Wer wird es?- Der Blick in die Glaskugel #SchweizerBuchpreis 24/10

Eine Mehrheit auf der SRF/Kulturseite glaubt, Zora del Buono werde mit „Seinetwegen“ das Rennen um den Schweizer Buchpreis 2024 machen. Dass Michelle Steinbeck mit „Favorita“ dabei ziemlich abgeschlagen auf dem letzten Platz liegt, verwundert mich sehr.

„Mit dem Schweizer Buchpreis SBP zeichnen der Schweizer Buchhandels- und Verlags-Verband SBVV und der Verein LiteraturBasel jährlich das beste erzählerische oder essayistische deutschsprachige Werk von Schweizer:innen oder seit mindestens zwei Jahren in der Schweiz lebenden Autori:nnen aus.
Ziel des SBPs ist es, jährlich fünf herausragenden Büchern grösstmögliche Aufmerksamkeit in der Öffentlichkeit zu verschaffen und sie in der Schweiz und über die Landesgrenzen hinaus einem breiten Lesepublikum wie auch der internationalen Buchbranche bekannt zu machen“, steht im Reglement des Schweizer Buchpreises.

Mit „Seinetwegen“ von Zora del Buono täte die Jury alles richtig. Ein Buch einer Autorin, die ihr Können schon vielfach bewies. Ein Buch, das einer breiten Öffentlichkeit mit Recht gefällt. Ein Buch, das sogar Wenigleser*innen zur Lektüre verführen kann. Aber auch ein Buch, das die spezielle Aufmerksamkeit längst nicht mehr brauchen würde, war es doch auf allen Kanälen über Monate präsent. Auch wenn ich der Autorin jedes verkaufte Buch gönne, denn jedes verkaufte Buch birgt ein Stück Freiheit. Das geht aber allen Nominierten so.

Einmal mehr entscheidet der Mut der Jury. Verdient hätten es alle fünf Nominierten. Auf die eine oder andere Weise faszinierten sie mich alle, auch wenn „Polifon Pervers“ von Béla Rothenbühler mit Sicherheit am wenigsten mehrheitstauglich wäre. Literatur muss alles andere als mehrheitstauglich sein. Der Schweizer Buchpreis aber sehr wohl, ist er doch nicht zuletzt Werbefläche für den Buchhandel. Nichts interessiert den Buchhandel mehr als grösstmögliche Verkaufszahlen. (Deshalb sollten in der Jury meiner Meinung nach auch bloss Buchhändler*innen agieren. Das wäre ehrlich.)

Mariann Bühlers Aufstieg mit «Verschiebung im Gestein» in den CH-Literaturhimmel war und ist beachtlich und berechtigt. Martin R. Deans Roman «Tabak und Schokolade» ist das Bruderbuch von Zora del Buonos Roman «Seinetwegen» . Michelle Steinbecks „Favorita“ wäre die mutige Wahl. Ein Statement, dass Literatur etwas wagen muss, mehr als nur Offenheit oder Authentizität. Würde die Jury «Favorita» zum besten Buch des Jahres erklären (Was sowieso keines der fünf nominierten Bücher ist, gibt es doch weder klare Kriterien noch einen einheitlichen Geschmack), wäre der Preis eine Anerkennung für den Mut, die Freiheit, die Fantasie, das Unangepasste.

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Mein Favorit ist «Verschiebung im Gestein» von Mariann Bühler. Ein literarisch wunderbar gelungenes Debüt mit der Geschichte von drei Dorfbewohnern, die eine existentielle Veränderung erfahren und sich neu orientieren müssen. Dies wird durch kluge kurze Texte über Verschiebung im Gestein gespiegelt und atmosphärisch kommentiert. Ich würde diesem Werk die Stimme geben.
«Tabak und Schokolade» von Martin R. Dean ist eine sehr berührende autofiktive Geschichte über Identitätssuche und Ausgrenzung, wir erfahren die Schweizer Kolonialgeschichte aus persönlicher Sicht. Für mich nur wenige Punkte unterhalb von «Verschiebung im Gestein».
«Seinetwegen» hat mich vom Inhalt her nicht so sehr interessiert, obwohl ich die Autorin sehr schätze. Zora del Buono ist sicher auch eine Favoritin für den Buchpreis.

«Polifon pervers» ist im Luzerner Dialekt auch für mich als Luzerner schwierig zu lesen, eigentlich eine Geschichte, die man hören müsste. Vom Inhalt her sehr witzig und cool, eine Kategorie für sich und müsste mit anderen Mundartwerken verglichen werden.
Die ersten paar Seiten von «Favorita» liessen bei mir keine Saiten anklingen. Ich hatte keine Lust, dieses Buch zu lesen. Möglicherweise sieht das die Jury ganz anders!“ Urs Abt, der Bär

«Stirb nicht, bitte stirb nicht.» Han Kang in «Weiß»(14)

Lieber Gallus

Nun liegt es auf dem Tisch: ein edles Buch in Weiss mit drei Wörtern in Schwarz und einer zarten weissen Feder darüber. Ich nehme es sehr sorgfältig in die Hand.

So verlassen wir den festen Grund, den unser Leben uns bis dahin geboten hat, und tun diesen letzten gefährlichen Schritt ins Leere, ohne zu zögern. Nicht weil wir besonders mutig wären, sondern weil es keine Alternative gibt. Ohne Wenn und Aber wage ich den Schritt in eine Zeit, die ich noch nicht gelebt habe, und in ein Buch, das ich noch nicht geschrieben habe.

Han Kang «Weiß», Aufbau 2020, aus dem Koreanischen von Ki-Hyang Lee, 151 Seiten, CHF ca. 27.90, ISBN 978-3-351-03722-2

Dieses 2020 auf Deutsch erschienene Werk der diesjährigen Nobelpreisträgerin erschüttert, beglückt und tröstet. In sehr persönlichen und tief bewegenden Bildern gelingt es der Autorin, die prägende Erinnerung an ihre Schwester, die in den Armen der Mutter als Neugeborenes starb, poetisch in Sprache umzusetzen. Das weisse Cover mit der schwarzen Schrift unter einer filigranen Feder und die Fotos von Han Kang und Douglas Seok bilden zusammen mit dem Text ein kostbares Schatzkästchen, dessen Reichtum durch langsame mehrmalige Lektüre jedes Mal aufs neue bewegt.

Stirb nicht, bitte stirb nicht. Diese Worte, die sie nicht verstand, waren das Einzige, was sie in ihrem Leben hören sollte.

Meine Mutter lag auf der Seite, ihr Kind an die Brust gedrückt, und fühlte, wie die Kälte in den kleinen Körper kroch. Tränen hatte sie keine mehr.

Ein Jahr nach dem Verlust ihrer ersten Tochter hatte meine Mutter eine weitere Frühgeburt. Dieses Mal war es ein Junge.

Wenn du noch lebtest, könnte folglich ich nicht sein. Da ich jetzt lebe, darfst du nicht existieren.

In allen Dingen werde ich dich spüren und für dich weiteratmen.

In kurzen Zitaten mit weissen Dingen als Titel und gegliedert in 3 Abschnitte «Ich», «Sie» und «Alles weiss» zeigt mir Han Kang ihre ergreifenden Reflexionen über Menschsein, Geworfenheit und Vergänglichkeit. Ich bin dankbar, durch den Nobelpreis auf diese wunderbare Autorin aufmerksam geworden zu sein.
Wirklich grossartig und lesenswert!

Herzlich

Bär

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Lieber Bär

Seit ihrem Roman „Die Vegetarierin“ gehört Han Kang zu Koreas wichtigsten literarischen Stimmen. Während eines Aufenthalts in einer europäischen Stadt, konfrontiert mit der Erinnerung an ihre Schwester, die in den Armen ihrer Mutter starb, entstand „Weiß“, ein Buch, reduziert bis auf das, was sich nicht mehr wegdenken lässt. 

Die Frau, von der erzählt wird, ist in der Fremde, an einem Ort, an dem während der Hälfte des Jahres Kälte herrscht; der Nebel, die Wolken, der Schnee. In einer Stadt, in der sie die Sprache nicht versteht, in der kein Schild zu entziffern ist, in der sie sich fremd und verunsichert fühlt, tauchen im Weiss Bilder auf, die sie in die Erinnerungen zurückreissen.


An die Mutter, die noch ganz jung, ganz allein, weit weg und ohne Zugang zu medizinischer Hilfe lange vor dem Geburtstermin ein Mädchen zur Welt bringt, unvorbereitet und in stiller Verzweiflung. Aber nicht einmal zwei Stunden lang dauert das kurze Leben des Mädchens. Es stirbt. Und nachdem Stunden später der Vater nach Hause kommt, hüllt er dieses in weisse Wickeltücher und beerdigt es auf einem nahen Hügel. Eine Tragödie, von der sich die Mutter nie ganz erholt, die immer wieder im Konjunktiv aufflackert. Eine Tragödie, die auch die Erzählende begleitet, denn trotz ihres kurzen Lebens bleibt das namenlose Mädchen ihre Schwester. Noch mehr, denn es hätte sie selbst nicht gegeben, hätte die Erstgeborene weiter gelebt.

Jahrzehnte später in den kalten Wintermonaten in einer fernen Stadt, allein gelassen mit sich selbst und mit Bildern, die sonst verborgen bleiben, tauchen Erinnerungen wieder auf. Erinnerungen gekoppelt mit der Farbe Weiss. Während die Erzählerin als erstes eine Liste erstellt mit Dingen, die sie mit Weiss verbindet, tauchen weisse Fetzen aus dem Vergessen auf. Aus der Liste werden die Überschriften zu den kurzen Kapiteln, die sich wie Meditationen, Betrachtungen lesen; Wickeltuch, Babyhemdchen, Mondförmiger Reiskuchen, Nebel, Weisse Stadt, Weisse Kerze…

„Hättest du doch nicht aufgehört zu atmen.“

Die Texte reflektieren nicht nur Erinnerung, sie beschäftigen sich auch mit dem Warum, warum sich ausgerechnet in dieser fremden Stadt, diesem fremden Land längst Vergessenes an die Oberfläche drängt. Woher dieses Bedürfnis, dieses Sehnen nach Reinheit und Sauberem, Makellosigkeit und Keuschheit.

Von den Erzählungen der Mutter weiss die Erzählende, wie sehr die Mutter flehte: Stirb nicht, bitte stirb nicht. Mit dem Schreiben, dem Erzählen wandelt sich dieses Flehen an die Erinnerung: Stirb nicht, bitte stirb nicht. Selbst wenn die Augen des kleinen Mädchens nur kurz schauten, der Atem wieder versiegte und die Haut des Mädchens erkaltete – die Erinnerung darf es nicht. Stirb nicht, bitte stirb nicht, wird zum Amulett, zuerst für die Mutter, dann für die zweite Tochter.

„Weiß“ ist ein ganz zartes Buch, ein Hauch im kalten Winter. Der Beweis dafür das wir leben, nicht bloss existieren. 

Wer das Buch liest, scheut sich, es so einfach in ein Regal zu schieben.

Han Kang wurde 1970 in Gwangju, Südkorea, geboren und ist die wichtigste literarische Stimme Koreas. 1993 debütierte sie als Dichterin, ihr erster Roman erschien 1994. Für »Die Vegetarierin« erhielt sie gemeinsam mit ihrer Übersetzerin 2016 den Man Booker International Prize, »Menschenwerk« erhielt den renommierten italienischen Malaparte-Preis. »Weiß« war ebenfalls für den Booker Prize nominiert. 2024 erhielt Han Kang den Nobelpreis für Literatur. Sie lebt in Seoul. 

Ki-Hyang Lee, geboren 1967 in Seoul, studierte Germanistik in Seoul, Würzburg und München. Sie lebt in München und arbeitet als Lektorin, Übersetzerin und Verlegerin. Für ihre Übersetzungen wurde sie 2024 mit dem Preis der Leipziger Buchmesse ausgezeichnet.

Beitragsbild © Yeseul Jeon

«Es tut mir leid, deine Mutter wurde getötet.» (13) #SchweizerBuchpreis 24/08

Lieber Gallus

Nein, «Favorita» von Michelle Steinbeck habe ich bisher nicht gelesen. Meine jetzige Lektüre ist wahrlich ein Gegenpol: «Mitten im Wind» von Thomas Röthlisberger, der vor zwei Jahren mit «Steine zählen» auch für den Schweizer Buchpreis nominiert wurde.

«Mitten im Wind» beschäftigt sich mit den gleichen, inzwischen älter gewordenen Akteuren und spielt ebenso in Finnland. Fast alle Protagonisten blicken zurück auf Lebensabschnitte, wo sie Weichen gestellt und mehr oder wenig überlegte Entscheidungen getroffen haben. Oft folgten unerwartete Schwierigkeiten und drohendes Scheitern. In Kapiteln aus wechselnden Perspektiven erfahren wir, wie Matti mit seiner unerfreulichen Situation, da Märta ihn nach vierzig Jahren verlassen hat, umgeht. Oder wie Pekka auf der Suche nach seinem verschollenen leiblichen Vater in die einsame Gegend im Norden Finnlands aufbricht. Hendrik als Polizeibeamter wagt Beziehungen zum illegalen Pelzhandel an der Grenze zu Russland. Der verkiffte Olli erlebt unerwartet Unterstützung aus unbekannter Hand, um sein Leben zu ordnen. Nach und nach werden Zusammenhänge deutlich. Ein einrahmendes und in mehreren kurzen Einwürfen auftauchendes Auftreten einer schwarzen Katze spiegelt das Leben von Matti, seinen Umgang mit Unerwartetem, Ungerechtem und Verletzendem.

In «Mitten im Wind» bleibt vieles offen, in der Schwebe. Mich hat die melancholische, oft an die Musik von Sibelius anklingende Atmosphäre der abgeschiedenen Landstriche, Häuser und Gasthöfe Finnlands berührt, ich habe das Buch gerne gelesen und ich bin den Schicksalen von Matti, Märta, Olli, Pekka und Henrik (um die Wichtigsten zu nennen) mit Interesse gefolgt.

Insgesamt ein ruhiges, durchaus auch spannendes und lesenswertes Buch.

Hast du das Buch auch gelesen?

Herzlich

Bär

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Lieber Bär

Michelle Steinbeck «Favorita», park x ullstein, 2024, 464 Seiten, CHF ca. 29.90, ISBN 978-3-98816-000-3

Vielleicht liest Du «Favorita» ja doch noch, auch wenn das Buch nicht bloss unterhalten will. Aber ich weiss, dass Du zu den Feinschmeckern gehörst und dass Du daran interessiert bist, beim Lesen neue Welten aufzutun. Michelle Steinbeck tut genau dies. Und zwar weit über die Themen des Buches hinaus. Schon in ihrem Debüt «Mein Vater war ein Mann an Land und im Wasser ein Walfisch» schaffte sie es, in einem ganz eigenen Ton zu erzählen. Ein Umstand, der ihr viel Respekt schenkte, es wiederum manchen Leser*innen schwer machte, einen Zugang zu ihrem Buch zu finden. Elke Heidenreich meinte damals im SRF-Literaturclub: Wenn das die neue Generation ist, dann Gnade uns Gott – ein Satz, der dem Buch mit Sicherheit nicht geschadet hat und beweist, dass sich selbst eingefleischte Literaturkritiker*innen ins Offsite manövrieren können. Im Zusammenhang mit einer Buchbesprechung zu ihrem Lyrikband «Eingesperrte Vögel singen mehr» schrieb mir Michelle Steinbeck: Michael Fehr hat mir mal doziert, ich solle in der Lyrik dahin, wo es wehtut. Wo es unangenehm wird. Diese Maxime scheint der Autorin auch in ihrem Roman «Favorita» wichtig gewesen zu sein. Literatur, die nur schmeichelt und in einen leicht entrückten Zustand versetzt, interessiert die Autorin nicht.

«Mitten im Wind» von Thomas Röthlisberger ist eines der Bücher, das ich nicht zu Ende las, das ich weglegte. Wenn ich das schreibe, bedeutet das nicht, dass das Buch kein gutes gewesen war. Die Gründe, warum ich ein Buch weglege, sind subjektiv. Ich weiss aus Erfahrung, dass Bücher bei mir manchmal einfach nicht den richtigen Zeitpunkt erwischen. «Favorita» von Michelle Steinbeck ist das beste Beispiel dafür. Erst beim zweiten Versuch waren meine Geschmacksnerven dafür offen. Erst beim zweiten Mal stiess das Buch auf die Resonanz, die es erzeugen will. Das Buch vor «Mitten im Wind» fand ich äusserst beeindruckend. «Steine zählen» war eine Offenbarung, nicht zuletzt, weil da ein Schweizer fast skandinavisch erzählt. Vielleicht hatte meine Leseblockade auch damit zu tun, dass ich Büchern, die Geschichten einfach wieder aufnehmen, die nach Fortsetzung riechen, nicht traue, auch wenn es Schriftsteller*innen gibt, die ihrem Personal ein Leben lang treu bleiben. Wenn Du schreibst, das Buch hätte dich an die Musik von Sibelius, an die Atmosphäre abgeschiedener Landstriche, Häuser und Gasthöfe Finnlands erinnert, dann ist das genau das, was es braucht. Resonanzräume in der Leserin, im Leser. Und da wir alle so sehr verschieden sind, ist es auch nicht verwunderlich, dass es im Empfinden der Qualitäten eines Buches keine Allgemeingültigkeiten gibt. Ich kenne Menschen, für die ist der Nobelpreisträger Jon Fosse das Mass aller Dinge. Aber ich kenne auch Menschen, die es mehrfach mit Jon Fosse versuchten – und scheiterten. Ich bin kolossal gescheitert an Robert Musils «Der Mann ohne Eigenschaften», würde aber nie und nimmer an den Qualitäten dieses Buches zweifeln.

Liebe Grüsse

Gallus

«Wir glauben, Erfahrungen zu machen, aber die Erfahrungen machen uns.» (12) #SchweizerBuchpreis 24/07

Lieber Gallus

Nach «Verschiebung im Gestein» von Mariann Bühler habe ich als zweites Buch (auch aus dem Atlantis Verlag!) der für den Schweizer Buchpreis 2024 Nominierten das aktuelle Werk «Tabak und Schokolade» von Martin R.Dean gelesen.

Dass auf dem schön gestalteten Cover «Roman» steht, stört mich nicht, dass die Halbgeschwister nur als Erben vorkommen ebenso wenig. Meiner und meiner Mutter Geschichte, diese Worte beschliessen das Buch, eine sehr berührende und anregende Recherche des Autors nach seinen karibischen Wurzeln. Es beginnt mit einer eindrücklichen Szene, wo die zwanzigjährige Mutter mit dem kaum einjährigen Kind vor dem betrunkenen, gewalttätigen Ehemann flieht, weil er seine Zigarette auf dem Baby ausdrücken will. Die Ehe zerbricht, die Mutter kommt nach mehreren Jahren Arbeit in Plantagen mit dem Kind in die Schweiz zurück. Damals war ein kaffeebraunes Kind in einem aargauischen Dorf eine Sensation. Die Mutter heiratet erneut einen Mann aus der Karibik, einen Arzt und verlor seither kaum ein Wort über die ersten Jahre mit «Martin» auf Trinidad. Als die Mutter stirbt, bleibt dem vom Pflegevater abgelehnten und von den Erben nicht berücksichtigten Autor nur «Die Geschichte». Sogar seinen Familiennamen musste er in der Primarschule ohne Erklärung ändern. Der Willensvollstrecker des nicht unbeträchtlichen Erbes teilt ihm mit, er sei nicht in der Erbengemeinschaft inbegriffen. Zufällig bemerkt er in der Schublade mit dem weggeschafften Schmuck der Mutter ein rotes Fotoalbum, das er heimlich zu sich nimmt. Anstelle von Gold und Silber entdeckt er so Bilder aus der versunkenen Welt seiner Kindheit.

In einer klaren genauen Sprache und fotografisch belegt breitet sich vor uns ein dichtes Kaleidoskop aus, in mehreren Erzählsträngen begleiten wir den Autor auf der Recherche seiner Kindheit, seiner Herkunft. Und nebenbei erfahren wir aus authentischer Sicht einen Teil der Kolonialgeschichte, die auch die Schweiz betrifft. Meisterhaft ist diese Suche nach Identität, nach Herkunft, nach Anerkennung beziehungsweise Ausgrenzung mit der Familiengeschichte verwoben.

Der Autor besucht nach dem Tod der Mutter erstmals seine Verwandten in Trinidad, die sich als Kontraktarbeiter im 19.Jahrhundert aus Indien in den Plantagen unter sklavenähnlichen Bedingungen hochgearbeitet hatten. Die Auswanderer konnten nur das nackte Leben mitnehmen, alle sozialen Bindungen gingen verloren. Millionen von Schwarzen Leibern wurden in süsse weisse Materie (Zuckerrohrplantagen) umgewandelt, damit Wirtschaft und Wohlstand in Europa in Schwung blieben. Kastenwesen und Rassismus lasteten auf diesen Menschen, erklären die Anfälligkeit für Alkoholismus und Gewalt.

«Tabak und Schokolade»: Tabak bezieht sich auf die Herkunftsfamilie der Mutter. Diese Grosseltern lebten und starben für die Zigarrenindustrie. Sie trugen den Tabakstaub aus den Fabriken nach Hause, nicht nur in den Kleidern, sondern auch in ihren Lungen. Mein Grossvater sog unentwegt an seinem Stumpen, wenn er im Garten Erde aushob, Unkraut jätete oder in der Werkstatt hämmerte, auch wenn er auf seinem Moped über Land fuhr.

Vor dem Rückflug in die Schweiz besucht der Autor eine Buchhandlung: Es berührt mich seltsam, mitten in Port of Spain auf eine Person zu stossen, die mir den Schriftsteller Edgar Mittelholzer als Schweizer vorstellt. Dies ein weiterer Erzählstrang, der den Lebensbericht des Protagonisten ergänzt und spiegelt. 

Bei ihrem achtzigsten Geburtstag bezeichnet seine Mutter die erste Zeit mit ihrem ersten Kind in Trinidad als ihre glücklichste. Ein kleiner Trost, da ihm nach deren Tod von den Erben nicht einmal das Tischchen, worauf er mit ihr bei seinen Besuchen Kaffee getrunken hat, überlassen wird.

Das Buch macht betroffen, liest sich aber weil, dass es Martin R. Dean gelungen ist, seine reiche, auch schwierige Biografie ohne anklagende Töne in Sprache zu fassen.

Was sind deine Eindrücke nach der Lektüre?

Herzlich

Bär

NB Meine Favoriten für den Schweizer Buchpreis 2024 sind diese beiden Bücher, an erster Stelle «Verschiebung im Gestein».

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Lieber Bär

Martin R. Dean «Tabak und Schokolade», Atlantis, 208 Seiten, CHF ca. 32.90, 2024, ISBN 978-3-7152-5039-7

Meine Leseeindrücke schilderte ich schon in meiner Rezension vom 17. September. «Tabak und Schokolade» ist ein Buch der Stunde, ein Buch über Mütter und Väter, ein autobiographischer Roman, eine Auseinandersetzung mit der eigenen Herkunft, eine Auseinandersetzung, die Martin R. Dean durch seine Hautfarbe aufgezwungen wurde, dieses Anderssein, Nicht-der-Norm-Entsprechen.

Das Besondere an diesem Buch; Martin R. Dean betreibt nicht blosse Nabelschau. Obwohl er sich verletzt und gekränkt fühlt, weil man ihn nach dem Tod seiner Mutter als Erbe noch einmal als Sohn/Mensch zweiter Klasse degradiert, ist das Buch nicht nur Ahnenforschung oder sanfte Abrechnung, sondern ein Sittengemälde der Nachkriegszeit, die Geschichte unerfüllter Wünsche in einer Gesellschaft, in der für (fast) alle alles möglich, Erfolg und Aufschwung Norm schien. In einer Gesellschaft, die mit der Schwarzenbachinitiative seine Vorbehalte gegenüber «anderen» ganz offen artikulierte und sich in ihrer Argumentation nicht allzu sehr von der Fremdenfeindlichkeit in der Gegenwart unterscheidet. Eine grosse Mehrheit von Wählerinnen und Wählern in ganz Europa macht das in der Gegenwart mehr als deutlich.

Martin R. Dean macht mit seinem Buch auch bewusst, wie sehr der Reichtum unseres Landes, hier beispielhaft mit der Tabak- und Schokoladenproduktion, auf den Schultern und Rücken Ausgebeuteter, Vergessener, Entwurzelter gewachsen ist. Noch immer stehen Denkmäler von Grossen aus Wirtschaft und Politik unkommentiert auf Plätzen bedeutender Schweizer Städte, deren Erfolg und Wichtigkeit ins Blut von Sklaverei und Ausbeutung getaucht ist.

Martin R. Dean kreist schon lange um das Thema «Fremdsein». Mit Sicherheit ist dies sein persönlichstes Buch in dem er überraschend viel über seine Geschichte und Herkunft erzählt und verrät. Ob das Buch nun mit Recht «Roman» genannt werden kann, darüber fehlt mir die Lust zu diskutieren. Wahrscheinlich eine Strategie des Verlags. Es lässt sich schlicht mehr Umsatz generieren, wenn auf einem Cover «Roman» steht.

In jeder Familie, in jeder Geschichte gäbe es Gründe genug, die Türen zur Vergangenheit zu öffnen. Letztlich versteckt sich dort immer ein Schatz, Reichtum, ein Fundament, auch wenn mit Überraschungen zu rechnen ist. Der Blick zurück stärkt den Schritt nach vorn, weil er Richtung gibt.

Ich bin nicht überrascht, dass Dir das Buch gefällt! Hast Du «Favorita» von Michelle Steinbeck schon gelesen? Nach einer Veranstaltung an den Solothurner Literaturtagen verging mir eigentlich die Lust. Und nun war ich doch ziemlich baff!

Freundschaftliche Grüsse
Gallus

«Das Linksliegenlassen der Welt ist eine anspruchsvolle Sache» (11)

Lieber Gallus

Erstmals habe ich ein Buch von Arno Geiger gelesen und bin nachhaltig berührt. «Reise nach Laredo» nehme ich immer wieder vom Büchergestell.

Karl hat als König abgedankt, sich in ein Kloster zurückgezogen. Sein hässlicher, stinkender nackter Körper wird ins Bad gehoben, so beginnt dieser Roman. Krank und fiebrig erlebt er dann eine Traumwelt bis zu seinem Tod, wo er sagen kann: Jetzt, Herr, komme ich.

Doch es ist kein historischer Roman, die Fragen, die auf dieser Reise auftauchen, sollte sich jeder von uns stellen, es geht um uns! Das macht das Buch so aktuell. Es geht um das Wesen des Menschseins.

Arno Geiger «Reise nach Laredo», Hanser, 2024, 272 Seiten, CHF ca. 35.00, ISBN 978-3-446-28118-9

Karl erlebt in den Stunden, Tagen bis Laredo erstmals echte Freundschaft und kurze glückliche Momente. Er trinkt, tanzt und fragt sich Beginne ich jetzt zu leben? Was bedeutet das für das Vorher? Die Reise auf einem Pferd durch eine karge, bergige, heisse Gegend wird zu einer schmerzhaften, aber auch versöhnenden Reise zu sich selbst. Die Begegnung mit jungen Leuten und das Trinken im Wirtshaus spiegelt Verpasstes im Leben von Karl, er muss loslassen und gewinnt. Einzigartig die Sterbeszene am Meer: Das war’s.

Was die Mönche in den Händen halten, ist grausam wirklich, ein toter Körper, ein vollständig nebensächliches Ding, in dem alles gestorben ist, auch das Leid, das diesen Körper so zugerichtet hat.

Geschrieben in einer kühlen Sprache, voller realistischer Bilder, teilweise etwas überzeichnet. Die karge baumlose Hügellandschaft im Hintergrund ergibt eine archaische, biblische Atmosphäre. Ein Buch, das auf packende Weise zum Nachdenken anregt.

Ich bin gespannt, was du zu diesem Buch zu sagen hast.
Herzlich

Bär

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Lieber Bär

Ich besuchte eine Lesung von Arno Geiger in St. Gallen. Er las und erzählte viel von sich. So wie er in diesem «historischen» Roman von sich erzählt. Arno Geiger ist studierter Historiker. Er weiss sehr genau, dass er die Geschichte von Kaiser Karl V nicht einfach «erfinden» kann. Aber Geiger interessiert sich als Schriftsteller nicht für die Geschichte jenes Kaisers (1500 – 1558), der Herrscher über ein Weltreich war. Historiker würden über seinen Werdegang, seine Intrigen, sein politisches Kalkül, seine Kriege berichten. Arno Geiger interessiert sich nur für die beiden Jahre nach seiner Abdankung, nicht für die Zeit mit der Krone, sondern jene ohne. Über einen Mann, so alt wie Arno Geiger selbst, von Macht und zügellosem Leben zerfressen zum Privatmann wird. Mit einem Mal auf sich selbst zurückgeworfen, mit Fragen, die zeitgemässer nicht sein können: Wer bin ich? Was will ich sein? Ein Mann, der sich selbst begegnen will und sehr wohl spürt, dass diese Begegnung nicht ohne ein Gegenüber stattfinden kann.

Eine harte Mission, sich selbst zu begegnen. Mit dem Tod seiner Frau, Königin Isabella, war Karl 38 und trug danach nur noch Schwarz. Unter dem schwarzen Mantel ein Mann von Gicht und Malariaschüben zerfressen. Als Herrscher eines Weltreiches ging es nie um ihn selbst. Karl freundet sich mit seinem elfjährigen Pagen Geronimo an, einem Kind, das nur das Jetzt kennt und ungefiltert zu sprechen wagt. Sie türmen aus dem abgeschiedenen Kloster mit Ross und Maultier Richtung Norden an Spaniens Küste, in die kleine Hafenstadt Laredo. Ein Tripp durch die Wirren der Zeit, ein Tripp, bei dem sich Karl immer wieder in den Begegnungen mit dem menschlichen Elend gespiegelt sieht.

Er habe wenig recherchiert (eine Aussage eines Historikers, die man wahrscheinlich relativieren muss). Aber er brauche einen festen Boden, auf dem er seine inneren Bilder wachsen lassen könne. Es sei auch ein Buch über sich selbst, über das Altern, das Wirken der Selbstreflexion, über das Wissen darum, dass Geist, Körper und Seele nur als Einheit verstanden werden können. Karl weiss, dass er in einem Zwischenreich existiert, nicht mehr der Herrscher, aber auch noch nicht gestorben, einem Fegefeuer mit der Hoffnung auf Läuterung und Erlösung.

Wer den Zenit seines Lebens erreicht hat, weiss, dass es vieles gibt, was nicht mehr zu korrigieren ist. Wer mit Krankheit und langsamem Sterben zu kämpfen hat, hofft unweigerlich auf eine Form der Erlösung. Schon deshalb ein wichtiges und zur Selbstreflexion animierendes Buch. Unbedingt lesenswert.

Liebe Grüsse

Gallus

Arno Geiger, 1968 in Bregenz geboren, studierte Literaturwissenschaft und lebt in Wolfurt und Wien. Er ist Schriftsteller und Videotechniker bei den Sommerfestspielen Bregenz. 1997 erschien sein Debütroman «Kleine Schule des Karussellfahrens». 1998 wurde ihm der New Yorker Abraham Woursell Award verliehen. Für seinen Roman «Es geht uns gut» erhielt er 2005 den Deutschen Buchpreis.

«Mir fehlt der Mut, das Selbstbewusstsein.» (10) #SchweizerBuchpreis 24/04

Lieber Bär

Hast Du schon einen Blick auf den Deutschen oder den Österreichischen Buchpreis geworfen? Ich schiele jedes Jahr und wundere mich auch jedes Jahr. Vielleicht ist es ein bisschen wie beim Fussball, auch wenn ich mich als Fussballlaie damit wahrscheinlich in Nesseln setze. Aber krankt der immer wieder ins Straucheln kommende Erfolg der Schweizer Nationalelf nicht am Selbstvertrauen, am Selbstverständnis, am bis ins Knochenmark durchgesickerte fehlende Selbstbewusstsein? Ist es die helvetische Zurückhaltung, die bremst, der eingeimpfte Zwang sich anzupassen? Sind wir mit Menschen anderer Sprache zusammen, passen wir uns augenblicklich an. Kein Franzose käme auf die Idee, einem Deutschschweizer „sprachlich“ entgegenzukommen, sind wir doch Bewohner eines mehrsprachigen Landes und machen mit Stolz auch immer wieder darauf aufmerksam.

Was kümmern uns unsere Nachbarn. Warum sollten wir uns mit ihnen vergleichen. Österreich zählt ungefähr gleich viele Einwohner wie die Schweiz. Einsendungen der Verlage an den Österreichischen Buchpreis gab es aber wesentlich mehr als in der Schweiz. Liegt es vielleicht daran, dass sich bereits eine ganze Reihe von Schriftstellerinnen und Schriftsteller weigern, beim Schweizer Buchpreis mitzumachen, es den Verlagen untersagen, ihre Bücher in den Wettbewerb zu stellen? Fehlt es am Mut der Organisation oder der Jury? Béla Rothenbühlers Roman „Polivon Pervers“ ist eine Ausnahme. Oder ist sein Buch bloss die Vertretung all jener, die mit Mut und Risiko der Tradition trotzen?

Zora del Buono «Seinetwegen», C. H. Beck, 2024, 204 Seiten, mit Abbildungen, CHF ca. 29.90, ISBN 978-3-406-82240-7

Deutschland und Österreich leisten sich eine Longlist, Österreich gar eine Shortlist der Debüts. Und die Liste Österreichs ist mutig. Ausgewogen zwischen Traditionellem und Offensivem. Die deutsche Longlist huldigt mehr der Tradition, setzt auf viele grosse Namen, darunter mit Doris Wirth und Zora del Buono gar zwei Schweizerinnen. Erinnern wir uns doch gerne an Melinda Nadj Abonji, die mit ihrem Roman „Tauben fliegen auf“ sowohl den Deutschen wie den Schweizer Buchpreis erhielt. Kann man sich vorstellen, dass eine Deutsche den Schweizer Buchpreis erhalten könnte? Nur mit fünf Nominierten unmöglich. Ein Sakrileg.

Es sind fünf gute Bücher, die für den Schweizer Buchpreis nominiert wurden, lesenswerte Romane. Aber mir fehlt der Mut, das Selbstbewusstsein. Nicht zuletzt der Mut zu Veränderungen und das Selbstbewusstsein auch Bücher mitzunehmen, die den drei anderen Landessprachen zugehören.

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Lieber Gallus

Ich bin nicht einverstanden, dass die Auswahl der Nominierten für den Schweizer Buchpreis 2024 ohne Mut und ohne Selbstvertrauen getroffen wurde. Sind doch junge Autorinnen dabei, ein Début und sogar ein Mundart Autor. Dass zwei davon aus der Nähe von Luzern kommen, freut mich, ist aber nicht ausschlaggebend.

Ein grosses Fragezeichen steht für mich hinter dem Sinn dieser Preise: Helfen sie wirklich zur Verbreitung guter Literatur, zur Auseinandersetzung mit unserer Sprache und dem besseren Verständnis unserer Welt? Was würde ich, was würden die Leserinnen und Leser lesen, wenn es diese Preise nicht gäbe? Sind sie wichtig für die AutorInnen? Geht es «nur» um Verbesserung der Verkaufszahlen? Was ist der Wert einer Longlist, vor allem nach Bekanntgabe der Shortlist?

Da ich keinen Überblick über die deutsche und österreichische Literaturszene habe (wie du), kann ich deren Auswahl nicht beurteilen. Meine Auswahl der Bücher, die ich lesen will, orientiert sich nicht an den Buchpreisen.

Für mich sind das Literaturblatt, Literatursendungen im Radio und Fernsehen sowie die leider nur noch spärlichen Buchbesprechungen in den Zeitungen wichtiger. Literaturfestivals und Lesungen während des Jahres beeinflussen mich mehr als der Buchpreis. Ebenso schätze ich hin und wieder einen Blick zurück in ältere Werke, die noch ungelesen in meinem Büchergestell liegen. Ich bin sicher nicht der Einzige, dem es so geht.

Mariann Bühler «Verschiebung im Gestein», Atlantis, 2025, 208 Seiten, CHF ca. 32.90, ISBN 978-3-7152-5040-3

«Verschiebung im Gestein» von Mariann Bühler, «Brennende Felder» von Reinhard Kaiser-Mühlecker, «Die Kunst, eine schwarze Katze» von André David Winter, «Der Schweizerspiegel» von Meinrad Inglin und «Fast wie ein Bruder» von Alain Claude Sulzer neben «Die Vögel» von Tarjei Vesaas: zu diesen wunderbaren Werken fand ich durch das Literaturblatt, eine Rezension in der Zeitung und durch eine Lesung. Durch Interviews beziehungsweise Begegnung lerne ich die SchriftstellerInnen persönlich kennen und ihre Werke noch besser verstehen.

Für die AutorInnen mag es anders aussehen. Die Verkaufszahlen der nominierten Bücher sind meist besser, sie kommen ins Gespräch und in die Medien. Dagegen bin ich nicht immun, das gebe ich zu. Notwendigerweise gibt es dadurch aber unzählige Meisterwerke, die zwischen Stuhl und Bank fallen.

Dir fehlt Mut zu Veränderungen, fehlt das Mitnehmen von Büchern der anderen Landessprachen. Da würde mich sehr interessieren, welche konkreten Vorschläge du hast, dies zu verbessern.

Herzliche Grüsse

Bär

«Eine Sprache finden für die Sprachlosigkeit» (9)

Siebzig Jahre nach Babyn Jar, dem Massaker nazideutscher Spezial- und Polizeieinheiten unter Mithilfe ukrainischer Milizen an über 33000 Jüdinnen und Juden, Frauen, Männern und Kindern nahe der ukrainischen Hauptstadt Kiev, gibt Marianna Kijanowska den Opfern in «Babyn Jar.Stimmen» Identität und Würde zurück.

Lieber Gallus

Babyn Jar, ein Wort, das in mir Sprachlosigkeit, Erschütterung, Wut und Erinnerungen auslöst. Zusammen mit unseren Freunden aus Kiev hatten wir vor über 20 Jahren in der Ukraine viele Stätten besucht, wo in Kriegen Leute kaltblütig ermordet wurden. Aber dieses Tal Babyn Jar hat mich am tiefsten beeindruckt, beschäftigt und ist sofort wieder vor meinem inneren Auge präsent.

Der ukrainischen Autorin Marianna Krijanowska ist es gelungen, mit «Babyn Jar.Stimmen» 65 fiktive Menschen sprechen und ihre beklemmenden Momente auf dem Weg zur Ermordung erleben zu lassen. Lesend erinnere ich mich an den Besuch dieser Stätte vor über 20 Jahren, an das erst 1991 errichtete Denkmal und den damals noch kaum zu findenden Weg. Später hatte ich die 13. Sinfonie Schostakowitschs für Orchester, Bass und Männerchor mit dem Namen Babyn Jar auf Schallplatte angehört.

Schostakowitsch, Kondraschin (Dirigent der Uraufführung) und Jewtuschenko am 18.12.1962 (von links)

Der junge russische Dichter Jewgeni Jewtuschenko hatte 1961 ein Gedicht über die Tragödie der Juden in dieser Schlucht veröffentlicht:

«Es steht kein Denkmal über Babi Jar.
Die steile Schlucht gemahnt als stummes Zeichen.
Die Angst wächst in mir.
Es scheint mein Leben gar bis zur Geburt des Judenvolkes zu reichen.»….

das 1991 errichtete Denkmal

Die politischen Schwierigkeiten im poststalinischen Russland konnten die Uraufführung am 18. Dezember 1962 in Moskau nicht verhindern. Die gesamte kulturelle Elite Moskaus erwartete sie mit Ungeduld. Es wurde ein Riesenerfolg. Trotz frenetischem Applaus der Zuhörerinnen und Zuhörern war anderntags in der «Prawda» nur eine knappe Zeile über das Konzert zu lesen. Leider wäre das heute kaum anders!

«Eine Sprache finden für die Sprachlosigkeit» (Ilma Rakusa zu «Stimmen»)

Der Band «Stimmen» macht mich sprachlos, weil hier eine einmalige Sprache von solcher Wucht, aber auch tiefer Schönheit und von musikalischem Klang vorliegt. Dies dank der wunderbaren Übersetzung:

«……und die sonne steht so hoch als wäre sie aufgestiegen
um die stadt von oben zu sehen und wie wir darin sterben
und wie wir zum fluss gehen zu schauen
weil wir getötet werden adelka miriam debora
liegen erschossen in der schlucht ich bin so traurig
das herz ist ein stein und die seele ist durchsichtig
und wird dünner und dünner und das heisst tod………..

Marianna Kijanowska «Babyn Jar. Stimmen» Gedichte, Suhrkamp, 2024,Ukrainisch und deutsch, aus dem Ukrainischen von Claudia Dathe, mit einem Nachwort der Übersetzerin, 155 Seiten, CHF ca., ISBN 978-3-518-43176-4

Claudia Dathe (Übersetzerin von «Stimmen») schreibt im Nachwort, der Gedichtband sei der Auftakt zu einer Auseinandersetzung der Autorin mit den Mechanismen entfesselter Gewalt und ihrer Auswirkung auf das Dasein. Es soll eine Trilogie entstehen, wo auch die Schrecken des aktuellen Angriffskrieges Putins literarisch in Sprache umgesetzt werden soll.
Auch wenn die Auseinandersetzung und die Beschäftigung mit entfesselter Gewalt anspruchsvoll sind und weil weiterhin weltweit Kriege und Terror unsere menschliche Existenz bedrohen, ist meines Erachtens die Beschäftigung mit dieser dunklen Seite der Menschheit in der Literatur, in der Musik oder im Film sinnvoll und wichtig.

Was denkst du zu diesem Buch?

Herzlich
Bär

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Lieber Bär

Am 29. September 1941 wurden bei Kiev 33000 Menschen bestialisch ermordet, viele von ihnen aus nächster Nähe, unter gütiger Mithilfe vieler Menschen aus der Stadt, ihrer Nachbarn. Die Prozesse nach dem Krieg waren ein Hohn, eine Aufarbeitung kam erst nach Jahrzehnten schleppend in Gang. Selbst ein Dammbruch 20 Jahre später, der die Knochen jener freilegte, die man nach dem Krieg nicht «entsorgte» und vor die Häuser der Nachbarn spülte, war noch nicht Grund genug, sich dem apokalyptischen Schrecken zu stellen.

Vom 11. bis 19. Juli 1995 verübten serbische Soldaten und paramilitärische Einheiten im bosnischen Srebrenica ein unfassbares Massaker unter den Augen niederländischer Blauhelm-Soldaten. Über 8000 Menschen fanden durch Massenerschiessungen den Tod. Obwohl die Drahtzieher und Organisatoren des Massakers Mladić und Karadžić noch im gleichen Jahr verurteilt wurden und man die Tat als Völkermord taxierte, blieben viele der Täter ungeahndet.

Im Frühling 2022 besetzten russische Truppen den ukrainischen Ort Butscha. Die russischen Soldaten töteten innerhalb wenige Tage wahllos fast 500 wehrlose Zivilisten. Die Toten, die nicht eiligst verscharrt wurden, liess man tagelang liegen. Und selbst nachdem westliche Journalisten den Ort des Grauens erreichten, versuchte die russische Propaganda das Massaker als ukrainische Inszenierung herunterzuspielen.

Die Liste der Ungeheuerlichkeiten liesse sich beliebig erweitern, ob in biblischen Zeiten, im Mittelalter, in den Kolonien … ob im Krieg oder in angeblichen Friedenszeiten, ob unter „Barbaren“, im Namen von Kirche oder Krone … der Mensch, meist männlich, benötigt nicht einmal Raserei. Es reicht Kalkül. Dass sich der Schrecken, ob aufgearbeitet oder nicht, in der kollektiven Erinnerung der Opfer über Generationen festsetzt, wird allzu schnell vergessen. Dass sich die Untaten bis in die Gegenwart ausdehnen und in Nachfolgekonflikten, die sich wie Flächenbrände zu Kriegen auswachsen, ausgeblendet.

Die ukrainische Schriftstellerin Marianna Kijanowska

Ein Denkmal mag zur Erinnerung mahnen, eine Symphonie das Erinnern verstärken. Selbst das 2003 veröffentlichte Dokudrama „Das vergessene Verbrechen“, eine deutsch-belarussische Koproduktion des US-amerikanischen Regisseurs Jeff Kanew, vermag nie das zu erzeugen, was Literatur vermag. Marianna Kijanowska lässt die Stimmen in meinem Kopf sprechen. Ich bin während des Lesens unmittelbar bei ihnen. Die Resonanz dieser Texte ist atemraubend.

Ich war noch nie in Kiev und es wird wohl noch eine ganze Weile so bleiben. Aber mit diesem Buch und der ganzen Auseinandersetzung, die es auslöste, war ich dort. Selbst der ukrainische Text neben der deutschen Übersetzung wirkt. Es ist der O-Ton, der Verweis auf das Tatsächliche. Erstaunlich, was Lyrik zu bewirken vermag. Vor allem dann, wenn eine Autorin wie Marianna Kijanowska bei den Menschen selbst bleibt, nichts abstrahiert oder verschlüsselt. Ein starkes Buch. Und ein wichtiges Stück Selbstvergewisserung.

Soll man das lesen? Unbedingt – auch wenn es einen Schritt mehr braucht.

Liebgruss

Gallus

Marianna Kijanowska, 1973 in Schowka bei Lemberg/Lwiw geboren, debütierte 1997 als Lyrikerin. Übersetzerin aus dem Polnischen, Russischen und Englischen. Für ihren Gedichtzyklus «Babyn Jar. Stimmen» wurde sie 2020 mit dem Taras-Shevchenko-Preis ausgezeichnet. Sie lebt zur Zeit in Krakau.

«Die russische Fantasie ist unendlich, unermesslich. Sie kennt keine Grenzen.» (8)

«Der Grosse Gopnik» von Viktor Jerofejew : wahrlich ein Opus magnum!
Der Grosse Gopnik hat mein Buch zerbombt wie die Ukraine. Seltener Volltreffer! Er hat die Welt gezwungen, nach seiner Pfeife zu tanzen. Er hat jedes Dasein unmöglich gemacht.

Viktor Jerofejew am 28. Internationalen Literaturfestival Leukerbad 2024 zusammen mit seiner deutschen Stimme Thomas Sarbacher © Sophie Tichonenko / Internationales Literaturfestival Leukerbad

«Russland wird aus dem Krieg auftauchen als ein unbegreifliches, unberechenbares Land.»
«Wann nur wird Europa in Bezug auf Russland klarsehen? Ich denke, niemals.»
«Im Unterschied zu Europa ist Russland antihistorisch, es hatte niemals eine Geschichte mit philosophischer Bedeutung.»
«Das Leben an und für sich ist viel schöner als die Menschen.»
«Die russische Fantasie ist unendlich, unermesslich. Sie kennt keine Grenzen.»
«Ich weiss, in Russland kann man sich nicht rechtfertigen. Besser so tun, als erinnere man sich an gar nichts, den Dummen geben oder einfach verrückt werden.»

Lieber Gallus

Heute Morgen früh habe ich «Der Grosse Gopnik» von Viktor Jerofejew fertiggelesen, benommen und nachdenklich. Nach der Begegnung mit dem sympathischen Autor in Leukerbad, dem hochinteressanten Gespräch dort und den gehörten Ausschnitten war ich motiviert, die 600 Seiten dieses Buches sofort in Angriff zu nehmen, unterbrochen nur von einer Bergsteigerwoche in Slowenien. Bisher kannte ich den Autor nur vom Namen her. Jerofejew sagte in Leukerbad, im Zentrum des Buches stehe der Mensch.

Dieses mit Episoden aus mehr als hundert Jahren vollgepackte Buch ist nicht einfach zu erfassen: Autobiografie, aktuelle Geschichte und Politik und der Blick auf die – gefährdete – russische Kultur. Klärende Gedanken über den Konflikt Russland-Ukraine. Begegnungen in Hinterhöfen, erstklassigen Hotels, Datschas und Bordellen auf mehreren Kontinenten, geschildert in einer bilderreichen Sprache, alles kunstvoll verwoben ergeben ein lebendiges Bild der aktuellen Welt. Schauplätze sind u.a. Paris, Dakar, Chicago bis Japan, natürlich Russland. Der Vater des Autors war ein hochrangiger russischer Diplomat.

«Nicht nur Mama konnte mich als Schriftsteller nicht leiden. Ebenso wenig, wenn nicht noch weniger, konnte mich die Regierung des Grossen Gopniks ausstehen.»
«Es quält mich, darüber nachzudenken wann und warum sich ein so lieber kleiner Junge, den alle mochten, in einen Menschen verwandelt hat, der zu Dingen fähig ist, die man nur als schrecklich bezeichnen kann.» (Brief von der Mutter)

Viktor Jerofejew «Der Grosse Gopnik», Matthes & Seitz, 2023, aus dem Russischen von Beate Rausch, 614 Seiten, CHF ca. 35.60, ISBN 978-3-7518-0935-1

Klug verwoben mit dem eigenen Leben des Autors lerne ich Charakter und Handeln des grossen Gopniks kennen, sein Aufstieg aus einem Petersburger Hinterhof zum langjährigen Herrscher über Russland. Unverkennbar Putin.
Das Buch ist gut lesbar, aufgeteilt in zwei Teile und 181 kürzere und längere Abschnitte. Zeitlich und räumlich entsteht ein beeindruckender Kosmos, wo sowohl Kritik wie Humor wie auch Ernst Platz haben. Da sowohl der Westen wie auch der Osten kritisch durchleuchtet wird, hinterlässt die Lektüre ein besseres Verständnis für die aktuelle Situation.

«Doch wie sich richtig verhalten, um irgendwann ohne Furcht zurückkehren zu können?»
«Den Krieg beim Namen nennen oder entsprechend den Forderungen Moskaus den Krieg nicht für einen Krieg halten?»
«Sich wegducken, sich verlieren oder sich frei äussern?»

Wie meisterhaft all das Persönliche, das Historische, die Kultur Europas und Russlands miteinander verwoben ist, haben mich begeistert. Die Kritik und Einordnung Europas aus russischer Sicht helfen, Russland besser zu verstehen. Hoffnung?
Die wunderbare Übersetzung von Beate Rausch (sie macht dies seit Jahren sehr gekonnt), macht dieses Buch zu einer sehr empfehlenswerten Sommer-Lektüre. Dieses Werk wird im jetzigen Russland kaum toleriert werden, es ist auch zuerst nur auf Deutsch erschienen, erst vor kurzem gibt es eine russische Ausgabe.

«Die parallele Lüge von amerikanischem Liberalismus und Konservatismus hat den amerikamischen Gopnik hervorgebracht – Trump.»
«Bisher war Dummheit gewissermassen ein sogar liebes und rührendes Phänomen, über das Erasmus geschrieben hat, aber jetzt hat sie etwas tödlich Toxisches angenommen und ist als unheilbare Krankheit über uns gekommen.»

Herzlich
Bär

Viktor Jerofejew, 1947 in Moskau geboren, wurde weltweit bekannt durch seinen 1989 erschienenen und in 27 Sprachen übersetzten Roman «Die Moskauer Schönheit». 1979 wurde er wegen seiner Beteiligung an der Literaturanthologie «Metropol» mit von der Zensur verbotenen Texten verschiedener Autoren aus dem Schriftstellerverband der UdSSR ausgeschlossen. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion gab er diesen von ihm als »Röntgenapparat, der die ganze Gesellschaft durchleuchtete« bezeichneten Almanach in einer Reihe neu heraus. Zudem ist er Herausgeber der ersten russischen Nabokov-Ausgabe. Er schreibt regelmässig für die New York Times Book Review, DIE ZEIT, die FAZ und DIE WELT und gilt als kritischer Intellektueller wie auch als einer der bekanntesten russischen Gegenwartsautoren.

Beate Rausch, 1955 geboren, studierte Slawistik und Germanistik in West-Berlin und Leningrad, arbeitete viele Jahre an Universitäten in Moskau und St. Petersburg. Heute lebt sie in Ulm, St. Petersburg und Triest. Sie übersetzt russische Literatur ins Deutsche, u.a. Viktor Jerofejew, Anton Tschechow, Daniil Charms.

„In Zeiten schwindender Buchbesprechungen ist literaturblatt.ch wichtige Orientierungshilfe in der Flut der Neuerscheinungen.“ Christian Haller(7)

Lieber Bär

Vor ein paar Tagen bekam ich per Mail die Mitteilung, dass der SBVV künftig aus Spargründen auf die Buchpreisbegleitung von literaturblatt.ch verzichten will. Man bat mich jeweils um eine Rezension pro Nomination und bezahlte mich mit 500 Franken. Ich nahm die Aufgabe gerne wahr, weil sie mir den direkten Kontakt zu den Nominierten versprach und weil es mir zusammen mit der jungen Illustratoren Lea Le gelang, mein Dutzend Beiträge bestehend aus Buchbesprechungen, Interviews und Kommentaren ganz eigen zu inszenieren, auch wenn wir uns damit die Gage gar noch teilten.

So wartete ich mit Vorfreude auf die alljährliche Anfrage des SBVV, des Organisators der seit 2008 stattfindenden Ausschreibung. Aber nach fünf Jahren und rund 60 Beiträgen ist Schluss. Der SBVV muss sparen und verzichtet auf eine von ihm initiierte Berichterstattung. Ganz im Vertrauen darauf, dass sich die ebenfalls im Sparmodus befindenden Medien mit Freude und Ausdauer mit dem Schweizer Buchpreis auseinandersetzen. Dass sich der Fokus der Öffentlichkeit schon irgendwie und irgendwann auf die fünf Bücher richten wird und der Schweizer Buchhandel getrost auf diese Form der Auseinandersetzung, der Werbung verzichten kann.

Ich bin erstaunt. Nicht zuletzt darüber, dass es der SBVV wahrscheinlich wittert, dass literaturblatt.ch auch ohne Aufforderung über den Schweizer Buchpreis berichten wird. Warum soll man für etwas bezahlen, das auch kostenlos geschieht, wie Sonnenauf- und Untergang. Ich bin erstaunt, dass selbst mein Angebot, auf alle zusätzlichen Spesen zu verzichten, nicht einmal zu einem Gespräch führen konnte. Ich bin erstaunt, dass man mich wie eine Klette abschüttelt.

Aber wahrscheinlich nehme ich mich mit meiner freiwilligen, unaufgeforderten Arbeit viel zu wichtig.

Lieber Bär, soll ich trotzig und kritisch weitermachen oder alle Berichterstattung hinsichtlich des Schweizer Buchpreises tunlichst vermeiden? Was tätest du?

Liebgruss
Gallus

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Lieber Gallus

Das kann doch nicht sein! Entsetzt und traurig bin ich vor allem deshalb, weil dieser Entschluss für unsere Zeit so typisch ist. Qualitativ hochstehende professionelle Buchbesprechungen und Literaturvermittlung sind es offensichtlich im heutigen Literaturbetrieb nicht wert, unterstützt zu werden: Sparen am falschen Ort!

Dass der SBVV, dem der Weg des Buchs vom Druck bis zum Leser im Zentrum stehen sollte, auf deine sowohl von den AutorInnen und den LeserInnen geschätzte wunderbare Arbeit verzichtet, um 500 Franken sparen zu können: für mich völlig unverständlich.

Fundierte Auseinandersetzung und Kritik aus dem «Literaturblatt» haben mir schon manche Perle der aktuellen Literatur nahegebracht. Da ich kaum der Einzige bin, der dies ästimiert, ermuntere ich dich, umso kritischer und mutiger deine Buchpreisbegleitung weiterzuführen.

Ich freue mich auf deine unbezahlbare Schweizer Buchpreisbegleitung 2024!

Herzlich

Bär

«Sparmassnahmen kippen literaturblatt.ch»

«Wir machen Schluss mit allem und beginnen mit nichts von vorne.» (6)

Lieber Bär

Vielleicht beschreibt der 1719 erstmals erschienene Roman “Robinson Crusoe“ von Daniel Defoe mit dem heute seltsam anmutenden Originaltitel The Life and Strange Surprizing Adventures of Robinson Crusoe of York, Mariner: Who lived Eight and Twenty Years, all alone in an un-inhabited Island on the Coast of America, near the Mouth of the Great River of Oroonoque; Having been cast on Shore by Shipwreck, wherein all the Men perished but himself. With An Account how he was at last as strangely deliver’d by Pirates. Written by Himself. („Das Leben und die seltsamen überraschenden Abenteuer des Robinson Crusoe aus York, Seemann, der achtundzwanzig Jahre allein auf einer unbewohnten Insel an der Küste von Amerika lebte, in der Nähe der Mündung des grossen Flusses Orinoco; durch einen Schiffbruch an Land gespült, bei dem alle außer ihm ums Leben kamen. Mit einer Aufzeichnung, wie er endlich seltsam durch Piraten befreit wurde. Geschrieben von ihm selbst.“) nicht nur einfach ein Abenteuer, sondern die Sehnsucht des Menschen nach einem echten, wahren, unmittelbaren, naturverbundenen Leben. Damals wie heute scheint Fortschritt eine stetige Entfernung von der Natur zu sein, eine immer grösser werdende Entfernung und Entfremdung.

Keine Kunstrichtung wie die Literatur versteht es so sehr, uns Menschen in einen Zustand zu versetzen, der uns aus unserem Leben, unserem Umfeld herausreisst, manchmal vielleicht sogar nachhaltig. Ich könnte eine ganze Reihe Bücher aufzählen, die mich in meinem Menschsein unmittelbar beeinflussten. Filme und Musik berauschen. Aber weil mich Bücher viel länger, über Tage oder gar Wochen begleiten, ist ihre Wirkung eine ganz andere. Ich bin überzeugt, dass ich als Vielleser ein anderer geworden bin, als der, der ich ohne die Literatur geworden wäre. Literatur wirkt unterschwellig, nicht wie ein halbstündiges Sonnenbad mit anschliessendem Sonnenbrand, sondern wie ein langer, guter Traum.

H. D. Thoreau «Walden oder Leben in den Wäldern», Diogenes Taschenbuch, 2007, übersetzt von Emma Emmerich, 352 Seiten, CHF ca. 17.90, ISBN 978-3-257-20019-5

Als Henry David Thoreau 1854 seinen zeitlich befristeten Ausstieg aus seinem Alltag, sein zurückgezogenes und reduziertes Leben in einer Blockhütte im Wald in seinem Buch „Walden“ veröffentlichte, wurde er zu einem der Begründer des Nature Writing. Eine Bewegung weit über die Literatur hinaus. Dass Nature Writing zu einem eigentlichen Bedürnis geworden ist, zeigt sich im durchschlagenden Erfolg der Schriftstellerin und Buchgestalterin Judith Schalansky, die mit ihrer Herausgeberschaft der „Naturkunden“ bei Matthes & Seitz nicht nur einen wirtschaftlichen Überraschungserfolg landete, sondern auf dem deutschsprachigen Büchermarkt eine regelrechte Welle von hochwertigen Naturbüchern mit literarischem Anspruch verursachte.

Delia Owens «Der Gesang der Flusskrebse», hanserblau, 2019, übersetzt aus dem Englischen von Ulrike Wasel, Klaus Timmermann, 464 Seiten, CHF ca. 29.90, ISBN 978-3-446-26419-9

Aber auch Romane der Gegenwart spielen mit der Sehnsucht des Menschen nach unberührter Natur, Naturverbundenheit, den Auswirkungen von Klimaveränderungen und menschlicher Zerstörungen. Dass der Roman „Der Gesang der Flusskrebse“ von Delia Owens 2023 zu den bestverkauften Büchern gehörte, ist nicht nur der erzählten Liebesgeschichte und der überwältigen Kulisse zu verdanken. Delia Owens beschreibt eine junge Frau, die ganz mit der Natur lebt, die die einzige Liebe ohne Schmerz in der Natur findet. Ein Roman, der Sehnsüchte stillt und weckt.

Douna Loup «Verwildern»
Limmat, 2024, übersetzt von Steven Wyss, 152 Seiten, CHF ca. 30.–, ISBN 978-3-03926-070-6

Vor wenigen Tagen las ich „Verwildern“, die deutsche Übersetzung des Romans „Les Printemps sauvages“ von Douna Loup. Die Geschichte einer jungen Frau, die sich aus ihrem kleinen Paradies am Rande eines Sees vertrieben fühlt und auf die Suche machen muss, auf die Suche nach ihrem Bruder, ihrem Vater, sich selbst. Aber Douna Loup gelingt in ihrer fast märchenhaften Geschichte etwas, was in der Literatur nur ganz selten passiert. In ihrem Roman ist die Natur nicht bloss Kulisse. Sie schreibt nicht einfach eine Geschichte in sie hinein. “Verwildern“ ist auch als Schreibkonzept ganz wörtlich zu nehmen. Douna Loup schreibt aus der Natur heraus. Geschichte und Figuren treten nicht aus ihr heraus. Sie sind ineinander verschlungen. Die eigentliche Geschichte «verwildert». Ein betörendes Buch.

Ich bin gespannt auf deine Meinung!



Liebe Grüsse
Gallus

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«Um jedoch auf meinen neuen Gefährten zurückzukommen, so gefiel mir dieser ausserordentlich» Daniel Defoe, Robinson Crusoe

Lieber Gallus

Dein letztes Schreiben hat mich erreicht, als ich am Packen war für eine Schiffsreise von Berlin nach Rügen. Zufall? Ich hatte die Lektüre von Lutz Seilers erstem Roman «Kruso» begonnen, um ihn auf dem Schiff fertigzulesen. Obgenannter Satz steht als Motiv vor dem Beginn.

Die Sehnsucht des Menschen nach einem wahren naturverbundenen Leben, die Entstehung des Nature Writing und die Beeinflussung der LeserInnen durch Bücher im Vergleich mit Musik sprichst du in deinem Schreiben an. Du erwähnst Daniel Defoe, Henry David Thoreau, Judith Schalansky, Delia Owens und Douna Loup.

Lutz Seiler «Kruso», Suhrkamp, 2014, 484 Seiten, CHF ca. 33.90, ISBN 978-3-518-42447-6

Du forderst mich wieder einmal heraus, was ich sehr schätze, und ich habe viel nachgedacht. Dies unter dem Einfluss von «Kruso», der Geschichte einer ausserordentlichen Männerfreundschaft unter ausserordentlichen historischen Bedingungen, dies auf einer Insel in der Ostsee, ich selbst auf einem Schiff nach Rügen. Dabei konnte ich gut erahnen, was es bedeutet, in einem Land «gefangen» fern das unerreichbare «Land der Freiheit» zu erblicken. Nach der Wende und dem Verlust seiner Freundin sucht der Protagonist Edgar auf dem wilden Eiland zu sich selbst. Inseldasein, Wind, Wetter und Wellengang spielen eine wichtige Rolle, Nature Writing? Jedenfalls ein grossartiges Buch in einer poetischen Sprache.

Die Wirkung von Literatur und Musik sind für mich gleichwertig prägend und nachhaltig wirkend. Mich haben in den siebziger Jahren sowohl die Romane von Dostojewski als auch die Sinfonien von Bruckner stark beeinflusst. Bis heute beschäftige ich mich immer wieder mit beiden. Auf unserer Reise erlebten wir in Peenemünde (mir bisher unbekannt) eine Führung und ein Konzert in der Industriehalle bei der Heeresversuchsanstalt der Wehrmacht. Nicht «nur» Rausch, sondern ein unvergessliches, nachhaltiges Ereignis. Wort, Bild und Musik ergänzten sich fantastisch, diese Botschaft wirkt noch lange weiter.

An die Hoffnung ist ein Gedicht von Friedrich Hölderlin, das von Hanns Eisler vertont wurde. Hier sind die ersten Zeilen:

O Hoffnung! Holde, gütiggeschäftige!
Die du das Haus der Trauernden nicht verschmähst,
Und gerne dienend, zwischen Sterblichen waltest,
Wo bist du? Wenig lebt’ ich; doch atmet kalt
Mein Abend schon.

Die Versuchsanstalten Peenemünde waren von 1936-1945 das grösste militärische Forschungszentrum Europas. Zwangsarbeiter und KZ-Häftlinge mussten hier unter unmenschlichen Bedingungen arbeiten und sind zu Tausenden verstorben. Lieder von Schubert, Eisler, Weber u.a. verbunden mit gesprochenen Texten von den damaligen Forschern und ArbeiterInnen wurden von einer Sängerin mit Klavierbegleitung tief bewegend vorgetragen, mit Bildern vom Krieg ergänzt. Sprache und Musik auf höchstem Niveau.

Barbara Berg, Sopran und David Santos, Klavier

Zuhause wartete das Buch «Verwildern» von Douna Loup auf mich. Obwohl müde von der Reise und sehr angesprochen vom Cover, begann ich die Lektüre. Wow! Eine neue Reise beginnt, unmittelbar bin ich in einer magisch-sinnlichen Welt. Wieder einmal hast du eine Rosine aus dem Literatur-Kuchen gepickt! Ich habe das erste Kapitel gelesen, bin hell begeistert. Und sie kommt nach Leukerbad! Wahrlich betörend. Gerne lese ich morgen weiter und freue mich auf die baldige gemeinsame Begegnung mit dieser Autorin in Leukerbad.

«Man muss durch den Abend wandeln und daran glauben, dass der Tag und das Morgengrauen kommen werden, man muss hinaus in die Nacht brüllen und den Mond lieben.»

Herzlich

Bär