Dem unverändert aktuellen Thema von Krieg, Gewalt und Zerstörung widmen sich zwei lesenswerte Bücher auf unterschiedliche Weise. Sowohl Ishbel Szatrawska aus Polen mit ihrem Debüt als auch Sergej Lebedew aus Russland mit einem neuen Roman. Beide sind 1981 geboren.
Lieber Gallus
Vor Kurzem trafen wir Freunde und Bekannte aus der Ukraine anlässlich der Tournee des grossartigen Chores «CANTUS» aus Uschgorod, Transkarpatien. Sie berichteten eindrücklich, wie sie den Krieg erleben. Es sitzen junge Leute in Kiev in ihrer Freizeit in den Cafés zusammen und diskutieren lebhaft, obwohl sie nachts bei steten Bombenangriffen kaum schlafen. Das Strassenbild tagsüber im Zentrum gleicht einer modernen europäischen Stadt, unweit davon entstehen täglich neue Zeichen der Zerstörung. Müde, aber überzeugend kämpfen sie weiter um ihr Land, ihre Kultur, ihr Leben. Für uns Schweizer nicht vorstellbar.
Ishbel Szatrawska hat einen historischen Familienroman geschrieben, der im ehemaligen Ostpreussen spielt. Diese Gegend hat eine sehr bewegte Geschichte an einem Schmelztiegel von Völkern, hier haben Polen, Deutsche, Litauer und Russen um Macht und Einfluss gekämpft. Nur schon von diesen historischen und kulturellen Verflechtungen zu erfahren, war für mich hochinteressant. Der Zweite Weltkrieg mit dem Nationalsozialismus, die sowjetische Invasion und die Jahre des Kommunismus in der Region um Königsberg bilden den Hintergrund des Romans. Hauptpersonen sind die Grossmutter Janka und die Enkelin Alicja sowie der Chirurg Max und Jankas Sohn Wolf. Ihre Erlebnisse in einer Zeit des Umbruchs, des Krieges mit Verschiebung der Grenzen werden bildhaft und sprachgewaltig geschildert. Jede Person bekommt ein charaktervolles Gesicht und bleibt trotzdem geheimnisvoll. Einige Weiterentwicklungen bleiben für den Leser, die Leserin offen, machen das Buch noch interessanter und anregender. Ein Roman, der wirklich in tiefe Abgründe des Menschseins führt.

Die aus Olsztyn stammende Autorin möchte mit ihrem Buch eine Lücke füllen, da bisher Vieles aus der Geschichte Ostpreussens nicht bekannt ist und kaum aus der Sicht einer Polin dargestellt wurde. An der Buchvernissage im Literaturhaus Zürich sagte sie, dass das Buch in Polen in den verschiedenen Bezirken sehr kontrovers aufgenommen wurde. In der ehemals ostpreussischen Region sehr gut, in Zentralpolen teils mit Unverständnis. Dort hat die polnische Bevölkerung die Deutschen als Invasoren erlebt.
Mich hat die poetische kraftvolle Sprache von Szatrawska sehr beeindruckt. Zeitlich und örtlich hin und her springend erzählt, ist das Buch nie unübersichtlich. Der geschickte Perspektivenwechsel gibt dem Werk eine faszinierende Dichte und Tiefe. Wie sich Grossmutter Janka und ihre ebenso starke Enkelin Alicja den Herausforderungen stellen, bleiben im Gedächtnis hängen:
Nimm nichts von Deutschen. Alicja erstarrte, sie hielt ein bunt verpacktes Schokoladenbonbon in ihrer Faust. Sie brauchte sich nicht umzudrehen. Auch so wusste sie, dass Grossmutter Janka mit der Zigarette in der Hand unter dem Vordach stand, unbewegt, bedrohlich. Obgleich der Sommer in diesem Jahr ein typisch preussischer war, mässig warm, wolkig, mit unangenehm kühlem Wind aus Norden, spürte sie, wie ihr heiss wurde. (Buchanfang, Janka noch Mädchen)
Wie der Chirurg Max umgeben von immer mehr Zerstörung und Eindringen der Russen unter schwierigsten Bedingungen und in einem widerlichen Umfeld arbeiten muss, haben mich als pensionierten Hausarzt erschüttert:
Halt!, rief Max, das ist ein Operationssaal. Der Grösste der Meute zielte sofort auf seinen Kopf. Unwillkürlich hob er die Hände. Johanna schluchzte in der Ecke. Er hörte, wie sie ihr die Kleider vom Leib rissen. Er schaute in den Lauf des Gewehrs, um die Frauen nicht sehen zu müssen, in der erhobenen Hand hielt er noch immer den Nadelhalter. (Russeneinfall in Königsberg am Ende des Zweites Weltkriegs)
Menschen verlieren Würde und Heimat und müssen entwurzelt ums nackte Überleben kämpfen.
Keine leichte Kost, aber ein Buch, das zu Herzen geht. Sehr zu empfehlen!
Sergej Lebedew, studierter Geologe setzt sich bereits seit Jahren mit den unterirdischen Spuren menschlichen Terrors auseinander. Erstmals 2011 (deutsche Ausgabe) mit «Der Himmel auf ihren Schultern» und aktuell im soeben erschienen Roman «Die Beschützerin»; Fünf Tage im Juli 2014 im Donbass, wo bereits die Nationalsozialisten im Zweiten Weltkrieg Tausende Juden umgebracht und verscharrt haben. 2014 wurde zudem ein Passagierflugzeug von den Russen abgeschossen.

Der russische Originaltitel »Белая дама», «Die weisse Dame», wäre für mich sinnvoller, denn Marianna, dreissig Jahre lang Leiterin einer Bergbau-Wäscherei, versucht dunkle hartnäckige Flecken in der Wäsche weisszuwaschen. Später versucht auch ihre Tochter Shanna, unerschöpflich das Böse dieses Ortes wegzuzwaschen. Reinwaschen als Metapher fürs Verdrängen schrecklicher Tatsachen. Hier, im «Schacht ¾» eines Bergbaus lagern bis unter die Erdoberfläche aufgeschichtet Leichen, erschossen und ermordet durch verschieden Aggressoren:
Unter uns liegen von den Deutschen erschossene Soldaten der roten Armee. Unter ihnen die Gefangenen sowjetischer Gefängnisse, erschossen von den Bolschewiki beim Rückzug der roten Armee. Unter ihnen sind weisse, rote, grüne und zufällige Ansässige, als Geiseln genommen und hingerichtet im Bürgerkrieg von den vorrückenden und sich zurückziehenden Truppen… Und unter ihnen sind die getöteten Streikenden der ersten Revolution von 1905.
Eine dunkle Geschichte mit vier ProtagonistInnen zwischen Schuld und Versöhnung, Geschichtsbewusstsein und Vergessen, Verlassenheit und Wut.
Neben Marianna, die «Beschützerin», die an Krebs stirbt, und ihrer Tochter Shanna erscheint Valet, ein früherer Nachbar von Shanna, der «gehärtet und abgedroschen» von Moskau zurückkehrt, um die prorussischen Separatisten zu unterstützen und Shanna endlich zu entführen. Er schenkt ihr einen teuren Lippenstift, den er einer Leiche aus dem abgeschossenen Flugzeug entwendet hat. Auch General «Korol», ein typischer KGB-Offizier, welcher Mariannas Akte unter «Schneewittchen» notiert hat, kehrt an diesen Ort zurück, überwacht die «Totenkammer», Schacht ¾, damit der Bevölkerung keine unnötigen Fragen kamen. Als innere Stimme, als Geist, lässt Lebedew einen jüdischen Ingenieur sprechen:
Daraufhin wurde eine neue Waffe geboren: der lange Arm des Todes, der bis über den Ärmelkanal reichen konnte. Eine vollendete Form, ein Hai der Lüfte, ein Gerät ohne Menschen darin. Es war die V2… Als man uns im Frühjahr 1942 tötete, wurden sie bereits produziert, getestet und vorbereitet. Zwangsarbeiter setzten sie zusammen – lebende Tote. Damit sie andere Menschen in Tote verwandeln konnten.
Erschüttert und nachdenklich lege ich das Buch weg. Metaphorisch etwas überladen zeigt dieses düstere Buch nachhaltig, was Kriege mit uns Menschen machen. Ein Mahnmal! Mit Hoffnung?
Ich bin gespannt auf deine Eindrücke und grüsse herzlich
Bär

Ishbel Szatrawska, 1981 in Olsztyn (ehemals Allenstein, Polen) geboren, studierte polnische Literatur und Theaterwissenschaft an der Jagiellonen-Universität in Krakau, wo sie heute lebt und schreibt. Sie ist Autorin von sechs Theaterstücken. Ihr Debütroman «Toń» (dt. «Die Tiefe») stand auf Platz eins der Bestsellerliste für polnische Literatur und wurde zu einem der «10 besten Bücher des Jahres» gewählt.
Andreas Volk, 1971 in Idar-Oberstein geboren, lebt seit bald zwanzig Jahren als Literaturübersetzer in Warschau. Er übersetzte bereits Ishbel Szatrawskas Theaterstück «Totentanz. Schwarze Nacht, schwarzer Tod». 2013 wurde er mit dem Übersetzerpreis der Vereinigung der polnischen Bühnenautoren und -komponisten Zaiks und 2022 mit dem Karl-Dedecius-Preis ausgezeichnet.
Sergej Lebedew wurde 1981 in Moskau geboren und war viele Jahre auf geologischen Expeditionen im Norden Russlands und in Zentralasien unterwegs, bevor er zu schreiben anfing. Sein erster Roman «Der Himmel auf ihren Schultern» stand auf der Longlist des russischen Nazbest-Preises 2011. Zuvor sind in Russland seine Gedichte, Essays und journalistischen Texte erschienen. Lebedew lebt seit 2018 in Potsdam.
Franziska Zwerg, geboren 1969, studierte in Berlin und Moskau Slawistik, Germanistik und Theaterwissenschaft und übersetzt zeitgenössische russische Literatur, neben den Romanen von Sergej Lebedew u.a. Werke von Dmitry Glukhovsky, Viktor Martinowitsch, Viktor Remizov.




Jonas Lüscher wurde 1976 in der Schweiz geboren, er lebt in München. Seine Novelle Frühling der Barbaren war ein Bestseller, stand auf der Longlist für den Deutschen Buchpreis und war nominiert für den Schweizer Buchpreis. Lüschers Roman «Kraft» gewann den Schweizer Buchpreis. Jonas Lüscher erhielt ausserdem u.a. den Hans-Fallada-Preis, den Prix Franz Hessel und den Max Frisch-Preis der Stadt Zürich. Seine Bücher sind in über zwanzig Sprachen übersetzt.
Mit diesen Gedanken und Text-Beispielen möchte ich dich zur Lektüre des «Zauberbergs» ermuntern. Ob ich der Empfehlung Thomas Manns folge, ist durchaus möglich: «Wer aber mit dem «Zauberberg» überhaupt einmal zu Ende gekommen ist, dem rate ich, ihn noch einmal zu lesen, denn seine besondere Machart, sein Charakter als Komposition bringt es mit sich, dass das Vergnügen des Lesers sich beim zweiten Mal erhöhen und vertiefen wird, – wie man ja auch Musik kennen muss, um sie richtig zu geniessen.» (Einführung des Autors für Studenten der Universität Princeton)






Ein trügerisch schönes Landschaftsbild aus Österreich, wo sich der Himmel in einem See spiegelt. Ich aber erfahre von einem Konzentrationslager aus dem zweiten Weltkrieg und der Produktionsstätte von Massenvernichtungswaffen in dieser Gegend. Lorcan wollte auf dem Weg zu ihren Verstecken im Hochgebirge biwakieren, um im Schlafsack den Auf- und Untergang jener Sternbilder zu beobachten, die den Verfolgten in der nächtlichen Weglosigkeit als Orientierung gedient hatten. Staunen und Erschrecken sind nahe beieinander.
Eine Zeichnung von zwei Pferden des siebenjährigen Mädchens Emily Christian auf der weit abgelegenen Südseeinsel Pitcairn im Pazifischen Ozean. Pferde, die sie sich sehnlichst wünscht, obwohl sie noch nie ein Pferd gesehen hat. Sie glaubt, ihr Leben auf dieser Insel, wo es keine Pferde gibt, verbringen zu müssen. Wir erfahren zudem von kolonialen Kämpfen, Sklaverei und Meutereien ihrer Vorfahren auf und um Pitcairn. Emilys Zeichnung wird zur Brücke in die weite Welt.
Also könne er (Ali Bazhi auf dem Foto) nun einen Reisenden nur bis zu den Gebirgszügen der algerischen Sahara führen, denn nachdem es niemanden mehr gab, der die Bewegungen des Sandes, wandernder, irrlichternder Dünen, die Geröllfelder und unüberwindlichen Felsbarrieren über mehr als eintausendfünfhundert Kilometer so gut kannte wie sein Vater, müsste nun in jeder Oase nach einem neuen Ortskundigen gesucht werden.




Dann habe ich mich also dem Erstling zugewendet. 1983 erschienen, ist «Webfehler» auch heute noch mit Gewinn zu lesen, eine Geschichte von zwei jungen Frauen auf der Suche nach einem neuen Leben. Auch hier geht Anne anhand von Erinnerungen dem Leben ihrer Freundin Bettina nach, die nach einem Nervenzusammenbruch in einer Psychiatrischen Klinik sich befindet. «Das Fremde im anderen annehmen, um das Fremde in sich selber zu akzeptieren. Welch andere Chance birgt eine Beziehung» . Das Bewusstsein vom Verstricktsein in Geschichten und die Kraft des Erinnerns und einer zuwendenden Beziehung spielen bereits hier eine wichtige Rolle.
