Die 38. Solothurner Literaturtage sind Geschichte, ein Rückblick in 3 Teilen: Freitag, Teil 1

Ein Rückblick in 3 Teilen: Freitag, Teil 1

Es waren um die 80 Autorinnen und Autoren, die ihre Texte auf vielfältigste Weise präsentierten, darunter grosse Namen wie Adolf Muschg, Franz Hohler, die mit dem Solothurner Literaturpreis ausgezeichnete Ruth Schweikert oder der Algerier Bousalem Sansal, der für seinen Mut mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels ausgezeichnet wurde. Aber nicht Namen oder eventuell ein neuer Besucherrekord, sondern die Vielfalt des Schreibens und der Lauscherinnen und Lauscher machte die Literaturtage zu einem Festival.

Ich masse mir nicht an, einen vollständigen Überblick über alle Höhepunkte zu rekapitulieren. Aber kommen sie mit mir auf meine Spur durch drei Tage Hochgenuss.

Im übervollen Zug nach Solothurn sitzen Autoren auch mal am Boden des Wagons und studieren zum letzten Mal Ausgedrucktes, zieht die Autorin mit langem Mantel und Sonnenbrille das schwarze Köfferchen über die Brücke hinunter zur Altstadt und im Restaurant Kreuz, einem Epizentrum der Schweizer Literatur. Dort sitzen all jene, die sich gerne in der Sonne zeigen oder sich im Fokus der Aufmerksamkeit sonnen.

Mittags las Noëlle Châtelet, eine der grossen der Französischen Literatur aus ihrem Roman «La Femme Coquelicot», der sich über 600000 Mal in vielen Ländern verkaufte. Die Geschichte von Marthe, die siebzig ist und ein völlig zurückgezogenes Leben als Witwe führt. Fast fünfzig Jahre war sie mit Edouard verheiratet, einem Mann, den ihr Vater für sie ausgesucht hatte. Pflichtbewusst und rücksichtsvoll hat sie immer für andere gelebt, den ernsten Edouard, ihre Ki9783462029970-1nder und später die Enkelkinder. Und dann lernt sie Félix kennen. Es ist Liebe auf den ersten Blick, Marthes erste große Liebe. Félix, der Maler ist und noch einmal zehn Jahre älter, wirbelt ihr Leben völlig durcheinander. 600000 Leserinnen und Leser und in Solothurn bei der ersten Lesung unter der Mittagssonne etwas mehr als 20 Aufmerksame. Die Schriftstellerin war so nervös, als wäre sie kurz vor ihrer ersten Verabredung. Im Publikum sass auch Uli Wittman, der Übersetzer und Lebenspartner der Autorin, der neben Noëlle Châtelet andere Grosse ins Deutsche übersetzt: Le Clézio, Michel Houellebecq.

Am Nachmittag war der Genfer Daniel de Roulet, der erst mit 50 Schriftsteller geworden ist, Gast in einer SRF Live Sendung mit Susanne Brunner. Sein grösstes Werk ist eine in 10 Romanen erzählte Familiensaga, die vom Bau der ersten Atombombe bis zur Katastrophe von Fukushima das ganze nukleare Zeitalter umfasst. Daniel de Roulet ist ein politisch engagierter Autor. Geschrieben hat er nicht nur im stillen Kämmerlein, sondern in aller Welt auf tage- und wochenlangen Wanderungen: Er folgte den Spuren des Mönchs Gallus, der zu Fuss von Irland in die Schweiz gelangte und St. Gallen gründete. Er wanderte auf den Pfaden der Migrantinnen und Migranten, die von Südamerika in Richtung USA unterwegs sind. – «Meine einzige Angst bei Livesendungen sind Verkehrsmeldungen, wenn kurz nach der Waldburgisnacht gemeldet wird, dass auf der Autobahn ein Besen liegt», meinte die Moderatorin Susanne Brunner, die beeindruckend locker auf das Stichwort des Regisseurs wartete. Daniel de Roulet erzählte von den Schrecken der Waldbrände in der kanadischen Provinz Alberta, einer Gegend, die der Autor kennt, von der Flucht vor der Feuerwalze. Was dort geschehe, sei keine ausgebrochene Katastophe, sondern eine permanente, die mit der Ölgewinnung durch Fracking längst zu einem Dauerfall geworden ist, einer Katastrophe, deren Folgen noch Jahrhunderte nachzuspüren sein werden. So hörte ich ihm zu, gebannt von einem Mann, dessen Schreiben immer auch eine politische Äusserung ist.9783857917110 Kamikaze Mozart erzählt von Fumika, einer japanischen Musikstudentin in Berkeley, die sich in den Schweizer Physiker Wolfgang verliebt, der im Team von Robert Oppenheimer an der Atombombe baut. In Japan hat ihre Familie für sie einen Mann bestimmt, den sie noch nie gesehen hat und der Kamikaze-Anwärter bei der Luftwaffe ist. Nach dem Überfall der Japaner auf Pearl Harbor wird Fumika mit den andern 130 000 «feindlichen Elementen» interniert. In der Wüste von Santa Fe, wo die Internierten beim Bau von Wolfgangs Reaktor eingesetzt werden, sehen sie sich wieder. Wolfgang hat sich inzwischen ganz in den Dienst der «Bombe gegen die Nazis» gestellt, und die Liebe zu einer «Feindin» bringt ihn jetzt in Schwierigkeiten. Schreiben sei wie das Handeln mit Dynamit.

Und dann, am späten Nachmittag, lasen die jungen Frauen; Noëmi Lerch, Dana Grigorcea und Meral Kureyshi, die vor ihrem Auftritt vor grossem Publikum noch einmal die Lippen nachzog. Und weil zu viel von dem Stift an ihrem Finger blieb, strich sie den Rest weg und ein roter Strich blieb an der weissen Wand des Palais Besenval. Als der Vater der Erzählerin unerwartet stirbt, gerät die junge Frau ins Schlingern. Ein Jahr lang lebt sie im Ungefähren, besucht wahllos Vorlesungen an der Universität, fährt Zug, sucht unvermittelt Orte ielefanten_im_gartenhres bisherigen Lebens auf, reist nach Prizren. Erinnerungen an ihre idyllische Kindheit in der osmanisch geprägten Stadt, die sie im Alter von zehn Jahren mit ihrer Familie verlassen musste, drängen machtvoll in ihre Schweizer Gegenwart. Aber die Welt ihrer Kindheit findet sie nicht wieder in Prizren, und auch sie selbst hat sich verändert. Sie sucht einen Platz in ihrem neuen Land, der neuen Sprache. Die Unselbstständigkeit ihrer einsamen Mutter erträgt sie nur schlecht und mit jedem neuen deutschen Wort wächst die Entfernung zu ihr. Während die Mutter sich zunehmend isoliert, versucht die Erzählerin dem Stillstand zu entkommen.

Manchmal von der Strasse das Holpern der Rollkoffer, von den Dächern das Krähen der Raben und einmal der Junge, der erst recht zu schreien begann, als sich alle Köpfe zu ihm drehten. Noëmi Lerch, Dana Grigorcea und Meral Kureyshi, junge Frauen, die die literarische Bühne erobern, die es tun mit Selbstverständnis aber ohne Dünkel, mit Leidenschaft, erfrischend!

Noëlle Châtelet «Die Klatschmohnfrau»
Daniel de Roulet «Kamikaze Mozart»
Meral Kureyshi «Elefanten im Garten»

 

 

 

Thomas von Steinaecker «Die Verteidigung des Paradieses», S. Fischer

In nicht allzu ferner Zukunft: Heinz ist 15 und lebt mit einer kleinen Gruppe Menschen auf einer Alp. Eine Schicksalsgemeinschaft, denn es trieb sie eine globale Katastrophe in die Berge. Weite Teile Europas sind verseucht und was um sie herum wie ein kleines Überbleibsel funktioniert, ist überdacht mit einer riesigen Kuppel, die verhindert, dass alles Leben stirbt. Doch ein infernalisches technisches Gewitter vertreibt die Gruppe aus dem Kuppelparadies, in der Hoffnung, irgendwo auf Reste einer funktionierenden Zivilisation zu stossen. Die Gruppe macht sich auf, Heinz zusammen mit Fennek, einem elektronischen Fuchs, seinem einzigen Freund, der ihn mit Geschichten tröstet und ein paar Heften im Gepäck, in die Heinz aufschreibt, was in noch fernerer Zukunft nicht vergessen sein soll. Mit Cornelius, der schon in der untergegangenen Vergangenheit in leitender Funktion war, zieht die Gruppe mit einem Ziel und Hoffnung durch verbranntes Land, apokalyptische Szenerien, verfolgt von Drohnen, bedroht von marodierenden Banden, verschreckt von Camps, in denen Mutanten vegetieren. Irgendwo im Westen soll ein Flüchtlingslager sein. Heinz will ein guter Mensch sein. Er sammelt nicht nur Geschichten, auch Wörter in seinen Heften, die aus seiner Erinnerung auftauchen. Er spürt, dass er ein Geheimnis mit sich herumträgt.

Thomas von Steinaecker erzählt die Geschichte episch, schildert eine düstere Zukunft mit Bildern, die wir aus Filmen und anderen Endzeitbüchern kennen. Warum soll ich also noch so eine Dystopie lesen. Weil Thomas von Steinaecker seinen Protagonisten, der damals als Kind auf die Alp kam und nur kennt, was er aus Erzählungen und ein paar Büchern von Cornelius weiss, auf der Flucht eine andere Welt kennen lernt und nicht mit Erinnerungen an eine verschwundene Vergangenheit verklebt ist. Er flieht mit den Augen eines Kindes, im Körper eines Jugendlichen, bis er alt und entkräftet im letzten Teil des Buches seine Geschichte zu Ende erzählt, ein Ende, das entrückt scheint.

Das Buch lebt von den Bildern und der Spannung, die der Autor zu erzeugen weiss. Michael von Steinaecker hat sich nicht wenig vorgenommen und literarisches Breitbandkino geschaffen.

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Thomas von Steinaecker, geboren 1977, wohnt in Augsburg. Er schreibt vielfach ausgezeichnete Romane – unter anderem «Wallner beginnt zu fliegen» und «Das Jahr, in dem ich aufhörte, mir Sorgen zu machen, und anfing zu träumen» – sowie Hörspiele. Außerdem dreht er Dokumentarfilme, für die er unter anderem den ECHO Klassik erhielt. Für S. Fischer Hundertvierzehn initiierte er das »Mosaik-Roman«-Projekt «Zwei Mädchen im Krieg» und veröffentlichte ab Oktober 2015 zusammen mit der Zeichnerin Barbara Yelin den Fortsetzungs-Webcomic «Der Sommer ihres Lebens».
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Marjaleena Lembcke «Wir bleiben nicht lange», Nagel & Kimche

«Weisst du, manchmal komme ich mir vor, als hätte ich mein Leben lang Aufnahmen gemacht, aber die Negative nie entwickelt. Und jetzt sitze ich in der Dunkelkammer und warte darauf, dass die Bilder sichtbar werden, und habe doch Angst vor den fertigen Fotos.»

Letzthin besuchte ich wieder einmal die Buchhandlung zur Rose in St. Gallen, in Sichtweite der mächtigen Klosterkirche. Nicht weil es mir an Lesestoff mangelte (In meiner Tasche wartete «Herzvirus» von Bettina Spoerri mit den letzten Seiten.), sondern weil es Leonie Schwendimann dort in der kleinen, aber feinen Buchhandlung versteht, auch einen Vielleser wie mich auf besondere Bücher aufmerksam zu machen. Diesmal das neue einer Frau, die seit Jahrzehnten deutsch schreibt, in ihrem Innern aber noch immer Finnland und das Finnische mitschwingen lässt. «Wir bleiben nicht lange» ist nicht ihr erster Roman für Erwachsene, aber mit Sicherheit endlich Grund genug, Marjaleena Lembcke zu entdecken.

Sisko, krebskrank und mit Metastasen im ganzen Körper, ruft ihre Schwester Mirja zu sich nach London ins Krankenhaus. Die beiden Schwestern wuchsen in Finnland auf, entfernten sich aber nicht nur geographisch und nicht nicht nur von Finnland, als ihre Mutter den Freitod wählte. Sikso will nicht alleine sterben, oder zumindest nicht das letzte Stück alleine sein. Die Schwestern verbringen viel Zeit, Sisko mit einem Beutel, in dem Wodka und Zigaretten verstaut sind und Mirja mit der Angst, Sisko im falschen Moment alleine zu lassen. Sie erzählen einander, witzeln und beissen mit Worten, trösten sich gegenseitig, jede für die Verluste der anderen. «Man verpasst das Leben sowieso. Ewig auf der Suche nach einer Hand, an der man sich festhalten kann.» Und weil beider Leben mit dem Tod ihrer Mutter jene Wendung bekam, ab der Ängste sie permanent begleiteten, schienen auch alle anderen Lieben permanent von Verlust bedroht zu sein.
Marjleena Lembcke schrieb über den Abschied, das Ende, über jene Momente, in denen es keine Zukunft mehr gibt, über zwei Schwester, die sich angesichts des Todes noch einmal ganz nahe kommen, nicht weinerlich, sondern mit einer gehörigen Portion Sarkasmus. Auch ein Buch über Bücher; «In Büchern gab es Orte, von denen sie noch nie gehört, die sie nicht gesehen hatte, vielleicht nie sehen würde. Bücher waren der Ort, wo sie einige Zeit unerreichbar und geschützt war.», und über die Lüge des In-Würde-Sterbens. So sehr Mirja Bücher liebt, so sehr verachtet sie Sisko. Sie habe keine Lust, sich in Scheinwelten zu verstecken. Sisko will keine Scheinwelt mehr, kein Blatt mehr vor den Mund nehmen, erst recht nicht, um ihren Wodkaatem zu verbergen. «Ich will meinen Tod nicht bei vollem Bewusstsein mitkriegen. Die Hälfte des Lebens habe ich nur benebelt ertragen. Glaubst du, ich hätte Lust, beim Sterben die Heldin zu spielen?»
Die beiden Frauen geraten sich beim Resümieren über Leben, Liebe, Familie, Männer und den Tod in eine Nähe, die alles auftut, in allem versöhnt.
Marjaleena Lembcke: «Ich glaube nicht, dass man jemanden wirklich beim Sterben begleiten kann. Es sei denn, man stirbt mit ihm.»

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Marjaleena Lembcke wurde 1945 in Finnland geboren und studierte Theaterwissenschaften und Bildhauerei. Seit 1967 lebt sie in der Nähe von Münster in Westfalen. Sie schreibt für Kinder und Jugendliche ebenso wie für Erwachsene. Für ihre Bücher wurde sie vielfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem Österreichischen Kinder- und Jugendbuchpreis 1999, und wurde nominiert für den Deutschen Jugendliteraturpreis.

Frédéric Pajak «Ungewisses Manifest 1», edition clandestin

Was eben erst in deutscher Übersetzung bei einem kleinen Bieler Verlag herausgekommen ist, soll der erste Teil eines neunteiligen Werks werden. Die edition clandestin verlegt belletristische Werke in Kombination mit Fotos, Zeichnungen und Illustrationen. Mit Sicherheit ein aufwändiges und kostspieliges Unternehmen, das dafür einen Bücherliebhaber wie mich umso mehr in Verzückung bringt.
Was Frédérik Pajak schuf, ist kein Roman, keine Geschichte, auch kein Graphic Novel. Ich als Leser muss mich einlassen in dieses aussergewöhnliche Buchprojekt, das mäandert zwischen essayistische Gedanken um Vergangenheit, Politik, Stationen aus dem Leben des Philosophen und Kulturkritikers Walter Benjamins uPoster20 3nd tagebuchartigen Notizen und Erinnerungen mit den Augen des Schriftstellers und Zeichners Frédérik Pajak. Walter Benjamin, der zu Beginn des 2. Weltkriegs vor der faschistischen Welle flieht, aber nirgend mehr Ruhe findet, vielleicht noch am ehesten auf der Mittelmeerinsel Ibiza, die damals noch weit weg war von der Tristess eines verschandelten Touristeninsel. Walter Benjamin war verzweifelt, allem beraubt, nicht zuletzt seiner Hoffnung.
Aber ebenso stark wie die Texte sind die Tuschzeichnungen, die als Tafeln über den Texten stehen, machmal illustrierend, manchmal klärend, manchmal wie eine Assoziation. Frédérik Pajak nimmt mich mit in seine Welt, seine Gedankenwelt. Ein Buch, das ich mir in kleinen Portionen schenke, ein Bilderbuch für Erwachsene, mit Bildern, die sich einbrennen und Texten, die neugierig machen.

Frédéric Pajak, geboren 1955 bei Paris, Franzose und Schweizer. Autor, Künstler und Verleger. Seine Bücher, für die er zahlreiche Preise bekam, 2014 Prix Médicis, 2015 Schweizer Literaturpreis, kombinieren Zeichnung und Text. «Ungewisses Manifest 1» ist der erste Band eines insgesamt neunteiligen Werks, welcher erstmals in deutscher Übersetzung erscheint.

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Bettina Spoerri «Herzvirus», braumüller

«Jetzt ist alles anders; ich weiss nie, wann sie diese völlig Fremde ist, eine unheimliche Frau, die ich nicht kenne und die mich nicht kennt.»

Nach Jahrzehnten nimmt die Erzählerin den Deckel von einer Kartonkiste mit der Aufschrift «PREMIUM BANANA Chiquita». Eine Kiste voller Erinnerungen an ihre Mutter, eine Kindheit, aus der der Vater früh verschwand und sie sich mit den beiden Brüdern an die Mutter klammerte, die von Ort zu Ort weiterzog, auf der Flucht vor sich selbst. Doch selbst die Brüder schimpften sie «die Nachgeburt». So bleibt die Tochter weggeschlossen, auf Distanz. «Herzvirus» ist die Geschichte einer zerbrechenden Familie, die die Verankerung verliert, der Leidensweg einer Mutter, die vom Herzvirus infiziert ist, die in eine «Ohnmacht fiel, aus der sie nicht mehr zurückkann». «Ich dachte: ein Herzvirus – das passt. Ihr Herz wurde infiziert, langsam vergiftet, paralysiert, es war zu viel für sie hier.» Während die Mutter langsam im Wahn zerfällt, die Kadenz ihrer Einbrüche immer schneller wird, zwingt es die Tochter, eigenen Gesetzmässigkeiten zu gehorchen, der vergifteten Welt ihrer Mutter zu trotzen. Und weil die Familie immer dann weiterzieht, wenn die Mutter erneut zur Flucht ansetzt, ist es die Literatur, das Lesen, Pippi Langstrumpf, Peter Pan oder das Märchen vom Kalif Storch, die der Tochter einen Ersatz für die verlorene Heimat schenkt. Literatur gibt nicht nur Geschichten, sondern Geschichte. Im zweiten Teil des Romans reflektiert die erwachsen gewordene Tochter lange nach dem Sterben der Mutter auch nach sich selbst, was ihr die Kraft gab, damals zu überleben.
«Wenn ich lese, verschliesse ich meine Ohren. Mit einem Satz saugen mich die Erzählungen auf, vieles, was ich im Leben nicht verstehe, erscheint verwandelt in den Büchern wieder, stärker, deutlicher, unvergleichlich wunderbar.»
Bettina Spoerris feinsinniger Roman ist die Hommage an eine verwundete Mutter, ein vorsichtig bebilderter Annäherungsversuch an eine verlorene Vergangeurn-newsml-dpa-com-20090101-150614-99-02223-large-4-3nheit. Auch wenn ich als Leser den Schmerz, etwas versäumt zu haben, mithöre, ist es die Liebeserklärung an eine Mutter, die sich manisch-depressiv immer weiter von den Kindern und der Welt entfernt, auch als ein neuer Mann einen Neuanfang verspricht. Bettina Spoerri schildert die Suche einer Tochter nach Geborgenheit und Halt, nach Liebe und Sicherheit, nach Erinnerung, nach Familie.

Poster20 3Bettina Spoerri ist in Basel aufgewachsen, studierte in Zürich, Berlin und Paris, arbeitete nach einem längeren Aufenthalt in Israel als Assistentin am Deutschen Seminar der Universität Zürich. Ihr erster Roman «Konzert für die Unerschrockenen» erschien 2013 bei Braumüller (Wien). Bettina Spoerri arbeitet heute als freie Autorin, Filmkritikerin, Kulturvermittlerin und leitet das Aargauer Literaturhaus.

Webseite der Autorin

50. Nationaler Wettbewerb von Schweizer Jugend forscht: «Mein Vater wurde verfolgt» Lea Hildegard Frei (20) aus Amriswil (TG)

Schweizer-Jugend-forschtLea Hildegard Frei aus Amriswil erstellte eine Graphic Novel über eine vietnamesische Flüchtlingsfamilie. „Ich will begeistern, lehren, aufzeigen, aufwühlen, berühren, erzählen und hinterfragen.“

Wie lautet der Titel deines Projektes?
«Ein Leben für das Illustrieren»
Wie ist es dazu gekommen, dass du dich für dieses Thema entschieden hast?
Schon seit ich mich an einen Berufswunsch erinnere, war dieser eine Illustratorin zu werden. Ich zeichne schon immer oft und gerne. Noch heute ist die Welt der Illustration meine Leidenschaft. Die 9. Kunst (Comic und grafische Novellen) fasziniert mich besonders. Die Graphic Novel ist mein Lieblingsmedium. Mein Ziel ist es, mich als Comicautorin zu verwirklichen. Die Arbeit sollte mich mit dem Umgang, eine eigene grafische Novelle zu erschaffen, weiterbilden. Meine Berufung sollte sich bestätigen. Es sollte der erste grosse Schritt zu meinem Traum werden.
Worum geht es in deiner Arbeit?unspecified-1
Die zentrale untersuchte Fragenstellung meiner Arbeit war, wie man eine grafische Novelle anfertigt. Der Prozess von der Ideensuche, der Gedankenschwangerschaft zur mühevollen Geburt einer kurzen Graphic Novel, welche die wahre Geschichte einer vietnamesischen Flüchtlingsfamilie illustriert, stand im Fokus.
Was hast du mit deiner Arbeit herausgefunden?
Meine Arbeit bestätigt meine Fähigkeiten und meine Ziele. Neben vielen technisch erlernten Fertigkeiten gewann ich einen breiten Einblick in das kunstvolle und stark unterschätzte Erschaffen einer Graphic Novel. Die Sprache der visuellen Kommunikation ist hochinteressant und hat es mir stark angetan.
Was möchtest du mit deiner Arbeit bewirken?unspecified-2
Kommunikation ist unser Lebenselixier. Meine Arbeit soll aufzeigen, reizen und die Menschen erreichen. Mein Comic zeigt die Erzählung einer Flüchtlingsfamilie, ein sehr aktuelles Thema und doch nur einer von vielen Aspekten, die die Weiterentwicklung und Kommunikationsmöglichkeiten zwischen uns Handelnden fördert. Ich möchte weiterlernen, mit Interessierten diskutieren und die interessante Welt entdecken, sie einfangen und das Gelernte in einer globalen Sprache weitergeben.

«Lea Frei hat in einer kurzen Zeit ein berührendes, authentisches und poetisches Portrait zu einem zeitaktuellen Thema geschaffen und lässt uns in die Welt von Menschen blicken, die aus ihrer Heimat fliehen mussten.» Würdigung durch Expertin Annette Gehrig, Kuratorin und Leiterin Cartoonmuseum Basel

Sonderpreis Academia Engelberg (Teilnahme an der dreitägigen Wissenschaftskonferenz in Engelberg. Die Teilnehmenden aus verschiedenen Nationen, Kulturen und Religionen diskutieren 2016 über das Thema «Im Grenzenbereich».)

Text von sjf.ch
Bilder von «Riechsteiner Fotografie, Schweizer Jugend forscht»

Ein Buch von ganz unten: Heinz Strunk «Der goldene Handschuh», Rowohlt

Es war an einer Lesung in Konstanz. Das schwarze Gewölbe war bis auf den letzten Platz besetzt. Auf der Bühne stand ein in schwarzes Tuch gehüllter Tisch, daneben ein Mikrophon, dahinter wohl ein Stuhl. Als der Autor auf der Bühne erschien, blendeten hinter ihm gelbe, orange und rote Scheinwerfer. HeinzPoster20 1 Strunk setzte sich, blickte ins Dunkle und begann zu lesen, aus dem Leben des Frauenmörders Fritz Honka, der die deutschen Zeitungen und Sensationsblätter in den siebziger Jahren zum «Gespenst des Grauens» stilisiert hatten. Nichts wird bei der Geschichte ausgelassen. Honkas Welt zwischen seiner versifften Wohnung und dem «Goldenen Handschuh», der Hamburger Kaschemme, in der sich der ganze Bodensatz der Gesellschaft sammelt, wird über Tage gesoffen, gehurt, gepöbelt und verloren. Heinz Strunk liest tapfer, schnell, undeutlich, nuschelt, was für einen Deutschen authentisch klingen mag, für mich als «Ausländer» anstrengend wird. Nicht nur sprachlich und akustisch, denn als Leser und Zuhörer kippe ich dauernd zwischen Ekel, Verwirrung und Faszination. 150 Recherchegänge in den «Goldenen Handschuh» habe er, Heinz Strunk, gebraucht, um den Ton dieser Menschen zu treffenPoster20 2, was ich ihm glaube, denn selbst in seiner Performance schienen Alkohol, Verwesungsgeruch und Toilettengestank in die Nase zu steigen. Es fällt mir schwer, das Lob gewisser Rezensenten zu teilen, die huldigen, Heinz Strunk sei nun endgültig in der Hochliteratur angekommen. Mit Sicherheit gelingt es dem Autor den Leser mit der Form seines Romans nicht nur Zuschauer werden zu lassen, sondern ihn gleichsam mit in den Abgrund zu ziehen, ständig im Unsichern darüber, ob man sich die Lektüre bis zum Ende antun soll oder nicht. Buch und Lesung werden zum Horrortripp.
Mit Sicherheit ist Hamburg in Zukunft um eine Attraktion reicher. Ist es auch die Literatur? Ich bin gespannt auf eure Meinung! Schreibt sie dazu!

Tom Zürcher «Der Spartaner», Lenos

«Ich habe Flügel. Zu grosse, wie sie hier sagen, aber ich bin froh um sie. Dank ihnen können sie mich nicht festhalten, selbst hier nicht, wo sie mich gefangen halten.»

Er ist im Hotel ohne Fenster, das Essen gut, mit Einzelzimmer. Mit Frau Doktor unterhält er sich, manchmal morgens, manchmal nachmittags. Frau Doktor ist hübsch und hat eine karamellige Stimme. Er würde lieber ein Bier trinken oder mehr, weil ihn Bier nüchtern macht, statt sich dauernd darüber zu unterhalten, was im Mörder geschehen ist, warum es Tote gab und aus blöden Häppchen Tote wurden. Er mag Frau Doktor, erst recht, als sie nicht mehr kommt und ein anderer gegenüber sitzt und ihm nicht verraten will, was mit Frau Doktor ist, die nämlich rausgefunden hat, dass er ein guter Küsser ist, ihm aber noch immer nicht glaubt, dass er nicht lesen kann, dafür nach jeder Sitzung die Gespräche mit einer alten Schreibmaschine in die Tasten haut und übers weisse Papier fliegt, weil das Geräusch der Maschine all die anderen Geräusche im Kopf übertönt. Dabei war alles einmal perfekt, zusammen mit Kuss, Gerpolder, Fetti und dem Spartaner. Als der Spartaner noch lebte, war er sein einziger wirklicher Freund.

Tom Zürchers Buch und Sprache ist nicht Mainstream; ein brauner Korridor mit feuchter Beleuchtung, ein Zimmer riecht wie eine feuchte Keksdose. Aber das macht sein Buch zum Ganzen, denn auch der Protagonist ist nicht Mainstream, mal mehr, mal weniger neben der Realität, immer auf Konfrontation mit der Welt, sei es in den witzigen und queren Dialogen mit der Therapeutin des «Hotel ohne Fensters», seinem Blick auf die Gesellschaft oder in der entglittenen Freundschaft zum «Spartaner».

Der Genuss des Buches vergrössert sich, wenn man es laut liest und die eigene Stimme irgendwann den verzweifelten Ton der Therapeutin oder den scharfzüngigen des Protagonisten annimmt. Ein Kammerstück, ein Blick in die Schatten!

f87e6db5d667d9a977e39670e1f206117a7a5ebfTom Zürcher (1966) ist Zürcher, freier Texter und Schriftsteller. Vor bald 20 Jahren erschien bei Eichborn sein erster Roman «Högo Sopatis ermittelt», von dem im Klappentext steht: «Eine durchgedrehte Schweizer-Qualitäts-Detektivgeschichte…» und von der Zürcher Kantonalbank: «Wir wünschen allen Schriftstellern viel Erfolg und ein reiches Leben.» Ich auch. 😉

Welttag des Buches; das richtige Buch auf dem Nachttisch!

Judith Schalansky traf ich vor einigen Jahren an einer Lesung im Kaufleuten in Zürich, wo sie aus ihrem damals frisch erschienen Roman «Der Hals der Giraffe» las und im anschliessenden Gespräch auch auf ihre zukünftige Arbeit als Buchgestalterin und Herausgeberin einer ganz speziellen Sachbuchreihe «Naturkunden» beim Berliner Verlag Matthes & Seitz zu sprechen kam. Dass Judith Schalansky ein ganz besonderes «Händchen» für Gestaltung hat, bewies sie auch bei ihren eigenen Büchern, denen sie als Buchgestalterin ihren ganz eigenes Erscheinungsbild geben konnte (Fraktur mon Amour, Atlas der abgelegenen Inseln). Aber selbst beim Signieren ihrer Bücher kaPoster20 1m der Stempel wieder. Obwohl eine ganze Reihe mehr oder weniger geduldig Wartender in der Reihe stand, polierte Judith Schalansky in aller Ruhe und Akribie den von mir aus einer Schachtel ausgewählten Stempel und drückte ihn vorsichtig in ihr Buch. Selbst die Signatur sollte stimmen.
Seit 2013 erscheinen nun regelmässig Bücher, die von Natur erzählen, von Tieren und Pflanzen, von Pilzen und Menschen, von Landschaften, Steinen und Himmelskörpern, von belebter und unbelebter, fremder und vertrauter Natur. Jedes Buch erzählt von der Liebe zur Sache, zur Sprache und zum Buch. Jedes Buch ist ein Manifest «gegen» das Digitale, wo weit mehr als nur das «Haptische» verloren geht. Zwei dieser Perlen, frisch erschienen, lege ich ihnen zur Feier des Tages ganz besonders ans Herz, zwei Bücher die wie geschaffen sind, um sie an die Pforte des Schlafes zu liegen, aufs Nachttischchen, um den Tagen die Last zu nehmen:
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«Schmetterlinge», ein Portrait von Andrea Grill und «Federn, ein Wunderwerk der Natur» von Thor Hanson. Ich verspreche höchsten Genuss!
PS …und ein wunderschönes Geschenk!

Webseite der Buchreihe

Anna Mitgutsch «Die Annäherung», Luchterhand

Anna Mitgutsch, ‹Grande Dame› der deutschsprachigen Literatur hat mit «Annäherung» einen Familienroman geschrieben, darüber, was noch vor dem Sterben ungewollt aus der Vergangenheit aufbricht, was selbst die Zeit nicht heilt und das Glück zu einem filigranen, durchscheinenden Moment werden lässt.

Noch einmal ein Jahr, vom Winter bis zum letzten Winter. Theo ist 97 und erholt sich von seinem Schwächeanfall erstaunlich gut und schnell. Zusammen mit seiner Frau Berta versucht er zurechtzukommen, nicht nur mit seinem Alter, seinen zunehmenden Unzulänglichkeiten, auch mit dem, was sich während eines ganzen Lebens unausgesprochen ansammelte und nicht einfach wegzuwischen ist; am wenigsten immer stärker werdende Erinnerungen, das nie Ausgesprochene, all die Versäumnisse, das Unterlassene. Er zieht Bilanz, wenn auch bis zuletzt gefangen von sich selbst. «Es kam ihm an manchen Abenden  so vor, als schritte er auf einer von Toten gesäumten Strasse der nahen Dunkelheit entgegen.» «Die Kraft lief wie aus einem undichten Gefäss heraus.» Mehr als eine Metapher! Theo verliebte sich noch vor seinem Einsatz in der deutschen Wehrmacht in Wilma, die er nach dem Krieg heiratete, eine Wilma aber, die genau wie er nicht mehr die war, die er einst vor dem grossen Krieg kennenlernte. Doch Wilma starb früh an Krebs, liess ihn zurück mit seiner Tochter Frieda, die schnell mehr war, als bloss Tochter. Und als Berta in Theos Leben auftauchte, entbrannte ein Krieg zwischen den beiden Frauen, bis «Geh, du gefährdest meine Ehe!» der letzte Ausweg zu sein schien. Aber dem war nicht genug. Frieda begnügte sich schon als Jugendliche nicht mit den flüchtigen Antworten auf ihre Fragen um seine Wehrmachtseinsätze. Theo stellt sich bis ins hohe Alter nicht dem Drängen seiner Tochter, selbst mit dem kümmerlichen Versuch am Schluss seines Lebens, als er ihr sein Kriegstagebuch übergibt, denn dieses ist der Preis dafür, dass Friede sich aufmachen soll in die Ukraine, um Ludmilla zurückzuholen. Ludmilla, eine illegal eingestellte Pflegerin, jene Frau, die als einzige das Herz Theos zu erreichen schien, jene mit der er als einzige frei reden kann, jene Frau, die Berta wegschickte, als Ludmilla Theos letzter Anker war.
Anna Mitgutsch schildert nicht nur Theos Endlichkeit, seine (ab)sterbende Seele, sondern das Psychogramm seiner Familie. Die Schriftstellerin erzählt langsam und genau darüber wie irrig es ist zu glauben, dass die Zeit Wunden heilt. «Aber das stimmte nicht, sie liess nur zu, dass das Leben sich dazwischenschob.» Theos erster Beruf war Gärtner, sein Garten zuhause sein ganzer Stolz. Es ist das letzte Jahr in seinem Leben, noch einmal Frühling, noch einmal Sommer und dann der Rückzug ganz im letzen Herbst und Winter mit der Gewissheit, keinen Einfluss mehr nehmen zu können auf das, was «draussen» geschieht. «Die Annäherung» ist ein Roman wie eine Beschwörung, dafür, jene Momente nicht zu versäumen, miteinander zu reden. Schweigt und wartet man, vielleicht auf den Moment, der niemals kommt, stellt man dann irgendwann fest, dass die Gräben unüberwindbar geworden sind. Ein stilles Buch, manchmal wie die «Steppenskizze» von Alexander Borodin.

«Die Liebe muss eine Begabung sein wie die Musikalität, manchen Menschen ist sie von Natur aus gegeben, sie scheinen für die Liebe geschaffen, und anderen weicht sie aus, das ganze Leben lang.»

Webseite der Autorin