Abbas Khider «Der Erinnerungsfälscher», Hanser

Eine Irrfahrt durch Minenfelder

Abbas Khider balanciert in seinem Roman «Der Erinnerungsfälscher» zwischen Fakt und Fiktion: Die Hauptfigur flieht aus dem Irak und weigert sich schlicht, sich zu erinnern.

Gastbeitrag von Elodie Kolb
Elodie Kolb studiert vergleichende Literaturwissenschaften im Master an der Uni Basel und arbeitet nebenbei als Redaktorin bei der «bz Basel». 

Was am Schluss des neuen Romans von Abbas Khider bleibt, ist ein grosses Misstrauen: Ein Misstrauen gegenüber allem, was die Hauptfigur in «Der Erinnerungsfälscher» erzählt. Denn der aus dem Irak geflüchtete Said Al-Wahid leidet nicht nur an einer Erinnerungsschwäche, sondern füllt die Lücken mit erfundenen Geschichten auf. 

Said sitzt an einem trüben Sommertag im ICE Richtung Berlin, als er vom nahenden Tod seiner kranken Mutter in Bagdad erfährt. Komm so schnell wie möglich her, drängt sein Bruder am Telefon. Statt also wie geplant zu Frau und Kind zurückzufahren, begibt sich Said auf eine Reise in den Osten. Auf Umwegen – direkte Flüge gibt es seit Ewigkeiten nicht mehr – landet er als einziger Economy-Passagier in Bagdad. 

Abbas Khider «Der Erinnerungsfälscher», Hanser, 2022, 128 Seiten, CHF 28.90, ISBN 978-3-446-27274-3

Eine Irrfahrt ist nicht nur die Reise in seine Heimat, sondern auch jene, die er durch sein Gedächtnis unternimmt. Es ist eine homerische Odyssee, wie mit dem Namen von Saids Sohn, Ilias, subtil angedeutet ist. Die Hinrichtung von Saids Vaters viele Jahre zuvor, die Flucht über Jordanien, Ägypten, Griechenland und schliesslich sein Alltag in Deutschland: Saids Erinnerungsfetzen an sein Leben sind wie Puzzleteile. Er weiss weder, welche wahr und welche erfunden sind, noch lassen sich die Fragmente zu einem Bild zusammensetzen.

Erst als er sich als Schriftsteller versucht und an seinem Gedächtnis scheitert, wird ihm seine Erinnerungsschwäche richtig bewusst. Der anstrengenden Arbeit sich zu erinnern, entgeht Said ganz bewusst: Es gibt Orte im Gedächtnis, die sind wie Minenfelder, sie können einen in Stücke reissen. Viel angenehmer — und besser für das Storytelling — sind erfundene Geschichten. Und doch wird die Konfrontation durch die Reise nach Bagdad und das Wiedersehen mit der Familie unumgänglich. 

Das Unvermögen sich zu erinnern, spiegelt Abbas Khider an einzelnen Stellen mit aneinandergereihten Fragen: Hat Saids Mutter nur gearbeitet und nie Zeit gehabt, mit ihren Kindern zu spielen? Oder hat er die Antwort im Labyrinth seines Gedächtnisses verloren? Was den Roman vorantreibt, ist das Misstrauen gegenüber dem unzuverlässigen Erzähler: Welche der erzählten Geschichten über Saids Flucht sind wahr? Oder hat er diese gar gänzlich erfunden?

Weil er sich nicht erinnert, fehlt Said eine Identität: In Deutschland wird er zum Inländer auf Papier, im vom Krieg versehrten Bagdad spürte er die Fremde mächtiger als in den fernen Ländern. Diese Verzweiflung treibt Abbas Khider in der verkrampften Gewohnheit Saids auf die Spitze, immer seinen Reisepass bei sich zu tragen; auch im Supermarkt um die Ecke. 

Mit «Der Erinnerungsfälscher» bleibt Abbas Khider dem Genre der Migrationsliteratur treu und zeigt auf feinfühlige Art, was Krieg und Flucht mit einem Menschen machen können. Er reflektiert Rassismuserfahrungen in Deutschland subtil, teils ironisch: etwa, wenn Said denkt, er sei die Blumenvase in der NGO, ein bisschen Farbe zwischen den weiss gestrichenen Wänden. 

Sprachlich ist der Text ein Seiltanz zwischen Plattitüden und Pathos, der Khider nur teilweise gelingt: Mitunter rutscht er ab in Floskeln, wenn Said auf der Flucht die Städte wechselt, wie andere ihre Hemden. Oder wird pathetisch, wenn sich im Irak die Minutenzeiger nicht über Ziffern, sondern über Wunden drehen. 

Zwischen Floskeln und detailreichen Beobachtungen, zwischen Vergangenheit und Gegenwart, Fakt und Fiktion: Nicht nur die Reise Said Al-Wahids ist eine Irrfahrt, sondern auch der Roman. Eine Odyssee durch ein Leben, die zum Nachdenken über das eigene Erinnerungsvermögen anregt. Und was der Roman hinterlässt, ist die Erkenntnis, dass wir früher oder später alle auf die Minen unseres Lebens treten.

(Dieser Text entstand im Rahmen eines Seminars zur Literaturkritik im Frühjahr 2022 an der Uni Basel, Seminarleitung: Daniel Graf, Literaturkritiker beim Republik Magazin.)

Abbas Khider wurde 1973 in Bagdad geboren. Mit 19 Jahren wurde er wegen seiner politischen Aktivitäten verhaftet. Nach der Entlassung floh er 1996 aus dem Irak und hielt sich in verschiedenen Ländern auf. Seit 2000 lebt er in Deutschland und studierte Literatur und Philosophie in München und Potsdam. 2008 erschien sein Debütroman «Der falsche Inder», es folgten die Romane «Die Orangen des Präsidenten» (2011) und «Brief in die Auberginenrepublik» (2013). Er erhielt verschiedene Auszeichnungen, zuletzt wurde er mit dem Nelly-Sachs-Preis, dem Hilde-Domin-Preis und dem Adelbert-von-Chamisso-Preis geehrt. Ausserdem war er im Jahre 2017 Mainzer Stadtschreiber. Abbas Khider lebt zurzeit in Berlin. Bei Hanser erschienen von ihm «Ohrfeige», «Deutsch für alle» (Das endgültige Lehrbuch), und «Palast der Miserablen».

Webseite des Autors

Beitragsbild © Peter-Andreas Hassiepen

Agnes Siegenthaler «Meret 2» & «Café Krokodil», Plattform Gegenzauber

Ich mag es, wie du Brot schneidest. In schmale, austarierte Scheiben. Du kaufst stets ein dunkles Brot, ein schweres, eins mit viel Gehalt. Auch das mag ich. Du bist nicht interessiert an leichtem, luftigem Material, du willst für mich das Undurchdringliche und Gewichtige. Dieses Brot ist eine höhere Gewalt. Es drückt unter sich eine Kuhle in den kleinen Tisch aus Fichte. Auf die schmalen, schweren Scheiben schmierst du Butter. Nicht zu viel, denn das mag ich nicht. Und auf die Butter Zucker, simplen, raffinierten Zucker, du drückst ihn an die Butter, drückst ihn fest, damit er nicht herunterfällt auf den Fichtentisch. Ich sehe dir dabei zu, wie du das tust. Du bewegst dich langsam, du hast schwere Hände und breite Finger. Du machst alles langsam und mit zu viel Kraft. Du legst das garnierte Brot auf den kleinen türkisenen Teller, du wischst den trotz deiner Mühe heruntergefallenen Zucker vom Tisch, du stellst den Teller mit dem Brot darauf auf den Altar neben die Kerze. Und dann gehst du zur Arbeit. Gehst aus der Küche und erst viele Stunden später kehrst du zurück. In der Zwischenzeit verzehre ich lautlos dein Brot.

 

Café Krokodil

Es gibt nicht viel mehr als ein paar Lichter,
in die Äste der Bäume gehängt
Und darunter
Plastiktische und
Plastikstühle
Direkt auf dem Gras
In der Nacht wird das Gras
feucht.

Es gibt das Tosen
Des Flusses
Es ist ein fremder Fluss
Er macht Furcht.
Doch möglicherweise lässt
er sich besser kennenlernen

An der Mauer
hält sich die Wärme der Sonne fest.
und in der Nacht
legt sie sich
auf die nackten Beine
zwischen die Haare.

Es gibt die Stimmen.
Aber die Worte sind
unmöglich zu verstehen.
Wichtig ist,
dass die Stimmen oft froh sind
und von unterschiedlichsten
Stimmbändern erzeugt.

Tonbänder wiederum
Machen Musik.
Immer wieder dieselbe.
Es gibt bloss vier
Kassetten hier.
Das klingt prekär.
Doch so ist es nicht.

Unter den Tischen
Liegen
gutgenährte
Krokodile und lassen sich über die buckligen Köpfe streicheln.
Sie sind dem Vegetarismus
Verpflichtet
und essen
gern Löwenzahn.

Agnes Siegenthaler, geboren 1988, lebt und arbeitet rund um Bern und hat soeben das Literaturinstitut in Biel abgeschlossen. Für ihre Texte sucht sie nach Zeugenschaft in verlassenen Häusern und bei herumirrenden Steinblöcken. Sie interessiert sich für unwahrscheinliche Perspektiven und für das übersehene Offensichtliche. Im Moment arbeitet Agnes Siegenthaler an ihrem ersten Roman und an verschiedenen kleineren Projekten.

Beitragsbild © Wiebke Zollmann

Fatma Aydemir «Dschinns», Hanser

«Weisst du, wer du bist?»

In ihrem Familienroman «Dschinns» schreibt Fatma Aydemir über eine kurdisch-deutsche Migrantenfamilie, welche sich nach dem Tod des Vaters ihrer grössten Angst stellen muss: der Wahrheit.

Gastbeitrag von Yasemin Sarikus
Yasemin Sarikus studiert Germanistik und Philosophie und ist selbst kurdischer Abstammung. Ihr Grossvater gehörte zu den ersten Gastarbeitern Deutschlands.  

Wir erleben die letzten Minuten von Hüseyin Yilmaz. Der Familienvater wandert in den 1970er Jahren gemeinsam mit seiner Familie als Gastarbeiter nach Deutschland aus. Dort erhofft er sich ein besseres Leben. Doch die Realität holt ihn schnell ein.
Deutschland ist kalt und finster. Hüseyin bleibt nichts anderes übrig, als für seine Familie zu arbeiten und genug Geld zu sparen. Und das tut er, 30 Jahre lang mit einem einzigen Wunsch: Er möchte zurück in die Türkei und sich ein Eigenheim kaufen. Gemeinsam mit seiner Frau Emine und seinen vier Kindern spart er jahrelang auf diesen Traum hin, nun hat er es endlich geschafft. Er steht auf dem Balkon seiner eigenen Wohnung in Zeytinburnu über den Dächern Istanbuls.
Doch Hüseyins Traum hält nicht lange an. Er stirbt, aufgrund eines Herzinfarktes, am ersten Tag in seiner Wohnung. Also reist Familie Yilmaz eine Woche früher als geplant nach, um ihren Vater und Ehemann zu bestatten.

Nach diesem Auftakt stellt Fatma Aydemir nun den Rest der Familie Yilmaz vor. Aydemir widmet den Protagonisten jeweils ein eigenes Kapitel. Somit rücken die Geschichte und der Tod des Vaters Hüseyin in den Hintergrund und es wird dem Leser ein Einblick in das Leben der Kinder und seiner Frau Emine geschenkt.

«Weisst du, wer du bist?» – eine Frage, die sich die Figuren oft stellen. Aydemir präsentiert eine zerbrochene Familie, in welcher jeder seine eigene Identität infrage stellt. So auch Ümit, der jüngste der Familie. Ümit ist homosexuell, das weiss er, seine Familie aber nicht. Wie sollte er ihnen auch so etwas erzählen? In seiner Familie wird über solche Themen nicht gesprochen.

«Aber wie kann es sein, dass Ümit nicht mitbekommen hat, dass seine Mutter kurdisch ist? War sein Vater es etwa auch? Was sind dann seine Geschwister und Ümit selbst?»

Fatma Aydemir «Dschinns», Hanser, 2022, 368 Seiten, CHF 35.90, ISBN 978-3-446-26914-9

Es wird schnell klar, dass die Familie unter kommunikativen Problemen leidet. Mit jedem Charakter spricht Fatma Aydemir bewusst aktuelle Schlüsselfragen an, welche mit der türkisch-kurdischen Kultur einhergehen. Sevda, die älteste Tochter der Familie wird jung von ihren Eltern zwangsverheiratet. Als sie sich dazu entscheidet, sich von ihrem Alkoholiker-Ehemann zu trennen, wird sie von ihren Eltern ausgestossen. Peri, die zweitjüngste, studiert als einzige und zieht nach ihrem Abitur weit weg von ihrer Familie und in ihre Freiheit. Hakan ist Dealer und war deshalb oft schon in, wie er meint, diskriminierende polizeiliche Verfahren verwickelt. Und Emine, die sich all diese Jahre nicht in Deutschland einleben konnte, hat mit Depressionen zu kämpfen, ohne dass sie sich derer bewusst ist. Denn Themen wie Depressionen werden in ihrem Kulturkreis nicht angesprochen.

Schnell wird uns eine Botschaft vermittelt. Aydemir möchte mit ihrer Erzählung aktiv politische und kulturelle Konflikte ansprechen. Es handelt sich um die grossen, fast schon stereotypen Themen: Rassismus, Sexismus, Integration und Gleichgeschlechtlichkeit. 

Das sind sie also, diese «Dschinns». Es sind nicht etwa die Dämonen selbst damit gemeint. Den Begriff «Dschinns» verwendet Aydemir metaphorisch. Über diese wird im islamischen Kulturkreis nicht ohne Hemmungen gesprochen und sie werden von der islamischen Gesellschaft meist gefürchtet, da Dschinns das Böse und Negative repräsentieren. Die Wahrheit, das sind die Dschinns der Familie Yilmaz, die sie schon so lange bekämpfen wollen.

Fatma Aydemir spiegelt mit ihrem Familienroman die Erfahrungen eines Grossteils der Migrantenfamilien Deutschlands wider. Sie schafft es, schwere Konflikte anzusprechen, ohne dabei provokant zu werden. Jedoch sind all dies Klischees. Jede Figur repräsentiert individuelle Konflikte, doch es scheint so, als müssten die Figuren mit diesen hier allzu schematisch umgehen. Und aus dieser Oberflächlichkeit kommt Aydemir auch nicht mehr raus. Manch eine:r fühlt sich vielleicht verstanden und wiederum andere fühlen sich persönlich angegriffen. Aydemir spricht hier viel zu oberflächlich für eine Mehrheit migrantischer Communities. Das macht es sehr schwer für die Leser, vor allem wenn man ähnliche Erfahrungshintergründe teilt, sich mit den Geschichten zu identifizieren. Man muss sich ständig klarmachen, dass es eben doch nicht immer so ist, wie Aydemir schreibt. Und genau deswegen ist gut vorstellbar, dass Aydemirs Roman, vor allem bei eben dieser Gemeinde nicht besonders gut ankommt und vielleicht sogar für Empörung sorgt. Doch vielleicht will Fatma Aydemir eben genau das mit Ihrem Roman bewirken. Wenn dem so sei, ist es ihr allenfalls gelungen.

(Dieser Text entstand im Rahmen eines Seminars zur Literaturkritik im Frühjahr 2022 an der Uni Basel, Seminarleitung: Daniel Graf, Literaturkritiker beim Republik Magazin.)

Fatma Aydemir wurde 1986 in Karlsruhe geboren. Sie lebt in Berlin und ist Kolumnistin und Redakteurin bei der taz. Bei Hanser erschien 2017 ihr Debütroman «Ellbogen», für den sie den Klaus-Michael-Kühne-Preis und den Franz-Hessel-Preis erhielt. 2019 war sie gemeinsam mit Hengameh Yaghoobifarah Herausgeberin der Anthologie «Eure Heimat ist unser Albtraum». Ihr zweiter Roman «Dschinns» wurde mit dem Robert-Gernhardt-Preis ausgezeichnet.

Beitragsbild © Sibylle Fendt

Gui Minhai «Ich zeichne mit dem Finger eine Tür auf die Wand», Leipziger Literaturverlag

Schreiben als Möglichkeit zu überleben. Zeichnet deshalb Gui Minhai mit dem Finger einen Fluchtweg?

Gasttext von Alice Grünfelder, Schriftstellerin, Herausgeberin, Übersetzerin und Literaturvermittlerin

Einmal gefangen, helfen nur noch die Erinnerungen, um im Gefängnis nicht verrückt zu werden. Man mag sich dazu Kritzeleien vorstellen, die seit Jahrhunderten in Zellwände geritzt werden, Kassiber, auf geheimnisvollen Wegen hinausgeschmuggelt, oder Gedichte, wie sie der chinesische Buchhändler Gui Minhai zwischen Oktober 2015 und 2017 geschrieben und seiner Tochter übergeben hat. Nun sind sie unter dem Titel «Ich zeichne mit dem Finger eine Tür auf die Wand» erschienen. Gedichte, die zwischen der Sehnsucht nach einer Heimat, die Schweden für Gui Minhai einmal war, schwanken, aber auch nach einem sicheren Ort oder, wenn dies nicht möglich ist, bleibt nur die Flucht in das Schreiben. Das lyrische Ich in den Gedichten ist wohl deckungsgleich mit dem Autor, wenn es in «Erinnerung an Delsjös Sonne» heisst: «Wer sagt, dass auf die Wand gemaltes Brot nicht satt macht / Wer sagt, dass die Sonne der Erinnerung nicht wärmt.» Und später im selben Gedicht «Meine Erinnerungen lassen langsam meine Schwermut schmelzen.»

Auf dem Rückweg vom Einkaufen verhaftet

Gui Minhai ist einer der fünf Hongkonger Buchhändler, die 2015 fast zur selben Zeit, aber an unterschiedlichen Orten, vermutlich vom chinesischen Geheimdienst entführt wurden. Im Jahr 1989 ging er als Student nach Schweden, blieb nach dem Aufstand auf dem Platz des Himmlischen Friedens dort und wurde schwedischer Staatsbürger. Als er meinte, in der einstigen Kronkolonie Hongkong gebe es eine gewisse Rechtssicherheit, auf jeden Fall mehr Meinungsfreiheit, kaufte er die Buchhandlung von Lam Wing-kee in Hongkong und machte mit Klatsch-und-Tratschgeschichten über Mitglieder der chinesischen Führungselite Geld. Bisweilen zog er sich nach Thailand zurück, weil er dort das Meer «sehen und hören» konnte – so seine Tochter im Vorwort der Gedichtsammlung. Bis Gui Minhai kurz vor seinem Domizil abgepasst wurde, nur noch rasch die Einkaufstüten verstauen konnte – und nie mehr zurückkehrte. Denn, so schreibt er in einem Gedicht: «Auf dem Rückweg vom Einkaufen gerate ich in ein Feuergefecht / Ein Staat zieht ohne Kriegserklärung in die Schlacht gegen einen Menschen.» 

Unglaubliches Entführungsdrama 

Gui Minhai «Ich zeichne mit dem Finger eine Tür auf die Wand», Leipziger Literaturverlag, 2022, 100 Seiten, CHF 24.90, ISBN 978-3-86660-283-0

Was aber geschieht weiter? Kai Strittmatter beschreibt im Nachwort diese Räuberpistole, die so unglaubwürdig klingt, dass er sich selbst immer wieder darüber zu wundern scheint. Ein Schwede also, der aus Thailand in ein chinesisches Gefängnis verschleppt, später im Staatsfernsehen als reuiger Sünde vorgeführt wird. «Man hätte einen Aufschrei erwartet. Es gab keinen.» Gui Minhai «gestand» so einiges und dass er sich in Wahrheit als Chinese fühle. Und doch sind seine Gedichte voller Wehmut, die Erinnerungen an Schweden lassen seine «Schwermut schmelzen», schreibt er in einem Gedicht. Der Autor kam ins Gefängnis, wo er diese Gedichte schrieb, wurde nach zweijährigem Arrest entlassen, um im Januar 2018 nur erneut in einer wahrhaft filmreifen Szene verhaftet zu werden: Gui Minhai suchte im schwedischen Konsulat in Shanghai Zuflucht, dort beschloss man, ihn in Begleitung von zwei schwedischen Diplomaten nach Peking zu einer medizinischen Untersuchung zu schicken, unterwegs wurde der Waggon gestürmt und Gui abermals entführt. Ein weiteres Mal wurde er zur Gefängnishaft verurteilt, dieses Mal für zehn Jahre u.a. wegen der illegalen Weitergabe von Informationen an ausländische Mächte. „Welche Informationen denn“, fragt die Tochter, da er in den letzten Jahren doch im Gefängnis saß? Wieder gab es keinen Aufschrei, konstatiert Kai Strittmatter nüchtern.

Schriftzeichen vom Kerkerboden auflesen 

Peinlich ist das Verhalten der schwedischen Diplomatie, «peinlich» nennt Gui Minhai ein Verhalten, das sich einschüchtern lässt, weil der Weg der Freiheit zu steil ist, weil den Worten Handschellen angelegt werden. 

 

Es wäre peinlich 
Keine Gedichte mehr zu schreiben 
Weil man sie in einen Käfig gesperrt hat. 

Es wäre peinlich
Keine Anthologien mehr herauszugeben
weil die Skandalnachrichten wie Pilze aus dem Boden schießen. 

Es wäre peinlich
An einem Ort, an dem die Sprache zu Stein erstarrt ist
Nicht für seine Worte eingesperrt zu werden.


Gui Minhais Gedichte sind widerständig, aber auch voll der Klage und des Zorns wie im Gedicht «Krieg», das sich allerdings auch in einem anderen Kontext lesen lässt, wenn ein Krieg ohne Widerstand zur Jagd nach dem einzelnen Individuum wird.

Später heißt es, der Krieg sei ausgebrochen
Weil die Enthüllungen die Gewehre bedroht hätten.
Ein Maschinengewehr eröffnet das Feuer gegen einen Stift
Eine Handgranate reißt eine Erzählung in Stücke
Geschrotete Worte fliegen wie Schilf durch die Luft
Auf dem Fluss treiben blutgetränkte Sätze.

So abgeklärt manche Strophen auch klingen, wie z.B. über die Vielgestalt seiner Identität in «Davidshirsch», so sehnsuchtsvoll die Zeilen über seine Wahlheimat Schweden, so brutal und balladengleich dröhnt die Entführung in dem Gedicht «Nacht auf dem Mekong», das ebenso wie auch die anderen Poeme durchaus biografisch zu lesen. Das Ich versucht schreibend, sich gegen die Übermacht einer Diktatur zu wehren, ergibt sich nicht so einfach einer Ohnmacht, auch wenn es dazu die „Schriftzeichen vom Kerkerboden auflesen“ muss. 

 

In jener Nacht glich der Mekong einer schwarzen Giftschlange
Die sich in mich bohrte und bei lebendigem Leib zerriss
Seitdem der Mekong sich meiner bemächtigt hat
Werde ich die nächtlichen Albträume nicht mehr los

Nachts auf dem Mekong, in vollkommener Dunkelheit
Muss ich gebannt auf das Raunen des Flusses lauschen
Das von den Stromschnellen stammt und dem Klang von Schritten,
Gefolgt von Faustschlägen, dann Stricke und schwarze Masken

 

Klar ist Gui Minhais Sprache, von Karin Betz schnörkellos und doch empathisch ins Deutsche übersetzt. Seine Texte hat er bis zu seiner Verhaftung wieder und wieder verworfen. «Sie waren nicht gut genug, pflegte er zu sagen», schreibt seine Tochter und auch, dass es bemerkenswert war, wie er ausgerechnet im Gefängnis zu seiner Stimme fand, «dass eine Institution, die dafür gedacht ist, zu zerstören, stattdessen versehentlich läutert.»  

© LLV/Angela Gui

Gui Minhai, geb. 1964 in der ostchinesischen Stadt Ningbo (südlich von Shanghai), mit 17 Jahren Umzug nach Peking, Studium der Geschichte, erste Gedichte, 1988 Auslands­semester in Göteborg, 1989 nach dem Massaker auf dem Tiananmen unbefristete Aufenthaltserlaubnis in Schweden, seit 1992 schwedischer Staatsbürger, 2004 Umzug nach Deutschland, 2006 Mitglied des Independent Chinese PEN Centre und Kampf für Meinungsfreiheit in der VR China, 2012 Gründung des Verlags Mighty Current Media in Hongkong, der sich auf die Politik der KPCh und auf das Privatleben führender Politiker spezialisierte, 2014 Kauf der Buchhandlung Mighty Current, wurde am 17. Oktober 2015 von seinem Feriendomizil in Thailand in die VR China verschleppt, 2017 aus dem Gefängnis entlassen, am 20. Januar 2018 gemeinsam mit zwei Mitarbeitern des schwedischen Konsulats im Zug auf dem Weg zur schwedischen Botschaft nach Peking von zehn Beamten in Zivil verhaftet, am 10. Februar eine erzwungene Pressekonferenz, in der er sagte, dass er die schwedische Staatsbürgerschaft ablegen wolle – das war das letzte Mal, dass Gui Minhai in der Öffentlichkeit gesehen wurde.

Karin Betz hat in Frankfurt am Main, Chengdu und Tokio Sinologie, Philosophie und Politik studiert, ist Übersetzerin chinesischer und englischer Literatur, daneben auch Rezensentin, Moderatorin und Dozentin. Im Wintersemester 2021/22 wurde ihr die August-Wilhelm-von-Schlegel Gastprofessur für Poetik der Übersetzung an der Freien Universität Berlin verliehen.

Alice Grünfelder, 1964 im Schwarzwald geboren, hat Buchhändlerin gelernt, Sinologie und Germanistik studiert, als Lektorin und Übersetzerin gearbeitet und war mehrmals lange in Asien. Sie hat viele literarische und essayistische Kurztexte in verschiedenen Medien, unter anderem im Wespennest, veröffentlicht und Bücher über fernöstliche Länder herausgegeben. Zuletzt erschienen von ihr der Essay «Wird unser Mut langen?» (2019) und der Roman «Die Wüstengängerin» (2018). Neben anderen Auszeichnungen bekam sie 2019 das Werkjahr der Stadt Zürich zugesprochen.

Samira El-Maawi «Lyrikcollagen», Plattform Gegenzauber

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Samira El-Maawi, geb. 1980 in Thalwil, gelernte Drehbuchautorin, arbeitet als freischaffende Autorin und ist als Coach von Schreib- /und psychosozialen Prozessen tätig, lebt heute im Kanton Zürich.

In der Heimat meines Vaters riecht die Erde wie der Himmel“ ist immer wieder durchsetzt von Sätzen, die wie Mantras auftauchen und manchmal ist ein Satz wie ein Monolith aus einer Seit ganz allein. Eine Geschichte, aus der die Autorin nicht aussteigen kann. Eine Geschichte, die einem bewusst macht, wie zerbrechlich das Fundament einer Zehnjährigen sein kann und wie viel Kraft eine junge Seele aufbringen muss, um zusammenzuhalten, was auseinanderzubrechen droht.

Webseite der Autorin

Beitragsbild © Franziska Reichel

Aleks Scholz «Badetagebuch», Sukultur

Gegen die Bequemlichkeit

Kältebaden bedeutet für den Schriftsteller Aleks Scholz nicht nur tägliche Bewährungsprobe, sondern Eintauchen in die Welt. Sein neu erschienenes Badetagebuch erzählt von Selbstüberwindung und davon, wie sie süchtig macht.

Gasttext von Valentina D. Bischof
Valentina D. Bischof ist gelernte Theatermalerin (EFZ) und freischaffende Illustratorin. Zurzeit Masterstudium der Kunstgeschichte und Literaturwissenschaft an der Universität Basel, ab Sommer 2022 
im leitenden Organisationsteam für das Internationale Literaturfestival Buchbasel tätig.

Es ist ein rauer Januartag in Schottland. Ein Orkan fegt über die menschenleere Meeresbucht Slippery Bay. Waghalsig steigt ein Badender in die sturmgepeitschten Wogen. In sein Badetagebuch notiert er Vor mir die Brandungszone, um mich herum Chaos und Jede kleine Welle tut im Gesicht weh. Das Schwimmen ist anstrengend.

Es bleibt nicht bei diesem einen Mal. Das Kältebaden wird zum täglichen Ritual für den Schriftsteller Aleks Scholz: Ob bei Minustemperaturen, Unwetter, oder in der Nacht – jeder dieser Badegänge wird akribisch als Tagebucheintrag festgehalten.

Was treibt den Badenden an? Ist es der Hormonflash, der beim Kältebaden durch den Körper rauscht und als „kruder Selbstbetrug“ stets von Neuem funktioniert? Oder ist das Verlangen nach Psychohygiene und Schocktherapie Beweggrund für den tagtäglichen Sprung ins kalte Wasser?
Fest steht für Scholz: Wie immer ist die Welt nach dem Baden runderneuert, gereinigt und fantastisch. Wie immer hält dieser Zustand mehrere Stunden an, dann kommen die Schmutzränder wieder.

Aleks Scholz «Badetagebuch», Sukultur, 2022, 128 Seiten, CHF 27.90, ISBN 978-3-95566-135-9

Nur nebenher wird im Text der „Schmutz“ der Welt erwähnt, den es abzuwaschen gilt, um weitermachen zu können. Nichts aber zeigt den Riss an, in dem die reale Welt des Autors verschwindet. So erfahren wir als Lesende wenig – bisweilen zu wenig – vom Leben des Tagebuchverfassers. Es ist gelegentlich die Rede von einem alte[n] Mann mit Damenbart und Bommelmütze, von alten Wunden und von „seit Monate[n] ungewaschene[n] Hosen. Auf seiner einsamen Landzunge an der Schottischen See scheint der Autor, entgegen seinem Wunsch heimisch zu werden, kaum soziale Kontakte zu pflegen.

Die Innenansicht des Tagebuchverfassers erschliesst sich weitgehend aus seinen autobiografischen Erfahrungsberichten vom Kältebaden im Meer. Es sind die überrollenden, harten Wellen, die literarisch den Schlagabtausch mit der Wirklichkeit ersetzen. Umgekehrt wird die Natur zur Projektionsfläche für den Zustand des Badenden. Etwa, wenn das Meer an manchen Tagen so zerzaust ist wie sein Nervenkostüm.

Dass die Natur als Quelle der Bedrohung aber auch der Weltversöhnung betrachtet wird, ist kein neues Phänomen. Seit der verstädterte Mensch so etwas wie Weltschmerz empfindet, sucht er in der ungezähmten Natur nach romantischer Versenkung.
Scholz verbindet in seinem Badetagebuch auf subtile Weise den alten romantischen Weltschmerz mit dem heutigen Bewusstsein für menschengemachte Umweltzerstörung.

Bemüht, die eigene körperliche Handlungsdimension in der Natur neu zu erkunden, kostet es ihn ein paar Wochen Überwindung, dann verschwindet die Gewohnheit, das kalte Wasser als eine Art Feind zu betrachten. Daraus entsteht eine Syntheseerfahrung: Was von draussen wie eine wohl definierte Grenze aussieht, wird für den Schwimmer zur Grauzone. Der Körper transformiert sich im Wasser, das Lebendgewicht wird leicht und der Bodenkontakt verliert sich bis hin zur Orientierungslosigkeit. Der eigene Körper wird beim Kältebaden als Teil der Natur erlebbar gemacht. Auf diese Weise setzt der Badende das Eigene dem Fremden aus und wird zu einem nackten, verletzlichen „Ich“. Dieses „Ich“ taucht ab und streckt die Arme vorsichtig aus, um den Meeresboden abzutasten, ohne ihn zu behelligen – die Berührungen sind eher ein Streicheln als ein Tasten.

Während Scholz in seinen detailreichen Naturbeschreibungen in die Tiefe geht, bleiben die realweltlichen Lebensumstände unausgesprochen. Dadurch droht der Text zuweilen ins Seichte abzudriften. Es sind jedoch Passagen wie diese, die dem Text Sinngehalt verleihen, indem sie eine doppelbödige Lesart anbieten: Es wird immer dann gefährlich, wenn man glaubt, an einem bestimmten Ort sein zu müssen. Solange man [beim Schwimmen] die Kontrolle abgibt, kann nichts passieren.

Als Lesende begleiten wir den Tagebuchverfasser Aleks Scholz ein Jahr lang bei seinen Badegängen ins Meer, wobei jegliche Dramatik in der Repetition verebbt. Der Text will jedoch etwas anderes als Spannungsaufbau. Es geht vielmehr darum, Zeiträume körperlich zu bewohnen und diese im Schreiben einzuverleiben. Das tägliche Kältebaden wird zum eigentlichen Schreibanlass und umgekehrt. Scholz zeigt mit seinem Badetagebuch auf, wie unter Ausschluss von „Welt“ ein Eintauchen in die Welt möglich ist. Jenseits der Komfortzone ist ein Austausch mit der Natur wieder denkbar. Dazu gehört, täglich am gleichen Ausgangspunkt beginnen zu müssen: bei der Selbstüberwindung.

(Dieser Text entstand im Rahmen eines Seminars zur Literaturkritik im Frühjahr 2022 an der Uni Basel, Seminarleitung: Daniel Graf, Literaturkritiker beim Republik Magazin.)

Aleks Scholz lebt in Schottland und ist Astronom mit dem Forschungsschwerpunkt Entstehung und Entwicklung von Sternen und Planeten. Zudem ist er Autor, schrieb für den «Merkur», die «taz», «Spiegel Online» und die «Süddeutsche Zeitung»; 2010 gewann er mit seinem Text «Google Earth» beim Bachmann-Wettbewerb den Ernst-Willner-Preis.

Beitragsbild © Edward Broughton, University of St Andrews

«Eines nachts in Leukerbad» Urs Mannhart

 

In einer von lauen Winden erwärmten Nacht im Juli – schlaflos stehst Du am Fenster, ein kraftloser Halbmond gießt sein Licht über Deinen mitternachtsblauen Schlafanzug – in einer von lauen Winden erwärmten Nacht im Juli, zwei oder drei Uhr muss es sein, blickst Du, unklare Traumbilder noch im Kopf, über die Dächer Leukerbads, blickst hinauf und hinüber zu den groben, den abschreckend anziehenden Felskaskaden, hältst ein Glas Wasser in der Hand und horchst, schaust horchend in diese einladend milde Nacht hinaus, und beim vierten, fünften Schluck aus dem Wasserglas bemerkst Du es: Es hat sich in Deinen Ohren etwas Entscheidendes verwandelt, etwas Bedeutendes ist in Dir herangereift, Du hörst die Dala rauschen, als sprudle ihr Wasser quellenklar vor Deinen nackten Füssen, und das leicht schmatzende Geräusch, das Du jetzt vernimmst, muss tatsächlich von dem staubgrauen Nachtfalter herrühren, der eben vorhin auf dem Fenstersims gelandet ist und dort nun seine vordersten Beine zum Mund führt und sie reinigt und abermals reinigt mit einer rührenden Geduld.

Es dauert eine Weile, bis Du Dich vom Anblick dieses Falters lösen kannst, und als Du wieder hoch in den Himmel schaust, andächtig auf das konzentriert, was Du zu hören vermagst, so ist Dir gar, als könntest Du nicht nur sehen, sondern auch hören, wie der sanfte Nachtwind zwei filigrane, auf den Horizont zulaufende Kondensstreifen allmählich zusammenschiebt zu einer Sache, welche Wolke genannt zu werden verdient.

Du verstehst nicht zu sagen, ob es sich nicht doch um eine nächtliche Täuschung Deines Wahrnehmens handelt, um einen Traum gar, aber dieser neue, dieser erstaunlich klare Gehörsinn zieht Dich unvermittelt nach draußen, zieht Dich hinaus in die Landschaft, in die Natur hinein, in eine Natur, die jetzt nichts anderes mehr ist als eine mächtige, eine unwiderstehliche Einladung der gesteigerten Akustik.

Ohne auch nur das Geringste mitzunehmen, gehst Du aus der Tür, lässt Deine Wohnung hinter Dir, lächerlich fern ist jetzt alles, was bisher wichtig schien; mit unheimlich wachen Sinnen verlässt Du barfuß das schlafende Dorf.

Talabwärts marschierst Du, der mächtig rauschenden Dala entlang, an Inden vorbei, der Rhone entgegen, und noch ehe Du überlegen kannst, biegst Du kurz vor Leuk ab und gehst den Weg hoch, der hinführt zur Bodensatellitenstation Brentjong.

Bald hast Du sie direkt vor Dir, diese sanften, weißen Riesenmuscheln, diese überdimensionierten Halbkugeln, die hier die sonst unbemerkt verhallenden Signale des Universums einfangen. Sieben, acht, neun Stück müssen es sein, je mehr Du Dich umschaust, desto zahlreicher werden diese weißen Monumente des Horchens.

Es versteht sich, dass die Anlage von einem stacheldrahtgeschmückten Maschendrahtzaun umgeben ist. Aber mit Maschendrahtzäunen verhält es sich nicht anders als mit Damenstrümpfen; früher oder später reißt eine Masche, und lange bleibt es unbemerkt.

Tatsächlich findest Du rasch eine defekte Stelle, wo Du hindurchkriechen kannst. Viel Raum bleibt nicht, Du musst gut aufpassen, dass Dein mitternachtsblauer Schlafanzug sich nicht an einem Drahtende verfängt, und vorsichtig ahnend, dass Dich große akustische Glücksmomente erwarten, betrittst Du den Satellitenstationsboden.

Wie locker im Wald verteilte Pilze stehen diese mächtigen, allesamt in einem unbestechlichen Weiß gehaltenen Konstruktionen auf dem Areal verstreut. Manchmal stehen zwei ganz ähnliche dicht beieinander und horchen in die exakt selbe Richtung, als hätten sie sich verbrüdert und würden sich eine schwierige Aufgabe teilen. Andere behaupten eine spezielle Himmelsrichtung ganz für sich allein, scheinen stolz darauf und wollen mit den anderen, die scheinbar nur zufällig auch noch da sind, möglichst nichts zu schaffen haben. Ein ganz großer Empfänger hat seine Schüssel nicht nach Ost und nicht nach West, hat seine Schüssel in überhaupt keine Himmelsrichtung gereckt; senkrecht hoch gehen seine Fühler, und es sieht überhaupt nicht stolz aus, eher so, als sei er dazu verknurrt worden, das hier spärlich fallende Regenwasser aufzufangen.

Schließlich wählst Du unter jenen, die ihre metallenen Körper nach Südosten ausgerichtet haben, den größten aus. Die Kanten der metallenen Treppe schneiden unsanft in Deine nackten Füße, aber das kümmert Dich nicht, Du steigst empor an nachtkühlem Metall, Hände und Fußballen fühlen ein Summen, eine sanfte, metallene Vibration, es ist die Verbindung von Dir und diesem metallenen Leib, die Dich euphorisiert, und als die Treppe schließlich endet, auf einer engen Metallplattform, befindet sich über Deinem Kopf eine runde Luke, gesichert von einem massiven Griff.

Nichts scheint deutlicher als der Umstand, dass Du zu diesem Griff hinlangen, dass Du die Luke öffnen musst. Die Einsicht, dass Du nun direkt unter dem Trommelfell dieser Anlage stehst, erfüllt Dich mit einer wunderbaren Aufregung, und Du versuchst, Dich zu sammeln, um alle Details dieses Moments zu würdigen.

Unvermittelt streift Dich etwas.

Streift Dich, ehe es Dich trifft: Der Lichtkegel einer Taschenlampe ist es, und gleich darauf trifft Dich auch die grobe Stimme jenes Mannes, der eine Uniform der Firma Securitas trägt, trifft Dich die Stimme jenes Mannes, der viele Meter unter Dir steht und furchtbar schlecht gelaunt scheint und Dir erklärt, es sei der Aufenthalt auf dem Gelände strengstens verboten.

Du weißt nichts zu erwidern, blickst ruhig hinab zu diesem uniformierten Mann, der nun den Kegel seiner Taschenlampe wegnimmt aus Deinem Gesicht, vielleicht sogar aus Höflichkeit, er weiß ja sicher, wie arg das blendet.

Du erwiderst noch immer nichts; auch er scheint nichts mehr sagen zu wollen. Vielleicht hat dieser Mann in seinem Leben schon zu viele Male zu ähnliche Worte wiederholen müssen, vielleicht hat er die Kraft verloren, auch nur einen einzigen schon gesagten Satz nochmals zu sagen, jedenfalls schweigt er, wie auch Du schweigst, und jedenfalls fühlst Du, es verbindet Dich jetzt mit diesem Mann eine wunderbare Stille, ein wunderbar stilles Einverständnis, und als Du sicher bist, dass Dich diese Stille innig verbunden hat mit dem stumm in seiner Uniform verweilenden Mann, räusperst Du Dich leise, um ihn nicht zu erschrecken, dann fragst Du: «Möchten Sie nicht hochsteigen, zusammen mit mir die Luke öffnen und es sich anhören, das liebkosende Flüstern des Universums?»

Urs Mannhart, geboren 1975, lebt als Schriftsteller, Reporter und Landwirt in der Schweiz. Er hat Zivildienst geleistet bei Raubwildbiologen und Drogenkranken, hat ein Studium der Germanistik abgebrochen, ist lange Jahre für die Genossenschaft Velokurier Bern gefahren, war engagiert als Nachtwächter in einem Asylzentrum und absolvierte auf Demeter-Betrieben die Ausbildung zum Bio-Landwirt. Für sein literarisches Werk erhielt er eine Reihe von Preisen, darunter 2017 den Conrad-Ferdinand-Meyer-Preis. Im selben Jahr war er zum Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb eingeladen; sein Text stand auf der Shortlist. Sein neuster Roman «Gschwind oder Das mutmasslich zweckfreie Zirpen der Grillen» erschien 2021 bei Secession. Im Herbst 2022 erscheint bei Matthes & Seitz «Lentille. Aus dem Leben einer Kuh»: «Ein Bericht über die komplexen Beziehungsgeflechte zwischen Menschen und more-than-humans, der zeigt, wie bereichernd es ist, Zeit in der Nähe einer wiederkäuenden Kuh zu verbringen.»

Jürg Beeler «Möglicher Anfang eines Romans», Plattform Gegenzauber

1

Nun ist es still geworden um mich, endgültig still, und ich weiß nicht, ob ich diese Stille mag, ob ich für sie geschaffen bin.
Vielleicht bin ich bald einer wie mein Vater. In den letzten Jahren seines Lebens trug er immer dasselbe Sakko, das ihm zu groß war. Jedes Jahr wurde es größer, jedes Jahr sah er darin noch verlorener aus. Bald kannst du darin zelten, sagte ich ihm.

 

2

Mein Vater saß in den Drei Mönchen vor seinem Glas, als wir uns zum letzten Mal sahen. Schnee fiel hier noch nie, sagte er, und das Licht ist dasselbe wie in der Stadt, nur fällt es anders, stiller.

Mein Vater konnte nur mit Mühe lesen, mit dem Alphabet stand er auf Kriegsfuß, wie er mit vielen Dingen im Leben auf Kriegsfuß stand.
Wenn ich mit dem Schulbus an der Tankstelle vorbeikam, winkte mein Vater im blauen Overall. Im Sommer saß er auf einem Klappsessel im Schatten, wartete auf Kunden und hätte gerne den neuesten Lancia oder Alfa Romeo gefahren, doch er bediente lediglich die Zapfsäule und fuhr mit dem Schwamm über die Frontscheibe, wenn ein Kunde es verlangte. Nachher hätte man auch bei klarem Himmel nur Nebel gesehen.

Sobald mein Vater nach Hause kam, stellte meine Mutter das Radio lauter. Es gefiel ihr nicht, dass sie ausgerechnet mit diesem Mann verheiratet war. Einem Mann, der eines Tages in dem Hotel abgestiegen war, in dem sie arbeitete. Es regnete nicht, der Himmel war von urlaubsmäßigem Blau, doch die Gassen der Stadt waren überflutet. Nichts zu machen, er konnte das Hotel nicht verlassen, und die Frau, die am Empfang saß, war zu hübsch, um sich darüber zu beschweren. Zwei Wochen später als vorgesehen kehrte er aus dem Urlaub zurück, eine Ungeheuerlichkeit, die ihn seine dritte Stelle kostete. Doch er war noch jung, zwanzig erst, und machte sich keine Sorgen.

 

3

Meine Mutter kam aus Venedig. Genauer aus Mestre, aber sie sagte immer Venedig. Das ist nicht dasselbe, Venedig und Mestre sind durch einen Damm voneinander getrennt, korrigierte sie mein Vater, um sie zu ärgern, doch meine Mutter ignorierte diesen Damm, wie sie im Leben überhaupt Dämme und Grenzen nicht mochte.
Ich war fünf oder sechs Jahre alt, als wir aus der Stadt ins Dorf zogen. Die Wäsche meiner Mutter trocknete im Freien, und man sah, was sie unter den Röcken trug: verschiedene Farben, leuchtende Farben, und das sorgte für Unruhe im Dorf.

Nie lud ich Kameraden nach Hause ein. Meine Mutter wunderte sich, dass ich nicht Fußball spielte wie andere Jungs. Lass ihn doch, sagte Onkel Karl. Hauptsache, er wird größer.
Für Onkel Karl, der nie Fußball gespielt hatte, war Größerwerden schon viel, mehr konnte man von einem Kind nicht verlangen.
Der Fußball ist eine vollkommen nutzlose Erfindung, doch ich lag gerne auf einem verlassenen Fußballplatz und betrachtete den Himmel. Kaum fixierte ich eine Wolke, erschrak sie und veränderte sich unter meinem Blick, dehnte sich aus, ballte oder teilte sich, ich betrachtete den Himmel, und irgendwann zogen immer Wolken auf.
Der Junge zieht das Unglück an, behauptete meine Mutter. Dasselbe soll auch Fernando Pessoas Mutter von ihrem Sohn gesagt haben, aber das wußte ich damals noch nicht.

Wenigstens einmal im Leben eine Haremsdame sein, notierte dieser große portugiesische Dichter gleich zwei Mal in seinem Buch der Unruhe. Pessoa war ein scheuer Mensch, darum träumte er sich in einen Harem hinein. In seiner Phantasie war er der Scheich, den die Haremsdamen liebten wie eine Mutter ihr Kind, zugleich war er die Haremsdame, die leidet. Er wollte beides sein, Mann und Frau, er wollte als Mann in sich selbst eindringen, in sich als Frau. Er war zu delikat gebaut, zu melancholisch und luzide, um dem Terror eines Ehelebens etwas abgewinnen zu können.
Was ist ein Harem, fragte ich als kleiner Junge Onkel Karl. In einem Harem gehören alle Frauen dir, und das macht das Leben weniger kompliziert.

Onkel Karl war der Jüngste von Vaters Brüdern. In den Augen seiner Frau brauchte er für alles zu lange. Warum muss immer alles so schnell gehen, beschwerte er sich, rückte vor dem Spiegel seine Weste zurecht, zupfte an seinem Schnauzbart und lächelte, als wäre er sehr eingenommen von der Begegnung mit seinem Doppel.
Mach schon, wir kommen zu spät!
Wenn man sich Zeit lässt, ist man überall rechtzeitig, antwortete Onkel Karl und holte zu einer weitschweifigen Erklärung aus, um die Geduld seiner Frau noch ein wenig zu strapazieren.
Bevor ich das Haus verlasse, will ich überprüfen, ob ich wirklich mit meinem Spiegelbild identisch bin. Wäre das nicht der Fall, hätte ich dauernd Meinungsverschiedenheiten mit mir, ich läge mit mir im Streit, und das brächte niemandem Glück. Man sollte keine Freunde besuchen, wenn man nicht im Einklang mit sich selbst ist. Aber heute bringt ja keiner mehr die Geduld auf, solche Dinge zu überprüfen, als wäre völlig egal, wer wir sind.

 

4

Mein Vater saß in seinen letzten Jahren fast täglich in den Drei Mönchen. Ich habe ihn in diesen Jahren nie mehr lachen gehört, aber er lächelte, wenn ich kam.
Warum sagte er, Schnee fiel hier noch nie? In der Ferne sah man die Voralpen, Schnee fiel im Dorf fast jeden Winter. Ich fragte nicht nach, mein Vater war keiner, der sich die Dinge erklärte.
Noch abwesender als sonst schien er, als hätte er sich von dieser Welt bereits verabschiedet. Doch das wurde mir erst in der Erinnerung deutlich, denn die späteren Ereignisse ließen mich unser Treffen anders sehen.
Ich werde die Wohnung verkaufen, sagte er. Ich will noch einmal verreisen, diesmal endgültig. Ich will mein Leben nicht in diesem Nest beenden.
Ich nickte, seit Jahren schon redete er davon, dass er seine Frau, meine Mutter, noch einmal sehen wolle, ich nahm seine Worte nicht sehr ernst. Warum sollte er, der im Leben nie etwas angepackt hatte, sich ausgerechnet jetzt aufraffen?
Ich ahnte nicht, dass es unsere letzte Begegnung sein würde. Mein Vater musste schon länger in den Drei Mönchen auf mich gewartet haben, sein Weinglas war fast leer.
Du weißt es wohl noch nicht, sagte er. Karl ist gestorben.
Onkel Karl?
Im vergangenen Sommer.

Mit einer Trompete flog ich am nächsten Morgen nach Lissabon zurück. Mit Onkel Karls Trompete. Mein Vater hatte sie mit in die Drei Mönche genommen. Sie gehört dir. Karl hat dich immer besonders gemocht.

 

5

Onkel Karl war Trompeter im Orchester des Opernhauses gewesen, der einzige Stadtmensch unter meinen zahlreichen Onkeln. Trotzdem war er häufig bei uns auf dem Land.
Wenn Onkel Karl uns besuchte, war meine Mutter glücklich und nachsichtig mit meinem Vater und mir. Onkel Karl war ein schwerer Mann, doch in seiner Nähe fühlte ich mich leicht. Gespannt beobachtete ich, wie sich Onkel Karl auf einen der morschen Gartenstühle setzte, aber Onkel Karl zauberte, der Stuhl krachte unter ihm nicht zusammen.
Eines Tages nahm mich Onkel Karl mit in die Stadt, wir besuchten den Zoo. Die Flamingos standen auf einem Bein, reglos, den Kopf im Gefieder. Noch nie hatte ich einbeinige Vögel gesehen, doch Onkel Karl schüttelte den Kopf. Sie haben zwei Beine wie alle Vögel, erklärte er.
Was macht das andere Bein, fragte ich.
Es schläft.
Wacht es nie auf?
Doch. Wenn es aufwacht, geht das andere Bein schlafen. Die Beine wechseln einander ab.
Träumt das Bein, wenn es schläft?
Natürlich träumt es. Und wenn es aufwacht, erzählt es dem Flamingo seine Träume, und darum wird es dem Flamingo nie langweilig.

Jürg Beeler anlässlich einer Lesung aus «Die Zartheit der Stühle» auf Schloss Mörsburg

Jürg Beeler, geboren 1957 in Zürich, studierte Germanistik in Genf, Tübingen und Zürich. Arbeitete als Deutsch- und Fremdsprachenlehrer und als Reisejournalist. Lebt in Südfrankreich und Zürich. Für seine literarische Tätigkeit wurde er verschiedentlich ausgezeichnet. Publikationen (Auswahl): «Die Liebe, sagte Stradivari» (2002), «Das Gewicht einer Nacht» (2004), «Solo für eine Kellnerin» (2008), «Der Mann, der Balzacs Romane schrieb» (2014), «Die Zartheit der Stühle» (2022)

Beitragsbild © Barbara Dietl

Ariane von Graffenried «es beginnt mit einem schlüssel, und es endet ohne tür», Laudatio für Nadja Küchenmeister zum Basler Lyrikpreis 2022

Sieben Raben hausen im Glasberg am Ende der Welt. Einst waren die Raben Knaben, doch ein Fluch verwandelte sie in Vögel. Ihre Schwester macht sich auf den Weg, sie zu erlösen. So beginnt das Märchen Die sieben Raben der Brüder Grimm. Die Erlösung hat einen Preis: Das Mädchen muss sich am Eingang des Glasbergs einen Finger abschneiden, denn nur mit einem «Beinchen» lässt er sich öffnen. Erst der Verlust macht die Rückkehr möglich. 

«ohne furcht» macht sich ein Ich in Nadja Küchenmeisters jüngstem Band zum titelgebenden Glasberg auf, «raukt» sich alsbald an den Ort der Herkunft heran, den nordöstlichen Stadtrand Berlins:

ich rauke durch die stadt, entlang des strangs, die bahn
bleibt in der bahn, ich rauke mich heran, ans wuhletal
zwanzig winter weit verdammt, und ich bin wieder da.

Das Gedicht endet mit den verheißungsvollen Worten: «fangen wir an».

Fangen wir an: Es ist mir eine große Freude und Ehre, heute über die Dichtung von Nadja Küchenmeister zu sprechen. 1981 in Berlin geboren, wächst sie in der damals neu entstandenen Großsiedlung Hellersdorf im Wuhletal auf. Während sich in den 1990er-Jahren in der Innenstadt die Kulturen mischen, bleibt Hellersdorf ein vorwiegend ostdeutscher Bezirk, der zum Inbegriff Berliner Plattenbauarmut wird. «Aus dem einstmals angesehenen Wohngebiet war ein Problembezirk geworden. Wer es sich leisten konnte, zog weg», schreibt Nadja Küchenmeister 2013 in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung über den Ort ihres Aufwachsens. Der soziale Abstieg des Bezirks geht mit Brüchen in ihrer Biografie einher, die für ihr Schreiben prägend werden. Aus den Schichten ihrer Vergangenheit holt sie Bild- und Tonmaterial in die Gegenwart und verwebt dieses zu Gedichten. Lyrisches Erzählen wird zu ihrem poetologischen Verfahren.

Nach dem Gymnasium in Hellersdorf studiert Nadja Küchenmeister Germanistik und Soziologie an der Technischen Universität Berlin sowie am Deutschen Literaturinstitut in Leipzig. Heute lebt sie in einem anderen Stadtteil Berlins, schreibt Hörspiele für den Rundfunk und lehrt an der Kunsthochschule für Medien in Köln. Drei Lyrikbände sind von ihr erschienen, Alle Lichter (2010), Unter dem Wacholder (2014) und Im Glasberg (2020). In allen drei vergewissert sich ein Ich seines Daseins, indem es sich erinnert: an die Kindheit, an vertraute Orte oder an eine Liebe. Nadja Küchenmeister entwickelt einen einzigartig narrativen Sog. Wir folgen ihren detailgetreuen, luziden Zeilen, und diese Verfolgung fällt leicht, weil die Gedichte, ähnlich dem Märchen, das Geheimnis evozieren, ohne es unnötig zu verrätseln. Und so begleiten wir das Ich auf seinen Gängen durchs Wuhletal oder nach Zinnowitz, den kleinen Ort an der Ostsee, wo die Dichterin als Kind die Sommer verbrachte. Wir kehren mit ihr zurück im Wissen um die Unausweichlichkeit eines Verlustes in Gestalt eines «Beinchens», «rauken» uns heran ans Viertel oder an «das haus im ortsausgang», gehen durch den Hof, vorbei an der Laterne, der Tischtennisplatte oder Hollywoodschaukel.

Nadja Küchenmeister «Im Glasberg», Schönling, 2020

«es beginnt mit einem schlüssel, und es endet ohne tür», lautet ein Vers aus dem Gedicht es beginnt, wo es endet. Wir drehen den Schlüssel zu Nadja Küchenmeisters lyrischem Schaffen und betreten ihre Gedichte wie die Räume eines verwunschenen Sprachhauses. In ihnen stoßen wir auf Landschaften, Gehörtes und Gesprochenes, auf Geschichte, Ahnen und Gesang, auf W.G. Sebald, die Bright Eyes oder Jürgen Becker, auf ein Nebeneinander aus Erinnertem und Sichtbarem. Wir gehen in diese Gedichte hinein, gehen einen dunklen «flur entlang» und fragen uns: «was kommt dann?» Wir glauben dem «flur sein flursein nicht ganz», lassen uns von «halbschuhen beruhigen, höflich / in reihe, abgetragen» und ahnen schon, dass in der klangvollen Abzweigung, die der Vers gleich nehmen wird, eine streng komponierte Idylle ins Gegenteil kippen kann. Wir schreiten durch einen gegenwärtig-vergangenen Echoraum, tasten uns entlang Terzetten, denen die Dichterin vertraut, und hören Schritte, die zu unseren werden. Wir gehen in ihren Stillleben aus Drehsätzen, Klang- und Sprachspielen eigene Wege, treffen auf Assonanzen, stolpern über verstreute Reime, folgen Enjambements oder einem traditionellen Versmaß, das in einen freien Rhythmus übergeht, um uns in einem weiteren Zimmer wiederzufinden, das in weitere historische, philosophische und poetische Hall- und Denkräume führt.

Es ist Nadja Küchenmeisters Methode, in diesen Räumen von ganz konkreten und alltäglichen Dingen zu erzählen: von Wäscheständern und Kommoden, von überbackenen Nudeln, Resopal und Unterhosen, von Fliesen, Herztabletten, Eduscho Kaffee und Blockschokolade. Von der Zuverlässigkeit der Dinge ist in der abendländischen Tradition des Denkens immer wieder die Rede. Denn in den Dingen lässt sich die Geschichte sehen. Im Gedicht rauperich heißt es: «wer aufräumt, der begegnet sich, wie ungünstig». Das Ich und das Du spiegeln sich in vielen von Nadja Küchenmeisters Gedichten nur noch in den Dingen. Oder, wie die Dichterin selbst es einmal beschrieb: «Ich bin in allem, was mich umgibt, enthalten, sofern ich es in mich aufgenommen habe, und manchmal will es mir sogar scheinen, als erinnerten sich die Dinge auch an mich, als bedeuteten sie mir in ihrer unverrückbaren Existenz, dass sie bleiben, wie sie waren, damit auch ich ein wenig so bleiben darf, wie ich war.»

Doch nicht nur das Ich konstituiert sich in den Dingen. Sie erzählen auch von einem fehlenden Du, von der Anwesenheit in Abwesenheit, etwa beim Betreten eines plötzlich verlassenen Elternhauses:

[…] an der garderobe
hängt dein schwacher abdruck, mantel, ärmel
ohne muskeln, ohne geschichte kann ich nicht

nach hause gehen: ich zähle deine hemden, socken
unterhosen, entwirre die kabel unter dem tisch, schwarze
wurzeln, die keinen anfang und kein ende haben.

Der Versuch, die Herkunft zu ergründen, führt ins Uferlose. Oder in die Dunkelheit der Geschichte. Die Dichterin weiß, dass man dem Erinnern nicht immer trauen kann. «ich erinnere mich ans erinnern, noch mehr erinnere ich mich an nichts», heißt es unsentimental in einem ihrer Liebesgedichte. Nadja Küchenmeisters Poesie des Erinnerns ist gleichzeitig immer eine Reflexion darüber. Sie macht deutlich, dass die Frage, was war, und die, wie es war, keine rein persönliche ist. In einem Gedicht des Zyklus der tod im traum liegt das Ich im Gras, es ist ein Du geworden. Die Hunde jaulen wie Wölfe, und die längst vergessene Schlagerzeile «heißer sand und ein verlorenes land» klingt zaghaft aus dem Radio:

dann trittst du noch einmal über die schwelle … und deine ahnen
heckenschützen unterm lampenbogen, reichen schüsseln und servietten.
ein hauch von lippenstift am glas. sie sprechen heiser, sprechen durchs
papier: verschweigen manches und erinnern nichts, das war ja klar.

Die Bruchlinien, auf die wir in diesen Chroniken des gewöhnlichen Augenblicks stoßen, zeigen, wie sich ein Ich in der Wirklichkeit, in einer historischen Begebenheit, einer sozialen Lage oder einem Schmerz verliert. Das macht diese Lyrik so eindringlich, zeitlos und gegenwärtig.


Wir übergeben diesen Preis an Nadja Küchenmeister für ihre virtuose sprachliche Beobachtungsgabe, für ihr großes und ebenso kritisches Vertrauen in literarische Traditionen, für ihr Gespür für Musikalität, mit dem sie die vertraute Welt der Dinge in den Vordergrund rückt. Im scheinbar Nebensächlichen und Bekannten lauert immer auch das Fremde und Abgründige, dem die Dichterin durch meisterhafte Konkretion begegnet. Wir fühlen den Schlüssel zu ihrem Sprachhaus in unseren Taschen und danken ihr dafür.

Herzliche Gratulation, liebe Nadja Küchenmeister!

Ariane von Graffenried

Beitragsbild © Dirk Skiba

Claudia Gabler «Das Ölfass friert nicht» Laudatio auf Hans Thill zum Basler Lyrikpreis 2021

Neun Lyrikbände und unzählige Übersetzungen und Herausgeberschaften. Daneben verstreute Vertonungen und Hörspiele und ein immenses Engagement als Literaturvermittler – das im Groben ist das Werk von Hans Thill, der 1954 im badischen Baden-Baden geboren wurde und im benachbarten Bühl aufgewachsen ist. Hans Thill hat in Heidelberg Sprachen, Jura, Germanistik und Geschichte studiert, war dort im Jahr 1978 Mitbegründer des Wunderhorn-Verlags und ist heute neben seiner literarischen Arbeit künstlerischer Leiter des Künstlerhauses Edenkoben und der jährlichen Übersetzerwerkstatt „Poesie der Nachbarn“.

In diesem Künstlerhaus Edenkoben in der Pfalz bin ich als Stipendiatin Hans Thill im Jahr 2014 zum ersten Mal persönlich begegnet. Dort ist er der künstlerische Kopf, der konzipiert, kuratiert, moderiert – und Menschen, Kulturen, Sprachen und Institutionen auf versierte, verbindliche, gelassene, man möchte sagen: beglückende Weise zusammenführt. Und dort begegnet man seinem Denken – ein blitzgescheites, kultur-, geschichts-, sprach- und sprechorientiertes Denken, dem bereits eine poetische Kraft innewohnt und das vermutlich gar nicht anders kann, als sich mit dem Dichten zusammen zu tun. Das Ergebnis dieser Fusion ist eine kühn kombinierende, konventionslose, überraschende Lyrik, die mit ihren gescheiten und oft verblüffenden Collagierungen und Kontextzuweisungen Gegebenes, Gedachtes und Erdachtes auf ihre poetische Relevanz, ihre Plausibilität und heil- oder unheilbringende Wirkung hin untersucht.

Weil der untersuchte Gegenstand nicht immer Grund zu Wohlgefallen gibt, stellt Hans Thill in seinen Gedichten die Unlogik oder Logik hinter dem Gegenstand gern heraus oder auf den Kopf. Hier beginnt das Werk eines Spielers, der in heiter-assoziativer, in provozierend fragender und augenzwinkernd in die Irre führender Manier mit allem spielt, das mit ihm in Berührung kommt. Dort lässt er die Zeilen in ihrer Rätselhaftigkeit und in ihrer Schönheit funkeln, manchmal stülpt er ihnen eine Mütze über, manchmal zieht er ihnen den Boden unter den Gänsefüßen weg. Und dann streift der Autor weiter zum nächsten Gedicht, „ein Weiterstolpern“, so Hans Thill über seinen Schreibprozess, „das keine günstigen Winde kennt“ – und also Raum für Abgründe, Bosheiten, aber auch für heilenden Witz und tröstende Leichtigkeit aufmacht.

1985 erschien Hans Thills erster Gedichtband Gelächter Sirenen, der deutlich die Handschrift der Surrealisten trägt, die beiden Weltkriege und ihre Verwundungen klingen nach, werden ad absurdum geführt, ein linker Geist blitzt auf, der aufkommende Bio-Ernährungstrend ist ebenso Thema wie die Not der so genannten Dritten Welt, wie etwa im Gedicht Silvester: „Heute besichtigen die afrikanischen Gäste / eine Müllerzeugungsanlage für bedrohte Völker. / Der Hungerstreik der Kriegerdenkmäler dauert an.“

Das Surreale macht sich hier auf seinen Weg durchs Gesamtwerk des Dichters und auch ein gewisser Till Eulenspiegel ist in diesem Band bereits Teil des Thill‘schen Personals und treibt seinen – manchmal clownesken, manchmal durchaus derben, bitteren – Schabernack. Mit seiner vorgetäuschten Dummheit hat Eulenspiegel die Menschen seiner Zeit demaskiert, seine Rolle in den frühen Gedichten von Hans Thill verweist in diesen Tagen frappierend aufs Heute: „Hochspannungsleitungen sind zwischen die Städte gespannt. / Bürger balancieren mit Hut und Gepäck, / überqueren harte Länder, / wo Eulenspiegel die Gefallenen das Weinen lehrt.“

Hans Thill «Der heisere Anarchimedes»
poetenladen, 2020

Die vorgegebene Naivität; das vermeintlich ahnungslose Fragen; die Rhetorik des Simplen, die auch eine Anti-Rhetorik ist; die Einfachheit von Sprache und Syntax; die archaischen, mythologischen, historischen Themen und Motive, die hier gleichzeitig zeitlos und heutig verortet sind; das Mittelalter und der Barock als immer wiederkehrende Motiv- und Sprachreferenzen; ihr schillernder Clash mit Alltagsthemen und -sprache – mit diesen Mitteln arbeiten die Gedichte von Hans Thill. Diese Einfachheiten und ihre Verquickungen sind aber niemals kokett um die Klugheit des Autors dekoriert, sie sind keine Staffage, sondern wiederum Ausfluss der Thill’schen Spielerei – die nicht mit einstudierten Tricks arbeitet, sondern vielmehr launig, verspielt, dadaistisch, spitzbübisch daherkommt und ganz beiläufig ihre beinah uferlosen kulturellen, sprachlichen, historischen, literarischen Referenzen mit sich führt.

Dass und wie diese die Thill‘sche Lyrik flankieren, kann durchaus als Idee einer bildungsbürgerlichen Poetologie gedeutet werden. Doch ihre Verortung im Gedicht ist es nicht, denn auch ohne ihre kontextuelle Zuordnung sind diese Gedichte les- und goutierbar. Und auch wer ihre Bezüge kennt, ist vor der Feststellung von Vagheiten nicht gefeit, sucht vergeblich nach plausibler Metaphorik, findet Bodenloses und bedenkenlose Berührungen mit dem Banalen. Es ist eine leichtfüßige, manchmal verstörende Rebellion gegen die dichterische Konvention, die die Gedichte von Hans Thill vorlegen. Und sie ist es auch, die ihnen die Treue ihres Verfassers garantiert, der von sich selbst sagt: „Was beim ersten Lesen verstanden wird, interessiert mich nicht.“

Und noch eine weitere Eigenheit des umherstreifenden Witzbolds Eulenspiegel ist bedeutend im literarischen Vorgehen von Hans Thill: die vermeintliche Blödelei nämlich, Redewendungen wörtlich zu nehmen und ihnen innewohnende Irrtümer aufzuspüren. Ein Verfahren, das Thill mit offensichtlichem Vergnügen anwendet und das bei ihm von immensem Sprachwitz begleitet ist, einer generellen Freude am Etymologischen, am Dialektalen, an Wort- und Sprachfehlerfindungen, am Sound und der Phonetik und an der Adaption von literarischen und anderen Fremdtexten (wie etwa im von Urs Engeler 2016 herausgegebenen Bändchen Dunlop, in dem Thill Gedichte von Hölderlin, Trakl, Petrarca und anderen fortschreibt) und das auch seinen aktuellen Gedichtband Der heisere Anarchimedes, erschienen 2020 im Leipziger Verlag Poetenladen, kennzeichnet. Nimmt man die 2014 bei Matthes & Seitz erschienene Kurzprosasammlung Das Buch der Dörfer, die auch als Lyrikband gelesen werden kann, in die Liste auf, ist Der heisere Anarchimedes bereits der neunte Lyriktitel von Hans Thill – und auch er trägt wieder einen programmatischen Titel.

Doch benennt dieser nicht nur das Programm eines einzelnen Bands, sondern das eines gesamten Werks: Der „Anarchimedes“, dieses rebellische Mischwesen, das seit rund vierzig Jahren etablierte Bedeutungssysteme zerlegt, scheint wie sein Autor und Titelgeber bald tonlos und vermittelt rau und dennoch entschieden die ebenso poetischen wie ohnmachtsvollen Gedanken um die Endlichkeit der menschlichen Existenz in einer verkommenen Welt, die hinter den vermeintlich simplen Szenarien dieser Gedichte steht. Im ersten dieses Bands schreibt Thill: „Der Simplon sagt / die Vögel frieren nicht / sie haben Beine, dünn / wie Streichhölzer. / Die Streichhölzer frieren nicht / sie setzen ein Ölfass / in Brand. / Das Ölfass friert nicht / es ist der verstorbene Faun / aus verstorbenen Meeren.“

Greift man zum Hörer und ruft Hans Thill an, stellt man schnell fest, dass auch in seiner Stimme eine gewisse Heiserkeit steckt. Doch wer glaubt, diese Stimme sei die Stimme von einem, der die Sprache bereits abgetragen hat und irgendwann ein weißes Blatt Papier vorlegt, der erkennt seinen Irrtum spätestens, wenn der Dichter erklärt, dass er dichte, „um seine Ungeduld loszuwerden“, wenn also spätestens klar wird, dass wir es hier, bei aller Heiserkeit, mit einem Ruhelosen zu tun haben, einem Ungestümen, einem immer Denkenden, einem immerzu Dichtenden, der um weitere dichterische Ideen, um weitere Rebellionen, Spielereien und Schönheiten so ganz und gar nicht verlegen ist.

Für diese Ideen, Schönheiten und Rebellionen, für diese Ungeduld und ihre Blüten, und auch für diese Heiserkeit, möchten wir dir, lieber Hans Thill, den Basler Lyrikpreis 2021 verleihen – der dir aus, wie man jetzt gern sagt, „pandemischen Gründen“ um ein Jahr verspätet zugeht. Herzlichen Glückwunsch!

Claudia Gabler

Beitragsbild © Dirk Skiba