Martin R. Dean «Spiegelungen», Plattform Gegenzauber

Längst behandeln wir von der schreibenden Zunft Franz Kafka, seine Familienkonflikte, seine Autoritätskämpfe, seine Hochzeitsvorbereitungen, seine Diäten und seine Sorgen wie eine Heiligengeschichte, an der es nichts mehr zu zweifeln und hinterfragen gibt und die, mit welchen Anpassungen auch immer, zum Vorbild für unsere eigene Schriftstellervita geworden ist. Kafka ist unser schillernder Gott in Menschengestalt und damit jemand, den er selber in einem seiner Romane, zum Beispiel im «Prozess», hätte erfinden können.

Matthias Nawrat stellte sich für ein Gruppenfoto neben mich. Bist du wirklich so gross?, fragte ich erstaunt. Alle lachten über meine Frage, was hätte er denn sagen sollen? Er entgegnete, dass ihm seine Grösse unangenehm sei. Ich konterte und sagte zu meiner eigenen Überraschung, dass er mich an einen Scheinriesen, an Herrn Tur Tur aus „Jim Knopf“ erinnere und mir dieser Riese immer sehr sympathisch gewesen sei. – Tags darauf grub ich das Kinderbuch im Keller wieder aus und las es noch einmal durch. Erst da fiel mir der Grund auf, warum mir, nach über sechzig Jahren, das Kinderbuch noch immer in Erinnerung geblieben ist. Wegen Jim Knopf, der damals einer der ganz wenigen farbigen Helden in Kinderlektüren war. Und deswegen muss er ja auch auf die Suche nach seiner Herkunft gehen.

Versailles: die noch immer faszinierende Pracht der Gartenanlagen, jetzt von einem barocken Disneylandsound unterlegt, kontrastierte schon damals auf groteske Weise mit der Figur des Sonnenkönigs, der sich kaum mehr ernähren konnte. Einen Bandwurm im Magen, riss ihm der Leibarzt sämtliche Zähne aus und den halben Kiefer weg, sodass er seine Nahrung nur noch als Brei zu sich nehmen konnte. Während der Adel liebessüchtig durch die Bosquets flanierte, furzte und kotzte der König ununterbrochen, weil er an Blähungen und Durchfall litt. Gesundheit ist immer ein Derivat der Macht, der Macht über sich selber. Die Defizienzen des Königs konterkarierten jedoch die pompösen Anlagen, die den Horizont mit dem Himmel vermählten. Was erzählt uns besser von der Hohlheit des Pompösen, als dieser von seinen Leibärzten zugrunde gerichtete Popanz: an ihm war nur seine Position wichtig. Die physischen Bedingungen dieser Position musste cachiert werden, so wie Jahrhunderte später Mitterand trotz seines starken Krebsleidens als Präsident nur regieren konnte, indem er sein Krebsleiden verbarg. Während die Gärtner wie Le Notre die Natur mittels oktogonalem Teich, Bosquets, sternförmig angelegten Wegen und Statuen zum schönen Erlebnis machten, frass die erste Natur sich durch den maroden Leib des Despoten und höhlte ihn aus. Er muss gestunken haben wie der Sumpf, der Versailles ursprünglich war, bevor es für den schönen Schein trockengelegt wurde.

Paris, Café de Flore: ein leerer Ort, wo man sich nicht mehr «trifft». So wie die Öffentlichkeit im Internet die reale «Öffentlichkeit» diffundiert hat, so gibt es auch immer weniger Orte, wo «man» sich trifft, wo also die verschiedenen Schichten, Charaktere und Segmente gesellschaftlichen Lebens zusammenkommen. Der Kellner, der, das Tablett mit zwei vollen Gläsern, einer Karaffe und einem Tellerchen in der freien Hand, den Tisch säubert, verrichtet seine Kunst heute vor amerikanischen Touristen und saudiarabischen Emporkömmlingen, die wenig von der Schwerkraft französischen Porzellans wissen.

Sizilien, Bagheria: Kaum ein anderer hat den Wahnsinn einer aus den Fugen geratenen Barock-Welt besser dargestellt als der Fürst von Pallagonia mit seinen irren Figuren. Zur Bestätigung meiner überwältigenden Eindrücke lese ich Goethes Italienisches Tagebuch. Goethe musste den Wahnsinn abwehren, in sich zähmen, er musste sich gegen das Kranke zur Wehr setzen, deshalb lästert er über den Stil des Fürsten von Bagheria.

Im Übrigen empfinde ich sein Reisebuch als Wohltat. Die Lektüre zwingt mich, langsamer werden. Goethe notiert nicht nur, was ihm begegnet, er will immer auch herausfinden, wie etwas zustande kommt und funktioniert und das macht seinen Reisebericht spannend.

In Bagheria bin ich plötzlich nicht mehr sicher, ob ich nicht schon einmal da gewesen bin. Könnte es sei, dass ich die Stellen im «Guaynaknoten» (1995) nur aus der Fantasie geschrieben habe? Oder war ich da und das Geschriebene hat sich an die Stelle des Erlebten gesetzt? Unabweisbar ist, dass es mir immer weniger gelingt, Geschriebenes und Erlebtes auseinander zu halten. Für meine Umgebung ist das ein Ärgernis, für mich ein Glück.

Was unterscheidet selber gemachte Fotos, zum Beispiel das Ablichten einer Sehenswürdigkeit, von den Fotos, die für Reiseführer oder für Postkarten gemacht wurden? Ich glaube, es ist die Versicherung, gegen jedes Vergessen einmal selber an diesem Ort gewesen zu sein, diesen Ort mit eigenen Augen gesehen zu haben. Auch wenn sich weder die «Schönheit» noch das damalige Verzaubertsein von diesem Ort in das Bild, das einem Jahre später wieder in die Hand fällt, retten liess, so wird vielleicht doch ein Spurenelement der Sehnsucht wieder wach, das einen damals überhaupt zum Schiessen der Foto veranlasst hat.

Das Grab von Chateaubriand befindet sich einige hundert Meter vor St. Malo auf der Ile de Grand Bré. Ein klobiges Kreuz, eingefasst von Quadersteinen. Zu lesen ist: «Un grand écrivain français a voulu reposer ici pour n’y entendre que le vent et la mer. Passant respecte sa dernière volonté». Darüber hinaus trägt das Grab keine Inschrift, auch keinen Namen.

Es ist eine bemerkenswerte Geste eines Schriftstellers, seinen Namen zu verschweigen, wo andere Stiftungen gründen und auch sonst keine Mühe scheuen, ihren lächerlichen Ruhm in die Ewigkeit zu transportieren, andere ihren Namen posthum durch Agenten oder Familienangehörige verbreitet sehen wollen. Keiner von ihnen nimmt den Tod so ernst wie Chateaubriand, der für mich dadurch eine besondere Würde gewinnt.    

Zum Fest des runden Geburtstags hat die Schriftstellerkoryphäe seine Freunde ausgewechselt. Sein Ruhm, durch ein wachsendes Alter vermehrt, soll jetzt auf den Nachwuchs und die Betriebslieblinge strahlen, auf dass er sich bei ihnen am besten vermehre. Schliesslich ist er der letzte seiner Generation und seine Worte verwandeln diejenigen, die jetzt mit ihm am Tisch sitzen dürfen, automatisch in Jünger. Unter denen, die ihn feiern sollen, sitzen einige der Jüngsten auf der Bühne, die ihn kaum kennen und deren Namen auch er bisher nicht kannte. Nun feiern sie ihn, ohne seine Werke gelesen zu haben: sie feiern eine Filiation. Die Jungen stimmen Elogen auf ihn an und sonnen sich in seinem Glanz, derweil die alten Freunde, am Katzentisch versammelt, stumm das Glas an die Lippen führen.

Ich treffe einen zehn Jahre älteren Kollegen, der mir von einem Schriftstellertreffen in den siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts erzählt. Als er damals vor versammelter Runde von seinem Kritiker-Erfolg berichtete, sein neuestes Buch war gerade im «Spiegel» besprochen worden, habe ihn ein Kollege umgehend zum Boxkampf herausgefordert. Er aber habe abgelehnt. Da sei der Kollege, wohl aus Verdruss, wie wild um ihn herumgetänzelt und habe ihm, da er den Kampf nicht habe annehmen wollen, die Lippe blutig geschlagen. Bei einer anderen Gelegenheit, einem Suhrkamp Empfang, sei Max Frisch hereingeschneit. Er habe sich kurz zu ihm gesetzt, habe fünf Minuten Small Talk gemacht, danach sei er aufgestanden und habe, sich von allen verabschiedend, jedem ein Zündholzschächtelchen in die Hand gedrückt, auf dem der Name Max Frisch gestanden habe.

Die dritte Erzählung dreht sich um Dürrenmatt, dem er an einer Tagung gegenübergesessen sei. Dürrenmatt aber habe gar nicht mit ihm reden wollen, sondern sei einzig auf einige Frauen konzentriert gewesen, die ihn umsorgten. Am nächsten Morgen sei er mit Dürrenmatt am Frühstückstisch gesessen. Noch immer habe Dürrenmatt nichts von ihm wissen wollen und habe ihn die ganze Zeit mit «lieber Herr Laederach» angeredet. Zuhause habe er dann alle Bücher von Dürrenmatt aus dem Regal genommen und in die Abfalltonne geschmissen.

Wilhelm Genazino ist einer, der in seinen Aufzeichnungen («Der Traum des Beobachters») immer wieder über die Genese von Erfolg, den Staus von Ruhm und das Prekäre der Schriftstellerexistenz nachdenkt. Ist er mir darin nicht ein Vorbild? – Gerade dazu taugt Genazino nicht, nicht einmal posthum. Denn seine Sache war nie die Idolisierung, sondern die kluge Hinterfragung solcher Mechanismen, die letztlich alle literaturfeindlich sind. Literatur ist ein Infragestellen, ist Hinwendung und nicht Anbetung. So kann er mir kein «Vorbild» sein; aber darf ich mich denn getrauen, ihn einen «Gefährten» zu nennen?

Über einen Lyriker, mit dem ich seit der Schulzeit befreundet bin, würde ich Folgendes sagen: er ist konsequent ins Freie geschritten und unter Himmeln und in Wäldern verloren gegangen. Er hat alle Leiderfahrung in Sprache gegossen. (Dabei staune ich, dass man so auf der Kante leben kann.)

F., ein Student der Biologie, so wird in der Runde erzählt, brachte die Frauen, mit denen er schlief, jeweils mit einem einzigen Satz zum Orgasmus. Niemand kannte den Satz, nur die Frauen, aber die schwiegen. Als er den Satz auf einen Zettel schrieb und den Frauen mitgab, wollte keine Frau mehr mit ihm schlafen. Schliesslich wurde seine Schrift unleserlich und der Satz verlor seine Wirkung.

Der Selbstbehauptungskampf von Autoren und Autorinnen übertrifft oft das gewohnte Mass, weil er immer existenziell ist. In Laufe meines Lebens bin ich vielerlei Arten begegnet, mit der Verzweiflung fertig zu werden. Da war der Grosschriftsteller im Exil, dessen Familie mich umarmte, als ich mich bewundernd zeigte, aber darauf wartete, dass sich meine Bewunderung auch auszahlte. Da war der Alkoholiker in Berlin, der immer zynischer und bösartiger wurde, je mehr er trank- und seine Konkurrenten regelrecht rhetorisch kleinhackte. Da war einer, der hatte seinen Kragen hochgeschlagen und mimte den Unnahbaren; man musste sich zuerst mit seiner Entourage anfreunden, um mit ihm bekannt zu werden. Da war der Umgängliche, der sofort alles verstand, der Mistergesundermenschenverstand, der aber gegenüber den anderen Darstellungsgiganten als der grösste gelten wollte. Und da war zuletzt noch der eidgenössische Bescheidenheitsapostel, der zum Lobgesang auf seine Bescheidenheit einlud. Irgendwo in diesem Reigen bin auch ich verortet. –Warum aber mimen wir Schreibende sosehr die Politiker, die Mächtigen und Dummen dieser Welt? Weil wir uns nicht eingestehen können, zu den Machtlosen zu gehören?   

Nachdem ich meinen Roman, nach vier Jahren Arbeit, beendet hatte, verweilte ich, wie eine vergessene Zimmerpflanze, noch immer in der kreativen Zone und formulierte weiter Phantomsätze. Eine Maschine, die weiterläuft, obwohl sie keinen Auftrag mehr hat. Mit Schrecken stellte ich fest, dass das Buch Wochen, Monate und Jahre meines Lebens verschlungen, meinen Alltag geknebelt und meine Neugier manipuliert hatte. Was zurückblieb, in Form eines Buches, war die harte Substanz gekelterten Lebens, haltbar bis auf Weiteres.

Ohne zu ahnen, wie tief ich in die Vermischungen eindringen würde, besuchte ich das Wohn- und Schreibhaus des ehemaligen Senegalesischen Präsidenten Leopold Sédar Senghor in Dakar. Ein Guide führte mich in die privaten Gemächer, die mit Möbel aus den siebziger Jahren ausgestattet waren, schwarze Holztischchen, Marmorböden, eine mit senfgelbem Stoff überzogene Polstergruppe, die mit der afrikanischen Malerei an den Wänden überraschend gut harmonierte. Keinesfalls prunkvoll oder einschüchternd, sondern nüchtern und stilvoll präsentierte sich hier die Macht und das Schlafzimmer des Präsidenten war eine überraschende Verschmelzung von afrikanischen Accessoires mit dem Bauhausstil.

Der Guide, der als Leibwächter des Präsidenten sowohl für dessen leibliche Sicherheit wie für sein seelisches Wohl zuständig gewesen sein muss, führte uns, während er die tragische Geschichte des verunglückten Präsidentensohnes erzählte, ins Schreibzimmer, ins Zentrum der Macht: vor dem hufeisenförmigen hölzernen Schreibtisch des Präsidenten, der zugleich ein Schriftsteller war, standen Bücher und lagen Stösse von Zeitschriften, und an der gegenüberliegenden ockerroten Wand, unweit einer imposanten Holzmaske und im Blick des Schreibenden, entdeckte ich die Werke von Georg Trakl und Rainer Maria Rilke, die beide auch zu meinen Lieblingsautoren zählen.

Durch das Fenster, in dem sich ein Teil der Bibliothek spiegelte, sah ich draussen die senegalesischen Orangenverkäufer barfuss die staubige Strasse auf und ab gehen und nach Käufern Ausschau halten. Am Schreibtisch, stellte ich mir vor, studierte der Präsident die Gedichte Trakls und Rilkes in der Originalsprache und liess wohl den einen oder anderen Gedanken in seine Theorie der Négritude einfliessen. Dann sah ich den Präsidenten zur Feder greifen und jene Rede verfassen, die er auf Einladung des österreichischen Bundeskanzlers Bruno Kreisky 1977 zur Eröffnung der Salzburger Festspiele halten würde: Österreich als Ausdruck der Weltkultur.

 

Rezension

Martin R. Dean wurde 1955 in Menziken, Aargau, als Sohn eines aus Trinidad stammenden Vaters und einer Schweizer Mutter geboren, studierte Germanistik, Ethnologie und Philosophie an der Universität Basel, unterrichtete an der Schule für Gestaltung in Basel und am Gymnasium in Muttenz. Dean ist vielfach ausgezeichneter Buchautor. Zu seinen jüngsten Werken gehören «Warum wir zusammen sind» (2019), «Verbeugung vor Spiegeln –  über das Eigene und das Fremde» (2015) und «Falsches Quartett» (2014). Martin R. Dean lebt mit seiner Familie in Basel.

Webseite des Autors

Beitragsbild © Daniel Nussbaumer

«Sich der Schwerelosigkeit hingeben» Laudatio für Gertrud Leutenegger zum Solothurner Literaturpreis 2023

Wer sich in die Literatur Gertrud Leuteneggers begibt, tritt zugleich in eine Welt, in der Gegenstände, Zustände und Zeiten durchlässig werden, wo man wach zu träumen scheint, wo Blicke und Gefühle mit sanfter, aber sicherer Hand in immer andere Richtungen gelenkt werden; kleine Verschiebungen sind es bloss, Bilder und Szenen verändern sich kaleidoskopisch, ihre Zusammenhänge erschliessen sich jedoch mühelos – um gleich darauf eine neue Bedeutung anzunehmen. Ein Stil, so atmosphärisch wie beschwörend, verfasst in einem präzisen und besonnenen Ton. Er ist einzigartig in der deutschsprachigen Literatur, und ja, man muss sich einlassen auf das Luzide, auf das Fremde und Ferne.
Über das Fremde in Leuteneggers Werk schrieb Ruth Schweikert vor über fünfundzwanzig Jahren in einem Essay mit dem Titel «Verlorene Pläne einer Weltordnung»: «Eine Ich-Erzählerin geht, wohin sie auch geht, in die Fremde. In ein Dorf der französischen Schweiz, mit dem Wunsch, in die dort «bestehenden Verhältnisse vollkommen sich einzugliedern», nach Japan, an den äussersten Rand des Horizonts, wo die Welt buchstäblich zu existieren aufhört, an die Grenze zum Tod[…].» Es ist ein Fortgehen, ein Sich-Fortbewegen bis in die Randgebiete, um sich und die eigene Herkunft erst zu begreifen. Das Risiko, nicht wieder zurückzufinden, das Risiko der Entfremdung schwingt fortwährend mit. Es ist eingepreist in ihre Kunst und dies alles zeichnet Gertrud Leuteneggers Werk aus.

«Eben bin ich aus dem Schlaf aufgeschreckt, weil das Gewicht eines Kopfs auf meine Schulter fiel.» Mit diesem Satz beginnt das Buch «Acheron» von 1994. Eine Frau reist durch Japan, von der Hauptstadt aus meerwärts, dem Pazifik zu, wo sie eine Fähre besteigt, um auf eine kleine Vulkaninsel zu gelangen. Sie ist auf der Suche nach Tenko. Tenko ist eine fliegende Händlerin, eine Streunerin, eine Getriebene und Suchende, eine ganz und gar zauberhafte Gestalt, deren schlafender Kopf in der Metro der ebenfalls schlafenden Erzählerin auf die Schultern sinkt. Tenko verkauft Muscheln an Reisende, sie ist unterwegs, den unsichtbaren Linien entlang, in ihren festen schwarzen Schuhen. Unmittelbar nach der ersten Begegnung knüpft sich zwischen der Erzählerin und Tenko ein Band der gegenseitigen Faszination und Anziehung: «Tenko aber hatte ihre Spuren bereits mit den meinigen vermischt», so beginnt ihre gemeinsame Geschichte. Die beiden streichen eine Zeit lang zärtlich verbunden durch Tokyo. Die Erzählerin wird die Spur Tenkos verlieren, sie wiederfinden und ihr folgen bis auf Tenkos Heimatinsel. Zwischen ihre Erlebnisse in Japan schieben sich die Erinnerungen an ihren ehemaligen und viel älteren Geliebten, den sie nur «Signor» nennt. Eine unerbittliche Liebe, die ins Unglück führt, vor dem Hintergrund eines Bergdorfes, am Rande einer Schlucht: «Der Signor war ein Abgrund, der jede frühere Leidenschaft verschlang, alle diese glühend zerstäubten Sterne und Planeten, und am Ende seiner Existenz von ihnen erhitzt, leuchtete er noch einmal hell auf. Doch ahnten wir das kalte expandierende Universum dahinter? Ich fühlte den Schatten der Liebe wachsen, als wäre diese bereits entflohen, und ich vergrub mich in diesen Schatten, krallte mich in seinen Flügeln fest, kämpfte bis zum Morgengrauen, ich lasse dich nicht!» Die Erzählerin entscheidet sich am Ende für die Gegenwart und gegen eine schmerzliche Erinnerung. Entscheidet sich für Tenko, was auf Deutsch soviel wie Wendung bedeutet, Umkehrung, Bekehrung oder Konversion, und damit entscheidet sie sich für ihre Befreiung. Auf der Fähre hinüber zur Vulkaninsel, wo Tenko ihre Kindheitssommer verbrachte, beobachtet die Erzählerin den ganz in weiss gekleideten Kapitän. Irgendwann verschwindet er von der Bildfläche und sie vermutet, er müsse ins Weiss einer Kabine eingegangen sein: «[…]nicht mehr unterscheidbar von den hellen Wänden; selbst wenn seine Hände, auch diese weiss behandschuht, einmal durch die Luft fahren sollten, wäre es nur wie das Auffliegen einer weissen Taube im Raum». «Acheron» ist nichts für Orientierungssuchende, in diesem Text sollen wir uns vielmehr verlieren, uns treiben lassen, wir sollen seine Farbe annehmen und mit ihm zerfliessen: Das Glück der Auflösung spüren.

Ruth Schweikert schrieb in einer Literatur-Serie in der «Wochenzeitung», die im Zusammenhang der Solothurner Literaturtage von 1997 erschien, über Gertrud Leutenegger. Ruths genaue Gedanken, die sie sich damals über das literarische Schaffen ihrer Kollegin machte, werden in diese Laudatio hineinfliessen. Das Flüssige hier aufzugreifen scheint mir folgerichtig. Ruth Schweikert bemerkt in ihrem Essay: «Eine gern verwendete Metapher, den Zustand des Lesens zu beschreiben, drängt sich für diese Autorin – Gertrud Leutenegger – geradezu auf: eintauchen in einen Strom, der fast richtungslos noch in «Vorabend», stärker auf eine Geschichte eingegrenzt später, offenbar vor den Augen der hellwachen Ich-Erzählerin vorbeifliesst und dabei Sedimente abendländischer Kultur, deren alte und neue Mythen, begleitet von den Bildern einer katholischen Kindheit der Innerschweiz der fünfziger Jahre, Erinnerungen an den stets fernen Geliebten (mag er auch neben ihr sitzen) an die Ufer des erzählenden Bewusstseins schwemmt. Dieser Strom ist natürlich nicht nur ein willkommenes Bild für die tieferliegenden Textstrukturen; Wasser, Flüsse, Seen, Überfahrten, das Meer, die Angstvorstellung und/oder Beschwörung einer neuen Sintflut tauchen in allen mir bekannten Texten auch an deren Oberfläche auf.»

Die Geschichte von Loredana, einer jungen Sexarbeiterin, die mit einer Freundin an einer grossen Ausfahrtsstrasse Roms wohnt, der Via Prenestina, und deren Unterkunft von zwei Männern mitten in der Nacht in Brand gesetzt wird, erscheint im November 1985 in einer Schweizer Tageszeitung. In «Roma, Pompa, Loredana» streift die Erzählerin durch das frühlingserwachte Rom, alle Poren sind geöffnet, und Sinnlichkeit strömt durch diese Zeilen und Sätze: Der Duft der Orangenblüten, die scharfen Kontraste der Palmen auf den Dachterrassen vor dem rötlich gefärbten Abendhimmel, die kühlen Schatten in den langen schmalen Strassenzügen. Aus diesen Strassen lässt die Erzählerin Loredana treten. Sie imaginiert sich in das Leben der jungen Frau: «Vielleicht hat Loredana einmal, rasch im Vorbeifahren, das Kolosseum mit einem Blick gestreift, eine Art Wut unterdrückend, wie kann man eine Ruine restaurieren, während draussen, in den Baracken, alles mangelt? Über den Innenraum des Kolosseums werden keine Seile und Segel mehr gespannt, von den Matrosen der kaiserlichen Flotte bedient, um die Zuschauer vor der Sonnenhitze zu schützen und in den anhaltenden Geruch von Blut und Dung einzuschliessen, aber Loredana hört die aufgehetzten Schreie auch so, sie hört sie jeden Tag, in der Via del Torrione, ladre! drogate! lesbiche! prostitute!» So fliessen in Leuteneggers Prosa die Zeiten wie Lichtbilder ineinander, überlagern sich wie ein Palimpsest, wiederholen sich hetzende Worte so lange, bis jemand sie aufschreibt und bannt; sie herausstellt in ihrer ganzen Verachtung. Worte, aus denen Taten wurden: «Inzwischen zirkulieren Bilder von Loredana in den Zeitungen. Loredana auf dem Spitalbett, aufgebahrt wie eine Mumie, vollkommen einbandagiert, kein Stückchen unversehrte Haut ist sichtbar, nur der Mund steht ab, und die Augen, die Augen weit geöffnet.» Die Erzählerin verschliesst ihre Augen nicht, schaut nicht weg aus Furcht oder Scham. Auch wenn Loredana den Brandanschlag auf sie und ihre Freundin vorerst schwer verletzt überlebt, wird sie sich nicht mehr davon erholen. Und die Erzählerin weiss um die Verbundenheit mit diesen Opfern und ahnt um die eigene Mittäterschaft als Teil eben dieser Gesellschaft: «Aus der bereits dürren Campagna, hinter der Via Prenestina, der Via del Torrione, steigt heiss, unbegreiflich und blau der Sommer empor, und ich laufe weiter durch die Stadt, Staub von Rom im Haar, Loredanas Asche.»

Ja, die Kontraste. Nicht nur als visuelles Phänomen tauchen diese in Gertrud Leuteneggers Texten auf, sondern auch als Gestaltungselement, als Lehre der Gleichzeitigkeit, als schmerzhafte Bewusstseinsübung und manchmal auch als Trost. Aber auch die Bewegung, das Bewegliche, das Konvulsivische und im Gegensatz dazu das Fluide und Zarte sind wichtige Motive ihrer Arbeit. In einem Text über Japan mit dem Titel «Nippon, Grün und Schwarz» schreibt sie: «Ein Gleiten, Verlagern ist alles.» In einer anderen Szene, aus «Zürich, ein Julitag» über das schöne und manchmal allzu glatte Zürich, formuliert sie eine Frage, die für mich ebenfalls einen Leitsatz ihrer Poetik skizziert: «Kommen nicht nur durch Störung unserer Gewohnheiten jene vielfältigen Kontaminationen und Kontaktmetamorphosen zustande, die eine Stadt erst vibrieren lassen?» Denn Leuteneggers Prosa findet ihren Ausgangspunkt nicht in der Konstruktion oder im Konzept, sondern im Kontakt mit dem Leben. Beim Gehen durch das verwirrende Strassennetz einer unbekannten Stadt, beim Graben mit blossen Händen in der Erde oder in der Erinnerung an Auffahrunfälle auf der Strasse, die zum Gotthardpass führt. Die Erzählerin hat sich berühren lassen und scheut nicht die Kontamination. Ihre Prosa vibriert, summt, bebt auch mal und hat bald die Wirkung eines Sturms, wo vieles nachher nicht mehr da ist, wo es einmal hingehörte.

Ruths Essay aus der WoZ trägt wie bereits erwähnt den Titel «Verlorene Pläne der Weltordnung». Das Ordnungsprinzip in Leuteneggers Literatur sei «ein Versuch, die «Weltordnung» zu erkennen, ohne die Elemente dieser Welt beim Schreiben hierarchisch zu ordnen; diese Überschrift könnte man über alle Texte Gertrud Leuteneggers setzen. Nichts Menschliches, nichts Unmenschliches, nicht zerstörte oder intakte Natur, nicht die zweiundzwanzigtausend Paar Kinderschuhe von Auschwitz, die Insassen einer psychiatrischen Klinik, nicht Berlin oder der Tod, nicht die Geste des missglückten Zigarettenanzündens oder das Alltagsleben einer italienischen Gastarbeiterfamilie ist dieser Autorin unwichtig, allein wichtig oder fremd, und alles ist ihr fremd und absurd genug, um es mit jener Distanz zu beschreiben, die den genauen (und poetisch überhöhten) Blick erst ermöglicht. Die in (eine unverkennbare) Sprache gesetzten Denk-Bilder Gertrud Leuteneggers erzwingen eine Konzentration der Lesenden, die höchst selten in einem Punkt sich sammelt, sondern ein Flimmern erzeugt.»

In einem anderen Text, mit dem Titel «Generalbass», beschreibt die Erzählerin ihr Kindheitszimmer: «Mein Kindheitszimmer bestand überhaupt nur aus Fenstern, durch den grossen Schlafraum meiner Eltern hatte man eine Wand gezogen; nun schlief ich da wie in einer Glasveranda, fast mehr schon in der Natur als im Innern des Hauses. Es fehlten auch Stuhl und Tisch; die weite Aussicht auf die beiden Seen, die Berge rundum am Horizont war alles beherrschend, eine Art luftiges Treibhaus, eine Loggia, eine Arkade.» Als schliesslich ein Föhnsturm durch das Tal fegt, beschreibt die Erzählerin, wie «in lauen Nächten die angestauten Luftmassen jenseits des Gotthards endlich zum Überwehen des Passes gezwungen wurden und diesseits mit tobender Gewalt in die Täler einfielen». Als das Kind Angst bekommt, sein Zimmer berste und es werde jäh hinaus ins Universum geweht, begreife ich, wie es sich mit Leuteneggers Prosa verhält: Als Leserin bin ich der Macht und der Zartheit ihrer Sprache ausgesetzt, dem aufwühlenden Gewitter und seinen Assoziationen, den Bildern und Gedanken. Ihre Lektüre ist eine Art immersive Erfahrung, ganz so, wie sich das Kind in der Glasveranda fühlte: Ausgesetzt, und zwischen dem Sturm und sich bloss der gläserne Schutz, wo es aufgehoben und ausgeliefert zugleich ist. Oft lässt die Erzählerin mir einen Schimmer Trost, eine Spur Zuversicht, einen «Rettungsanker im sturmerfüllten Sog der Unendlichkeit», wie sie einmal schreibt. Das Kind entdeckt nämlich durch das Schlüsselloch den bernsteinfarbenen Schimmer der Nachttischlampe der Mutter, ein «letzter mattleuchtender Faden, der mich an der Erde festhielt.» Nie lässt Leuteneggers Wortsturm uns Leserinnen ins Universum katapultieren, das ich mir heimlich so untröstlich vorstelle wie bei Georg Büchner in Woyzecks Anti-Märchen: der Mond ein Stück «faul Holz», die Sonne eine «verwelkte Sonnenblum» und die Sterne bloss kleine aufgesteckte Mücken, die goldig glänzen. Gertrud Leutenegger aber schenkt uns das Bernsteinlicht der Lampe.

Gertrud Leutenegger mit den Jurymitgliedern Eva Seck, Franziska Hirsbrunner, Leonora Schulthess und Martin Zingg

Ihr zuletzt erschienener Roman «Späte Gäste» spielt in einem Tessiner Bergdorf. Das Buch erschien im Sommer 2020, einem Jahr, dass uns globale Zusammenhänge neu begreifen liess, auch unsere eigene Verletzlichkeit, die Fragilität des Gesundheitssystems und des gesellschaftlichen Zusammenhalts. Gewissheiten verschoben sich: Ein Verlagern ist alles und in diese neue und eigenartige Zeitrechnung hinein, die vielen von uns als surreal und seltsam schwebend in Erinnerung geblieben ist, erschien «Späte Gäste». Es berichtet von der fünften Jahreszeit, der Fasnacht, und vom Erinnern. Die erzählte Zeit erstreckt sich über eine einzige Nacht, in der wir mit der Erzählerin fürchten, träumen, wachen und bangen. Sie übernachtet in der verlassenen Wirtshaus-Villa, um am anderen Tag die Totenwache ihres einstigen Geliebten Orion zu beginnen. Wir warten mit ihr auch auf die Ankunft der gemeinsamen Tochter. Der Wirt ist über den Winter in seine Heimat Sizilien gereist, sie kennt das Haus jedoch gut, es war in ihrem früheren Leben Zufluchtsort und Stätte des freudigen Beisammenseins. Jetzt sind die Räume kalt, dunkel und unheimlich. Aber überall schimmert das Licht von einst durch und erleuchtet die Fresken und Wandbilder. Die Erzählerin träumt, die Erzählerin erinnert, die Erzählerin trauert, und ihre Visionen erhellen wie ein Gewitter den Nachthimmel. An der Decke entdeckt sie gar im gemalten Tellmythos den Ätna! Die Erzählerin schwankt zwischen Wachen und Schlaf, zwischen Traum und Realität, zwischen Gegenwart und Vergangenheit. Völlig unvermittelt und wie aus einer fernen Welt tauchen in einer Geschichte der Freundin Serafina die titelgebenden späten Gäste an einer Fasnachtsgesellschaft auf: Es sind Geflüchtete von weit her, die mit ihren Booten gestrandet sind an den südlichen Küsten unseres Kontinents. Unter den Masken der «Hässlichen» blitzt eine Unerschrockenheit und Verzweiflung auf, die die Erzählerin fasziniert. Es ist ein Buch der Ankunft und des Abschieds. Einer mit Namen Orion ist gegangen und andere kommen und bringen ihre unerschütterliche Hoffnung mit. Mit der ganzen prekären Trauer und der ganzen Zartheit berichtet Leutenegger hier erneut von der Gleichzeitigkeit von Schönheit und Schrecken, Hoffnung und Angst, von Leben und Sterben. «Angesichts des Todes wird manches so leicht. Und dieser Schwerelosigkeit darf ich mich hingeben, ich weiss es, sie ist es, die rettet und erhält.» Gertrud Leutenegger verbindet sich mit verschiedenen Schicksalen in einer staunend-machender Empathie und scheut nicht das Unheilvolle, das Grausame und die Verletzlichkeit unserer Existenz. «Späte Gäste» ist aber auch eine Geschichte der Emanzipation; die Erzählerin und mit ihr wir Leserinnen müssen von etwas loslassen, damit etwas Neues beginnen kann und sei dies nur ein neuer Tag, der sich mit der Dämmerung ankündigt. Sie erzählt davon eindringlich und leuchtend, magisch und klar.

Es gibt so viele erleuchtete Sätze in Gertrud Leuteneggers Werk, ich könnte Seiten füllen. Viele davon sind versammelt im Band «Partita. Notate», der 2022 im Nimbus Verlag erschienen ist: «Die Glut der Ahnung. Denn noch erkenne ich nicht. Aber mein Gefühl weiss.»

Über Gertrud Leuteneggers Sprache schreibt Ruth Schweikert, sie sei von «einer bezwingenden rhythmischen Schönheit»: «Das Erkenntnisinstrument ist natürlich die Sprache, die noch auf einer weiteren Ebene, nicht nur auf der semantischen, zum beglückenden, zum irritierenden Lese-Erlebnis einer umfassenden Gleich-Gültigkeit führt; dem zufällig beobachteten Detail, den Reflexionen über die Schweizer Bevölkerung im Zweiten Weltkrieg, der Farbe eines bestimmten Kleidungsstücks wird dieselbe sprachliche Sorgfalt zuteil. […] Die «Schönheit» der Sprache als übergeordnetes Prinzip?», fragt Ruth weiter: «Überzeugend ohne jede Ambivalenz wird diese Sprachkraft, wo ein solches Bild gefunden wird (das Liebespaar hält Nachtwache vor dem auf einen Eisenbahnwaggon aufgebahrten Wal)»: «Unsere Eltern, die von ihm verschluckt worden waren in den zwei Kriegen, die nur die Verdunkelung erlebt hatten, sie waren im Innern des Walbauchs gesessen, die meisten nachtblind, ungerührt, sie hatten alles als Verhängnis betrachtet und dumpf gewartet, bis sie wieder ausgespien wurden. Ohne einen Blick zurück.»

Gertrud Leutenegger ist auch eine Anruferin der Dichter: Sie bezeugt ihre Hingabe zur Literatur, indem sie über diese nachdenkt, sie beschreibt und von allen Seiten betrachtet; sie zu ihrem Leben macht. Sie ruft ihre Vorgänger an, Novalis, Goethe, Kleist, Dante oder Walser. Über Kleist schreibt sie: «Dieses Changierende, dieses Übergehen einer Wirklichkeit in die andere ist vielleicht das Beunruhigendste an Kleist, der in einem Brief an den Freund Rühle über den Tod sagte: «Es ist, als ob wir aus einem Zimmer in das andere gehen.»» Ein ständiges Gleiten, ein Verlagern ist alles. Mit der Fähigkeit, die Welt der Lebenden und die der Toten zu durchschreiten, ist ihre Literatur ausgestattet.

Man möchte Gertrud Leutenegger zur Verfügung haben (ein Wunschtraum, denn natürlich ist sie auch eine Meisterin des Unverfügbaren), und dennoch ersehne ich sie mir als Begleiterin an die Orte, mit denen ich verbunden bin und die ich besser verstehen möchte. Sie würde von unseren Reisen erzählen, Szenerien aufrufen, Figuren erschaffen, ihre klugen Beobachtungen und Gedanken dazu aufschreiben und mich so auf alles aufmerksam machen, was ich übersehen habe. Einmal stehen in einer ihrer Erzählungen tatsächlich die Länder Japan und Senegal in einer Aufzählung nebeneinander und ich muss lachen, weil ich solche Zufälle liebe und natürlich als Zeichen deute.

Ruth erklärte mir kürzlich: «Gertrud Leutenegger macht universelle Erfahrungen mit einer weiblichen Erzählstimme zugänglich. Während dem sich ein junger 68er oder danach geborener Schriftsteller im sogenannten Westen vor allem mit westlichen, männlichen Werten identifiziert, bettet sie den weiblichen Blick, wie beispielsweise in «Acheron», in eine grosse europäische, aber auch gerade in eine nicht-europäische Erzählung ein. Dies ist die grosse Stärke von Leuteneggers Schreiben.»

Je älter ich werde, desto eher erkenne ich die, die vor uns waren. Sie sind eine Möglichkeit der Verortung, die Möglichkeit des poetischen oder geistigen Verbunden-Seins, und sei dies durch die gemeinsame Luft, die wir atmen. Als ich geboren wurde, hatte Gertrud Leutenegger bereits ein umfassendes Werk: Da waren bereits acht Bücher; Romane, Gedichtbände und Erzählungen von ihr erschienen. Wie so oft zu den wichtigen Dingen fand ich über eine Freundin zu ihr: Die Schriftstellerin Noëmi Lerch drückte mir vor vielen Jahren Gertrud Leuteneggers Buch «Matutin» in die Hand. Ich las es, und noch heute weiss ich, wie ganz und gar fremd sich diese Welt für mich anfühlte; dieser morbide ehemalige Vogelfangturm, die Wärterin, kaum fassbar, wie ein Geist, die mystischen und spirituellen Bezüge… Ich verstand wenig. Mein jüngeres Ich gab aber nicht auf. Es weigerte sich, das Buch wegzulegen, auch wenn es das Gefühl hatte, dieses nicht wirklich zu durchdringen. Es mutete sich etwas zu. Das auszuhalten und darauf zu hoffen, den Zauber eines Textes zu einem anderen Zeitpunkt zu entschlüsseln, rührt mich, und ich hege eine heimliche Bewunderung für diese wohl manchmal etwas unbeholfene und bildungsferne Literaturstudentin, die ich damals war. Und bin dankbar für das Glück, mich heute noch einmal mit Leuteneggers Werk zu beschäftigen. Zwei Schreibgenerationen liegen zwischen uns. Ruth Schweikert steht in der Mitte und streckt uns verbindend ihre Hände entgegen. Wir, die heute schreiben, berufen uns auf die, die vor uns kamen. Sich als Teil einer sich fortschreibenden – und nicht zuletzt weiblichen – Literaturgeschichte zu begreifen, lehrt einen Demut und gibt Kraft. All die schreibenden Frauen, deren Bücher und Gedanken Teil von mir und meinem Denken wurden, weisen auch in die Zukunft, denn nichts, was heute ist und morgen sein wird, wäre ohne sie möglich gewesen. Sie sind Wegbereiterinnen und Wegbegleiterinnen, mögen die Lebensrealitäten und die Bedingungen, unter denen unsere Literatur entsteht, verschieden sein. Das Werk von Gertrud Leutenegger hilft uns die Schönheit, die Brutalität und die Unverfügbarkeit unserer Existenz immer wieder aufs Neue zu erfahren.

Laudatio von Eva Seck

 

«Vorabend» Roman, Suhrkamp, Frankfurt am Main 1975 
«Ninive» Roman, Suhrkamp, Frankfurt am Main 1977
«Lebewohl. Gute Reise» Ein dramatisches Poem, Suhrkamp, Frankfurt am Main 1980
«Wie in Salomons Garten» Gedichte, Eremiten-Presse, Düsseldorf 1981
«Gouverneur» Suhrkamp, Frankfurt am Main 1981
«Komm ins Schiff» Dramatisches Poem, Suhrkamp, Frankfurt am Main 1983
«Kontinent» Suhrkamp, Frankfurt am Main 1985
«Das verlorene Monument» Suhrkamp, Frankfurt am Main 1985 
«Meduse» Suhrkamp, Frankfurt am Main 1988
«Acheron» Suhrkamp, Frankfurt am Main 1994
«Sphärenklang» Dramatisches Poem, Eremiten-Presse, Düsseldorf 1999
«Pomona» Roman Suhrkamp, Frankfurt am Main 2004
«Gleich nach dem Gotthard kommt der Mailänder Dom» Geschichten und andere Prosa, Suhrkamp, Frankfurt am Main 2006
«Matutin» Roman, Suhrkamp, Frankfurt am Main 2008
«Panischer Frühling» Roman, Suhrkamp, Berlin 2014
«Das Klavier auf dem Schillerstein» Prosa, Nimbus, Wädenswil, 2017
«Späte Gäste» Roman, Suhrkamp, Berlin 2020
«Partita» Notate, Nimbus, Wädenswil, 2022

Beitragsbilder © fotomtina

Boglárka Horváth «Begegnung mit Graf Dracul»

Da stehe ich.
Ich stehe da und wache.
Unter meinen nackten Füssen bebt die Welt.
Es ist meine Welt, die bebt.
Erschüttert vom Gedankenhauch an meine Erinnerungen.
Vom blossen Hauch nur.
Allein in der Fremde, stehe ich da.
Ich wache am Tag und … nein … des Nachts wache ich nicht.
Des Nachts gebiert mich die Erde zum Tanz
und es tanzt mich zum Rhythmus meines Herzschlags in meine Erinnerungen hinein. Meine Bilder trinken mich gierig.
Ich lasse mich verschlucken, nicht wissend, wo ich landen werde.
Bis jetzt ging es immer gut – ich kam nach jedem Tauchgang wieder zurück.
Ich tauche tief.
Kalt ist es, dann plötzlich warm.
Ströme, die sich abwechseln, während ich immer tiefer tauche und mich frage,
ob ich nicht Luft holen müsste.
Ich tauche in die Bilder meiner Ängste:
Damals
In Transylvanien.
Als Zeit noch keine Rolle spielte in meiner Welt.
Begegnete ich Graf Dracul.
Am helllichten Tag.
Auf einer steinig-staubigen Strasse kam er mir entgegen.
Nichts als eine Trauerweide in der Landschaft.
Der Wind spielte mit ihren Ästen.
Graf Dracul streifte mir mit seinem Blick die Kleider vom Leib.
Mir war, als ob ich durch seinen Blick hindurch mich selbst sah:
Nackt und bewegungslos stehe ich da.
Aus meinem Auge fliesst eine Träne Richtung Mund.
Ich schlucke sie und schmecke Blut.
Mein Blut. Sein Blut.
Eine ungeheuerliche Kraft durchfährt meinen Leib.
Die Trauerweide erzittert. Ich hätte sie ausreissen können.
Stattdessen breite ich meine Flügel aus und Flügelschlag um Flügelschlag
steige ich höher, immer höher.
Eines Raben gleich erhebe ich mich und ziehe meine Kreise,
während ich Schatten auf mich selbst werfe.
Ich geniesse den Flug.

Und dann plötzlich lande ich sanft.
Die Trauerweide nimmt mich schützend unter ihre Äste und spricht:
«Bald wirst du aufgestanden und losgegangen sein.
Deinen Leib gesäubert,
deine Wunden geleckt,
einen Fuss vor den anderen gesetzt
und deine Spuren hinterlassen haben.»
Ich nehme Abschied von der Trauerweide und stehe auf.
Der steinig-staubige Weg unter meinen nackten Füssen.
Der Blutstropfen Graf Draculs in meinem Herzen.
Da stehe ich.
Ich stehe da und wache.
Unter meinen nackten Füssen bebt die Welt.
Und ich frage mich, warum ich nackt bin und warum ich tief tauche und ob ich nicht Luft holen müsste. Dann diese Stimme, die sagt: «Lass dich verschlucken!»
Ein Rabe, der mit seinen Flügeln den Staub aufwirbelt.
Ich möchte fliegen.
Ich spüre eine Kraft, alsob ich Bäume ausreissen könnte, aber ich kann mich nicht bewegen. Ich kann weder fliegen noch tauchen. Ich komme keinen Schritt vorwärts und ich höre mich schreien.
Doch dann plötzlich lande ich sanft.
Wiegend die Strahlen
Wärmend die Wellen
Berührungen, die
Zärtlich erhellen
Meine Sinne.
Ich weiss wo ich bin
Ich kenn diesen Ort
Hier ist der Anfang
Das Leben, das Wort
Getragen, gewärmt und genährt
Mein Kind sich noch heute verzehrt
Nach mehr
Nach viel
Doch für den Moment
Liegt sie still
die Welt.

Boglárka Horváth stammt aus Siebenbürgen (Rumänien). Im Alter von sieben Jahren floh sie mit ihrer Familie nach Österreich. Sie absolvierte ihre Schauspielausbildung in Wien und Budapest. Sie studiert Dramatherapie und schreibt Texte für Theaterprojekte. Sie ist Mutter von zwei Kindern, lebt und arbeitet in St. Gallen. 

Webseite der Autorin

Beitragsbild © Ana Hofmann

«Literaturbüro Gallus Frei» Texte von Christine Fischer, «Tag der offenen Tür» im Mai 2023

Uuszog useme Interview met em Gallus Frei

– Tue doch kes Büro uf!
– Mou! Gnau das wotti: Es Büro uftue! 
– För was? Ged’s ned scho gnueg Büro?
– Settegi ned, nei!
– Settegi … Meinsch du bsonderegi?
– Jo, mou – das wett ech met eme gwösse Stouz behoupte!
– Was esch öberhoupt es Büro?
– Hmmmh … es Büro esch e Ruum ond e dem Ruum passiert öppis Bestemmts!
– Hesch scho bestemmt, was das Bestemmte söu sy?
– Klar! Meinsch, ech eröffni e Ruum em loftlääre Ruum?!
– Aaaha! Du eröffnisch auso e Ruum em Ruum … esch das rechtig?
– Me chönnt’s eso uusdröcke. Es ged eigentlech gar nüd anders of dere Wäut aus Ruum em Ruum. Wechtig esch, was deby entstoht!
– Äbe! Ond was wär das, wemmer daf frooge?
– Das chan-ech zom jetzige Zytponkt ned gnau ustüütsche. Was feschtstoht: Eso-n-es Büro esch es «work in progress», kes Fertigprodukt!
– Danke! Jetz han-ech aber no e ganz grondsätzlechi Froog: Hesch du dä Ruum besch du dä Ruum?
– DU stöusch Froge … aber mosch entschoudige: Of die verautet Buechhautig wett ech mech hött lieber ned iiloh.
– Wieso ned?
– Wöus för d’Föchs esch! Aber wenn partout en Antwort muess sy: Ech be de Ruum, won’i ha … Haut – no besser : Ech be de Ruum, wo n’ech mer neme. Gnau. Das esch es!
– AHA! Das verstohni. Hättsch’es ou grad vo Aafang a chönne sääge.

Karsten Redmann liest aus seinem Erzählband «An einem dieser Tage».


Ruum ond Zyt

Me seid, s’Alter isch Zyt, wo verstriecht. Isch s’Alter ned au e Ruum, wo mer föllt? Wo mer föllt mit sich sälber? Mit de Art, wie mer s’Läbe aapackt? Klar, me wird au vom Läbe säuber am Chraage packt, gschöttlet und drinumegwirblet. Dem cha niemer entgoh. Ich glaube, s’Läbe isch grösser als ich sälber, viel grösser. En unändlech grosse, vielfältige Ruum. En einzigi grosse Iiladig, mich drininne z’bewege.

«Schön war’s, Gallus, bei der Eröffnung deiners Literaturbüros! Was für ein schmucker Raum, die vielen Bücher, der gute Wein, die Gespräche … in so einem Ambiente dann auch noch vorlesen zu dürfen, das beglückt, weil: fast wie in der eigenen Stube fühlt man sich doch sehr aufgehoben. Alles Liebe dir für all deine Projekte!» Laura Vogt liest aus ihrem Roman «Die liegende Frau». 



Ein Raum muss sein must wachsen un wölben un schalten un walten und hegen un pflegen de Bausch vo die Wörter die Reihen und Ranken die Auswüchs un Schranken must sammeln un schützen must stützen die Pfützen der Tinten und Tanten un aller Verwandten die Lesestoff bunkern un Lesestoff fressen und völlig vergessen dass das was sie lesen mit einem Langbesen kann weggewischt werden im Nu un dann zeterest du nach mehr Poesie dem Niemalsversiegen und Niemalserliegen des sprudelnden Quell im Büchergestell im Kopf und im Herzen die Freud und die Schmerzen ich sag dazu nur: Lang lebe die Literatur.

Alle Texte sind von Christine Fischer. Gallus Frei dankt der Schriftstellerin für die Erlaubnis, die Texte an dieser Stelle zu veröffentlichen.

Beatrix Katharina Langner «Die frösche am bach», Plattform Gegenzauber

Die frösche am bach

Nachts bei den glühenden scheiten am bach
Höre ich dem zwiegespräch der frösche zu
Verschlungene lautpfade durch die stille
Wovon reden sie im wechselgesang,
Verstehen sie den dialekt des feuers,
Wie es im innern des holzes rhythmisch atmet,
Antworten sie ihm, an dem ich mich wärme,
Ein lebendiges wesen, pulsierend im takt
Der elemente, kleine sonnenkraftwerke
Die durch die graue sommernacht glimmen,
Geheimnis des lebens, keim der zerstörung

 

 

Wolken

Aus dem atem der erde
Wachsen wolken
Wächter getürmt
Im lichtgrauen halbrund
Über dem kornfeld
Taumeln die ersten kohlweisslinge
Abgesandte der wolken
Geboren aus dem
Schaum des himmels.

 

 

Am Fluss

Wind spielt mit meinen haaren,
Die von den jahren gebleicht sind
Wie das vorjährige schilf
Während ich mich betrachte
Im spiegel des flusses, der mein bild
Davonträgt auf den eiligen wellen,
Rauschen am ufer die weiden
Und im gesang der nereiden
Der göttlichen schwestern
Verrinnen ungezählt die stunden
Im antlitz der zeit.

 

Beatrix Langner, 1950 geboren, ist promovierte Germanistin, Autorin und Literaturkritikerin und lebt in Berlin. Seit 1990 zahlreiche Rundfunk-Features und Kulturreportagen für DeutschlandRadio Berlin sowie Feuilletons und Kritiken für Süddeutsche Zeitung, Neue Zürcher Zeitung, Deutschlandfunk Köln u.a. Sie veröffentlichte eine Biografie über Jean Paul (C. H. Beck), für die sie 2013 den Gleim-Literaturpreiserhielt, und ist Mitglied des PEN-Zentrums Deutschland.

Rezension von «Der Vorhang» auf literaturblatt.ch

Lisa Elsässer «ich hab dir nichts versprochen» und «Tango», Plattform Gegenzauber

ich hab dir nichts versprochen

nur ein paar schritte
durchs fegefeuer
kalt hatten wir nie

nur eine hand voll 
schnee im licht
wir tranken das wasser

nur eine amsel
gesang vom baum
wir entwurzelten ihn

das feuer brannte
fegte über die worte
funken streunten durch die asche

unsere augen tränten im rauch

 

Tango

Das Ende liegt jetzt näher. Wenn man nach dem Durchschnitt geht, bin ich über die Mitte hinaus. Wenn ich morgen sterben müsste, wäre ich länger schon, ohne es zu wissen, über sie hinaus gewesen. Dann wäre ich also in der Mitte des Lebens schon an dessen Ende gewesen. Aber wer spricht denn jetzt vom Sterben!

Jetzt denke ich manchmal daran. Es wird ein Gefühl, in dem die Freude am Leben und die Gewissheit über das andere miteinander tanzen. Ich stehe daneben und schaue ihnen zu. Sie finden keinen gemeinsamen Takt, sie bewegen sich wie völlig unmusikalische Wesen. Beide haben noch nicht erkannt, dass eines sich dem andern überlassen müsste, damit von einem Tango gesprochen werden könnte. Wer führt wen!

Ich führe ein stinknormales Leben. Ich stehe am Morgen auf und am Abend lege ich mich wieder hin, und nachts träume ich von einer Ameisenstrasse. Wenn ich nicht schlafen kann, träume ich von Schlaf oder ich stehe mitten in der Nacht auf und spreche mit dem Mond. Das ist ganz neu! Die Nachtkerze erwähnt die Hormone, die sie besitzt, und ich zeige ihr die Haare, die am falschen Ort wachsen. Du schöne Blüterin, sage ich, ich blute nicht mehr. Ich höre den wilden Schrei eines Katers. Ich will nicht sterben, vor allem nicht morgen.

Morgen habe ich nämlich einen Termin bei einem Gehörspezialisten. Seit ich meinen Mann verstehe, höre ich nicht mehr so genau, was er sagt. Als ich ihn noch gut hören konnte, stellte ich mich manchmal taub. Unsere Liebe wächst mit zunehmender Entfernung von der Lebensmitte. Ich versuche, ihm vom Mund abzulesen. Das ist die einzige Perspektive, falls es mich übermorgen noch gibt. Dieser schöne Mund ist noch da. Wir hängen die Liebesbriefe magnetisch bestückt an den Backofen oder an den Kühlschrank. Vergiss nicht, steht darauf, mein, steht auch da: Vergiss nicht, mein Hemd zu bügeln. Ich lege den Brief ins Gefrierfach. Ich küsse ihn dann auf den kahlgewordenen Schädel, wenn er, was immer öfters vorkommt, sagt, dass Altwerden ein Skandal sei. Wenn ich frage, woher er denn das habe, sagt er, er wisse das auch nicht mehr und ich sage, dann lass diesen Spruch. Manchmal sitzen wir bei heiterem Wetter abends vor dem Haus, in dem er geboren wurde, in dem ich hinzukam, in dem wir uns nie schlüssig waren, ob das Haus überhaupt ein Dach hatte. Auf jeden Fall hatte es einen Keller.

Er benutzt die stets herumliegende Schiefertafel bloss für Zahlen, beim Jassen oder bei der Einteilung des AHV geschwächten Haushaltsbudgets. 

Ich schreibe zum Beispiel auf die Schiefertafel: Ich bin im Keller. Er weiss dann, dass ich am See sitze, um meine Gedanken, die wie etikettierte Einweckgläser daran erinnern, dass man von ihnen noch Gebrauch machen kann, zu ordnen, um sie berauschen zu lassen, als gelänge das nur noch mit der Kraft des Wassers, an dem man sitzt. Er kommt dann auch an den See und wir betten uns mit gegenseitiger Hilfe auf die Grasnarbe, die das Ende des Sandstrands oder der Anfang unserer Gemütlichkeit ist. Eine Flasche Wein steht zwischen uns. Zwei schöne Gläser, mit Olivenöl beträufelte Brotstücke, mit Pfeffer bestreuter Weichkäse, geviertelte Tomaten, der sinnvolle Gang der Uhr, das Ebenmass der luftigen Kräfte, das Wunderspiel dieses Raums und seiner Zeit. Wir haben uns einmal geschworen, dass wir nur und immer aus richtigen Gläsern trinken werden. Wenn wir sie zerschlagen, was nun auch immer öfters und nicht absichtlich wie früher geschieht, nehmen wir einfach zwei andere aus dem Schrank, die auch nicht mehr neu sind. Es ist fast erheiternd, wie die Gläserlinie im Schrank immer weiter nach hinten rückt, als wäre sie längst über ihre Mitte hinaus und als verschwände auch sie eines Tages einfach irgendwohin.

Ich zitiere ihm aus den Hymnen an die Nacht. Er verweist mich auf die Sonne, die gerade das Wasser belegt wie eine Silberschlaufe ein dunkel eingepacktes Geschenk und ein Schwan zerreisst gerade vor unseren Augen dieses Band, als hätte die verschwindende Göttin es ihm angetragen, in uns die Neugier dafür zu wecken, was sich unter diesem Dunkel der aalglatt gewordenen Fläche verbergen könnte.

Wir essen und trinken, beides sehr langsam und bedächtig. Wir können bleiben, könnten gehen. Der Tag kennt den Abend jetzt nur noch als Feststellung. Eine weitere, kleine Entfernung oder Annäherung und dass es die Momente gibt, wo ich das eine oder das andere vergesse.

Auf dem Nachttischchen liegen die künstlichen Tränen, in kleinen Plastikampullen. Das Auge damit zu treffen, ist eine wahre Kunst. Wenn es gelingt, fühlt es sich an wie früher, als sich der Kummer einen Überlauf erst in der Dunkelheit gestattete. Es ist das gleiche Brennen im Auge. Ich habe vergessen, worum es nicht ging. Ich habe nicht vergessen, worum es ging. Wahrscheinlich Komik, die zum Lachen und zum Weinen war, und jetzt, wo die echten Tränen fliessen könnten, gibt es nichts mehr zu Weinen. Das ist auch komisch.

Er liegt im Bett neben mir, er schläft. Sein Mund steht offen. Ich habe Lust, ihn am Gaumen zu kitzeln. Aber ich bin jetzt weit weg. Ich bin auf Sizilien.

Ich hielt den Fotoapparat in der Hand und erklärte dir, dass mit ihm etwas nicht stimmt. Alles ganz weit weg, sagte ich zu dir. So neu und schon kaputt, futsch, sagte ich und schade. Ich steckte ihn in die Handtasche. Wir hatten uns auch gegenseitig aufgenommen. Eine wunderschöne Blumenwiese, die sich auf der Weiterfahrt auftat, schien es uns wert zu sein, aus dem Auto zu steigen und nochmals den Apparat auszupacken. Dann lachte ich so sehr und du lachtest mit. Später, wenn wieder einmal alles verkehrt und weit entfernt schien, was nahe hätte sein können, sagtest du, dass ich das jetzt nicht verkehrt herum aufnehmen solle, sondern geduldig ein paar Tage warten, um es wieder ganz nah zu sehen.

Es stimmt. Die Tage werden immer länger. Die Tage werden jetzt länger. Man muss abends wieder wartend vor dem Haus sitzen, weil es nichts mehr zu tun gibt ausser warten. Oft steht der Mond schon oben, wenn die Sonne noch nicht unten ist. Sie geht ja nicht unter, aber plötzlich oder langsam macht die Dunkelheit von ihrem Recht Gebrauch, so dunkel wie nur möglich zu sein. Dann zünde ich eine Kerze an und er meint: «Ist das nötig!» Aus Nachbars Garten dringen die Räucherschwaden und Schwaden von verbranntem Fleisch. Man hört Gläser klirren und Worte klappern, schlechterzogene Kinder lärmen und Hunde bellen, schlicht und einfach: ein unerträglich gewordenes Leben voller Leben. Er hat die Beine hochgelagert, damit seine eingebundene Zehe immer sichtbar bleibt, ein Grund, kleinere Dienstbotengänge in die Küche mir zu überlassen. Bis vor kurzem hatte ich einen Mann, der mir abends das Bett abdeckte. Der mir half, das künstliche Gebiss ins Wasserglas zu legen, oder meinte, das wäre sehr schön, wenn ich ihn zahnlos küsste und er keine Bisse eines falschen Gebisses fürchten müsste, der meine geschwollenen Beine mit einer schwungvollen Bewegung aufs Bett hievte und sagte: so das hätten wir. Und am Morgen tat er das alles jeweils in der umgekehrten Reihenfolge und meinte: Du, das wird ein schöner Tag mit uns. 

Einmal, vor langer Zeit, warteten wir in einer Kneipe aufeinander. Ich oben, du unten. Ich ass oben alleine, du unten alleine. Gleichzeitig. Als wir uns am Ausgang zufällig trafen, redeten wir uns sofort ins Wort und verbrachten die Nacht getrennt durch unsere Wand des Eigensinns. Du hinter der Wand, ich vor der Wand. Und einmal – das geht mir jetzt alles durch den Kopf und an deinem schlafenden, offenen Mund vorbei – hast du mir an Weihnachten eine Pfeffermühle geschenkt. Ich war auf Seidenunterwäsche eingestellt und hielt diese klobige Maschine in der Hand. Ich trug die Gans trotzdem auf, weil sie ja schon im Ofen war. Als ich beim Geschenk auspacken dachte, jetzt knistert dann gleich die Seide, war diese Gans schon mindestens eine Stunde im Ofen und zum Schluss konnte ich dann gleich die Mühle – teures Holz, sagtest du – in Gebrauch nehmen, was ja mit der Unterwäsche schlecht gegangen wäre. Nachts im Bett fragtest du mich, ob mir denn die Pfeffermühle gar nicht gefalle. Ich erinnere den Wortlaut meiner Antwort nicht mehr. Es kann sogar so gewesen sein, dass ich gar keine Antwort hatte. Ja – ich glaube, es war so!

Er hat seit einiger Zeit diese blaue Zehe und seit er sie hat, decke ich bei ihm das Bett auf, und ich tue auch alles andere, abends und morgens in umgekehrter Reihenfolge. Aber ich bringe es nicht über die Lippen zu sagen: Du, das wird wieder ein schwieriger Tag! 

Das Blut ist damit beschäftigt, durch das zunehmend verkalkte System die kleinste Zehe noch zu erreichen oder die noch verbliebene Haarwurzel. Und wir sind uns jetzt die gegenseitigen Tröster. Wenn einer den Titel des Films nicht mehr weiss, deutet der andere auf die schlecht durchblutete, blaue Zehe und stellt die mögliche Amputation dem namenlos gewordenen Film gegenüber. Alles wird relativ, sogar der Titel eines Buchs. Wenn ich seine blaue Zehe anschaue, weiss ich beim besten Willen nicht, was eigentlich dazu geführt hat, dass er so viel schlechter durchblutet ist als ich.

Wir waren doch beide dem Rauchen und dem Trinken zugetan. Aber eine blaue Zehe blieb mir bis jetzt erspart.  Als Prävention schauen wir uns am besten keine Filme, keine Theater, keine Bücher mehr an, so müssen wir uns gegenseitig nicht trösten. Und in absehbarer Zeit werden wir eh zu Staub. 

Aber jetzt muss ich schlafen. Die Brote für morgen sind gestrichen. Die Möglichkeit besteht, sie besteht natürlich immer, aber jetzt steht sie uns mit wesentlich mehr Kraft gegenüber als wir ihr entgegenzusetzen vermögen. Es kann sein, dass morgen einer von uns alleine aufstehen, die Brote allein essen muss. Er muss dann sogar alleine leben!

Ich sollte schlafen. Die Dunkelheit begeistert mich. Ich stelle mir vor, wie ich dann ganz allein die Brote esse, das heisst, dass ich mit dieser Vorstellung die Annahme verknüpfe, dass ich ihn, den Mann, mit dem ich lebte, lebe, überleben werde. Ich denke dabei überhaupt nicht an die Statistik, die würde mir zwar sogar Recht geben, nein, ich denke an die Hörgeräte, die auf mich warten, und die es mir wieder ermöglichen, ihm nicht immer alles vom Mund ablesen zu müssen.

Leben ist alles. Die Nacht wird kommen, himmlische Freiheit, selige Rückkehr  

Was für eine begeisternde Vorstellung!

(Erzählung aus «Erstaugust»/ Edition blau/ Rotpunktverlag Zürich / 2019)

Lisa Elsässer «An dich», Erzählung auf der Plattform Gegenzauber

Illustration © leafrei.com

Eva Strautmann «Ohne Titel 1 – 4», Plattform Gegenzauber

Ohne Titel 1

Im Flug der Raben wellt
sich die Luft, sie gräbt
Gedanken in seinen Körper.
Er spreizt seinen Mund und
schreit und hört den
anderen, dessen
Voraussage er verkündet.
Er wirft toll um sich und
schmeißt sich gegen eine
Wand, aus Grau und Stein,
sein Fleisch fängt zu bluten
an und zu sprechen, aber
sein Körper geht weiter,
fliegt und fällt. Er wirft sich
gegen den Himmel, fängt
sein Blau auf und wälzt
sich darin, er speit Feuer
und ist voller bunter
Geschichten vom Vater, der
Mutter, den Geschwistern
und erzählt teuerste
Geschichten, die
nirgendwo zu haben sind.
Dann leckt er seine
Wunden, seine
Auszehrungen und schaut
einmal in die Welt, dort
hört man sein lautes
Lachen und schreit um Hilfe.

Akt Dreierkonstellation © Eva Strautmann
Oil nn Papier Mache 70cm x 100cm

 

Ohne Titel 2

Eine den Blick aufrichtende
Verdichtung,
die in ihrer Bewegung
lichterzeugende Reibung trägt.
Man schaut
gewissermaßen durch ein
geluktes Muster, das
keinen einzigen Weg
freihält,
vorne Liegt das
Blau des Himmels,
als Wasser,
als meerische Möchtegern
des Lebens.

 

Ohne Titel 3

Das Zwischenweltliche,
das Fabrizieren
ohne zu gehen und das
Bewegen im Wörterraum,
es ist eine Maßnahme, es ist
ein Streben gegen den Tod
und dann das Auferstehen,
das Erliegen,
im empfindungslosen,
leeren Gehen
und was für
ein Sehen ins Nichts.

Akt 12 © Eva Strautmann

 

Ohne Titel 4

Das Begehren einmal der
Sprache die Aufmerksamkeit
zu schenken, schleudert wie
ein abgewetzter Schuh durch
den Kopf, eine alte
ausgetretene Stimme, die
sich dabei ihre Bänder
wäscht.
Im Schreiben den Tod zu
hören, ihn zu spüren, seine
Kraft wie ein Dach über dem
Haus wirken zu lassen ist ein
Herausschreiten aus dem
Sein, ein Verlieren und ein
Schmerzkönnen.

Eva Strautmann lebte nach dem Abitur in Großbritannien. Sie ist Autorin, Künstlerin und Dozentin. Während des Studiums der Literaturwissenschaft an der Freien Universität Berlin war sie zunächst als Tutorin und anschliessend als künstlerische Mitarbeiterin an der Hochschule der Künste Berlin tätig. Nach ihrer Tätigkeit als Regie-Assistentin am Berliner Ensemble folgte ein Umzug nach Frankfurt am Main. Im September 2005 hatte sie eine grosse Einzelausstellung in der Heussenstamm – Galerie am Römer in Frankfurt am Main unter dem Titel „Im Schreiben gehen – Im Malen schauen», bei der sie Bilder und Prosa-Texte kombinierte.

Webseite der Künstlerin

Paubry: Neues zum Lehrermangel – Der Zusammenzwang, BLOX, 4

Der Lehrermangel hat sicherlich verschiedene Gründe, aber nicht alle sind im Gespräch. Zum Beispiel der Zusammenzwang. Damit meine ich die Erwartung, dass die Schule regelmässig in der Öffentlichkeit als Einheit auftreten soll. Das erfordert ständige Teamarbeit, wie von Reformern dringend gewünscht, und somit Ablenkung von einem Kerngeschäft, das anspruchsvoll geworden ist.


Die Stofffülle auf Primarstufe hat sich in den vergangenen Jahrzehnten gefühlt verdreifacht. Die Lehrkräfte haben also mit ihrem Kerngeschäft alle Hände voll zu tun. Neun Fächer oder mehr sind unter einen Hut zu bringen, sprich neun ausgefeilte Jahrespläne. Um so erfreulicher ist es, wenn Schulleitungen mitsamt Logopädie, Schulischer Heilpädagogik und Psychomotorik in Inseraten ihre «tatkräftige Unterstützung» zusichern. Leider ist das Augenwischerei. Einerseits deshalb, weil diese Unterstützung erst erfolgt, wenn es Probleme gibt. Bis dahin bleibt die Lehrperson mit ihrem Kerngeschäft wie seit je allein. Andererseits ist diese Unterstützung dann mit einem bürokratischen Aufwand verbunden, der beträchtlich ist. Zum Beispiel muss neuerdings die Lehrkraft bei der Anmeldung zu einer schulpsychologischen Abklärung in drei getrennten Gesichtspunkten angeben, ob das Kind seine Wünsche angemessen äussert, seine Meinung angemessen äussert und seine Kritik an anderen angemessen äussert, wobei die Angemessenheit mit drei bis fünf Graden zu qualifizieren ist.

Die wohlwollende Unterstützung von allen Seiten lenkt also vom Kerngeschäft ab, indem sie zusätzliche Belastung bringt.

Aufschlussreich ist die Unterstützung vonseiten der Schulleitung besonders deshalb, da sie dafür sorgt, dass die Schule als Einheit auftritt. Bei allem Wohlwollen, das die Schulleitung den Lehrpersonen entgegenbringen mag, ändert sich nichts daran, dass sie letztlich Funktionärin der Bildungspolitik ist, sowie eine insgeheime Beschwerdestelle für Eltern und Sonstige. Zu den Disziplinen, die für Einheitlichkeit sorgen, gehören Quartalsbriefe an die Elternschaften mit möglichst vielen Daten zu Anlässen, die belegen, dass die Schule dynamisch am Ball bleibt: Sportanlässe, Adventsanlässe, klassenübergreifende Kleinprojekte, Lager, Exkursionen, Pausenevents, Sonderwochen, bei der ganzen Stufen zusammenwirken, sowie Projektwochen vornehmlich gegen Ende des Jahres, an der alle teilnehmen, vom Kindergarten bis zur sechsten Klasse. Da schlagen die Herzen höher, wenn Frühpubertierende die Kleinsten an der Hand nehmen, die erst halbwegs trocken sind. Ein pädagogischer Kitsch sondergleichen. Die älteren Kinder tun das gewiss nicht von sich aus, sondern auf Anweisung hin. Auch beschweren sie sich, warum man sie andauernd mit den Kleinen mischt. Ein gemeinsamer Sporttag, bei dem sich die älteren Kinder gerne mit Weitsprung und Ballwerfen messen würden, gerät für sie zu läppischen Spielen, wie etwa ein Wettrennen auf Holzskiern quer über den Rasen, wobei sie sich unentwegt um die Kleinen zu besorgen haben. Dieser Kitsch vom Zusammenzwang missachtet Befunde der Entwicklungspsychologie. Diese hebt klar hervor, dass die Bedürfnisse unterschiedlicher Alter in diesem eng bemessenen Zeitraum weit auseinanderklaffen. Diese Wissenschaft empfiehlt ihre beliebige Mischung wohl nur unter Vorbehalt. Und wir wären eigentlich demokratisch verpflichtet, ernst zu nehmen, was die Wissenschaft sagt. So kommt es also wiederholt zu Grossanlässen, mit einer beispiellosen Organisierwut und viel Pressarbeit. Musicalevents oder Zirkusaufführungen. Mit allem, was dazu gehört, vom Poppkorn bis zur Programmgestaltung. Landauf landab wetteifern Landschulen mit prunkvolleren Events. Zwar gibt es dafür pfannenfertige Angebote einzukaufen. Ganze Zirkusse, die mit schulischen Anlässen ihr Geld verdienen. Auch einzelne Spezialisten bieten Workshops an, die auf die Schule zugeschnitten sind. Das mag die Arbeit der Lehrperson auf den ersten Blick erleichtern. Der besondere Rahmen dazu gehört gleichwohl organisiert und betreut: Sonderzeiten, Sonderfahrten der Schulbusse, Verköstigung, Betreuung in Leerzeiten, Kommunikation zu den Fachkräften, die man eigens beizieht, Ausnahmeregelungen mit einzelnen Eltern, Gruppenbildung und die Schwierigkeiten regeln, die damit einhergehen. Dies alles versteht sich derart von selbst, dass man sich fragt, was daran zu kritisieren wäre. Nun ganz einfach: Diese Anlässe lenken andauernd vom Kerngeschäft ab. Das führt mich zu einer Art Formel:

Der Lehrermangel beruht darauf, dass nicht nur das Kerngeschäft in erheblichem Masse ausgebaut wurde. Auch die verpflichtenden Ablenkungen davon, die dazu dienen, die Schule als Einheit zu bekräftigen, hat man aufgestockt.

Die Frage scheint mir berechtigt: Wozu dient diese Einheit? Warum dieser Zusammenzwang, über den es auch keine Grundsatzdebatte gibt? Sofern es sie denn gegeben hat. Offenbar ist es ausgeschlossen, dass eine einzelne Lehrperson mit ihren Klassen eigenmächtig Sonderwochen, Ausflüge und Projekte durchführt. Diese Eigenbrötlerei wird heute rundweg abgelehnt, sie gilt als anfällig für Willkür. Und dafür gibt es einschlägige Beispiele genug. Aber es gab auch unter Lehrkräften vergangener Semester Sonderlinge, die ihr Kerngeschäft hervorragend betrieben. Ihr Beispiel fiel unter den Tisch, nur die willkürlichen Eigenbrötler bestimmten die Politik, die verlangt, dass man Lehrpersonen zu Teams zusammenzwingt. Ich bin überzeugt, dass hierzu keine Daten greifbar waren, die die Willkür von Einzelgängern unter Lehrkräften signifikant belegt hätten. Die Überzeugung von der Willkür von Lehrkräften infolge ihrer Eigenbrötlerei beruht auf der Erfahrung einer ganzen Generation, die für die Reformen verantwortlich zeichnet und sich auf ein miserables Lehrerbild verständigt hat, das wissenschaftlich nicht aufbereitet ist. Eine weitere Formel, die für diese Leute handlungsweisend war, könnte wie folgt lauten:

Lehrpersonen neigen zu Eigenbrötlerei und damit zu Willkür und Machtmissbrauch. Sie tun, was sie wollen. Also gehören sie kontrolliert durch Lernzielmanagement und Teambildung.

Teambildung ist für wirtschaftliches Projektmanagement von der Sache her unabdingbar, während sie im Bereich Bildung keine Notwendigkeit hat. Im wirtschaftlichen Projektmanagement arbeiten unterschiedliche Fachleute zusammen: Programmierer, Designer, Ingenieure. Lehrkräfte sind Pädagogen ohne Spezialisierung. Dennoch wird ihre Zusammenarbeit für hochdringend befunden. Mitarbeiter eines Wirtschaftsprojekts wirken ausserdem nur auf Zeit zusammen, während die Lehrpersonen einer Schule Jahr für Jahr ihre Teamfähigkeit mit den immer gleichen Leuten zu beweisen haben.

Der notorische Zusammenzwang zu Teams ist vermutlich ideologisch bedingt. Zwar gibt es gewiss eine Handvoll Kompetenzen, die sich dank solch gemeinsamer Anlässe abhaken lassen, wie der Lehrplan sie vorsieht. Diese Anlässe sind also hinreichend zu ihrer Erfüllung, aber sind sie auch notwendig dazu? Ich bin sicher, die nämlichen Kompetenzen liessen sich auch anderweitig beschulen. Dieser Zusammenzwang hat meiner Ansicht nach zwei ideologische Wurzeln. Die eine ist in pädagogischen Reformen zu finden, wo man eben diese autoritäre Eigenbrötlerei durch klassenübergreifende Zusammenarbeit zu überwinden hoffte. Ich erinnere mich an Lehrkräfte alter Schule, die sich weigerten, an einer solchen Vermischung mitzumachen. Dies mit der Begründung, man würde so nichts lernen. Das klingt zugegeben wohl eher abgestanden, als weise.

Dennoch ist es heute der Fall, dass der Lernzuwachs solcher Anlässe nicht gemessen wird. Es bleibt bei der Organisierwut, die Kräfte verzehrt, und bei ein paar Rückmeldungen, die man zehn Minuten vor Ende der gemeinsamen Veranstaltung noch flüchtig einzieht. Wie immer geht es in der Praxis darum, dass man Listen überprüfbar abarbeitet, damit die Kirche im Dorf bleibt. So macht man es sich allabendlich vorwurfsfrei auf dem Sofa bequem.

Die zweite Wurzel sehe ich im Unternehmertum als Vorbild für Schulen. Eine Firma tritt einheitlich auf. Das beginnt damit, dass man Lehrpersonen wie im Management üblich vor dem genau gleichen unscharfen Hintergrund abfotografiert und im genau gleichen Winkel zur Kamera gewandt. Dieses Vorbild hält sich hartnäckig, obwohl Fachleute seit Langem das Ansinnen verneinen, man könne Grundsätze der Wirtschaft einfach so auf Schulen übertragen. Dann wäre nach dem Produkt zu fragen, das die Schule als Unternehmen erzeugt. Allerdings untersagt es sich, dass man junge Menschen, die mit einer Handvoll Kompetenzen ausgebildet sind, als Produkt zu behandeln. Auch findet sich in der Wirtschaft kein Unternehmen mit Zwangskunden. Im Übrigen sorgt das Steuerwesen dafür, dass die Einnahmen einer Schule Jahr für Jahr konstant hereinsprudeln.

Die Schule als Unternehmen erachte ich aus diesen Gründen als naiven Unsinn.

Bleibt der einheitliche, möglichst pompöse Auftritt in der Öffentlichkeit, der eine Schule scheinbar zum Unternehmen macht. Mir sind einige Lehrkräfte bekannt, die gerne beim Kerngeschäft blieben, Unterricht und Elternarbeit miteingerechnet, wenn nur dieser ganze Zirkus rund um die Schule nicht wäre.

Anna Kim «Die Zähne», Plattform Gegenzauber

Gilbert träumt: Er sitzt in einem Zugabteil neben zwei Frauen. Sie stellen sich mit einer kleinen Verbeugung vor. Martha sagt, sie heißen Ida und Martha. Ida ist stumm, da sie aus ihrem Mund eine Gebirgslandschaft bläst. Sie hört nicht auf, bis alle Berggipfel vollzählig sind und die Wolken einen Himmel gebildet haben. Martha trägt eine Fellmütze auf dem Kopf. Endlich knarrt Ida: Der Arzt sagt, Sie sind ein Engel. Gilbert: Sprechen Sie mit mir? Martha wiederholt: Der Arzt sagt, Sie sind ein Engel. Sie nestelt in ihrer Handtasche, gibt ihm zwei verschlossene Briefumschläge. Er öffnet sie, beide Karten sind unbeschrieben. Ida und Martha ziehen schwarze Lederhandschuhe an. Sie nähern sich seinem Hals, drücken auf seinen Kehlkopf. Er zieht eine Bratpfanne aus der Hosentasche. Gilbert schlägt auf Idas und Marthas Köpfe. Die Pfanne gewinnt. Das Abteil verwandelt sich in einen Hotelflur. Martha ruft den Aufzug herbei. Der Aufzug stürzt ab.

An einem Sonntagmorgen, die Kopfschmerzen lagen noch im Bett, und auf den Straßen herrschte schüchterner Verkehr, schüttelte Gilbert den Traum ab, einen Wiederkehrer, und beschloss statt einer Dusche ein Sandbad zu nehmen. Er füllte die rote Plastikwanne seiner Kinder mit Vogelsand und warf sich, Rücken voran, in den Sand; die Beine und Füße wälzte er zuletzt. Anschließend schüttelte er sich so lange, bis er den Sand vollkommen losgeworden war, und lief in die Küche, wo er ein hart gekochtes Ei und eine Scheibe Toastbrot in seine Backen schob, ohne zu kauen. Im Badezimmer spuckte er die Ladung in den Wäschekorb, die Reste, die in den Zähnen und Wangen stecken geblieben waren, holte er mit den Fingern hervor und schmierte sie dazu. Er schloss den Korb und lief erneut in die Küche, wo er Kaffee aus der Kanne schleckte. Beim Hinauslaufen packte er ein paar Salamischeiben, etwas Vollkornbrot und eine Gewürzgurke in die Wangen und spie die Mischung auf die Dreckwäsche. Danach lief Gilbert in die Abstellkammer zum Schlafen, in einen dunklen Raum unter der Treppe, der wegen der Heizrohre in der Wand warm war.

Als er erwachte, waren seine Lippen zerbissen, und es war ihm kaum möglich, den Mund zu schließen. Seine Zähne waren gewachsen; Gilbert überprüfte dies mit Hilfe eines Spiegels und eines Lineals. Noch während er sie abtastete, musste er feststellen, dass sie bereits weitergewachsen waren, so beschloss er, sie an einem Tischbein abzuwetzen. Er wieselte aus der Kammer, blieb aber mit einer Wange an der Türklinke hängen. Auch die Backen hatten sich verändert, wieder griff Gilbert zum Spiegel, sie hatten sich in Hängebacken verwandelt, reichten bis zur Kinnspitze und schlabberten bei jeder Bewegung. Gilbert machte dies allerdings nichts aus, im Gegenteil: Sie gefielen ihm besser als vorher. Zufrieden ließ er sie in seinen Händen auf und ab hüpfen, als wären sie Brüste.

Es begann zu dämmern, Gilberts Magen knurrte laut und anhaltend. Auf Salami hatte er keine Lust mehr, wohl aber auf Vollkornbrot. Nach dem mühsamen Abendessen, es bestand aus Sonnenblumenkernen, die er mit seinen Zähnen und Fingern aus den Fitnessbrötchen pulte, verspürte er den Drang zu laufen. Laufen gehörte zu den Dingen, die Gilbert früher stets vermieden hatte: Nie wäre er gerannt, um einen Bus zu erwischen, und schon gar nie aus Spaß. Doch heute drängte es ihn geradezu danach zu rennen, er war besessen von dem Wunsch, die Beine zu bewegen, den Wind in den Haaren und hinter den Ohren zu spüren. Hin und wieder schlich sich der Gedanke an Sonnenblumenkerne ein, dann hielt er Ausschau nach einem weiteren Fitnessbrötchen, schließlich aber gewannen die Füße die Oberhand, und er nahm sie unter die Arme und rannte los, aus dem Haustor, die Straße hinauf zur Busstation und weiter nordwärts bis zum Ende der asphaltierten Wege; er lief auf verlassenen Schienen, die mit Gras überwuchert waren, Gras und Unkraut, rannte auf ein Wäldchen zu, über eine Wiese, und verrannte sich. Da er sich nicht entscheiden konnte, in welcher Richtung er weiterrennen sollte, rannte er auf der Stelle, nur um zu rennen. Als er ein verdächtiges Knacksen hinter sich hörte, floh er in den U-Bahn-Schacht.

Für die Zwillinge vergingen die Stunden im Hort zu langsam, die Mädchen starrten auf die große Uhr mit dem römischen Zifferblatt, hatten aber das Gefühl, die Zeiger bewegten sich nicht, tatsächlich waren sie sich nicht sicher, ob der Zeitzähler überhaupt Zeit zählen konnte. Zudem mussten sie stillsitzen, ein Buch in der Hand war alles, was ihnen gestattet war; die Beine brav übereinander geschlagen, und aus den zusammengebundenen Haaren verirrte sich keine Strähne. Die Aufpasserin war stets auf der Suche nach Briefchen, die die Mädchen einander zusteckten. Vielleicht aber, meinte der eine Zwilling, war sie nicht auf der Suche nach Briefchen, sondern dabei, ihre Nummer zu proben. Nummer, fragte der andere. Siehst du denn nicht, sagte daraufhin der eine Zwilling, dass sie eine Schlangenfrau ist?

An der Haltestelle stiegen die Zwillinge in die Tram und pressten ihre Gesichter an die Glasscheibe: Ein Luftballon versuchte dem Gartenzaun zu entkommen. Plötzlich sprang ein Mann auf die Schienen, der Schaffner zog die Notbremse, der Mann blickte sich verwirrt um und verschwand im U-Bahn-Tunnel, und die Schwestern sprangen aus dem Zug und jagten ihm hinterher.

Es roch nach Berührungen von Regen mit Welt; im Tunnel fanden sich weder Gehwege noch der rasende Wilde, nur Feuchtigkeit und die Gewissheit, dass sich Moder in den Haaren und in der Kleidung niederlässt, um für immer eingenistet zu bleiben, und doch kehrten die Zwillinge nicht um, sondern versuchten, den Mann mit den langen Wangen zu erschnuppern; es schien ihnen, als müsste er duften.

Gilbert war in einem Aufsichtsraum angekommen, in einer kleinen Kammer in einem Seitentunnel. Ein Fernseher stand auf einem Plastiktisch, die Zeitung war zusammengefaltet und hing (gerade noch) über der Lehne. Vorsichtig sah sich Gilbert um, seine Schnurrhaare auf dem Nasenrücken zuckten nicht, also schlüpfte er in den Raum, zog die Tür hinter sich zu, schlüpfte unter den Tisch und schlief ein. Vielleicht hatte es ihn danach gedrängt, aus der Wohnung zu laufen, weil er sich in den Höhlen unterhalb der Stadt sicherer fühlte. Die Dunkelheit machte ihm nicht zu schaffen, im Gegenteil, sie erleichterte das Erkennen: Die Finsternis schärfte seinen Sehsinn. Zudem konnte er endlich seinem Drang nachgehen, mit den Händen und Füßen zu graben, in der Erde zu wühlen, sich auf der Erde und in ihr zu wälzen und Dreck auf sich zu häufen, ohne gesellschaftliche Konsequenzen.

Nach dem Nickerchen begann er in den Nebenhöhlen des U-Bahnnetzes Gänge zu graben, vier Eingänge hatte er geplant, die Nestkammer sollte sich genau einen Meter unter der Erdoberfläche befinden und mit Gras ausgelegt sein, seine Fingernägel, seine Schaufeln, hatten schon begonnen, sich diesem Wunsch anzupassen, sie wuchsen sich aus zu Krallen, und die Hände zu Pfoten, etwas stärker behaart und um einiges kräftiger als zuvor. Zunehmend entfiel ihm die helle Welt, und seine Erinnerungen wurden vom Dunkel verschluckt.

Die Zwillinge hatten sich verlaufen. Seit einigen Tagen irrten sie durch das unterirdische Labyrinth und hatten es schon fast aufgegeben, an die Erdoberfläche zu gelangen, als sie an einer Abzweigung eine Abstellkammer entdeckten. Die hölzerne Tür war hinter einem Vorsprung verborgen; sie war ihnen nur aufgefallen, weil ein eigenartiger Geruch durch einen Spalt in den Tunnel strömte.

Vorsichtig spähten sie in den Raum, konnten aber im Schein des Streichholzes nicht viel erkennen. Um sicher zu gehen, dass im Inneren der Höhle niemand auf sie lauerte, blieben sie eine Weile vor der verschlossenen Tür sitzen und horchten auf verdächtige Geräusche. Erst als sie sich vergewissert hatten, dass ihr Leben nicht in Gefahr war, schlüpften sie in die Futterkammer. Eine große Auswahl an Lebensmitteln gab es nicht, sie ertasteten hauptsächlich Erdnüsse, Haselnüsse, Walnüsse, Sonnenblumenkerne und etwas weiches, fauliges Obst, außerdem tote Fliegen, Würmer und Käfer.

Die Mädchen stürzten sich auf das Essen. Im Schein des vorletzten Streichholzes beschlossen sie, an diesem Ort zu bleiben und auf den Besitzer der Fressalien zu warten; auch wenn er böse auf sie wäre, weil sie seinen Vorrat dezimiert hatten, wollten sie ihn um Hilfe bitten, er musste den Weg ins Freie kennen, vielleicht würde er sie sogar bis zur Erdoberfläche begleiten. Doch bereits nach wenigen Stunden bereuten sie ihre Entscheidung: Nichts deutete darauf hin, dass der Sammler zurückkehren würde, wahrscheinlicher war, dass er diesen Ort aufgegeben hatte, daher das verfaulte Obst und die vielen toten Insekten. Diese Kammer war nicht für die Lebenden gedacht, schoss es ihnen durch den Kopf.

Gerade, als sie sich wieder in die Finsternis wagen wollten, kam ein Schatten durch die Tür gehumpelt, stieß bei ihrem Anblick ein aufgeregtes Pfeifen aus und begann bedrohlich zu knurren.

Sein rechter Unterschenkel stand waagrecht in die Luft, Gilbert war auf seinen Beutezügen von einem Balkon gefallen. Er hatte zwar als Vierbeiner eine beachtliche Geschicklichkeit erworben, war aber gerade deswegen leichtsinnig geworden und hatte sich seine Ziele immer höher und höher gesteckt. Während er von Balkon zu Balkon gesprungen war, mehr ein Affe als ein Nager, war er abgerutscht und dabei mit einem Fuß im Geländer hängen geblieben. Also hatte er die Futtersuche abgebrochen und war in seinen Bau zurückgehinkt. Auf dem Weg in den U-Bahn-Schacht hatte er sich ständig umgesehen, er war das beklemmende Gefühl nicht losgeworden, dass sich ihm ein Raubtier näherte. Nun hatte er zwei Mädchen vor sich, denen die Finsternis sämtliche Farben von Gesicht und Kleidung gestohlen hatte: zwei Geister.

Gilbert machte es sich (so gut es ging) in seinem Nest bequem, krempelte das rechte Hosenbein hoch und untersuchte die Verletzung, die sich, von Schwärze angesteckt, ebenfalls schwarz verfärbt hatte. Das Geisterduo fragte, ob es in der Nähe ein Krankenhaus gebe, aber Gilbert hörte nicht zu, er hatte sich schon über das Bein gebeugt und begonnen, es abzubeißen.

Als er die Operation beendet hatte, reinigte er seine Zähne mit der Zunge und den Fingern. Die Schwestern, die ihm noch immer stumm gegenübersaßen, ignorierte er, akzeptierte aber die Haselnuss, die ihm Nummer Eins anbot. Nummer Zwei trug den abgetrennten Unterschenkel in den Nachbargang und stopfte ihn in einen Spalt, dann säuberte sie Gilberts Nest und streute trockenes Stroh auf die blutdurchtränkte Stelle.

Wie zahm er ist, dachten die Zwillinge, als sie ihm, wie jeden Tag, den Bauch kraulten und ihm Sonnenblumenkerne und Erdnüsse zusteckten. Ließen sie die Nuss auf der Hand, setzte er sich sogar auf ihre Hände, wobei diese vollkommen unter seinem Gesäß verschwanden. Da er sich weigerte mit ihnen zu sprechen – außer einem lauten Pfeifen kam nichts aus seinem Mund –, nannten sie ihn Hallo. Dies war das einzige Wort, auf das er reagierte. Auf die Idee, sich selbst mit Namen vorzustellen, kamen sie nicht. Es reichte ihnen, dass er wusste, wann er angesprochen war.

Sie begleiteten ihn überall hin, auch bei der Futtersuche, da er ständig das Gleichgewicht verlor und sich wunderte, wenn er umfiel. Manchmal versuchte er gar, sich mit dem Phantomfuß am Oberschenkel zu kratzen. Sein wohliger Gesichtsausdruck stand dabei ganz im Gegensatz zum Gelenk, das orientierungslos durch die Luft ruderte. Gilbert schien die Amputation vergessen zu haben, ebenso seinen Unfall; das Einzige, an das er sich erinnerte, waren gute Futterplätze und -verstecke sowie die Mädchen, die ihn mit Nüssen und Streicheleinheiten gezähmt hatten.

Aber auch die Zwillinge vergaßen; sie vergaßen, dass sie vor wenigen Tagen noch verzweifelt versucht hatten, einen Ausgang aus dem Labyrinth zu finden. Nun, da sie ihre genaue Position kannten, genossen sie Gilberts Gesellschaft und dachten gar nicht mehr daran, in ihr Zuhause zurückzukehren. An manchen Abenden wagten sie sich ohne seine Hilfe in die Oberwelt und brachten ihm einen Eimer voll Sand mit, den sie in seine Sandkiste schütteten, damit er ein Sandbad nehmen konnte. Ihr altes Leben vermissten sie nicht; an seinem Haar lasen sie den Wechsel der Jahreszeiten ab, im Oktober verlor es seine Farbe und wurde winterweiß, im Februar dunkelte es nach und wurde wieder hellbraun.

Gilbert wurde ihr Haustier und Anführer, was immer er befahl, sie folgten ihm. Er lehrte sie das Leben im Untergrund, und die Zwillinge revanchierten sich, indem sie ihm seine dreibeinige Existenz so angenehm wie möglich machten – zu angenehm, wie sich herausstellte: Er vergaß vollkommen, seine Zähne zu wetzen. So wuchsen seine unteren Nagezähne aus der Mundhöhle heraus und spiralförmig in seinen Oberkiefer, die oberen Zähne aber krümmten sich um sich selbst und durchstießen sein Kinn.

Kurz bevor Gilbert erstickte, streichelten ihn die ergrauten Zwillinge und stellten sich endlich vor. Du sollst unsere Namen erfahren, sagten sie, wir heißen Ida und Martha.

(Eine längere Fassung erschien 2017 im Erzählband „Fingerpflanzen“, Topalian & Milani)

Anna Kim wurde 1977 in Südkorea geboren, zog 1979 mit ihrer Familie nach Deutschland und schliesslich weiter nach Wien, wo die Autorin heute lebt. Im Suhrkamp Verlag erschienen zuletzt die Romane «Anatomie einer Nacht» (2012) und «Die grosse Heimkehr» (2017). Für ihr erzählerisches und essayistisches Werk erhielt sie zahlreiche Stipendien und Preise, darunter den Literaturpreis der Europäischen Union.

Illustration © leafrei.com

Ana Marwan «Wechselkröte», Plattform Gegenzauber

Ich ziehe mich jeden Tag an, weil jeden Tag eine zwar kleine, aber durchaus realistische Möglichkeit eines Besuches besteht. Der Briefträger kommt oft, und ich nehme die Pakete durchs Fenster entgegen, das Fenster kann ich sofort aufmachen, während die Tür ganz woanders ist, und er läutet nicht zweimal, er geht einfach wieder, während ich zur Tür gehe, und dann muss ich mit dem Zug das Paket von der Post abholen, so mache ich das Fenster, das gleich bei der Glocke ist, auf, aber für ihn ziehe ich mich nur oberhalb der Hüfte schön an, das Fenster fängt bei der Hüfte an, mich zu umrahmen. In dem gebrachten Paket ist meistens eine Bluse für das nächste Mal. Ich bekomme Blusen per Post, weil ich sonst lange mit dem Zug fahren müsste. Ich kaufe Blusen aus einer Gewohnheit, die ich mir angeeignet habe, weil ich einmal Blusen gebraucht habe, um das Gefühl zu haben, dass ich eine Andere, eine Neue bin. Ich bestelle meine Blusen aber keineswegs wegen des Briefträgers selbst, damit er käme, meine ich, obwohl er einer meiner wenigen Besucher ist. Ich zwinge mich jedes Mal, ihm in die Augen zu schauen. Es gab einmal eine Zeit, da sah ich so viele Augen, dass ich sie einfach ausgeblendet habe, wie Stadttauben, jetzt sind es seltene Vögel geworden, die Augen meines Briefträgers sind taubengrau.

Für den Gärtner ziehe ich mich ganz an. Auch der Gärtner gibt mir keine fixen Besuchszeiten. Er kommt, wenn sich eine Lücke auftut, wenn er zufällig vorbeifährt, oder wenn jemand absagt, so haben wir das vereinbart, weil er „voll“ ist und der Einzige, und weil jeder einen Garten hat.

Ich werde wohl nichts Größeres machen wollen, nimmt er an, weil ich „nur ein Mieter“ und „nur vorübergehend“ da bin, sagt er, nachdem er das Unkraut ausgerissen hat – er hat einiges über die vergangenen Wochen in seinen Lücken ausgerissen.

Doch, ich will, dass es wuchert! Wild, gelb und violett, oder auch rot, was meint er? Was hält er von rot? Ich vertraue ihm …

Will ich das wirklich?, fragt er. Dann macht er hier alles schön, ich bezahle es, ich zahle viel, und dann ziehe ich weg. Und dann hat der, der nach mir kommt, hier alles schön. Will ich das?

Ich bin bereit, das in Kauf zu nehmen.

Er wird vorbeikommen.

Ich rufe eine Freundin an und frage wieder, wann sie mich besuchen kommt. Mein Haus ist groß und schön und die Natur auch, nur ist ungeteilte Freude keine Freude. Sie hat so wenig Zeit, und wo ich bin, ist es, leider, sagt sie, so entlegen. Ich habe einen Pool, sage ich. Schön, sagt sie. Der Pool ist nicht schön, der Pool ist voll mit Regenwasser, das Kröten und Gelsen anlockt. Ich muss auf eine Lücke des Poolmanns warten, weil jeder einen Pool hat, und ich früher hätte anrufen sollen. Auch die Freundin hat im Moment keine Zeit. Ich dachte, wir kriegen beide vierundzwanzig Stunden am Tag. Aber in vierundzwanzig Stunden muss sie, sagt sie, und fängt an Dinge, die wichtiger sind als ich, nach Wichtigkeit aufzuzählen. „Ich habe es verstanden“, unterbreche ich sie und füge noch „kein Problem“ hinzu, eine Unart, die ich eigentlich abzuschütteln versuche. Ich habe kein Gehör für fremde Probleme, sagt sie. Sie tut ihr Bestes, sagt sie auch. Leuten ist es egal geworden, wenn ihr Bestes kümmerlich ist, merke ich, sie betonen schamlos ständig, wie das, was sie tun, ihr Bestes ist.

Manchmal denke ich mir am Abend, wenn ich in den Spiegel schaue: Heute war ich umsonst. Ich schaue mich oft im Spiegel an, damit mein Gesicht nicht gänzlich ungesehen bleibt und sich selbst überlassen zu etwas wird, das sich dann nicht mehr geradebiegen lässt.

In der nächsten Lücke des Gärtners wird endlich eingepflanzt.

Er kommt mit ein paar hilflosen Sommerhüten, einem kleinen Sommerflieder, grauem Lavendel und noch sechs anderen Pflanzen, die ich in ihrer Armut oder in meinem Unwissen nicht erkenne. Sie dürsten nach einer anderen Erde als der unseren, die trocken ist und schon aufmacht, um Regen bittend. Kakteen wären besser, sage ich, aber ich vergesse ja, dass der Sommer nur vorübergehend ist.

Es sind nicht genug. Ich wollte, dass es wuchert!, sage ich. Nächstes Jahr werden es doppelt so viele sein, sagt er.

Er rechnet doch mit der Zeit, widersprüchlich ist er. Es macht mich oft wütend, dass man nichts dagegen tun kann, dass Leute sich selbst widersprechen. Das macht mein Widersprechen vollkommen sinnlos, und das ist das, was mich wütend macht – die Sinnlosigkeit.

Alles ist so nackt, ich meine kahl, ich hätte gern einen Baum, sage ich.
Bevor irgendwas halbwegs nach einem Baum ausschaut, ziehen Sie weg, sagt er. Einen erwachsenen Baum hätte ich gerne eingepflanzt.
Das geht schwer, es ist ziemlich wahrscheinlich, dass der sich nicht verwurzelt, sagt er.

Die Sonne pulsiert wie mein Herz, in gleichem Takt. Die Luft wird nur von den flatternden Vögeln bewegt, glaube ich. Sie nisten in den Kletterpflanzen an der Fassade. Unser Haus ist das lauteste. Ich möchte sagen, unser Haus singt, aber meistens zwitschert es nur vielstimmig. Die Vögel sind mäusegrau und unzählig. Sie scheißen schwarz-weiß. Wir sind hier fertig, alles passt schon so, ich gehe wieder hinein.

Ich schaue im Internet nach. Es gibt riesige Bäume zu kaufen in der Hauptstadt, die mehr Verständnis für das Vorübergehende aufbringt, die ich vermisse.

Der Baum wird geliefert, denke ich mir, in all seiner Länge, indezent und deplatziert. Er wird über die Mauern des Gartens ragen, und die Einheimischen mit ihren großen, über die Mauern ragenden Bäumen werden mir mein Überspringen der Wartezeit nicht gönnen, das tut man nicht, einen alten Baum verpflanzt man nicht, der verwurzelt sich nicht, wird gesagt, und ich werde fiebern und zuschauen, wie der Baum allmählich austrocknet und abstirbt, einen verfrühten Tod wird er sterben, und wie wird dann die Leiche beseitigt? Wie ich mich kenne, wird der ausgetrocknete Baum ein- fach in der fremden Erde stecken bleiben, ein Zeichen meiner Ungeduld, meines Übermuts. Es ist mir egal, was die Nachbarn über mich reden, aber ich gönne ihnen keine Schadenfreude; ich werde keinen Baum bestellen.

Ich kann Gott sei Dank gut meine Vorstellung so lenken, dass ich nichts Gröberes tun muss. Alles passt, wir lassen das Ganze dem Himmel ausgesetzt, und ich bestelle einen Sonnenschirm.

Ich gehe eh nicht viel raus, ich habe wenige Gründe rauszugehen, und viele, nicht rauszugehen. Wenn ich rausgehe, setzen sich zehn, zwölf, zwanzig Gelsen auf mich und saugen mein Blut, auch bei strahlender Sonne. Bei Dämmerung ist von Gelsen alles grau. Es gab noch nie so viele Gelsen und Fliegen, hat der Gärtner gesagt, das erfreut die Vögel. Ich verstehe, dass ich für ihr Singen mit Gelsen bezahlen muss.

Ich lüfte selten – ich will die Fenster nicht aufmachen. Ich lüfte nur ab und zu zu Mittag, wenn es am Heißesten ist, damit so wenig Gelsen wie möglich hereinkommen. Es kommen aber Fliegen her- ein und reiben sich ihre Hände. Wenn das Fenster offen ist, zwitschert es, wenn es zu ist, summt es.

Ich ziehe die Bluse, die mir der Briefträger gebracht hat, an und fahre mit dem Zug Gelsennetze be- sorgen. Ich will mich beraten lassen, damit ich das Gefühl loswerde, dass das Internet meine einzige Verbindung zur Außenwelt ist.

Der Winter war lang. Unter der FFP2-Maske ist mein Gesicht faul geworden, ich fühle es. Maskenhaft. Als der Sommer kam (ich nehme an, man lebt jetzt nur sommers ganz), lebte ich aber schon entlegen. Es war einmal so, dass ich immer für jeden ein frisches Gesicht hatte. In der Gruppe hatte ich ein Gruppengesicht. Jetzt hatte ich schon lange kein frisches Gesicht mehr, ich trage nur zwei, drei, wenn ich das Briefträgergesicht, das ich nur für einen Bruchteil des Tages aufsetze, mitzählen kann; alle meine unbenutzten Gesichter faulen ins Unbenutzbare.

Auch meine Zunge ist aus der Übung. Ich sollte mehr mit mir selbst reden. Als ich dem Verkäufer meine Lage schildere, kommen mir meine Sätze wie ein Stück vor, das ich lange nicht gespielt habe – ich irre mich viel, aber ich weiß, nur ich, dass ich es gleich wieder können könnte.

Weiße Gelsennetze sind aus. So schaut geteiltes Leid aus. Ich nehme die schwarzen und hänge die Trauerspitze überall auf.

Wegen der Trauerspitze kann ich jetzt kein Paket mehr entgegennehmen. Beim letzten Mal hat der Briefträger bei der Übergabe kurz meine Hand berührt, seine Augen verschwiegen aber die Absicht, ließen an ihr zweifeln, meine ich. Ich erzähle ihm von der Gelsenplage und frage, ob er warten würde, wenn die Übergabe künftig durch die Türe erfolgt. Er sagt kein Problem, er kann läuten und das Paket bei der Tür abstellen. So. Ich bilde mir ein, er hätte auf mich gewartet, wenn die Spitze weiß wäre. Es wird für mich zunehmend schwer, Dinge zu finden, auf die ich die Schuld für Ereignisse schieben könnte.

Ich gehe in den nächsten Tagen nur im Garten spazieren, dem ummauerten, dem uneinsehbaren, in dem ich einen breitkrempigen Hut tragen kann und die Trauerspitze drüber, bis zum Boden. Ich zeige mich nicht, ich weiß, was normal ist und ich bin anpassungsfähig, ich kann mich sowohl den Gelsen als auch den Nachbarn anpassen, ja, es dauert ein bisschen, der Prozess ist wie bei einer Geburt schmerzhaft und schmutzig, jedoch verhältnismäßig kurz, und bald ist alles vergessen, als ob nichts wäre, und alles selbstverständlich, auch wenn der Unterschied zwischen der Welt der Ungeborenen und der Welt der Geborenen nicht größer sein könnte. Bald also werde ich so wie alle an- deren Frauen meines Alters, die alle jünger sind, die entlegen wohnen, alles mit 40 bunt waschen. Keine Seide wird mehr sorgfältig von mir gebügelt. Was werde ich mit den ganzen Zeitersparnissen anstellen? Nichts, ich werde sie nicht merken, ich weiß, die Zeit lässt sich nicht sparen, man kann sie nur verschwenden, im Sekundentakt.

Wie würde ich leben, würde ich leben?

Es ist heiß, und ich spiele mit dem Gedanken, mich in den Pool zu werfen, in das Regenwasser, oh Gott, nicht um mich abzukühlen, sondern um Ekel zu empfinden und mich dann wieder sauber machen zu können, damit das, wie ich bin, anders ist als das, was ich kurz davor war. Nachdem das zu umständlich ist und es sich Gott sei Dank, wie so vieles Andere, schon in meiner Vorstellung erschöpft hat, möchte ich, vernünftiger, mit dem Regenwasser die Neueingepflanzten gießen, die Armen, als ich merke, dass die Kröte im Wasser von außergewöhnlicher Schönheit ist. Das Internet sagt, es ist eine Wechselkröte. Leicht mit einer Kreuzkröte zu verwechseln, aber selten und teuer und gefährdet und schutzbedürftig. Ich empfinde eine Anwallung von Selbstliebe, weil ich die außergewöhnliche Schönheit gleich bemerkt habe, obwohl sie mit Gewöhnlichem leicht zu verwechseln ist.

Ich rufe bei der Landesregierung an. Die Fragilität der Ökosysteme, die mich davon abhält, das Tier gedankenlos zu übersiedeln, wird von dem Mann, zu dem ich verbunden worden bin, bestätigt. Ich fühle mich gestreichelt. Wir reden über die Kröte. Sind die Marmorflecken an ihrem Rücken deutlich voneinander abgegrenzt? Ich bestätige. Das Wort Marmor klingt für mich beruhigend, merke ich. Bufo variabilis, sagt er. Velut Fortuna, denke ich. Wir beide haben uns gegenseitig unser Wis- sen wachgeküsst, auch manche seiner Tage in RU5 müssen bestimmt vergehen, ohne dass er mit wem spricht, bestimmt muss auch er in den Spiegel schauen, um sich zu fangen. Ich richte in einem Eimer alles so ein, dass sich der Bufo wohlfühlt, ich folge den Anweisungen mit einer eifrigen Dankbarkeit. Ja, ich vermisse die Tage der Kindheit, in denen man noch so lieb war, mir Anweisungen zu geben. Ich werde berichten, wie der Transport gelaufen ist, sage ich beim Abschied. Der Krötenmann sagt: „Das ist aber wirklich nicht nötig.“ Das war unnötig.

Trotzdem ziehe ich ein kleines, dünnes Müllsackerl über die Hand und fische die Kröte heraus. Sie ist so weich, dass sie Zärtlichkeit in mir hervorruft. Ich kann sie nicht anders als sanft halten, auch wenn es mich interessieren würde, wie stark man noch drücken kann, bevor es unwiderruflich zu viel wäre. Wie mich das Unwiderrufliche immer lockt und so tut, als ob es nicht unmöglich wäre!

Es sind zwei Stationen zur Donauau. Im Wald bin ich allein, ich kann wieder das Netz tragen. Ich setze mich auf das Moos und lasse die Kröte frei. Sie scheint mir glücklich, aber nicht dankbar zu sein. Das ist schön, bisher hat meine Barmherzigkeit immer eher im Umgekehrten geendet. Vielleicht sollte ich mich von den Menschen gänzlich abwenden und den Kröten ganz zu. Sie bewegt sich langsam weg von mir, ich bleibe auch dann noch sitzen, als ich sie nicht mehr sehen kann, etwas in mir wehrt sich dagegen, die ganze Fahrt in die entgegengesetzte Richtung mit einem leeren Eimer zu wiederholen. Es dauert mindestens eine halbe Stunde, bevor es für mich möglich ist auf- zustehen. Man hat oft eine ganz falsche Auffassung von dem, was für mich möglich ist. Oft glaubt man, es sei alles eine Sache der Entscheidung, des Willens, aber nein. Nein. Nicht einmal ich selbst kann jedoch sagen, kann berichten, worin die Unmöglichkeit liegt. Irgendwo zwischen dem Gedanken und der ersten Handlung, natürlich, aber dieser Raum ist dunkel und unendlich.

Abends kann ich nicht schlafen, weil unter dem Schlafzimmerfenster ein Kanaldeckel liegt. Und Autos fahren immer drüber. Und Autos fahren immer. Zu jeder Unzeit, was gibt es da so viel zu fahren, auch das würde ich gerne wissen. Ich finde es unfair, dass ich gleichzeitig an einer befahrenen Straße und entlegen lebe, unfair finde ich es, als ob ich ein Kind wäre.

Die Verhütungspille liegt mir schwer im Magen. 14 Tage sinnloser Schutz vor dem Entstehen von Leben, kein Entstehen des Lebens droht. Ich könnte mich ohne Pille und ohne Rock in den Vorgarten legen, der Briefträger würde über mich steigen, anläuten und das Paket ablegen.

Drei Wochen später sagt mein Frauenarzt: „Sie sind schwanger“, sagt er. Das ist unmöglich, sage ich. Ich sage, ich nehme die Pille. Er fragt, ob ich immer alle genommen habe. Ich sage summa summarum. Er fragt, was summa summarum heißen soll. Er sagt, das ist echt ein Wunder. Dann schimpft er mich. Das Wort „verrückt“ fällt. Ich glaube, ich gehe nicht mehr zu ihm, ich werde nächstes Mal zu einem anderen gehen und ihm mein Wunder zeigen; frisch anfangen.

Ich sitze still eine Stunde lang im Schlafzimmer und überlege, wen ich anrufe. Die Freundin würde sich freuen, sie würde meinen, dass ich jetzt auch sehen werde, wie man keine Zeit mehr haben kann, und dass wir uns jetzt öfters treffen können, der Unterschied im Alter unserer Kinder wird ja nicht allzu groß.
Ich rufe meine Schwester an.
Ich sage: Eine Eisenkugel an einer Kette um meinen Fuß.
Sie sagt: Ein Eisennagel, mit dem du dich wieder der Welt anheften kannst.

Meine Vorstellungskraft muss das Metaphorische verlassen, zum Konkreten übergehen. Die kommenden Tage ist mein Leben nichts mehr als eine konkrete Vorstellung.

Ich stelle mir vor, es hat keine Kiemen mehr, es ist weder Fisch noch Fleisch, aber der Arzt meint trotzdem, es sei zu spät, ich hätte zu lange gewartet.

Ich stelle mir vor, alle berühren mein Bauch, absichtlich; alle fragen, was es wird, und meinen dabei das Geschlecht. Alle fragen, ob wir schon einen Namen haben. Nein, nein, sie meinen einen Namen für das Kind!

Ich stelle mir vor, es kommt und ich vergesse mich.

Das Vergessen wird immer wieder kurz unterbrochen, wenn alle, denen ich begegne, ein Urteil fällen, ob es ganz die Mama ist oder ganz jemand anderer.

Manchmal möchte ich vielleicht weinen, aber ich komme nicht dazu. Oder bilde ich mir meinen Wunsch nur ein und ich kann gar nicht mehr weinen? Ist es geboren, ausgesondert, veräußerlicht (wie ein Gedicht?) mein Weinen, mein Kind?

Vielleicht hoffe ich manchmal, dass mir die Last abgenommen wird. Aber ich ahne in dieser Hoffnung eine dunkle Freiheit, die ich nicht überleben würde. Meine Freiheit muss ich von jetzt an innerhalb meiner Zelle denken.

Ich stelle mir vor, es ist eins. Der Mann kommt aus der Arbeit und streichelt das Kind. Sanft und liebevoll, hingebungsvoll. Er ist voller Liebe, das sehe ich. Kein Hass ist ihr beigemischt, das Kind liegt nur da, tut nichts, was man ihm verübeln könnte, es tut nichts. Es ist willenlos. Machtlos auch. Die Liebe des Mannes aber strömt ihm entgegen, sie hat meinen Mann in Besitz genommen, die Liebe, sie benutzt seine Hände und seine Augen nach ihrem Belieben.
Es lacht, wenn man es am Bauch kitzelt. Es ist ihm egal, dass der Mann einen Tag später aus der Arbeit gekommen ist. Auch ich versuche, im Moment zu leben. Im Moment sehe ich vor mir einen verspäteten Mann, der seine ganze Liebe dem Wesen schenkt, dem er egal ist. Ich überlege nicht, mich auf den Boden zu legen, das Hemd zu heben und vom Bauch zu erwarten, dass er zum kitzeln einlädt, nein.

Ich stelle mir vor, mein Gesicht ist ein Muttergesicht, eine nicht abnehmbare Maske.

Ich stelle mir vor, seine Augen sind blau. Reines Blau, das mich stört. Wie ein heiterer Himmel, der in mir schon immer Unbehagen auslöste, wie alles Regungslose. Ich halte meinen Kopf von Natur aus gesenkt, ich mag alle Farben der Erde. Im Blau seiner Augen finde ich nichts Heimisches.

Ich stelle mir vor, es ist vier. Es bricht alle Mauern um mich. „Ja, bist du nicht süß … Wie alt bist du denn?“, wird es von den Nachbarn angesprochen. Und es ist schüchtern, es nimmt meinen Rock wie einen Vorhang und taucht sein Gesicht hinein. Es fühlt sich sicher, schon hier, denn sonst ginge es noch tiefer hinein, unter den Rock, das macht es manchmal, mein Rock sein Bunker. Ich bemit- leide es, weil es sich bei mir am Sichersten fühlt.
Es ist komisch, Mitleid zu sagen, denn ich glaube nicht, dass es leidet, wenn es vier ist. Es weiß noch nicht genug, um richtig zu leiden.

Dann ist es fünf. Es redet schon, viel, zu viel. Ich stelle mir vor, ich bringe ihm eine ausgedachte Sprache bei, die uns verbindet und alle anderen ausschließt. Es ist ja so ein Vorteil für Kinder, wenn sie zweisprachig aufwachsen. Angeblich lernen sie dann auch andere Fächer leichter. Meine Sprache wird über all die fehlenden Wörter verfügen, zum Beispiel ein Wort für das Gefühl der falschen Liebe wird es geben und auch ein Wort für die Mischung aus Dankbarkeit und Verachtung, die man fühlt, nachdem einem jemand, den man als schwächer betrachtet hat, Hilfe geleistet und sich dabei großzügig gefühlt hat, und so weiter, die Grenzen unserer Sprache werden ausgedehnt, seine Welt wird groß.

Leute könnten meinen, es sei komisch, dass ich mein Kind „das Kind“ nenne und nicht beim Namen. Da ich ja so gerne Dinge beim Namen nenne, ist das der Grund, dass es ihnen komisch vor- kommt? Auch sonst werden sie vieles „nicht richtig“ finden.

Es ist acht. Es ist nicht aus meiner Erde. Nichts Heimisches in seiner Stimme. Es redet wie die Nachbarn.

Ich stelle mir vor, ich weiß zu einem Zeitpunkt dann aus Erfahrung, dass ich mich immer dann stark fühle, wenn sich meine Last kurz hebt. Dass die Last ihr eigenes Leben hat und auch Flügel. Dass nichts mein Verdienst ist bzw. wenig.

Ich bin für es da. Ich bin für es gemacht worden. Ohne es wäre ich nicht. Das glaubt es. Unsere Wahrheiten sind gegensätzlich.
Aber es fühlt seine, während ich meine nur weiß, und ich fühle seine, während es meine nicht weiß. Es gewinnt. Es gewinnt immer. Es obsiegt.

Ich stelle mir vor, dass das Vorübergehende zur Gewohnheit wird. Dass ich mir denke: Wenn ich einen kleinen Baum beim Einzug eingepflanzt hätte, wäre er jetzt schon groß, mein Kind könnte in seinem Schatten spielen, schade, dass ich das nicht gemacht habe.

Ich stelle mir vor: Wenn es so viel Platz einnimmt, wie ich in seinem Alter einnehmen wollte, als mein Wollen stärker als mein Können war, kann ich mich gleich aus dem Fenster werfen. Ich bin nicht so stark wie meine Mutter, ich werde nicht standhalten und bald wird dort, wo ich war, es werden.

Es ist zehn. Es erzählt mir, dass die Katze, wenn es sie auf den Schoß nimmt und streichelt, vor Genuss ihre Krallen in seine Oberschenkel bohrt, und dann muss es die Augen zusammenkneifen, um den Schmerz zu ertragen, und ich denke mir danach: Mein Kind ist besser als ich, es nimmt den Schmerz bei seiner Zuneigung in Kauf.

Ich stelle mir vor, es hat mich lieb, und einmal sagt es mir: „Niemand hört so gut zu wie du.“ Und dass ich, indem es mich lobt, erst das Ausmaß meiner Selbstverleugnung merke.

Es ist dreizehn. Ich stelle mir vor, ich nehme es ihm übel, dass sein mittelmäßiges Musizieren für alle mehr wert zu sein scheint als mein eigenes, das von Professor Pokorny einmal „genial“ genannt wurde.

Ich stelle mir vor, ich habe vergessen, dass ich mich schon kurz vor ihm aufgegeben habe.

Ich stelle mir vor, es ist sechzehn und es sieht nur sich und die Welt und seine Zukunft in der Welt, die Welt und sich dicht verflochten, ein starkes Bündnis, das ihm all der verfehlten Erziehung zum Trotz, der schwierigen Mutter zum Trotz, gelungen ist, das Ganze hat es nur stark gemacht, und das Traumatische wird sogar zum Schöpferischen, auch so ausgesprochen, dem Klischee zum Trotz, es ist noch so jung, dass für es noch nichts von dem Lebensbetreffenden ein Klischee ist.

Es ist vierundzwanzig und es zieht aus, und ich schreie und es atmet auf, wie bei der Geburt.

Ich stelle mir vor, es ist vierzig und besucht mich aus Pflichtgefühl, es ist schließlich gut erzogen, es tut so, als ob es mir zuhört, es nickt und Mhm Mhm meint, und ja, ja, es geht ihm auch gut, nein, nix Neues, nix Erzählenswertes, nein, seine Freundin ist noch nicht schwanger, sie konzentriert sich eher auf …

Es ist sechzig und redet mit mir wie mit einem Kind, gedanklich ist es anderswo, es möchte anderswo sein, aber ich lasse es noch nicht gehen, eine meiner Bruthennenkrallen bleibt in seiner Strickjacke hängen, mein Wunsch, dass es bleibt, ist stärker als sein Wunsch, wegzugehen, alle seine Wünsche sind momentan eher farblos und schwach und ich denke mir: Dafür habe ich dich bekommen? Von diesem Besuch im Altersheim haben alle geredet, als ich dich nicht wollte?

*

Es tut sich eine Lücke auf bei dem Poolmann. Einen Tag, bevor der Mann wieder zurück ist, wird der Pool endlich schön. Ich schätze, wir haben gute drei Wochen, in denen wir nackt baden können, dann muss er für die Überwinterung vorbereitet werden. Als ich auf den Poolmann beim Pool warte, sehe ich im Wasser einen Laich. Ich rufe nochmals bei der Landesregierung an. Ich werde mit einem anderen Mann verbunden und muss deshalb die ganze Geschichte von vorne erzählen, was mich ermüdet und verstimmt. Der Poolmann unterbricht mich mit seiner Ankunft. Ich bitte ihn zu warten. Es ist heiß, die Sonne strahlt Hitze und Schwindel aus. Der Mann von der Landesregierung kennt sich nicht so gut aus wie der Mann von Letztens, das Gespräch mit ihm ist zermürbend. Ich höre etwas Zaghaftes in seiner Stimme, als er sagt, der Laich muss nicht geschützt werden. Trotzdem und ohne mich zu bedanken lege ich gleich auf und sage dem Poolmann, es kann alles abgesaugt werden.

«Wechselkröte» ist der Siegertext des Ingeborg Bachmann-Wettbewerbes 2022. literaturblatt.ch dankt Verlag und Autorin für die Erlaubnis, den Text wiedergeben zu dürfen!

Ana Marwan «Wechselkröte», zweisprachig D/SLO, ins Slowenische übersetzt von Amalija Maček, Otto Müller Verlag, 2022, 60 Seiten, CHF 32.90, ISBN 978-3-7013-1307-5

Anna Marwan, 1980 in Murska Sobota/SLO geboren, aufgewachsen in Ljubljana. Studium der Vergleichenden Literaturwissenschaft in Ljubljana und der Romanistik in Wien. Lebt als freie Autorin auf dem Land zwischen Wien und Bratislava und schreibt Kurzgeschichten, Romane und Gedichte auf Deutsch und Slowenisch. Augezeichnet mit dem exil-literaturpreis „schreiben zwischen den kulturen“ 2008, dem „Kritiško sito“ für das beste Buch des Jahres in Slowenien 2022 und dem Ingborg Bachmann-Preis 2022. „Der Kreis des Weberknechts“ (2019, 3. Aufl.) ist ihr Romandebüt. Am 23. Februar 2023 erscheint der neue Roman „Verpuppt“ (aus dem Slow. von Klaus Detlef Olof) im Otto Müller Verlag.

Ana Marwan ist am 23. März Gast im Literaturhaus Thurgau!

Beitragsbild © Una-Rebic