Wolfram Schneider-Lastin (Hrsg.) «Fragen hätte ich noch. Geschichten von unseren Grosseltern», Rotpunktverlag

30 Autorinnen und Autoren aus der Schweiz, Deutschland und Österreich erzählen von ihren Grosseltern, Geschichten bis nach Italien, Frankreich, Polen, Tschechien, Ungarn, der Ukraine, Israel, Pakistan und der DDR. Geschichten von Berührten, Geschichten, die berühren.

Auf einem meiner Regale steht ein eingerahmtes, sepiafarbenes Foto. Ein Mann in Anzug und Kravatte sitzt in einem Korbstuhl neben einem Tischchen mit Spitzendecke. Mein Grossvater. Er war Tischler, Schreiner. Auf dem Foto hatte er etwas zu repräsentieren. Dazu gehören wohl auch die Bücher auf der Ablage unter dem Tischchen und das offene Buch mit Stift auf dem weissen Tischtuch. Mein Grossvater starb, als ich ein Jahr alt war. Meine Mutter erzählt, er habe mich, schon gezeichnet von seiner Krankheit, noch in Händen gehalten. Er wurde nicht alt, aber von meinem Grossvater gibt er Zeugnisse, die noch immer an den Wänden im Haus meiner Mutter und meiner Tante hängen; Aquarelle und Ölbilder, von naturalistisch bis abstrakt. Mein Grossvater war begabt und hätte sich wohl viel lieber als Künstler gesehen, statt als Handwerker, der nur mit grösster Anstrengung dem nachgehen konnte, was seiner Leidenschaft entsprach. Aus Geldknappheit und weil meine Grossmutter wohl alles andere als glücklich darüber war, dass ihr Gemahl Geld für Ölfarben ausgab, bemalte er seine Leinwände gar beidseitig, sodass man sich später, als man dann doch das eine oder andere Bild einrahmte, sich stets für das eine oder andere entscheiden musste, im Wissen darum, dass das verborgene Bild Schaden nehmen würde. Die Begabung meines Grossvaters setzte sich in meiner Mutter, die auch heute noch mit über achtzig malt, meinem Bruder, der in Zürich seit Jahrzehnten ein Atelier führt und meinen Kindern fort. Eine Begabung, die mich stets in die Nähe der Kunst führte, gepaart mit dem ewigen Zweifel, der mit Sicherheit auch meinen Grossvater begleitete, denn nach seinem Tod sah man an den Wänden meiner zur Witwe gewordenen und wieder verheirateten Grossmutter nie ein gemaltes Bild meines Grossvaters. 

«Schon lange wollte ich meine Beziehung zu meinem Grossvater in einer Erzählung festhalten. Mir war klar, dass mir das einiges abfordern würde. Vielleicht hatte ich sie deshalb noch nicht zu Papier gebracht, als die Einladung mit der Frage kam, ob ich einen Text beisteuern möchte für ein Grosseltern-Buch. Ja, natürlich, das war mein erster Gedanke. Und doch zögerte ich ein paar Wochen lang, bevor ich zusagen konnte, denn ich wusste: Über meinen Grossvater schreiben bedeutet über mich schreiben. Und das heisst: rausrücken mit dem, was ich für sehr privat halte. Das war und ist schwierig für mich, denn ich leide durchaus nicht unter Bekenntiszwängen. Nun bin ich aber überglücklich, es gewagt zu haben, über diese Geschichte entspannen sich neue Beziehungen, auch in der Familie, ich stehe neu mit zwei Cousins in intensivem Kontakt, ich erfuhr so viel mehr über meinen Grossvater und meine Herkunft. Die Geschichte ist noch lange nicht auserzählt. Und nicht zuletzt: Die Geschichte meines Grossvaters verbindet sich mit allen Geschichten und mit allen Grosseltern im Buch. Und auch die Autorinnen und Autoren haben – so behaupte ich – einen neuen und vertieften Zugang zueinander. Das hat grosse poetische Kraft.» Romana Ganzoni

Wolfram Schneider-Lastin «Fragen hätte ich noch. Geschichten von unseren Großeltern», Rotpunkt, 2024, 256 Seiten, CHF ca. 32.00, ISBN 978-3-03973-039-1

Vielleicht ist genau das die grosse Tür, die sich auftut, wenn man die Geschichtensammlung „Fragen hätte ich noch“ liest. Das Buch lädt ein, sich mit den eigenen Grosseltern zu befassen, sich zu fragen, was denn an Erinnerungen, an Wissen, an Persönlichem noch da ist. Wer sich nicht aktiv mit seinem Stammbaum, seiner Herkunft befasst, weiss vielleicht nur wenig, vor allem von dem, was Fotografien nicht erzählen. Urgrosselten und ihre Vorfahren verschwinden im Vergessen. So wie die meisten von uns in 100 Jahren vergessen sein werden. Meine Mutter ist weit über achzig. Wenn ich sie noch einmal fragen möchte, dann wäre es jetzt an der Zeit. Wer war meine Grossmutter? Warum habe ich von ihr ein derart nüchternes Bild? Warum empfinde ich meinem Grossvater gegenüber derart viel Wärme und Sympathie, obwohl ich ihn nie wirklich erleben konnte.

«Einige der Geschichten im Buch rufen in Erinnerung, dass Europa in der Weltgeschichte eine ebenso verdienstvolle wie zerstörerische Rolle spielt. Von hier gingen ja auch vielfältige Brutalitäten aus, die sich vor, während und nach den beiden Weltkriegen zugetragen haben, etwa die Gründung der Staaten Israel, Indien und Pakistan, oder die Zerstückelung ganzer Kontinente. Die meisten meiner Vorfahren – aber nicht alle von ihnen – entkamen der Vergewaltigung, Enteignung und Entwurzelung durch die europäischen Kolonialmächte. Durch eine postkoloniale Fügung des Schicksals bin ich in der Schweiz aufgewachsen: Mein Vater war Bankier.» Waseem Hussain

Wolfram Schneider-Lastin, der Herausgeber und Mitverfasser des Buches, schildert in seinem knappen Vorwort die Entstehungsgeschichte des Buches, wie er während der Pandemie begann, die Geschichte seiner Grossväter aufzuschreiben, sie an Freunde weitergab und Lektüre und Reaktionen eine wahre Welle auslösten. Entstanden ist eine erstaunliche Sammlung von Geschichten, von Frauen und Männern im 20. Jahrhundert, die sich ganz verschieden durch ein Jahrhundert der Kriege und Umwälzungen stemmten. Geschichten von Liebe und Hass, von Ernüchterung und Enttäuschungen, vom grossen Schweigen und dunklen Geheimnissen, von tiefer Verbundenheit und schmerzhaftem Ekel.

«Dass sich meine Grosseltern krumm und bucklig gearbeitet haben, dass vor lauter Arbeit kein Denken möglich war, das kam nochmals stärker durch. Und ist damit übertragbar auf Menschen, die eben am Rand und «unten» wie blöd und hart arbeiten, dass nichts anderes mehr möglich ist. (s.a. «Jahrhundertsommer»). Und – das ist mir im Vergleich mit den anderen Geschichten aufgefallen – dass es von meiner Oma nur überhaupt zwei Fotos gibt, denn niemand hatte einen Fotoapparat und auch keine Zeit für so etwas, dass sie auch kein Auto hatten, vor dem man sich hätte fotografieren lassen können, dass sie auch nie in Urlaub fahren konnten, von dem es Fotos hätte geben können, dass sie arm waren, ohne dass sie je von sich gedacht hatten, arm zu sein. (Und meine andere Seite der Familie war noch sehr viel ärmer.) D.h. die Klassenfrage, die Frage nach der Herkunft, drängt bei jedem weiteren Schreiben und im Alter immer stärker durch.» Alice Grünfelder

Ein wunderbares Buch, eine Einladung, ein Zeitdokument.

Wolfram Schneider-Lastin, geboren 1951 in Schwäbisch Gmünd, studierte Schauspiel, Germanistik, Geschichte, Altphilologie und Kunstgeschichte an den Hochschulen Stuttgart, Tübingen, Wien und Rom. Seit 1988 lebt er in der Schweiz, wo er seine wissenschaftliche Karriere – nach der Promotion über Johann von Staupitz – an verschiedenen Universitäten und als Redakteur der Zeitschrift Librarium fortsetzte. Als Schauspieler hat er sich vor allem mit literarischen Lesungen einen Namen gemacht.

Die Autorinnen und Autoren: Fabio Andina (CH), Esther Banz (CH), Nelio Biedermann (CH), Sabine Bierich (D/CH), Zora del Buono (CH/D), Alex Capus (CH), Verena Dolovai (A), Daniela Engist (D), Oded Fluss (ISR/CH), Romana Ganzoni (CH), Roswitha Gassmann (CH), Alice Grünfelder (D/CH), Gottfried Hornberger (D), Waseem Hussain (PAK/CH), Markus Knapp (D), Andreas Kossert (D), Martin Kunz (CH), Hanspeter Müller-Drossaart (CH), Christa Prameshuber (A/CH), Helmut Puff (D/USA), Klemens Renoldner (A), Christian Ruch (D/CH), Ariela Sarbacher (CH), Thomas Sarbacher (D/CH), Herrad Schenk (D), Gerrit Schneider-Lastin (DDR/CH), Wolfram Schneider-Lastin (D/CH), André Seidenberg (CH), Ruth Werfel (CH), Anke Winter (D/CH)

«Ich wundere mich über die historische Amnesie in Jurys, Feuilletons, sogenannten Kulturkreisen, wie wenig von diesem Wissen vorhanden ist, wie wenig diese Leute in diesen Bubbles selbst von anderen Kreisen wissen, in denen sie sich nicht bewegen, wie viel für «alt» gehalten wird und noch lange nicht überwunden ist – und wie viel Kraft es kostet, diese Vergangenheit und auch Krisen anderswo wieder und wieder gegen den Mainstream in Erinnerung zu rufen.» Alice Grünfelder

Illustration © Hannes Binder

Waseem Hussain «Verhinderter Eklat an der XVII. Triennale Südasiatischer Hühnereinbalsamierer», Plattform Gegenzauber

Wie alle drei Jahre haben sich auch heuer die Mitglieder des Südasiatischen Kongresses der Hühnereinbalsamierer (SAKHBAL) getroffen. Als Austragungsort ihrer diesjährigen Zusammenkunft hatte der Kongressvorstand das denkwürdige Fort Abbas bestimmt, welches auf halbem Weg zwischen Bahawalpur in Pakistan und Ganganagar in Indien liegt. Die Wahl des Austragungsortes war nicht zufällig, haben doch jüngere Ausgrabungen in und um Fort Abbas zum Teil gut erhaltene Überreste einbalsamierter Hühner zutage befördert, die auf ca. 3500 v. Chr. datiert sind und zu den kostbarsten Exemplaren ihrer Art zählen.

Auf der Traktandenliste standen diesmal, neben routinemässigen Pendenzen wie die Wahl des Präsidenten und des Vorstandes des SAKHBAL, vor allem die Fragen einerseits nach der “wissenschaftlich korrekten” und andererseits der “zeitgeistig angemessenen Zusammensetzung” des Balsams. Das Thema ist bereits mehrmals in “Tikka”, der halbjährlich erscheinenden SAKHBAL-Publikation, aufgegriffen worden. Sowohl die darin veröffentlichten Forschungsberichte als auch die Leserbriefe, die in der jeweils nachfolgenden Ausgabe abgedruckt wurden, haben gezeigt, dass insbesondere die zweite Fragestellung die Expertengeister bewegt.

Grundsätzlich besteht der Balsam aus Rapsöl, Malzessig und Limettensaft, gemahlenem Gelbwurz, geriebenem Ingwer, Kreuzkümmel, zerstossenen Senf-, Pfeffer- und Korianderkörnern, Bockshornkleesamen, Chili, Zimtrinde, Knoblauch, Paprika, Zwiebeln und Salz; wer unorthodox war, gab zusätzlich roten, natürlichen Farbstoff dazu.

Vor nunmehr fünfeinhalb tausend Jahren war das Klima in Südasien deutlich milder als heute. Es soll die damaligen Südasiaten in ihrer Mentalität beeinflusst haben, sodass sie vor allem die scharfen Balsamzutaten geringer dosierten als ihre Nachkommen es heute tun. Die SAKHBAL-Mitglieder einigten sich darauf, eine für jede Epoche standardisierte Rezeptur verfassen zu lassen und diese bei ihrer nächsten Zusammenkunft in drei Jahren zu verabschieden. Nur am Rande sei erwähnt, dass dem Wetteifern, welche Universitäten welcher Länder, südasiatische oder nicht, damit beauftragt werden sollten, die Rezepte zu Papier zu bringen, unter “Varia” am Ende der Versammlung Raum eingeräumt werden musste.

In den antiken Hochkulturen Südasiens wurden Hühner in einem mehrere Stunden dauernden, von Schamanen und Priestern angeleiteten Ritual mit einem Balsam eingerieben und zu Ehren der darüber wachenden Göttin Murgdevi geopfert. Dies geschah, indem man eine ungefähr 21 mal 17 Zentimeter kleine Gruft aus der Erde hob, dort glühende Asche hineinlegte, auf diese die einbalsamierten Hühner platzierte und das Erdloch in einem bei Sonnenaufgang mündenden Zeremoniell zuschüttete. So hofften die Südasiaten von damals auf ein langes Leben, wenn nicht gar auf ein ewiges. Wie ernsthaft dieser Brauch gelebt wurde, zeigt die imposante Nekropolis einbalsamierter Hühner, die ein niederländisches Team von Archäologen vor rund sechzig Jahren unweit der südindischen Hafenstadt Cochin ausgegraben hat.

Der Kongress ist zweifellos unverzichtbar für die akademische Pflege der oft als “Orchideenfach” belächelten Wissenschaft der südasiatischen Hühnereinbalsamierung. Um so bedauerlicher ist es, dass es unter gewissen Mitgliedern des SAKHBAL bereits im Vorfeld der Triennale zu nutzlosen Differenzen gekommen war. Den Anstoss gab die Wahl des Kongressortes Fort Abbas. Dieses ist sowohl den Pakistanern als auch den Indern ein wichtiges Symbol ihres jeweiligen kulturhistorischen Erbes, wenn auch aufgrund politisch bedingt unterschiedlicher Geschichtsauffassung. Zwar waren sich die Experten von hüben wie drüben darin einig, dass die alte Festung zur Abwehr “extremistischer Gegner der Einbalsamierungsrituale” erbaut worden war, doch konnten sich die Experten nicht darauf einigen, ob es sich bei den Gegnern um fremde Invasoren aus Persien und vom Indischen Ozean her gehandelt hat, oder ob die Bedrohung von inneren Feinden zu erwarten war. Dass dies aber keine qualifizierte Debatte unter Historikern war, zeigt sich schon daran, dass sich die Streitenden über die Tatsache hinwegsetzten, dass die phalanx-ähnliche Anlage von Fort Abbas klar darauf hindeutet, dass der Feind von allen vier Himmelsrichtungen her erwartet wurde. Ebenso ist es aber belegt, dass die Herrscher von Fort Abbas drei parallel operierende, sich gegenseitig kontrollierende Innengeheimdienste unterhielten, um Überläufer und andere Verräter frühzeitig festzumachen.

Wie es scheint, waren auch die Organisatoren des XVII. Kongresses Südasiatischer Hühnereinbalsamierer bei ihrem Gezänk derselben Paranoia verfallen. Immerhin aber wurde ihrem offen ausgetragenen Streit ein so grosses Gewicht zuteil, dass die Veranstalter sich nun überlegen, die Triennale an einen Ort ausserhalb Südasiens zu verlegen. Als mögliche Alternative wird die portugiesische Kleinstadt Sines genannt, wo der Seefahrer Vasco da Gama geboren wurde. Dieser erwähnte nämlich in seinen indischen Tagebüchern “rot geschärfte Frangos”; das portugiesische Wort Frango heisst nichts anderes als Huhn.

Dem ganzen sei lediglich angemerkt, dass die Mitgliederorganisationen der übrigen südasiatischen Länder, also Afghanistan, Bangladesch, Nepal, Sri Lanka, Bhutan und die Malediven, sich aus dem Hahnenkampf ihrer beiden Nachbarländer herausgehalten haben. Man begegnete ihren Delegierten am Buffet mit den Tandoori-Spezialitäten.

Waseem Hussain, 1966 in Karachi, Pakistan, geboren, wuchs in Kilchberg am Zürichsee auf. Er war Gastdozent für internationales und interkulturelles Management und leitete die Stabsstelle Internationales im Rektorat einer Fachhochschule. In jungen Jahren kuratierte er Kunstausstellungen, organisierte kulturelle Veranstaltungen und drehte den mehrfach prämierten Kurzspielfilm “Larry”. Er war Mitglied der regionalen Expertengruppe bei Pro Helvetia sowie freier Südasienkorrespondent für Presse, Funk und Fernsehen. Aktuell lebt er als Autor und Songwriter nahe Zürich und schreibt an seinem ersten Roman.

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