Tim Krohn «Herr Brechbühl sucht eine Katze», Galiani

Als mich die Presseabteilung des Galiani Verlags via Mail fragte, ob ich Tim Krohns «Herr Brechbühl» weiterlesen konnte, schrieb ich zurück: «Ich bin an den letzten Seiten – und voller Regungen. Doch genau das, was passieren soll. Ich wanke zwischen heller Begeisterung, grossem Erstaunen, tiefer Bewunderung und leisem Entsetzen.

Begeisterung

Ich mag Menschen mit verrückten Ideen, solche, die mit Begeisterung andere begeistern. Ich mag von einer Idee besselte Menschen, erst recht dann, wenn es keine Verlierer zu geben scheint. Die Idee, eine Romanserie zu schreiben, über 777 menschliche Regungen über mindestens 3000 Seiten, auf 10 Bände angelegt, muss schon sehr begeistern, sowohl für den Autor wie als Lesende, um am Text zu bleiben. Das ist kein Experiment, sondern eine Expedition mit ungewissem Ausgang. Das schafft Tim Krohn nur, wenn die Personen, deren Leben er im ersten Band zu stricken beginnt, mich als Leser berühren, wenn sie mich etwas angehen, wenn ich ihnen nahe komme, wenn ich das Gefühl habe, dass die Welt dort meine Welt ist, in der ich lebe, auch wenn sie mir nicht immer gefällt. Wer im Vorsatz des Buches alle 777 menschlichen Regungen liest und sich vor Augen führt, dass sie alle dem Autor zugetragen wurden und dieser sie zu Überschriften seiner Kapitel machte, darf sich über die Richtung der Geschichte nicht wundern. Diese 777 menschlichen Regungen sind die Welt, oder zumindest ein aufschlussreicher Teil dessen. Ich schrieb Tim Krohn, nachdem ich sein Buch gelesen hatte: «Ein gutes Buch. Ein guter Anfang. Wäre es ein Menü, wärs doch erst der Apéro, ein Versprechen, um die Neugier zu entfachen. Wer schaut im TV Teil 2, wenn Teil 1 kein Versprechen gibt. Und wer liest noch 2500 Seiten, wenn er nicht gepackt ist? Bei Donna Leon ist es Blut, das nach jedem Buch versickert.» «Das sind schöne Zeilen, tausend Dank! Ich bin auch ganz hin und her gerissen von gefühlen wie Dankbarkeit – all den Menschen gegenüber, die, wie du, so und kompliziert und herzlich auf mein Spiel eingegangen sind -, Aufregung, denn die ersten Reaktionen auf das Buch sind so herzlich wie oder noch herzlicher als die auf die einzelnen Geschichten -, und zudem etwas bange, denn wenn auch die ersten 200 geschrieben sind, so liegt – sofern bis zuletzt Menschen mitspielen – noch ein langer Weg vor mir und meiner Familie.»  Hier entsteht mehr als ein Buch, mehr als eine Buchserie. Hier entsteht Begegnung. Was nicht heissen soll, dass in dieser Form des Entstehens das Heil läge. Es ist die Einmaligkeit. Tim Krohn begeistert mich mit und schafft es mit meiner Regung Nr. 149′ dass das Buch, die Serie auch ein bisschen mein Buch, meine Serie ist.

Erstaunen

Wer liest heute noch Bücher mit mehr als 1000 Seiten? Meist nur Fantasy-Freaks und Unerschrockene. Langeweile wird missverstanden. Die Buchserie «Menschliche Regungen» braucht lange Weile. Keine Clips, kein Shot, kein Klick.
Die Italienerin Elena Ferrante siedelt ihren Vierteiler «Meine geniale Freundin» in Neapel an: Mord, Suizid, Gewalt, Schulden, Betrug, drastisch, dramatisch, unglaublich. Tim Krohns Haus steht im Kreis 5 in Zürich. Die Ingredienzien seiner Geschichte sind nicht ungleich, nur die Dosis um einiges geringer, dafür viel näher und weniger unglaublich. Das Einzige, was nach «grosser Kelle» riecht, ist die Absicht, die Geschichte 10 Bände lang werden zu lassen. Und das grosse Erstaunen ist jenes, wenn ich am Ende des ersten Bandes doch das Gefühl habe, ein Buch zu Ende gelesen zu haben. Ich werde nicht stehen gelassen, weil ich 460 Seiten lang bestens unterhalten wurde.

Bewunderung

Ich bewundere den Mut, auch wenn die Finanzierung auf viele Schultern verteilt wurde und man viel versprochen bekommt. Kommissar-Brunetti-Fans, die den 30. Fall eines Kommissars in Venedig lesen, könnten auch ein paar Folgen auslassen oder auch nur ein paar aus der langen Reihe lesen. Aber wer würde mit «Menschliche Regungen Band 5» beginnen, wenn bereits 1500 Seiten «vergangen» sind?
Das braucht auch Mut für einen Verlag wie Galiani in einer Zeit, in der Zahlen drücken und kaum mehr jemand Geld verdient mit Literatur. «Tim Krohn bringt alle Geschichten in einen grossen Zusammenhang und liefert mit den daraus entstehenden Serien-Romanen eine grosse Chronik der Gefühle unseres Zeitalters.»
Bewunderung für die Sprache. Tim Krohns Sprache überzeugt mit Klang, Sound. Das Buch ist voller Poesie, auch wenn einzelne Settings wenig Romantik ausstrahlen. Tim Krohns Sprache ist farbig, nicht bunt, nicht grell. Tim Krohn schreibt in die Tiefe des Menschen, lässt gleichzeitig vieles offen, was auch nötig ist, wenn ich für 3000 Seiten «gebucht» sein soll.

Entsetzen

Während des Lesens befremdete mich die Häufigkeit von Sexszenen. Es wird ganz ordentlich gerammelt, ein Umstand, den ich einem normalen Genossenschaftshaus im Kreis 5 selbst in Zürich in der Intensität nicht zusprach. Wer aber während des Lesens noch einmal einen Blick auf die 777 menschlichen Regungen im Vorsatz des Buches wirft und sich die Mühe machen würde, alle eingesandten Begriffe, die auf den ersten Blick etwas mit Sexualität zu tun haben könnten, zu markieren, wundert sich nicht. Auch das ein Spiegel der Zeit, den Tim Krohn mit seinem Buch nicht korrigieren muss.

Er lohnt sich, das Abenteuer einzugehen. Lesen Sie!

Elisabeth Binder in der Buchhandlung klappentext Weinfelden

Seit ein paar Jahren überrascht und erfreut die Buchhandlungen klappentext in Weinfelden mit einer feinen Buchauswahl, viel Engagement und Fantasie und einem erstaunlichen Buch-Kulturprogramm. Am Mittwoch, 11. Januar, um 19.30 Uhr, liest Elisabeth Binder aus ihrem neusten Buch «Ein kleiner und kleiner werdender Reiter».

Elisabeth Binder ist Gründerin des 2014 erstmals in Erscheinung getretenen amato-Verlag in Unterstammheim im Kanton Thurgau. In ihrem in diesem Verlag erschienen Buch «Ein kleiner und kleiner werdender Reiter» unternimmt die Autorin Spaziergänge, Annäherungen an den Ort ihrer Mutter Kindheit. Ein Dorf an der Thur, das zwischen den Kriegen und danach durch Textilindustrie Bedeutung erlangte und diese in der Gegenwart wieder verlor. img_0210Elisabeth Binder sucht nach dem, was von ihrer Vergangenheit und derer des unscheinbaren Dorfes geblieben ist, nach Bildern aus der Kindheit, Spuren ihrer Familie und all jener Menschen, die damals das Leben des Dorfes ausmachten. Zugegeben, da schwingt manchmal Schmerz und Ernüchterung mit über all das Unwiederbringliche. Trotzdem ist jede Seite von so viel Liebe, Zartheit und Respekt getragen, dass selbst das Kaff, zu dem das Dorf geworden ist, zu einer Perle wird, zu einer ganzen Kette literarisch eingefärbter Perlen, von denen ich mich entzücken liess.

img_0209Elisabeth Binder ist 1951 in Bürglen (Thurgau/Schweiz) geboren. Nach einem Studium der Germanistik und Kunstgeschichte in Zürich war sie Lehrerin, dann Literaturkritikerin beim Feuilleton der «Neuen Zürcher Zeitung». Seit 1994 ist sie freie Schriftstellerin. 2004 erschien bei Klett-Cotta ihr Roman «Sommergeschichte», 2007 «Orfeo» und 2010 «Ein Wintergast». Elisabeth Binder erhielt die Medaille der Schweizer Schiller-Stiftung sowie den Förderpreis zum Mörikepreis.

Webseite der Buchhandlung klappentext

Berni Mayer «Rosalie», Dumont

Frühling 1984 in Praam an der Schwarzen Laaber, irgendwo in Bayern, weit weg vom Rest der Welt. In dem «Arschnest», einem Kaff, in dem alles so tut, als wäre alles immer in Ordnung, selbst als 2000 Kilometer im Osten der Reaktor Nummer 4 des Kernkraftwerks Tschernobyl explodiert und sich in der Folge durch radioaktive Wolken mit Regen ein Fallout über weite Teile Europas verteilt.

Konstantin ist 16, kurz vor dem Abitur, ist gelangweilt und genervt von Schule und Alltag, weit weg von seinen in Pflichten gefesselten Eltern, die im Dorf eines der beiden Gasthäuser führen. Zusammen mit seinen beiden Kumpeln, dem kleinen Bartl, dem einzigen in der Klasse mit Bartwuchs und dem schweigsamen von seinem Zuhause drangsalierten Böhmi, die beide Konstantin nur «den Schwarzen» nennen wegen seiner Kleidung, seinem Zimmer und weil die Farbe zur Stimmung passt, streifen sie durch Praam, auf der Suche nach dem wirklichen Leben.

Bis Rosalie auftaucht, hergezogen aus der Stadt mit ihrem depressiven Vater auf der Flucht vor dem Tod ihrer an Krebs gestorbenen Mutter. Obwohl Rosa erst 14 ist, verkörpert sie all das, was Praam nicht ist. Konstantin und Rosa treffen sich und aus der zuerst heimlichen Liebe wird ein für Konstantin ganz neues Lebensgefühl: Die Zeit hatte keine Zähne mehr, kaute mich nicht mehr klein, sie verging mit der allergrössten Selbstverständlichkeit bis zum nächsten Treffen mit Rosa. So wie sich in allzu naher Ferne Radioaktivität durch eineimg_0138n Knall freisetzt, leuchtet mit einem Mal der Alltag durch die emotionalen Erschütterungen einer ersten, grossen Liebe. Erst recht als sich in der Folge die Ereignisse überschlagen.

Anfang Oktober in der Gegenwart: Nachdem Konstantin ein halbes Leben aus Praam weggetaucht war, kehrt er zur Beerdigung seines Vaters an den Ort seiner Kindheit zurück. Mit der Rückkehr und den noch immer sichtbaren Spuren, glüht auch die Lust auf, etwas von dem zurückzuholen, was im Sommer 1984 verloren ging. Viel mehr als die körperliche Unschuld. Denn auf einem Streifzug damals durch Praam und seine Umgebung, auf der Suche nach einem stillen Örtchen, der mehr ermöglichen sollte als einen Kuss, stiegen Rosa und Konstantin in das unbewohnte und heruntergekommene Wasserschloss. Sie fanden trotz übler Gerüche zueinander, mehr noch, eine Etage über ihrem Liebesnest einen Mann am Gummischlauch. Dieser Tote «saugte die Naturgesetze vorübergehend mit ins Nicht», katapultierte endlich das nach seiner Auflösung schreiende Geheimnis des Ortes an die Oberfläche. Konstantin nahm damals die Fährte auf, angestachelt duch seinen Onkel, der für die Zeitung schrieb, geschupst durch Schwester Lisi und einen Willy-Becher «Schwesternbier», getrieben von der Lust, jene Krusten aufzubrechen, die den trügerischen Frieden des Ortes ausmachen.

Berni Mayers «Southern Gothic» über eine heimliche Liebe und das Geheimnis um verdrängte NS-Verbrechen mitten im Dorf ist mit dem Sound jener Zeit geschrieben. Berni Mayer ist ein Meister der Beschreibung. Manchmal umreisst er Personen mitten im Erzählfluss so messerscharf und glasklar in einem einzigen Abschnitt, dass sie wie grobkörnige Porträts zu Textmarkierungen werden. Er beschreibt den Mief der Neunzigerjahre in der deutschen Provinz genauso gekonnt wie die emotionalen Wetterlagen der Adoleszenz, den langen Regen nach der Reaktorkatastrophe und die Angst vor den Folgen genauso treffend wie die Dialoge zwischen den Protagonisten, zwischen Anpassung und Revolte.

Ein absolut lesenswerter Erstling!

img_0137Berni Mayer, geboren 1974 in Mallersdorf, Bayern, lebt als Journalist, Musiker und Übersetzer in Berlin. Er war Redaktionsleiter bei MTV- und VIVA-Online und hat für das Label Virgin Records gearbeitet. Heute schreibt er u.a. für den Rolling Stone und bloggt auf bernimayer.de über Fussball, Filme und die Räudigkeit der Welt. 2012 bis 2014 erschien seine dreibändige Krimireihe um den arbeitslosen Musikjournalisten und Detektei Erben Max Mandel (Heyne Hardcore). «Rosalie» ist sein literarisches Debüt.

«Rosalie» – warum? 

(Titelbild: Sandra Kottonau)

Capus, Lenz, Hughes, Tschan und mehr im Sturm!

Nach einer langen Saison mit mehr Siegen als Niederlagen – oder umgekehrt – lädt die Schweizer Schriftsteller-Nati zur 2. Schweizer Schriftsteller-Nati-Nacht.
Gegeben wird sie in Olten, am 12.1.2017, Galicia Bar, traditionellerweise in zwei Halbzeiten abgehalten. Gespielt wird im bewährten 4-4-2-System.
Tickets gibt es an der Abendkasse ab 20.00. (Achtung: nur ein Kassahäuschen geöffnet!)

Programm:
Viererkette-Lesung: (Capus, Lenz, Hughes, Tschan u.a.)

Musik: Lukas Rohner

Spieler: Urs Heinz Aerni, Marin Aeschbach, Johanna Aeschbach, Roger Berberat, Peter Bichsel, Fabio Bigi, Wolfgang Bortlik, Arno Camenisch, Pino Dietiker, Philipp do Canto, Bänz Friedli, Andreas Gefe, Lukas Haessig, Lucien Haug, Rolf Hermann, Kaspar Hohler, Sandra Hughes, Michael Hunziker, Beat Jung, Renato Kaiser, Matto Kämpf, Markus Kirchhofer, Thomas Kowa, Lorenz Langenegger, Rolf Lappert, Pedro Lenz, Stefan Lütolf, Patrick Mäder, Helmut Maier, Patric Marino, Jörg Meier, Samuel Messerli, Perikles Monioudis, Andri Perl, Maurizio Pinarello, Marius Daniel Popescu, Daniel Puntas, Markus Ramseier, Lory Röbuck, Patrik Salvolainen, Hansjörg Schertenleib, Bruno Schlatter, Ralf Schlatter, Thomas Schwaller, Giuseppe Sofo, Ernst Solér, Alisha Stoecklin, David Strohm, Franco Supino, Alisho Todisco, Marco Todisco, Vincenzo Todisco, David Tschan, Patrick Tschan,Gabriel Vetter, Matthias von Gunten, Michael von Oursow, Peter Zeindler
Beizer: Alex Capus

Dina Sikirić «Was den Fluss bewegt», Waldgut

Es gibt Menschen, die eine Geschichte, ihre Geschichte so lange mit sich herumtragen, dass in dieser Zeit, in der sich die Geschichte unweigerlich durch Erfahungen und Distanz verändert, nicht nur eine Konzentration geschieht, sondern eine Verwandlung. Bei Dina Sikirić gar noch mehr; ein sprachlich gewachsenes Konzentrat, das nicht trieft und es schafft, ganz mit dem Bewusstsein jenes Kindes zu sehen, das diese Geschichte erzählt.

Mutter und Tochter verlassen 1960 das jugoslawische Zagreb und versuchen in der Stadt am Flussknie, in Basel, ein neues Leben zu beginnen. Die Mutter, weil sie vor einer wiederum zerbrochenen Liebe flieht, die Tochter, weil sie mit fünf Jahren nicht gefragt wird. Erst begegnet den beiden das Fremde freundlich, selbst die Stadt im Winter. Doch als sich die Mutter wegen langer Arbeitszeiten gezwungen sieht, ihre Tochter ausser an den Sonntagen in ein Heim zu img_0118geben, verändert sich alles. Was in den ersten Wochen zusammen mit der Mutter als Schicksalsgemeinschaft für das Kind zur Idylle wurde, schlägt mit einem Mal um in ein jahrelanges Wechselbad zwischen eisiger Kälte und überschäumender Sinnlichkeit. Da nützt auch der ausgesprochene Trost der Mutter nichts: «Wer weiss mein Kind, was den Fluss bewegt…»

Das erste, von Nonnen, von schwarzen Vögeln, geleitete Kinder- und Waisenhaus direkt am Rhein nimmt das Kind entgegen, zieht es aus, kleidet es «neu» ein und setzt es, weil so jung, mit einem Bilderbuch an einen Tisch. Ein weisser Schlafsaal, keine Berühungen, kein Gutenachtkuss, nur Strenge, Drill und eine Sprache, die das Kind verstummen lässt. Neben der Fremde, dem das Kind wie mit einem Kokon eingeschnürt zu trotzen versucht, ist da noch das Bestreben der heiligen Frauen, das heidnische Kind in den Schoss der Kirche zu führen.

Da ist keine Anklage. Im Gegenteil. Sogar Witz ist zu finden, wenn das Kind von den eigenartigen Gebeten der schwarzen Vögel erzählt «Pet frunz» was erst viel später zu «Bitt für uns» wird. Dina Sikirić erzählt äusserst behutsam, beschreibt das schmerzhafte Pendeln zwischen Heimat und Aufenthaltsland, zeichnet Träume und Gefühle, die Welt eines Kindes, das es schafft, sich nicht zu verlieren. Die Geschichte eines Kindes, dem das Fremdsein mehrfach auferlegt wird und aus dem Kampf dagegen, der Sehensucht nach Nähe und Freundschaft einen Lebensmut entwickelt, den ich bis tief im Schreiben der Autorin spüre.

«Was den Fluss bewegt» von Dina Sikirić ist das dritte Buch aus der Reihe «waldgut zoom», einer neuen Reihe für junge Literatur im Waldgut Verlag: Frisch, neue Formen für gute Ideen, ungewohnt bis unbrav, hochinteressant bis kühn. Ob melancholisch, traurig, fröhlich, witzig. Jedes Buch ein anderes Lesefest.» Was immer Dina Sikirićs Buch ist, es ist gelungen, nicht nur inhaltlich, formal und sprachlich, sondern auch haptisch. Bücher aus dem Waldgut Verlag sind Perlen!

Fragen an Dina Sikirić:

Ihr Herkunftsland unterschied sich damals sehr von ihrem Ankunftsland, erst recht aus der Sicht jenes Kindes, das sich in einem von Nonnen geführten Kinderheim nach Heimat sehnt. Sind Herkunfts- und Ankunftsland durch Zeit und ihre Geschichte nicht unvereinbar entfernt voneinander geworden?
Die Geschichte, vor allem jene meines Herkunftslandes, war in den letzten Jahrzehnten sehr bewegt, ja erschütternd. Für mich sind die beiden Länder Herkunfts- und Ankunftsland immer sehr verschieden gewesen, auf eine gewisse Weise «unvereinbar». Vereint habe ich sie jedoch in mir, und dies ist immer möglich. Da können sie immer nebeneinander bestehen in ihrer großen Unterschiedlichkeit, nicht als ein geschlossenes Ganzes (das konnten sie nie), sondern als zwei eigene, auch widersprüchliche Welten. Ich habe deren im Laufe meines Lebens noch mehrere kennengelernt und in mein Dasein integriert: unterschiedliche, oft widersprüchliche, ganz und gar «ungleiche» Welten, die jedoch alle bestehen, und daher, wenn man den Blick weitet, alle Teil der Welt sind, und alle miteinander, diese ausmachen.

Sie schaffen es erstaunlich, diese Erzählung aus einer «versöhnlichern» Distanz geschrieben zu haben. Stimmt das?
Ich habe die Erzählung nicht bewusst aus einer «versönlichen Distanz» geschrieben, mich jedoch daran gehalten, aus der Sicht des Kindes, das ich damals war, zu erzählen, Erwachsenenkommentare und -kritik wegzulassen, denn ein Kind spürt zwar sehr wohl, ob etwas schön und wohltuend ist oder nicht, es nimmt jedoch alles einfach erstmal auf und konzentriert sich darauf, im Augenblick damit so gut es geht umzugehen. Ich fand, dass diese Haltung für meine Erzählung die richtige ist. Die erwachsenen Leser können sich somit ebenfalls mit einem offenen, erstmal nicht urteilenden Blick, dem Erzählten öffnen und zugleich oder hinterher kritisch darüber nachdenken. Diese «versönliche» Haltung mag einfach auch ein Charakterzug von mir sein.

«Fremd sein» beschäftigt jede(n). Jene als Bedrohung von aussen, andere als solche von innen. Dabei kann «Helfen wollen» dem Fremdsein und Fremdwerden erst recht in die Hände arbeiten. Die Nonnen damals sind deutliches Sinnbild. Ist «Helfen wollen» nicht mehr Zeichen von Entfernung als eine Chance zur Nähe?Ich glaube, es kommt sehr darauf an, WIE man helfen will und hilft! Wenn man erwartet, dass derjenige, dem man hilft, sich dafür eigenen Ansprüchen und Erwartungen anpassen oder gar unterordnen muss, wirkt das Helfenwollen gewiss noch mehr entfremdend. Wenn man aber hilft, indem man jemandem beisteht, sich so sicher, geschützt und wohl als möglich in einer neuen, fremden Umgebung zu fühlen, ohne von ihm dafür Verleugnung seiner selbst und seiner Traditionen zu verlangen, so ist im Helfen auch Annäherung, ja manchmal sogar echte Nähe möglich. Das geschieht im privaten Bereich (wenn man einem einzelnen Menschen beisteht und hilft) ebenso wie in grösserem Ausmaß, bei der Flüchtlingshilfe. Die Haltung: «Ich oder Wir sind besser, wissen es besser, sind kultivierter, und was es dergleichen mehr gibt, hat beim Helfen nichts zu suchen.
Aber es gibt noch einen anderen Aspekt: Nähe erlebt oder erfährt man oft mit einem fremden Menschen direkter als mit solchen, die man schon lange kennt, und mit denen der Austausch «eingespielt» ist, d.h. oftmals routiniert.
Viele Autoren haben diese Nähe zwischen Fremden und Entfremdung zwischen vermeintlich Nahen schon formuliert. Fremdheit ist ja auch immer eine Frage der Perspektive.

 Vielen Dank am die Autorin für die Antworten!

img_01161955 in Zagreb geboren, in Basel aufgewachsen. Dina Sikirić studierte an der Schauspielakademie Zürich und arbeitete als Schauspielerin an verschiedenen deutschsprachigen Theatern (u.a. in Basel, Stuttgart und Freiburg). Nach dem Studium der persischen, spanischen, italienischen und portugiesischen Sprache und Kultur war sie als Sprachlehrerin und Übersetzerin tätig. Sie lebte in Deutschland, Frankreich, Madrid, London und auf Mauritius; seit 2007 lebt sie wieder in Basel. «Was den Fluss bewegt» ist ihr erstes Buchprojekt.

Margriet de Moor «Schlaflose Nacht», Hanser

Lucia, ihre Freundin, beschwört sie, lange nach dem Tod ihres Mannes endlich aus der Höhle zu kriechen. Es wäre eine Beleidigung für ihre Sinnlichkeit, für ihre elementaren Bedürfnisse. Aber die Freundin will nicht. Sie bleibt im Haus, dass sie nicht einmal zwei Jahre mit ihrem Mann teilte.

Der Mann ist tot, erschoss sich hinter dem Haus im Chicoréetreibhaus, wo die bleichen Pflanzen mit vorgegaukelten Jahreszeiten aus dem Boden gezwungen werden. Obwohl ihr alle raten, einen Strich zu ziehen, neu zu beginnen, bleibt die vom Mann im Haus Zurückgelassene. Der Schuss, mit dem ihr Mann seinem Leben ein Ende setzte, verwandelte scheinbares Glück mit einem Knall zu einem Alptraum. Irgendwann entschliesst sie sich, wider aller Vernunft, ein Inserat aufzugeben, eine Annonce, die Männer nach einem immer gleichen Ritual für ein paar Stunden, eine Nacht an ihre Seite lassen. Vielleicht auch bloss, um sich selbst zu beweisen, dass sie noch am Leben teilnimmt, auch wenn ihr toter Mann mit diesem einen Schuss ihr Leben beinahe mitriss.

Die Novelle, die 1994 zum ersten Mal auf deutsch erschien und die grosse De Moor Schlaflose Nacht Final_MR.inddholländische Autorin mit Recht prominent an der Frankfurter Buchmesse platzieren sollte, beschreibt eine einzige Nacht. Eine Nacht, die die Protagonistin nicht schlafen lässt. Eine Nacht, in der sie genau spürt, dass eine Zutat in ihrem Leben fehlt. Eine Nacht, in der sie in die Küche geht und einen Teig anrührt, den Beginn von etwas Neuem. Mehl, Salz, Zucker, Hefe und Eier. Ein Teig, der aufgehen und etwas freisetzen soll, was in den bloss vermengten Zutaten erst schlummert – Russischen Napfkuchen. Den Mut, den es brauch, um aufzubrechen.

Margriet de Moors 127 Seiten starke Novelle ist wie ein Film mit langen, stummen Einstellungen. Eine Geschichte, die mit ihren Figuren erzählt, viel offenlässt, in keiner Zeile ein Wort zu viel verliert. Eine Geschichte, die nichts erklärt und mit kleinstmöglicher Bewegung grösstmögliche Wirkung erziehlt. Sprachliche und inhaltliche Verdichtung, Bilder wie Gemälde von Edward Hopper.

margriet_de_moor_neefjesMargriet de Moor, eine der bedeutendsten niederländischen Autorinnen der Gegenwart, studierte Klavier und Gesang, bevor sie sich dem Schreiben zuwandte. Bereits ihr erster Roman  «Erst grau dann weiss dann blau» (Hanser, 1993) wurde ein sensationeller Erfolg. Heute sind ihre Romane und Erzählungen in alle Weltsprachen übersetzt. Ihr Werk erscheint im Hanser Verlag, zuletzt «Die Verabredung» (Roman, 2000),  «Der Jongleur» (Ein Divertimento, 2008),  «Der Maler und das Mädchen» (Roman, 2011),  und «Mélodie d’amour» (Roman, 2014). Margriet de Moor lebt in Amsterdam.

 

(Titelbild: Sandra Kottonau)

Petra Ahne & Judith Schalansky «Wölfe», Matthes & Seitz

Wieder hat sich der Wolf in meine Bibliothek geschlichen. Vor ein paar Monaten war es der Wolf von Roland Schimmelpfennig in seinem Roman «An einem klaren, eiskalten Januarmorgen zu Beginn des 21. Jahrhunderts». Nun «Wölfe», ein spannendes Porträt einer falsch verstandenenen Kreatur.

So wie einst der Wolf vom Menschen als Feind, Bösewicht und Untier, als Verbündeter des Teufels und Nachtgestalt des Hexers vertrieben, getötet und ausgerottet wurde, findet er zurück in die Nachbarschaft des Menschen. Gab es schon um 1500 auf den Britischen Inseln keinen einzigen Wolf mehr und im restlichen Europa im Lauf des 19. Jahrhunderts fast keine mehr, traut sich das scheue Tier zurück, nach Deutschland, Österreich, bis in die dicht besiedelte Schweiz. Ein Tier, das bis zum Ende des 19. Jahrhunderts systematisch selbst von der Wissenschaft «verraten» wurde. 1875 schrieb der Naturforscher Friedrich von Tschudi: «Selbst unter den Raubthieren ist er eins der widerwärtigsten. Mit dem reissendsten img_0098wetteifert er an Heisshunger, der selbst dem schlechtesten Hasen gierig nachstellt, an Tücke, Perfidie, während er dabei keine Spur vom Edelmuth des Löwen, von der frischen Tapferkeit des Eisbärs, vom Humor des Landbärs, von der Anhänglichkeit des Hundes hat.» Aber so sehr man den Wolf damals mit den Charakterzügen des Menschen beschreibt, so sehr ist der Wolf auch heute Sinnbild einer menschlichen Sehnsucht. Einst die Angst verkörpernd, die Angst vor der Unberechenbarkeit der Natur, ist der Wolf heute «personifizierte» Sehnsucht nach unmittelbarer Nähe zur Natur. Der Wolf als Medium.

Petra Ahne zeichnet ein feines Portrait eines Tieres, das in vielem dem Menschen näher scheint als die Primaten. Umfangreich bebildert und im letzten Teil des Buches mit Portraits aller Wolfarten ergänzt, ist dieses Büchlein vieles, Reportage und Mahnmal zugleich.

Petra Ahne, geboren 1971 in München, studierte Komparatistik, Kunstgeschichte und Publizistik in Berlin und London. Sie ist Redakteurin der Seite 3 bei der Berliner Zeitung.

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Unbedingt lesen: «An einem klaren, eiskalten Januarmorgen zu Beginn des 21. Jahrhunderts» von Roland Schimmelpfennig, S. Fischer!

Mein Geschenk an mich

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…ein Buch aus der Katzengraben-Presse, einem Kleinstverlag in Berlin Köpenick, einem Ein-Mann-Betrieb, der das Handwerk des «Büchermachens» kultiviert und am Leben lässt. Christian Ewald, der Katzengraben-Mann, druckt jährlich zwei Bücher nach Gutenberg-Manier, jeweils in einer Auflage von magischen 999 Exemplaren, jedes ein Unikat durch Christian Ewalds spezielles Markenzeichen: den mit einer alten Singermaschine eingenähten Faden. Was Christian Ewald seit 1990 schafft, ist eine Bibliothek der literarischen und gestalterischen Kunstwerke.

Zum Buch von Peter Härtling » Das verlorene Grab», das 2003 bei der Katzengraben Presse erschien: Peter Härtling schreibt von der Suche nach dem Grab seines Vaters, der nach dem Krieg in einem sowjetischen Kriegsgefangenenlager in Österreich ums Leben kam. Nicht genug des Unglücks für den 12jährigen Jungen: Aus lauter Verzweiflung begeht die Mutter Suizid und lässt den jungen Peter allein. Peter Härtling auf der Such nach einem verlorenen Vater: «Ich bin neunundsechzig. Er war neununddreissig, als er starb. Als alter Mann beuge ich mich über einen jungen und entdecke den unauflösbaren Grund der Trauer: Es ist der einer Liebe, die ohne Antwort auskommen muss.

Besuchen Sie die Webseite der Katzengraben Presse. Lassen Sie sich betören!

«Die Kiefern Aleppos» Raoul Schrott, Edition Thurnhof

Nachdem Bomben Aleppo in Schutt und Asche legten, lese ich mit feierlichem Ergriffenheit «Das Alphabet der Bäume», einen ganz besonderen Gedichtband von Raoul Schrott, illustriert vom Wiener Künstler Wolfang Buchta. Ein Schmuckstück, das wohl schon vor bald 20 Jahren erschien, aber nichts von seiner Tiefe, seiner Schönheit und seiner ganz besonderen Ästhetik verloren hat. 

illustriert mit Offsetfarblithographien von Wolfgang Buchta
illustriert mit Offsetfarblithographien von Wolfgang Buchta

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Toni Kurz ist Verleger mit Leib und Seele, mit Leidenschaft und Esprit! Seit vielen Jahren verlegt er zusammen mit einem kleinen Team, allen voran seiner Frau, Perlen der Literatur; die grosse Frederike Mayröcker, die eben den ersten Österreichischen Buchpreis erhielt, Bodo Hell, Karl-Markus Gauss, Sabine Gruber und viele andere, stets illustriert von Könnern ihres Fachs. So entstehen Mehrfach-Kunstwerke, Bücher, die mich schon entzücken, wenn ich sie in die Hand nehme, aufschlage, für kurz die Nase hineinstecke und geniesse. Bücher, die man lange aufgeschlagen liegen lassen kann und muss, wie einen guten Rotwein, der den Raum erst füllt, wenn er aus seiner Flasche befreit wird.

Wenn sie sich nach der Weihnachtszeit verwundert fragen, warum man ihnen wieder kein Buch geschenkt hat, dann beschenken sie sich selbst mit einem Buch aus der Edition Thurnhof!

Toni Klein war mit seiner Edition Thrunhof Gast an der diesjährigen Buch- und Druckkunstmesse in Frauenfeld, einem Eldorado für Buch- und Papierliebhaber!

Webseite des Kleinverlags