Grossmütter haben wir alle, manchmal nicht lange, manchmal zu lange. Annina Haab erzählt über die Endlichkeit, all die grossen und kleinen Übergänge, die einem erst im Erzählen und damit auch im Lesen bewusst werden. «Bei den grossen Vögeln» ist auch ein Buch, das sich mit institutioneller Alterspflege auseinandersetzt. Kein Abschiedsbuch, aber ein Buch über das Loslassen.
«Zwischen den Balken unterm Dach sprachen wir über das Altern und das Sterben, das Zurückbleiben, während draussen im Novembernebel die Fastnachtsmusik für einen trefflichen Kontrast sorgte. Liebe Judith, lieber Gallus, danke für den schönen Abend und auf ein andermal.» Annina Haab
Claudia war ein Anker für mich in der Welt. Sie hatte keine andere Wahl, denn ich wusste nichts, woran ich mich sonst hätte festhalten sollen. Sie lachte laut und viel und fiel manchmal vom Stuhl davon, rappelte sich aber wieder auf und ab und zu bestellte sie im selben Atemzug ein Bier, von dem sie dann behauptete, vom ersten bis zum letzten Schluck, es schmecke scheusslich.
Claudia war lang und schön und schielte meist in sich hinein, während sie sprach. Ich dachte oft, ich könnte mitschielen, aber ich konnte es nicht. Bestimmt hatte sie irgendwo Wurzeln geschlagen, tief unten im Meer, das grün in ihren Augen schwappte, als wäre sie gewohnt unter Wasser zu sehen. Sie war die meiner Schwerkraft entgegengesetzte Energie. Und ich fürchtete den Moment, in dem ich ihr zuviel werden würde, zu nah und zu schwer, als dass ihr Auftrieb für uns beide reichte. Doch sie trug mich. Lachte mich so lange aus, bis die Schwerigkeit verschwunden war und ich selber lachen konnte.
Ich wollte immer bei ihr sein, oder genauer, wollte, dass sie immer bei mir war, denn ich konnte die Kälte schlecht aushalten und Claudi sass meistens irgendwo im Freien auf einer Bank oder einer Mauer und atmete, als wolle sie die ganze Welt einsaugen, was nicht geschah. Ich hoffte es aber, hoffte, sie würde mich eines Tages mit einatmen, damit ich in ihr fortdauern und durch ihre Meeraugen sehen könnte. Ich wollte von ihr gelacht und durch die Welt getragen werden. Aber Claudia atmete mich nicht ein, behauptete überdies, dass das gar nicht möglich sei.
Eine Liebeserklärung brauchte sie nicht, denn ich lag offen da, das war Erklärung genug. Für Claudi war ich überschaubar. Ich hielt mich an ihrer Hand und versuchte, dies möglichst unauffällig zu tun, um nicht zu klammern, wenn die Wellen hoch schlugen und auch sonst. Woher sie ihre Sicherheit nahm, wusste ich nie, es schien, sie stelle einfach ihre Füsse auf den Boden und trage den Kopf auf den Schultern. Sie liess sich dabei selten etwas anmerken. Claudia stellte fest. Ich sage, wie es ist, sagte sie. Ich liebte sie mit unbestimmter Heftigkeit, denn sie war meine Freundin. Wir stahlen zwar keine Pferde aber Gemüse, Bücher, Schlafsäcke und einmal ein Boot, mit dem wir uns auf dem See davontreiben liessen bis zum Morgen.
Und dann war sie weg. Fast kommentarlos. Sie packte ein paar Kleider in einen alten Rucksack und verreiste und mich nahm sie nicht mit. In meinem Herzen schon, sagte sie. Aber das klang mir nach Spott. Es war klar ersichtlich, dass sie mich nicht mitnahm. Aus ihren Briefen rieselte Sand und sie beschrieb mit pedantischer Genauigkeit Dünen, Klippen, Wolken und das Meer, schrieb aber nie, wo sie sich aufhielt. Ich sagte, das kann mir egal sein. Ich sagte, es ist mir egal. Ich versuchte vergeblich, sie zu vergessen, sass zuhause am Fenster und hielt Ausschau, rieb mich an der Unantastbarkeit der Landschaft ohne sie.
Ich trieb in einer uferlosen Trübsal herum und fand keine seichte Stelle, an der ich ihr hätte entsteigen können. Ich wurde abwechselnd böse und reumütig, schrie, wartete, und kotzte, während ich sie herbeisehnte. Irgendwann wusste ich, dass sie nicht wiederkommen würde, weil zu viel Zeit vergangen war, zu viel Sand und Welt gibt es an den Rändern des Meeres, warum hätte sie genau zu mir zurückkehren sollen? Ich verurteilte Claudi in absentia, ihrer Treulosigkeit wegen, und kesselte sie in der Trockenheit meines Herzens ein, dort sollte sie bleiben, beschloss ich.
Als sie plötzlich vor meiner Tür stand, wünschte ich mir, sie nicht erkennen zu können, aber es half nichts. Ich trat zur Seite und bat Claudia herein, fragte, wie es ihr gehe; und sie sagte, dass sie nicht hätte gehen müssen. Sie wolle da nicht weiter drüber reden. Also hielt ich nur ihre Hand, während sie nach draussen starrte. Der Tee wurde in ihrer Tasse kalt, immer bevor sie ihn trinken konnte, sie blies hinein, ich wusste nicht wieso. Traute mich nicht, Claudi zu fragen. Sie schaute trüb aus, zauderte und war beständig müde. Sie hatte sich in Zweifel gezogen, aber nicht wieder heraus. Sogar ich begann sie zu bezweifeln. Sie war kein Anker mehr, sondern ein Boot, in dem wir nicht beide Platz fanden, sie schlingerte auf hoher See.
Ich verstand, dass es nun an mir lag, dass ich ihr Anlaufstelle zu sein vermögen sollte, aber sonst verstand ich nichts. Ich wollte, dass sie etwas benannte. Wollte, dass es da etwas gab, etwas möglichst Grosses, das man benennen und sich danach von ihm abwenden konnte. Einfach umdrehen und davonlaufen. Etwas worauf sich Staub sammelt und das man schliesslich ganz vergisst. Aber es gab nichts. Ich hielt ausufernde Reden, um sie aufzumuntern und selbst die Stille nicht ertragen zu müssen. Manchmal lachte sie leise, als schäme sie sich, dann wollte ich weinen, aber das kam mir fehl am Platz vor. Ich hätte gern, so als wäre nichts dabei, meine Füße auf den Boden gestellt und Claudi auf meinen Schultern getragen, aber ich war zu hager und sie zu groß dafür und ich wusste nicht, wie es geht. Also ließ ich alles sein, wie es war. Claudi blieb bei mir und ich hielt ihre kühle Hand, so gut es ging, wir schauten aus dem Fenster und waren ein wenig verloren.
Annina Haab wurde 1991 geboren und wuchs in Wädenswil im Kanton Zürich auf. Sie studierte Literarisches Schreiben in Biel, Bern und Leipzig und war Artist in Residence am Zentrum für nonkonformistische Kunst St. Petersburg sowie Stipendiatin der Autorenwerkstatt Prosa des Literarischen Colloquiums Berlin. Heute lebt Annina Haab in Basel. «Bei den großen Vögeln» ist ihr erster Roman.
Ali ist ihre Grossmutter. Und weil Ali nach einem Krankenhausaufenthalt nicht mehr zurück in ihr Zuhause kann und man sie in einem Altersheim platziert, beginnt ihre Enkelin zu schreiben. Sie will festhalten, was noch lebt, was noch da ist. All die Geschichten aufschreiben, die Ali ausmachen, die Ali mit sich herumträgt, die Ali zu der gemacht haben, die sie ist, auf die sie nicht verzichten kann, die ihr das Sterben und der drohende Tod wegnehmen will.
„Ali ist ein Code, drei Buchstaben, damit ich nicht Oma sagen muss oder Grossmutter.“
Wenn Menschen sterben, schliessen sich Türen endgültig. Was an Abdankungen in ein paar Minuten das Leben eines Menschen umreissen soll, ist nie und nimmer das, was der Tod hat abreissen lassen, was jenes Leben ausmachte. Dann sitzen wir Angehörige in den Bänken, lauschen und wissen, dass vieles unwiederbringlich mit in der Grube zugeschüttet ist. Die Schriftstellerin Annina Haab gibt einer Erzählerin eine Stimme, die sich mit allen Mitteln dem Vergessen und Verschwinden entgegenstellt. Die Enkelin besucht ihre Grossmutter immer wieder, will möglichst viel von dem bewahren, was die innige Beziehung zu ihrer Grossmutter ausmachte, diese beinah kumpelhafte Zweisamkeit, die etwas Verschwörerischen an sich hatte. Aber die Grossmutter verstummt immer mehr. Zum einen schwindet die Kraft, zum andern schliesst sich die Tür zu den Geschichten schon deshalb, weil sich die Grossmutter weigert, ihre eigene Geschichte so ernst und wichtig wie ihre Enkelin zu nehmen.
Annina Haab hat ein ungeheuer zartes und anrührendes Buch geschrieben. Ein Buch, das ganz leicht ins Sentimentale hätte abdriften können. Aber Annina Haab schaffte es mit erstaunlicher Sicherheit, nicht in erster Linie ein Buch über ihre Grossmutter zu schreiben, ein Leben aus der Vergangenheit dem Vergessen zu entreissen, sondern ein Buch über einen Abschied. Über die immer grösser werdende Distanz, die lange vor dem Sterben beginnt. Über Nähe, die ganz langsam verloren geht und darüber, dass das Schreiben vielleicht eine der wenigen Möglichkeiten ist, einem Menschen über seinen Tod hinweg nahe zu bleiben, ihn nicht loslassen zu müssen.
Sie weiss einiges über Ali. Von einer Kindheit auf dem Bauernhof, von der Reise als Jugendliche nach England, nach London in die Dienste von Familien. Ali erzählt von ihrem Leben in der Enge, einem Leben, das fast nur aus Arbeit bestand, ihrem Pelzmantel, den sie monatelang abstotterte, der ihr den Zugang in die „Gesellschaft“, in das Leben dort erleichtern und nicht sofort als Haushalthilfe erkennbar machen sollte, von ihren Ersparnissen, die sie sich von einem Fremden abknöpfen liess und Jahre später wie aus dem Nichts wieder an sie zurück gelangten. Es sind Bruchstücke, das was man erzählt, wenn man sich nahe ist, Zeitinseln aus einem Meer, das unendlich scheint. Die Enkelin will festhalten, weil ihr mit dem Sterben ihrer Grossmutter ein Leben zu entgleiten beginnt, das ihr näher als alle anderen ist.
Sie geht durch die verlassene Wohnung ihrer Grossmutter, als wäre es ein verlassenes, nur vorübergehend verlassenes Leben einer Frau, die nur eben mal schnell weg ist. Sie besucht Ali im kleinen Altersheim, im Zimmer, das sie mit einer anderen Frau teilt, die fast immer unter einem Berg von Decken im Bett am Fenster liegt. Sie lebt mit dem Riss in sich selbst, weil sie ihre Grossmutter am liebsten zu sich nehmen würde, aber an den Realitäten scheitert und in der Zeit zögert, in der es noch möglich gewesen wäre, es Ali aber gar nicht gewollt hätte. Sie hadert mit dem Bewusstsein, dass ihr vieles, alles aus den Händen genommen wird, dass sie zur Zurückbleibenden verurteilt ist.
„Bei den grossen Vögeln“ ist viel mehr als ein Erinnerungsbuch einer jungen Frau über ihre Grossmutter, auch wenn es das auch ist. Der Roman spiegelt, was in der Erzählerin passiert, das Pendeln zwischen Schmerz, Trauer, Ergebenheit und zärtlicher Liebe. Und nicht zuletzt zwingt der Roman mich als Leser zu Fragen an mich selbst: Was will ich in meiner letzten Zeit in meinen Händen behalten? Was soll von mir zurückbleiben? Ist das erzählt, was mich ausmacht oder lasse ich so hilflos zurück, wie es meistens ist? Lebe ich mit dem Bewusstsein, das mein Leben endlich ist?
“Bei den grossen Vögeln“ ist kein grosser, schwarzer Vogel, aber ein Buch, das sich über viele andere zu diesem Thema hinausgehoben hat.
Interview
Der grosse Wiener Liedermacher Ludwig Hirsch schrieb und sang ein Lied mit dem Titel „Komm, grosser schwarzer Vogel“, ein düsteres Lied über Todessehnsucht. Ihr Debüt „Bei den grossen Vögeln“ ist ein Nachgesang über eine grosse Liebe; die Liebe zwischen Enkelin und Grossmutter. So gar kein Buch über den Tod. Auch kein Erinnerungsbuch. War das Buch eine Notwendigkeit?
Das Lied kenne ich nicht, die Vögel sind für mich auch gar nicht so sehr mit dem Tod assoziiert. Ich denke, dass das Schreiben als Prozess für mich eine Notwendigkeit war. Dass daraus jetzt ein Buch wird, ist für mich eher eine erfreuliche Zugabe. Ich finde es aber durchaus nötig, dass über Menschen, wie die Ali im Text, mehr geschrieben wird, dass also nicht nur Heldengeschichten erzählt werden, sondern auch von jenen geschrieben wird, die sozusagen kleine Geschichten leben.
Sie sind noch jung. Ich bin bald 60. Sie haben sich beim Schreiben dieses Buches ganz intensiv mit dem letzten Lebensabschnitt auseinandergesetzt, wenn man so will, exemplarisch an Ali der Grossmutter. Hat sich Ihre Sicht auf Ihr eigenes Leben, auch auf Ihr eigenes Sterben verändert?
Mit meinem eigenen Sterben habe ich mich nicht besonders auseinandergesetzt, für mich war und istdie Auseinandersetzung mit dem Sterben der anderen wichtig, mit der Position derjenigen, die weiterlebt. Es ging mir also eher um den Abschied und den Verlust, aber auch um eine Reflexion verbreiteter Erzählweisen und Darstellungen des Todes. Die Sicht auf das eigene Leben verändert sich wahrscheinlich zwangsläufig, wenn man sich mit hochbetagten Frauen beschäftigt. Ich bin sehr glücklich, durfte ich so manches von ihnen lernen.
Ist Ihr Buch auch eine Aufforderung, sich mit dem letzten Schritt eines jeden Lebens mehr auseinanderzusetzen?
Ich denke nicht, dass ich je den Wunsch verspürt habe, mit dem Text irgendwen zu etwas aufzufordern. Ich glaube aber, dass es durchaus sinnvoll wäre, sich mit dem Sterben und dem Tod auseinanderzusetzen. Oft, so scheint mir, wird ein wenig daran vorbeigeschielt oder verhüllend darüber gesprochen. Gerade bei den Darstellungen und metaphorischen Ausdrücken müssen wirsehr genau hinschauen und prüfen, ob sie zutreffend sind oder doch eher Ausflüchte, um in einer gefahrenfreien Zone bleiben zu können. Allgemein fände ich es gut, den Tod und die Krankheit, die Gebrechen, die Abweichung von der (ideellen) Norm junger gesunder Körper nicht an den Rand der Gesellschaft oder des Blickfeldes zu schieben, sondern sie sichtbar zu machen und die Diversität der existierenden Körper und Zustände anzunehmen und auch zu verteidigen.
Weil Ihr Buch keine Anekdotensammlung ist, kein Erinnerungsbuch, sondern eine Liebeserklärung, eine Verneigung, eine sprachliche Zärtlichkeit, liest es sich anders; Sie schaffen es, die Spur vorbei an Sentimentalitäten zu halten. War das schwierig?
Danke, das freut mich zu hören. Ja, das fand ich sogar sehr schwierig und in vielen Momenten zweifelte ich auch, ob es denn geglückt sei. Es ist jaein schmaler Grat, auf dem ich wandeln wollte. Ich bin eine Befürworterin von Pathos und auch hier finde ich es vor allem wichtig, auf der Hut zu sein, um keine Vorurteile weiter festzutreten. Das gilt aber für den Zynismus genauso, eine Haltung, die zwar oft souveräner scheint, es aber nicht unbedingt ist.
Obwohl das Altersheim, in dem Ali die letzte Zeit ihres Lebens verbringt, ein ganz kleines ist, wird sie von „Einsamkeit zerfressen“, etwas, das auch mit vielen Besuchen nicht verhindert werden kann. Das Abgeschnittensein vom alten Leben, vom Leben draussen (etwas, was in Coronazeiten dramatische Züge bekommen hat!), von einem wirklichen Zuhause. Wie wollen Sie alt werden?
Nun ja, am liebsten schon eingebettet in eine soziale Struktur, die mir dieses Zuhause ist, aber wer auf intensive Pflege angewiesen ist, hat oft keine Wahl mehr. Dass noch im familiärsten Heim die Einsamkeit grassiert, verweist auf ein strukturelles Problem; dass von den Pflegenden zu viel verlangt wird, dass kaum Zeit für zwischenmenschlichen Kontakt bleibt, dass sie chronisch überarbeitet aber unterbezahlt sind. Wie müssen unbedingt über die Bedingungen und den Stellenwert von Care-Arbeit reden, und über patriarchale Geschlechterverhältnisse. In erster Linie möchte ich also erleben, dass da ein Umdenken stattfindet, und zwar sofort, bevor ich alt werde. Ansonsten kann ich mir nur wünschen, so humorvoll, offen und unkompliziert wie beispielsweise die Ali zu werden, ich glaube, dann wär ich ganz schön stolz auf mich.
Ganz am Schluss des Buches danken Sie. Da erscheinen gewichtige Namen: Ruth Schweikert, Friederike Kretzen, Zsuzsanna Gahse oder Antje Rávik Strubel. Ein Indiz dafür, dass Schreiben nicht einfach „das stille Brüten im Kämmerchen» ist. Und doch erstaunt die Dichte an grossen Namen. Wie verändert die Auseinandersetzung den Text?
Ich denke, das Bild von der Literatur als einsames Geschäft wird oft und gerne bemüht, weil es vielen Leuten gefällt, sich so darzustellen, und ja, während ich schreibe, bin ich selber auch allein, aber während ich über Texte nachdenke zum Glück nicht. Die „Dichte an grossen Namen“ hat etwas damit zu tun, dass ich in verschiedenen (institutionellen) Kontexten meinen Text besprechen durfte. Mir hat vor allem die konstante Begleitung von Friederike Kretzen geholfen, die sich mit grosser Ernsthaftigkeit auf meinen Text eingelassen hat undauch bereit war, über noch so kleine Details mit mir nachzudenken. Aber auch viele andere haben meinen Prozess beeinflusst. Ich finde es eine grosse Chance und Bereicherung, mit anderen über Texte zu sprechen, die am Entstehen sind, auch einige Freundinnen und Geschwister von mir haben den Text in einer ersten Fassung gelesen und wichtige Anstösse gegeben. Das Einbeziehen anderer Meinungen lehrte mich, dass nichts festgeschrieben ist, dass es sich lohnt, alles noch einmal zu hinterfragen und nur stehen zu lassen, was man begründen kann. Es zeigte aber auch, dass zu jeder Szene zehn verschiedene Meinungen möglich sind.
Ein Buch, das Sie in den vergangenen Monaten gepackt hat?
«Kassandra» und viel weiteres von Christa Wolf. Und einmal mehr die Reden von Audre Lorde.
Annina Haab wurde 1991 geboren und wuchs in Wädenswil im Kanton Zürich auf. Sie studierte Literarisches Schreiben in Biel, Bern und Leipzig und war Artist in Residence am Zentrum für nonkonformistische Kunst St. Petersburg sowie Stipendiatin der Autorenwerkstatt Prosa des Literarischen Colloquiums Berlin. Heute lebt Annina Haab in Basel. «Bei den großen Vögeln» ist ihr erster Roman.