Berni Mayer «Rosalie», Dumont

Frühling 1984 in Praam an der Schwarzen Laaber, irgendwo in Bayern, weit weg vom Rest der Welt. In dem «Arschnest», einem Kaff, in dem alles so tut, als wäre alles immer in Ordnung, selbst als 2000 Kilometer im Osten der Reaktor Nummer 4 des Kernkraftwerks Tschernobyl explodiert und sich in der Folge durch radioaktive Wolken mit Regen ein Fallout über weite Teile Europas verteilt.

Konstantin ist 16, kurz vor dem Abitur, ist gelangweilt und genervt von Schule und Alltag, weit weg von seinen in Pflichten gefesselten Eltern, die im Dorf eines der beiden Gasthäuser führen. Zusammen mit seinen beiden Kumpeln, dem kleinen Bartl, dem einzigen in der Klasse mit Bartwuchs und dem schweigsamen von seinem Zuhause drangsalierten Böhmi, die beide Konstantin nur «den Schwarzen» nennen wegen seiner Kleidung, seinem Zimmer und weil die Farbe zur Stimmung passt, streifen sie durch Praam, auf der Suche nach dem wirklichen Leben.

Bis Rosalie auftaucht, hergezogen aus der Stadt mit ihrem depressiven Vater auf der Flucht vor dem Tod ihrer an Krebs gestorbenen Mutter. Obwohl Rosa erst 14 ist, verkörpert sie all das, was Praam nicht ist. Konstantin und Rosa treffen sich und aus der zuerst heimlichen Liebe wird ein für Konstantin ganz neues Lebensgefühl: Die Zeit hatte keine Zähne mehr, kaute mich nicht mehr klein, sie verging mit der allergrössten Selbstverständlichkeit bis zum nächsten Treffen mit Rosa. So wie sich in allzu naher Ferne Radioaktivität durch eineimg_0138n Knall freisetzt, leuchtet mit einem Mal der Alltag durch die emotionalen Erschütterungen einer ersten, grossen Liebe. Erst recht als sich in der Folge die Ereignisse überschlagen.

Anfang Oktober in der Gegenwart: Nachdem Konstantin ein halbes Leben aus Praam weggetaucht war, kehrt er zur Beerdigung seines Vaters an den Ort seiner Kindheit zurück. Mit der Rückkehr und den noch immer sichtbaren Spuren, glüht auch die Lust auf, etwas von dem zurückzuholen, was im Sommer 1984 verloren ging. Viel mehr als die körperliche Unschuld. Denn auf einem Streifzug damals durch Praam und seine Umgebung, auf der Suche nach einem stillen Örtchen, der mehr ermöglichen sollte als einen Kuss, stiegen Rosa und Konstantin in das unbewohnte und heruntergekommene Wasserschloss. Sie fanden trotz übler Gerüche zueinander, mehr noch, eine Etage über ihrem Liebesnest einen Mann am Gummischlauch. Dieser Tote «saugte die Naturgesetze vorübergehend mit ins Nicht», katapultierte endlich das nach seiner Auflösung schreiende Geheimnis des Ortes an die Oberfläche. Konstantin nahm damals die Fährte auf, angestachelt duch seinen Onkel, der für die Zeitung schrieb, geschupst durch Schwester Lisi und einen Willy-Becher «Schwesternbier», getrieben von der Lust, jene Krusten aufzubrechen, die den trügerischen Frieden des Ortes ausmachen.

Berni Mayers «Southern Gothic» über eine heimliche Liebe und das Geheimnis um verdrängte NS-Verbrechen mitten im Dorf ist mit dem Sound jener Zeit geschrieben. Berni Mayer ist ein Meister der Beschreibung. Manchmal umreisst er Personen mitten im Erzählfluss so messerscharf und glasklar in einem einzigen Abschnitt, dass sie wie grobkörnige Porträts zu Textmarkierungen werden. Er beschreibt den Mief der Neunzigerjahre in der deutschen Provinz genauso gekonnt wie die emotionalen Wetterlagen der Adoleszenz, den langen Regen nach der Reaktorkatastrophe und die Angst vor den Folgen genauso treffend wie die Dialoge zwischen den Protagonisten, zwischen Anpassung und Revolte.

Ein absolut lesenswerter Erstling!

img_0137Berni Mayer, geboren 1974 in Mallersdorf, Bayern, lebt als Journalist, Musiker und Übersetzer in Berlin. Er war Redaktionsleiter bei MTV- und VIVA-Online und hat für das Label Virgin Records gearbeitet. Heute schreibt er u.a. für den Rolling Stone und bloggt auf bernimayer.de über Fussball, Filme und die Räudigkeit der Welt. 2012 bis 2014 erschien seine dreibändige Krimireihe um den arbeitslosen Musikjournalisten und Detektei Erben Max Mandel (Heyne Hardcore). «Rosalie» ist sein literarisches Debüt.

«Rosalie» – warum? 

(Titelbild: Sandra Kottonau)