Welche Ehre!

„Leider gehört die Kantonsbibliothek Thurgau noch nicht zu den Abonnenten Ihres Literaturblatts. Das möchte ich gerne ändern. Ich bitte Sie deshalb, uns jeweils ein Exemplar zuzustellen. Es würde mich sehr freuen, wenn wir unseren Bestand ergänzen und das Literaturblatt auch für spätere Generationen aufbewahren und zugänglich machen könnten.

Kantonsbibliothek Thurgau“

literaturblatt.ch fragt, Teil 10, Rolf Lappert antwortet

Rolf Lappert schrieb sich mit der ersten Szene seines Romans „Über den Winter“ tief in meine „literarische Erinnerung“. Lenard Salm, die Hauptperson, findet weit weg von seiner Heimat am Strand ein angeschwemmtes, totes Kind. Eine Szene, die er beschrieb, bevor das beinahe entsprechende Pressebild um die Welt ging. Rolf Lappert schreibt an einem neuen Roman, den ich mit viel Neugier erwarte.

Es gibt Schreibende, die Geschichten erzählen wollen, mit Spannung fesseln. Andere, die politische und gesellschaftskritische Inhalte und Meinungen in literarisches Schreiben verpacken. Was wollen Sie mit Ihrem Schreiben? Ganz ehrlich!
Ich erzähle tatsächlich gerne Geschichten, denke sie mir gerne aus, fasse sie gerne in Worte. Die Stoffe und Figuren trage ich oft jahrelang mit mir herum, und wenn sie nicht irgendwann weg sind, verschwunden, dann befasse ich mich ernsthaft mit ihnen, das heißt, ich überlege, wie ich aus all dem Angesammelten eine Geschichte, einen Roman machen kann. Schriftsteller erfinden Welten, was nicht zwangsläufig bedeutet, dass diese Welten fremd sein müssen wie in einem Fantasy- oder Science Fiction-Buch. Dieses Erschaffen von Räumen, Atmosphären, Charakteren, Gefühlen etc. mithilfe von Wörtern ist ein anstrengender und anspruchsvolles Unterfangen, aber auch ein spannendes und – wenn es gelingt – ein erfüllendes.

Wo und wann liegen in ihrem Schreibprozess der schönste oder/und der schwierigste Moment? Gibt es gar Momente vor denen sie sich fürchten?
Anzufangen ist immer schön, vor allem, wenn man die ersten Seiten schreibt und merkt, dass man den Ton gefunden hat, den man erzeugen will. Es gibt in jedem Buch Abschnitte, vor denen ich mich lieber drücken würde, die aber in die Geschichte müssen, weil sie etwas Wichtiges erzählen. Das kann eine einzelne Szene aber auch ein ganzes Kapitel sein. Ein schöner, vielleicht der schönste Moment im Arbeitsprozess ist natürlich der Schluss. Wenn man merkt: Jetzt müssen noch fünf Sätze geschrieben werden, dann ist das Werk abgeschlossen – ein erhebender Augenblick. (Kurz danach kann man in ein tiefes Loch fallen – aber das ist eine andere Geschichte…)

Lassen Sie sich während des Schreibens beeinflussen, verleiten, verführen? Spielen andere Autorinnen und Autoren, Bücher (nicht jene, die es zur Recherche braucht), Musik, besondere Aktivitäten eine entscheidende Rolle?
Ich brauche beim Schreiben Ruhe. Musikhören geht gar nicht. Jede Ablenkung und Störung bedeutet Ungemach. Je nach Stimmung lese ich abends oder nachts in einem Buch. Das kann auch ein Roman sein, denn ich bin immun gegen unbewusstes Übernehmen von Ideen, Formulierungen, Stilmitteln. Trifft ein Roman die Atmosphäre, die Melodie, den Rhythmus meines eigenen, in Arbeit befindlichen Buches, dann finde ich das schön. Ein Film kann den gleichen Effekt haben. Es kommt vor, dass ich, während ich an einem neuen Roman arbeite, vor dem Bücherregal stehe und Romane in die Hand nehme, nur um darin zu blättern, einzelne Sätze oder Abschnitte zu lesen und sie dann zurück in die Reihen zu stellen. Dabei handelt es sich vermutlich um ein Sichvergewissern, dass es noch viele andere vom Schreibzwang Befallene gibt, dass es tatsächlich Wortfolgen, schriftlich festgehaltene Szenen gibt, die in der Lage sind, einen zu bewegen, zu rühren, oder die so genial geschrieben sind, dass man sie voller Bewunderung (und ein wenig Neid) immer wieder lesen muss. Auch das Gewicht eines Buches in der Hand zu wiegen, hilft beim Schreiben, nachzusehen, wie der Roman aufgebaut, unterteilt ist. Gibt es Kapitelüberschriften? Wie lautet der erste Satz? Wie der letzte? Gibt es ein Motto, eine Widmung, eine Danksagung? Wahrscheinlich geht es bei diesem Stöbern schlicht und ergreifend darum, den Beweis dafür zu haben, dass man nicht alleine ist mit der Literatur, dass es Bücher und Autoren und Verlage und Leser gibt und die Welt noch nicht völlig den Bach runter ist.

Hat Literatur im Gegensatz zu allen anderen Künsten eine spezielle Verantwortung? Oder werden Schriftstellerinnen und Schriftsteller gegenüber andern Künsten anders gemessen? Warum sind es vielfach die Schreibenden, von denen man in Krisen eine Stimme fordert?
Hilft ein Buch, auf soziale Missstände aufmerksam zu machen – gut. Tut es das nicht – auch gut. Romane sind keine Transparente mit Parolen, die der Autor vor sich her trägt. Eine gute und gut geschriebene Geschichte hat die Berechtigung, genau das zu sein und nicht mehr und nicht weniger als das. Leistet die Geschichte mehr, ist das großartig, aber es soll nicht das Ziel – und schon gar nicht der Sinn – des Schreibens sein, Politik zu betreiben. Das tue ich im Privaten, indem ich mich engagiere, äußere, wähle. Warum sollte ich als Schriftsteller politischer sein als, sagen wir, ein Bäcker oder Versicherungsvertreter? Ist mir ein Anliegen wichtig und ich werde angefragt, dann tue ich mein Bestes, um der Sache zu dienen – eine Sonderstellung nehme ich dabei nicht ein.

Inwiefern schärft Ihr Schreiben Sichtweisen, Bewusstsein und Einstellung
Man lernt beim Schreiben, empathisch zu sein, sich in Menschen hineinzufühlen und -denken. Beim Lesen auch – wenn der Roman etwas taugt. Ein Roman ohne Empathie ist für mich wertlos.

Es gibt die viel zitierte Einsamkeit des Schreibens, jenen Ort, wo man ganz alleine ist mit sich und dem entstehenden Text. Muss man diese Einsamkeit als Schreibende(r) mögen oder tun Sie aktiv etwas dafür/dagegen?
Es gibt sie und es muss sie geben. Jede Minute Schreiben ist eine Minute Einsamkeit, zumindest vermittelt sich dieser Eindruck dem Außenstehenden. Denn man sitzt zwar alleine an seinem Tisch in seinem Arbeitszimmer, aber man ist in Begleitung seiner Figuren, die vom ersten Satz an ein Leben führen und bald zu Menschen werden, Weggefährten. Aber natürlich: Es ist ein einsamer Job, Familienmitglieder und Freunde werden oft vernachlässigt, soziale Kontakte abgebrochen oder zumindest für eine Weile auf Sparflamme gehalten. Würde ich lieber in einem Großraumbüro arbeiten? Nein.

Gibt es für Sie Grenzen des Schreibens? Grenzen in Inhalten, Sprache, Textformen, ohne damit von Selbstzensur sprechen zu wollen?
Es gibt Themen und Formen, die mich nicht interessieren. Ich befasse mich mit ihnen weder als Autor noch als Leser. Thriller, Fantasy, Science Fiction, Horror, Romantic Comedy, Historienschinken: Alles nicht meins.

Erzählen Sie kurz von einem literarischen Geheimtipp, den es zu entdecken lohnt und den sie vor noch nicht allzu langer Zeit gelesen haben?
Geheimtipp? Da muss ich passen. Obwohl ich kein Mainstream-Leser bin, kann ich mich auch nicht gerade als Entdecker bezeichnen… Joseph Conrads „Herz der Finsternis“, das ich vor nicht allzu langer Zeit gelesen habe, kann ich ja wohl nicht unbedingt als meine literarische Entdeckung präsentieren, oder?

Zählen Sie 3 Bücher auf, die Sie prägten, die Sie vielleicht mehr als einmal gelesen haben und in Ihren Regalen einen besonderen Platz haben?
Philip Roth „Der menschliche Makel“. Michael Chabon „Wonder Boys“. David Mitchell „Der dreizehnte Monat“.

Frisch hätte wohl auch als Architekt sein Auskommen gefunden und Dürrenmatt kippte eine ganze Weile zwischen Malerei und dem Schreiben. Wären Sie nicht Schriftstellerin oder Schriftsteller, hätten sich die Bücher trotz vieler Versuche nicht verlegen lassen, hätte es eine Alternative gegeben? Gab es diesen Moment, der darüber entschied, ob Sie weiter schreiben wollen?
Ich habe Grafiker gelernt und hätte als solcher arbeiten können, Mitte der Achtzigerjahre war die Werbebranche noch attraktiv für alle, die mit einem coolen Job sehr schnell sehr viel Geld verdienen wollten. Aber ich wollte schreiben, unbedingt. Hätte das nicht funktioniert, wären da durchaus Alternativen gewesen, Tierfilmer zum Beispiel, oder überhaupt Dokumentarfilmer, oder Tauchlehrer, oder Betreiber eines Öko-Hotels (doch woher das Geld nehmen?), oder Drehbuchautor – was ich ja sieben Jahre lang tatsächlich war. Und natürlich gibt es -zig andere Berufe, die ich hätte ausüben können, um Geld zu verdienen, Schreiner etwa oder Gärtner. Glücklicherweise hat es mit dem Schreiben geklappt.

Was tun Sie mit gekauften oder geschenkten Büchern, die Ihnen nicht gefallen?
Wenn sie mir überhaupt nicht gefallen, lese ich sie nach den ersten Seiten auch nicht zu Ende und verschenke sie weiter oder bringe sie ins Brockenhaus. Bücher wegzuwerfen fällt mir schwer. Sehr selten zerfleddere ich ein besonders missratenes und schmeiße es voller Abscheu und Genugtuung in die Altpapiertonne.

Lieber Herr Lappert, vielen, vielen Dank!

Rolf Lappert wurde 1958 in Zürich geboren und lebt in der Schweiz. Er absolvierte eine Ausbildung zum Grafiker, war später Mitbegründer eines Jazz-Clubs und arbeitete zwischen 1996 und 2004 als Drehbuchautor. Bei Hanser erschien 2008 der Roman «Nach Hause schwimmen», der im selben Jahr mit dem Schweizer Buchpreis ausgezeichnet wurde, 2010 «Auf den Inseln des letzten Lichts», 2012 «Pampa Blues» und und zuletzt «Über den Winter». Rolf Lappert war auch schon Gast hier in Amriswil an einer Hauslesung.

Das 39. Literaturblatt hat sich entpuppt!

Vier spezielle Bücher von vier beeindruckenden Autorinnen und Autoren. Drei junge Schriftstellerinnen; eine aufstrebende Österreicherin, eine schon sehr erfolgreiche Norwegerin von den Lovoten und eine Schweizerin, die in einem Kleinverlag ein erstaunliches Debüt in die Buchhandlungen schickt. Und ein Arzt und Dichter aus Bern, der im vergangenen September seinen 70. Geburtstag feiern konnte.

Bei der Auswahl der vier Namen und vier Bücher, die jeweils auf ein Literaturblatt kommen, lasse ich mich ganz von der Intuition leiten. Es sind Bücher, die bleiben. Die nicht einfach entschwinden, wenn ich sie ins Regal schiebe. Im Gegenteil; solche, denen ich gerne einen ganz besonderen Platz geben will – auf dem neuen Literaturblatt.

Heute Bücher schreiben, über Jahre recherchieren, an der Geschichte bleiben, mit sich und dem Text ringen, den Bettel nicht hinschmeissen, nicht wissen, was aus den Papierbündeln einmal werden wird, ob sich je jemand dafür interessieren werde und schlussendlich kaum etwas damit verdienen, ausser ganz wenigen.

Heute Bücher verlegen, Bücher auf den Markt, bringen, an Texte so sehr glauben, dass man sich in ein finanzielles Abenteuer stürzt, sich mit Leib und Seele dem Büchermachen verschreiben, wohl wissend, dass man damit mit Sicherheit nie einen Mercedes finanzieren kann, dem Wort, dem Satz, dem Gedicht, dem Text, der Geschichte, dem Theater ein Bühne geben.

Heute Bücher verkaufen, einen Buchladen führen, den Mut haben, Amazon zu trotzen, dem grossen Moloch, der alles zu schlucken droht, nicht nur die kleinen, unabhängigen Buchhandlungen, sondern auch die Freiheit und Würde jener, die bei Onlineriesen arbeiten müssen.

Heute an die Leserin und den Leser glauben, dass es sie gibt, noch immer gibt, dass sie nicht aussterben, jene, die zur Unterhaltung lesen, aber auch jene, die von Literatur erschüttert und gerüttelt werden wollen, jene, die sich begeistern lassen möchten, die ein Buch auch mit dem Wissen kaufen, dass dahinter eine Dichterin, ein Dichter steht, ein Verlag, niemand, der sich bereichern will, aber viele, die uns bereichern wollen. Jene, die kaufen – Bücher – gebundene Bücher!

Zwischen Weihnachten und Neujahr wird das 39. Literaturblatt per Post, mit Briefmarke und Couvert verschickt. Wer es auch zugeschickt bekommen möchte, melde sich unter:

info@literaturblatt.ch

oder

Gallus Frei-Tomic
Literaturport Amriswil
St. Gallerstrasse 21
CH 8580 Amriswil

weitere Informationen

das 38. Literaturblatt: „Ich habe ihr wunderbares, einzigartiges Literaturblatt erst vor Kurzem entdeckt und bin begeistert von ihrer Leidenschaft und Kreativität für die Literatur. Ich liebe es zu lesen und bin immer wieder dankbar für Buchbesprechungen, die mir die Entscheidungen in der Buchhandlung erleichtern.“ Arja Lobsiger

Das 39. Literaturblatt entsteht.

„Literarische Blogger und -innen gibt es zuhauf, auch wenn kaum mal einer oder eine ein Buch aus dem Verlag hier hinten am Horizont in die Hände bekommt. Macht nix, Hauptsache Long John Silver liest unsere Preziosen. Nun ist es so, dass auch die Welt der Blogs eine der Superlative ist und wen wundert es, dass die Suche nach dem Besten, Schönsten und Weitvernetztesten im Gange ist. Mir persönlich ist nur einer bekannt; ein wenig verrückt ist er, – wie könnte ich ihn sonst kennen –, publiziert er doch seine immer eigenwillig geschriebenen Buchrezensionen – davon kann man sich jederzeit selbst überzeugen – nicht nur auf seinem Blog, sondern schreibt diese zusätzlich und von Hand mit Kugelschreiber wie in ein (B)Logbuch, druckt das Ganze auch noch auf Papier und verschickt diese Flaschenpost, die LITERATURBLATT heisst, per Post, mit Briefmarke und allem, was dazu gehört.“ Ricco Bilger, Verleger

Danke. Gründe für Komplimente zurück gibt es viele. Ich nenne sechs:

1. Seit 17 Jahren begeistert der bilgerverlag mit einem beeindruckenden Verlagsprogramm. Anne Cuneo, Urs Augsburger, Urs Mannhart oder Christoph Simon wurden in diesem Verlag gross oder fanden ein verlegerisches Zuhause.

2. Der bilgerverlag ist mutig, macht Bücher, die sonst keinen Hafen fänden. Bücher, die Verpflichtung und Aufgabe sind und kaum je die Investitionen zurück in die Verlagskasse schwemmen.

3. Bücher aus dem bilgerverlag sind unverkennbar, unverwechselbar. Nicht nur wegen ihres hohen literarischen Werts, sondern wegen ihres Designs: kein Schutzumschlag, bedrucktes und gestaltetes Vorsatzpapier, gebunden und nicht geklebt, mit Lesezeichen…

4. Zum Verlag gehört auch Ricco Bilgers Buchhandlung sec52 an der Josefstrasse 52 in Zürich. Ein Ort des guten Buches, eine Oase der Literatur, ein Garant für Qualität und Exklusivität.

5. Ohne Ricco Bilger gäbe es das Internationale Literaturfestvial Leukerbad nicht. Ricco Bilger gründete es 1996. Seit 2005 ist Hans Ruprecht der Organisator.

6. Ricco Bilger ist unermüdlich. Selbst an Kleinstbuchmessen sitzt der Streiter für das gute Buch hinter dem Tisch mit seinen Büchern und preist an.

Webseite bilgerverlag

Webseite Buchhandlung sec52

5 Bücher, die man 2017 gelesen haben sollte – Weihnachtsgeschenke

Fünf Bücher, mit denen Sie sich auf Reisen begeben können. Fünf Bücher, die Sie wegtragen, ohne dass Sie den Boden unter den Füssen verlieren. Fünf sehr gute Bücher eingepackt als Weihnachtsgeschenk. Fünf Bücher, bei denen Sie etwas versäumt haben, wenn Sie sie nicht gelesen haben. Fünf Bücher, die Sie überallhin mitnehmen. Fünf Bücher, die Sie mitnehmen!

Carmen Stephan „It’s all true“, S. Fischer, 120 S.

Brasilien, Nordosten, 1941. Vier Männer wollen nicht länger hinnehmen, was falsch ist. Sie bauen ein Floß und machen sich auf den Weg zum Präsidenten. Zweitausend Kilometer segeln sie auf ihrer Jangada über das Meer. Aufrecht. Barfuß. Ohne Karte, ohne Kompass. Die Sterne führen sie. Es sind die Fischer Jerônimo, Mané Preto, Tatá und ihr Anführer, Jacaré. Sie fahren für etwas so Einfaches wie Großes: ihre Rechte. Nach einundsechzig Tagen erreichen sie Rio de Janeiro und sind Helden. Der Hollywood-Regisseur Orson Welles, dessen Film »Citizen Kane« gerade in den Kinos lief, will ihre kühne Odyssee verfilmen – doch bei den Dreharbeiten fällt Jacaré von Bord und verschwindet im Meer. Carmen Stephan kommt in dem schmalen Roman ihren Gestalten dabei so nah, dass es mir nach der Lektüre des Buches fast unmöglich erscheint, so einfach zur Tagesordnung überzugehen. Das Buch ist voller Weisheit, voller Sprachmusik, intensiv und expressiv. Ein Buch mit Sätzen, die sich tief einbrennen. Ein Buch, das in meinem Regal einen ganz besonderen Platz bekommen hat!

Lawrence Osborne „Denen man vergibt“, Wagenbach Verlag, 272 S.

In einer träumerischen Landschaft inmitten der Wüste Marokkos veranstalten Richard und Dally für ihre Freunde eine dreitägige extravagante Party im Gatsby-Stil, mit Kokain, Champagner, Pool und Feuerwerk. Auf dem Weg dorthin überfährt das britische Paar David und Jo, angetrunken und heillos zerstritten, einen Fossilienverkäufer am Straßenrand und möchte die Leiche am liebsten verschwinden lassen. Aber da taucht die Familie des Opfers auf und verlangt Davids Anwesenheit bei der Beerdigung in einem abgelegenen Dorf, während Jo sich weiter auf der ausgelassenen Party vergnügt. Die strebt ungebrochen ihrem Höhepunkt zu – unter den argwöhnischen Augen des Hausangestellten Hamid. Meisterhaft konstruiert und erzählt, spannend, Innenwelten aufreissend und mitreissend geschrieben. Und nicht zuletzt beweist Lawrence Osborne tiefes Verständnis für die Hoffnungs- und Zukunftslosigkeit der Menschen in der Wüste, die mit Hamid, dem Diener auf dem Anwesen von Richard und Dally erfühlen lässt, was es heisst, wenn dieser zuschaut und denkt. „So sind sie eben. Sie haben ein Herz aus Stein, wenn es um uns geht. Für sie sind wir nicht mehr wert als Fliegen.“
Ein Roman mit ungeheurer Reife geschrieben. Unaufgeregt, aber mitten ins Herz treffend, präzise auf den Nerv gezielt.

Linda Boström Knausgård „Willkomen in Amerika“, Schöffling, 144 S.

Die elfjährige Ellen lebt in einer hellen Familie. So betont es die Mutter, eine erfolgreiche, lebenslustige Schauspielerin. Wenn sie zu Hause ihren Unterricht hält, müssen die Türen geschlossen sein, und sie genießt ihre eigene Welt am Theater. Auch der große Bruder verbarrikadiert sich in seinem Zimmer, hört laute Musik und hat eine erste Freundin. Die Zeit aus­gelassener Eishockeyspiele in der Diele der großen Wohnung ist vorbei, erst recht, als der Vater stirbt. Nach der Trennung der Eltern war er aggressiv geworden, und Ellen hat seinen Tod so sehr herbeigewünscht, dass sie nun aus Angst über die Macht ihrer Gedanken verstummt. Mit ihrem Schweigen schützt sie die dunkle Wahrheit ihres Ichs und fordert die Mutter zu einem Kräftemessen heraus. Linda Boström Knausgårds Roman ist die Beschreibung eines unausweichlichen Zustands. Von Gefühlen, an die sich jede Leserin und jeder Leser erinnern kann. Linda Boström Knausgård schreibt rückblendend über genau jene Wende- und Scheitelpunkte im Leben, die darüber entscheiden, wie man sich im Leben als Erwachsener bewegt, wie sehr man zum Knecht seiner selbst wird. Linda Boström Knausgårds Sprache ist schlicht und dicht, kraftvoll und markig. Wieder so ein Buch, das man mit einem Bleistift hinter dem Ohr liest

Franzobel „Das Floss der Medusa“, Hanser, 592 S.

18. Juli 1816: Vor der Westküste von Afrika entdeckt der Kapitän der Argus ein etwa zwanzig Meter langes Floß. Was er darauf sieht, lässt ihm das Blut in den Adern gefrieren: hohle Augen, ausgedörrte Lippen, Haare, starr vor Salz, verbrannte Haut voller Wunden und Blasen … Die ausgemergelten, nackten Gestalten sind die letzten 15 von ursprünglich 147 Menschen, die nach dem Untergang der Fregatte Medusa zwei Wochen auf offener See überlebt haben. Da es in den Rettungsbooten zu wenige Plätze gab, wurden sie einfach ausgesetzt. Diese historisch belegte Geschichte bildet die Folie für Franzobels epochalen Roman, der in den Kern des Menschlichen zielt. Franzobel gelang ein ganz besonderes Buch, eines, das ans Eingemachte geht. Franzobel wühlt mit Wonne und Lust in der Schlangengrube Mensch, scheut sich nie, den Schrecken beim Namen zu nennen, zwingt mich hinzuschauen, wo ich normalerweise nicht hinzuschauen brauche. Die Lektüre seines Romans macht demütig, lässt einen zweifeln. Vielleicht brauchte der Stoff eben diese Landratte Franzobel, der es schafft, angesichts des Grauens mit Humor und Sarkasmus das zu schildern, was sonst kaum in Worte zu fassen wäre.

Ida Hegazi Høyer „Das schwarze Paradies“, Residenz, 224 S.

1929: Der zivilisationsmüde Arzt Carlo Ritter beschließt, seine bequeme Existenz in Deutschland hinter sich zu lassen und fortan auf Floreana, einer unbewohnten Insel im Pazifik, als zahnloser, nackter Wilder zu leben. Seine Utopie findet rasch Nachahmer: ein abenteuerlustiges, junges Paar landet in Ritters „schwarzem Paradies“, und schon bald folgt ihnen eine exzentrische Baronin mit ihrem Hofstaat aus Lustknaben. Aus der Idylle wird ein unerbittlicher Existenzkampf, und auch die Insel wehrt sich gegen die Besiedelung. Inspiriert von den niemals gelösten Kriminalfällen der „Galapagos-Affäre“, erzählt Ida Hegazi Høyer eine vor Spannung und düsterer Sinnlichkeit vibrierende, ungeheuerliche Geschichte aus dem Herz der Finsternis. Ein Roman aus der Wirklichkeit, wie eine grosse Versuchsanordnung. So wie die Anordnung auf der Insel 1000 km vor dem Festland Versuche einer Neugestaltung von Gesellschaft waren, so ist das Buch das Mikroskop mit dem Brennpunkt mitten im unglückseeligen Geschehen. Ida Hegazi Høyer erzählt nicht einfach nach, bläht die Fakten mit etwas Fantasie auf zu einer unterhaltsamen Geschichte. „Die schwarze Insel“ ist sprachlich opulent, überschäumend und sinnlich erzählt. Sätze von unglaublicher Kraft. Sätze, die mehr als abbilden und wiedergeben, sondern mit der Resonanz in mir sämtliche Sinne erfassen, die Haut kräuseln lassen. Fantastisch wahr!

Wenn Sie jeweils die ganze Rezension zu den entsprechenden Büchern lesen wollen, dann klicken Sie auf das jeweilige Buch!

Dein Schatz, mein Schatz, den ich plündern darf!

Liebe Suscka!

Was wäre dieser Blog ohne deine Fotografien? Nichts. Und wenn doch, wäre es um ein Vielfaches schwieriger, Texte mit einem Foto zu verbinden. Fotos sollen nicht einfach bloss illustrieren. Sie sollen etwas von dem wiedergeben, was das besprochene Buch oder der geschriebene Text erzeugen soll. Bilder sollen für sich selbst erzählen, nicht einfach bloss auflockern, bebildern. Und jeder Texter im Netz weiss, a) wie wichtig Bilder sind, um Augen zu bannen und b) wie schnell man sich Ärger mit den „falschen“ Bildern einholen kann.
Seit bald zwei Jahren darf ich deinen Schatz plündern. Am Anfang war eine schüchterne Anfrage. Dann deine Antwort, wie froh du seist, wenn deine Fotos auch ein Publikum bekämen, einen Adressaten, wirklichen Blickkontakt. Was es denn nütze, wenn sich die vielen Fotos nur ansammeln.
So begann ich mich zu bedienen. Am Schluss fast jeden Berichts steht dein Name.

Du bist eine Fotografin voller Begeisterung und Esprit. Auch wenn du wie ich mit deinem Engagement einen Cent, keinen Rappen verdienst. Durch deine Linse spürte ich deine Liebe zu den Dingen, zu Tieren, Pflanzen, Menschen und kleinsten Details, deine Ehrfurcht und die Freude darüber, einen guten Moment erwischt zu haben. Ich weiss auch, wie selbstkritisch du mit deinen Bildern bist. Es geht um Qualität, um Nähe, im doppelten Sinn um Tiefenschärfe.
Du bist keine «Professionelle», tust auch nicht so. Aber wenn du mit deinen Kameras hantierst, wird dein Objektiv zum Auge, das tief blickt, nie aufdringlich, nie pedantisch, mit viel Respekt und noch viel mehr Freundlichkeit.

Vielen Dank, liebe Suscka
Gallus

 

Peter Weibel «Ohne diese Worte»

Im Kellergeschoss einer alten Fabrik in Frauenfeld kämpft der Waldgut Verlag gegen die Verdrängung. Wären da nicht Idealisten wie der bald 80jährige Verleger, Lyriker und Schriftsteller Beat Brechbühl, nähme man stillen Dichtern wie Peter Weibel die Stimme. Blei-Handsatz und Tiegeldruck. Wer mit der Hand übers Papier streift, spürt!

Titelfoto: Sandra Kottonau

Hurra, ich brenne noch immer!

Anfang 2016 startete das Abenteuer literaturblatt.ch. Im Gegensatz zu Deutschland sind Literaturblogger in der Schweiz ein überschaubares Grüppchen und kaum miteinander vernetzt. Einzelkämpfer wie ich. Ob gut oder schlecht, weiss ich nicht. Vogelfrei, ungebunden, von den Verlagen gleichermassen geschätzt und schlecht einzuschätzen, von den Schreibenden geduldet oder geschätzt.

Jetzt sind es dreihundert Beitrage. Es macht Spass, erfüllt und vertieft meine Beschäftigung mit Literatur, dem Lesen, dem Buch. Was mir fehlt, ist das Gegenüber. Zu Beginn richtete ich meinen Blog so ein, dass man via Kommentar hätte reagieren können. Es kamen tausende von Reaktionen, aber leider nur Müll, Spammails. Dermassen viel und unkontrolliert, dass ich den Hahn zudrehen musste. Trotzdem fehlt eine Reaktion, ein Feedback. Würde ich mir auf mein kleines Jubiläum etwas wünschen, dann konstruktive Kritik, Fragen und Ideen, Lob und Tadel.

Vielleicht machen Sie mir ein Geschenk. Zum Beispiel:

  • Eine Geschichte, ein Text, ein Gedicht für meine „Plattform Gegenzauber“. Einziges Kriterium, dass der Test auf Literaturblatt.ch erscheinen kann: Der Text muss mich ansprechen – nicht unbedingt gefallen – kitzeln, provozieren, locken, wundern…
  • Sie erzählen von einem Ihrer Lieblingsbücher. Ihr Text erscheint in der Rubrik „Mein Lieblingsbuch». Ihr Buch muss kein Aktuelles sein.
  • Sie schenken mir eine ganz persönliche Kritik, eine Anregung, eine Idee. Etwas, was mich in meiner Auseinandersetzung mit „dem Buch“ reicher macht.
  • Sie schreiben in mein „Gästebuch“.

    Bei einer Abonnentin zuhause
  • Fotografieren Sie, was Sie mit den Literaturblättern bei Ihnen zuhause machen. Hängen Sie sie irgendwo auf? Ich bin mehr als nur neugierig!

Vielen Dank! Auch vielen Dank, dass Sie zu meinen Leserinnen und Lesern gehören!

„Ich lese deinen Blog regelmässig. Ohne Deinen Blog würde ich jetzt zum Beispiel nicht «Das schwarze Paradies“ lesen. Es kam auch schon vor, dass ich wegen deines Blogs ein Buch nicht gelesen habe, das eigentlich auf meiner inneren Liste stand. Danke für deine Hinweise.“ K. W.

Bilder vom Internationalen Literaturfestival in Basel

Ein paar Streiflichter von BuchBasel 2017:

Melinda Nadj Abonji mit „Schildkrötensoldat“ im Gespräch mit Thomas Strässle
Julia Weber, nominiert für den Schweizer Buchpreis
Rolf Lappert und Lukas Bärfuss, zwei „alte“ Preisträger
Sven Regener signiert „Wiener Strasse“
Matto Kämpf mit „Trampeltier of Love“
John Burnside signiert „Ashland & Vine“
Manuela Hofstätter von lesefieber.ch
Schaufensterlesung mit Martina Clavadetschers „Knochenlieder“

Fotos: Werner Biegger