Zwei Frauen auf dem Gletscher. Die eine damals, als sich der weisse Koloss noch wuchtig ins Tal ergoss. Die andere heute, wo sich der Mächtige mehr und und mehr zurückzieht, sich in Wasser verwandelt, zu einem kümmerlichen Rest zu werden droht. Und weil die eine durch einen Fehltritt im Eis liegen und für Jahrzehnte eingeschlossen bleibt, kreuzen sich die Weg der beiden Frauen in Spalten an der Gletscherzunge.
Gletscher sind gefrorene Geschichte, eine Art Fingerabdruck der Zeit. So wie sich über Jahrhunderte Schicht um Schicht der Gletscher vergrösserte, so schmilzt er heute weg, gibt preis, was über Jahrzehnte, Jahrhunderte oder gar Jahrtausende verborgen blieb. Bekanntestes Beispiel dafür ist Ötzi, eine „Gletschermumie“, die man 1991 im Südtirol fand, 5000 Jahre nach einer Nacht, die der einsame Wanderer nicht überleben sollte. Künftig wird es immer wieder vorkommen, dass das sich zurückziehende Eis, der schmelzende Permafrost Geschichten freilegen wird.
Annina ist eine junge Journalistin, noch frisch auf der Redaktion, aufgeregt auf ihr erstes grosses Interview, das nach der sonntäglichen Wanderung über den Gletscher stattfinden soll. Eigentlich war es Absicht gewesen, zusammen mit ihrer Freundin Melli die Gletscherwanderung in Angriff zu nehmen. Aber Melli musste krank zurückbleiben. Statt mit der sprudelnden Freundin in die Höhe zu steigen, wird die Wanderung nicht nur eine Wanderung in die Stille der Berge, sondern ein Einstieg in die Stimmen in ihr selbst, eine Welt, die so ganz anders ist, als jene, die sie im Tal zurückgelassen hat. Eine Wanderung zu einem Gletscher, der sich hörbar bemerkbar macht, in dem es kracht und donnert, als wäre es ein grosses Ächzen in seinem langen Sterben.
Irma ist Jahrzehnte zuvor auf einer ganz ähnlichen Tour, sie in den Fünfzigerjahren allein unterwegs. Einem Abgrund entflohen, junge Witwe, allein am Berg, allein mit sich selbst, den Alltag hinter sich lassend.
Damals war der Gletscher ein ganz anderer, ein monströses Urgetüm, über Jahrhunderte fliessendes Eis. Irma und Annina, zwei Frauen in ganz unterschiedlichen Zeiten, an den Rändern eines Gletschers, der wie kaum ein anderes Naturphänomen zeigt, wie sehr sich die Zeit, die Fliessrichtung ändert. Was damals noch wuchs, zieht sich heute zurück. Damals ein wuchtiges Weiss, heute ein schmutzig graues Überbleibsel dessen, was es einmal war. Zwar wandern die beiden Frauen an den gleichen Bergflanken, aber was sie hinter sich liessen, unterscheidet sich ebenso diametral wie das, das sich vor ihren Augen an diesem Berg abspielt.
Marianne Künzle erzählt ganz dezent, macht sprachlich sichtbar, was der Berg verursachen kann; jene schlichte Klarheit. Marianne Künzle hätte die Geschichte dieser beiden Frauen aufblasen, jenen Fehltritt der einen dramatisieren, den Moment der Begegnung, Jahrzehnte nach dem Unfall theatralisch inszenieren können. Tat sie aber nicht. „Da hinauf“ ist der Blickwinkel zweier Frauen, die für ein paar Stunden aus ihrem Leben auftauchen wollen, die in den Bergen, an den Rändern des Gletschers die Nähe zu sich selbst suchen. Die Dramaturgie des Romans ist eine ruhige, als wäre ich als Leser der einzige Zeuge.
Als mir die Autorin vor Monaten bei einem Spaziergang in den Walliser Bergen von ihrem Manuskript erzählte, dachte ich, sie würde die Gletscherleiche erzählen lassen. Aber die eigentliche Begegnung der beiden Frauen aus unterschiedlichen Zeiten und Leben findet erst auf den letzten Seiten des Romans statt. Was den Roman zu einem grossen Lesegenuss macht, ist nicht das Drama am Eis, sondern die Stimmungen an diesem Berg, die Farben, die Spuren, das Licht, der Wind. Marianne Künzles Roman ist eine Ode an die Natur. Wie ein zärtliches Streicheln über Bergflanken, die unter den Klimaveränderungen ächzen. Die Autorin erzählt in zwei Strängen, zieht die Windungen immer enger, bis zu jenem Moment, wo klar wird, dass dort kein Holz im Eis liegt, sondern die Überreste einer Frau.
„Da hinauf“ ist gekonnt erzählt, eingetaucht in grosse Klarheit!
Marianne Künzle ist 1973 in Bern geboren. Sie ist in Schönbühl aufgewachsen, zwischen modernen Wohnblöcken und Waldrand, Intensiv-Landwirtschaft und letzten Froschhabitaten. Sie hat eine Ausbildung zur Buchhändlerin gemacht und koordinierte viele Jahre Greenpeace-Kampagnen für eine ökologische Landwirtschaft. 2019 hat sie den 2. Oberwalliser Literaturpreis erhalten (für «Living Planet«). Sie lebt im Wallis.