«Sich lichtende Nebel» von Christian Haller ist Schweizer Buch des Jahres! #SchweizerBuchpreis 23/14

Es war keine Überraschung und ist die richtige Wahl. Als Christian Haller auf die Bühne im Foyer des Stadttheaters Basel auf die Bühne gebeten wurde und sich FotografInnen und erste GratulantInnen positionierten, darunter Ständerätin Eva Herzog, trat ein tief gerührter Mann ins Rampenlicht und dankte für das «Sahnehäubchen» auf einer grossen Arbeit.

Hier wiedergegeben die Laudatio von Michael Luisier, SRF Literaturredaktor und seit diesem Jahr Mitglied der Jury des Schweizer Buchpreises:

Die Geschichte ist bekannt. Ein Mann geht durch Nacht und Nebel. Betritt einen Lichtkreis, verlässt ihn wieder und taucht im nächsten Lichtkreis wieder auf. Ein anderer Mann beobachtet ihn dabei. Und weil der sich gerade mit physikalischen Fragen auseinandersetzt, mit Atommodellen und der Beschaffenheit des Lichts, kommt ihm der Gedanke, respektive die entscheidende Frage in den Sinn: Woher weiss man, dass ein Mensch, der soeben einen Lichtkreis verlassen hat und weitergeht, im nächsten Lichtkreis wieder auftaucht? Und nicht einfach verschwindet?

Christian Haller «Sich lichtende Nebel», Luchterhand, 2023, 128 Seiten, CHF ca. 29.90, ISBN 978-3-630-87733-4

Diese Anekdote erzählt die Geschichte hinter der Entdeckung der Quantenmechanik durch den Physiker Werner Heisenberg. Sie ist der Ausgangspunkt einer Novelle, die sehr bald zu einer ähnlich dringenden Frage führt, nämlich: Wie geht man generell mit Dingen um, die stattfinden, obwohl sie eigentlich nicht stattfinden sollten? Und – hier kommt die Literatur ins Spiel – wie beschreibt man die? 

Wie sagt man Unsagbares? Wie beschreibt man – literarisch – nicht zu Beschreibendes? Das sind die zentralen Fragen des Texts.

Christian Haller, Schriftsteller und selbst Naturwissenschaftler, hat sich dieser literarischsten aller Aufgabe gestellt. Haller hat sich als Literat für die Novelle als Erzählform entschieden, weil es sich dabei grundsätzlich um die Vermittlung einer «sich ereigneten unerhörten Begebenheit» handelt, wie es bei Goethe heisst. 

Der Naturwissenschaftler, der sehr wohl weiss, dass die Naturwissenschaft nicht alles erklären kann, hat sich für ein nicht materielles Phänomen in einer materiellen Welt entschieden. Im Text ist von «Durchbrüchen» die Rede, erlebt durch die zweite Figur dieses Textes, den Beobachteten, dessen Weg genauso beschrieben wird wie der des Beobachters. An diesem zeigt Christian Haller diese «Durchbrüche», die man auch spirituell deuten kann, als Ausdruck von Rausch, als Zustände welcher Art auch immer. Oder vielleicht auch ganz anders, wer weiss. Es selbst sagt es nicht. 

Meisterhaft ist es Christian Haller gelungen, sich dabei aufs Wesentliche zu beschränken: Zwei miteinander verschränkte Geschichten im Wechsel erzählt, wobei nicht ein Wort zu viel ist, nicht ein Moment aus blossem Zufall entstanden scheint. Alles ist so einfach, schön und klar geschaffen, als könnte man Unsagbares tatsächlich nur auf diese Weise sagen. 

Ja. Die Novelle «Sich lichtende Nebel» von Christian Haller ist Klarheit, Schönheit und im besten Sinne auch Einfachheit. Drei Argumente für eine Verleihung des Schweizer Buchpreis 2023. Christian Haller, wir gratulieren Ihnen dazu.

Rezension von «Sich lichtende Nebel» auf literaturblatt.ch

Beitragsbild © Gallus Frei

Christian Haller «Sich lichtende Nebel», Luchterhand #SchweizerBuchpreis 23/12

Zu Beginn des Jahres 1925 war der eben habilitierte Werner Heisenberg in seinen Studien zur Quantentheorie kurz vor dem Durchbruch, erst erahnend, was diese in der Wissenschaft anrichten würden. Christian Haller nimmt sich in seiner Novelle „Sich lichtende Nebel“ nicht nur genau jener Zeit an, sondern dem Gefühl damals Weniger, dass unsere Wahrnehmung alles andere als deckungsgleich mit der „Wahrheit“ sein muss.

Erstaunlich genug, dass Christian Haller sich einem physikalischen Thema mit derartiger Leichtigkeit literarisch widmen kann, dass er es schafft, einen solchen Stoff, einen solchen Moment des sich lichtenden Nebel mit der zarten Beschreibung zweier nicht unähnlichen und in ihrer Biografie so unterschiedlichen Protagonisten zu verknüpfen. Selbst wenn ich das, was Heisenberg, von Christian Haller respektvoll „Beobachter“ genannt, damals in seinem Denken entwickelte, nicht wirklich verstehe, erahne ich den Moment des „Sich Lichtens“. Nicht dass es Heisenberg damals wie Schuppen von den Augen fiel – aber die Ahnung, was sein Erkennen für Konsequenzen auslösen würde, muss als Gefühl erschütternd gewesen sein.

Christian Haller «Sich lichtende Nebel», Luchterhand, 2023, 128 Seiten, CHF ca. 29.90, ISBN 978-3-630-87733-4

Christian Haller verwebt die Geschehnisse um den jungen Physiker Heisenberg mit den schwierigen Tagen eines emeritierten Historikers. Helstedt hat sich nach dem Tod seiner Frau zurückgezogen, auch wenn er sich ab und an mit seinem Kollegen Sörensen trifft und in der Suche nach Erkenntnis, reichlich unterstützt durch Wein, Austausch sucht. Eine Suche, die ihm neben seinem Schmerz mehr und mehr die Gewissheit gibt, dass mit dem Nichtmehrdasein nicht zwingend eine Liebe zu Ende sein muss. Heisenberg und Helstedt erahnen, dass es neben der offensichtlichen „Wirklichkeit“ Ebenen geben muss, die sich unserer (meiner) Vorstellung entziehen.

«Seine Schrift auf der weissen Heftseite war wie die Spur im Schnee, die ein Fuchs gezogen hatte.»

Beide, Heisenberg und Helstedt, wagen einen Aufbruch. Heisenberg aus den Fesseln eines vorgegebenen Denkens, Helstedt aus seiner inneren Isolation. „Es kann nur existieren, wofür es Wörter, eine Sprache gibt.» Eine Novelle darüber, wie eine Banalität einer weltbewegenden Idee die Initialzündung gibt. Christian Haller lässt Figuren auftreten, deren Biographien sich durch Handlungen und Ideen ineinander verschränken. Nach zwei Trilogien, die sich mit Hallers eigner Herkunft, seinem Leben auseinandersetzen, sei der Stoff um Heisenberg und seine Quantenphysik wie eine neue, noch unbesetzte Keimzelle, die zum Buch wurde, erklärte Christian Haller an einem Auftritt an den Solothurner Literaturtagen 2023. Eine Novelle, die viel mehr will als das Verbildlichen einer komplexen physikalischen Fragestellung. «Sich lichtende Nebel» ist eine Liebesgeschichte, nicht zuletzt eine zur Liebe des Sehens, des Erkennens.

So schmal das Buch ist, so erkenntnisreich die Ahnungen, die es provozieren kann. „Sich lichtende Nebel“ ist ein starkes Stück Literatur! Ich spüre seine grosse Faszination, die die Sprache selbst für den Autor bedeutet, die Weite an Erkenntnis, die sich offenbart.

Christian Haller hätte es sich leichter machen können. Aber die Tiefen von Einsicht und Erkenntnis sind nicht hell ausgeleuchtet. Nur wer sich darum bemüht, dem lichten sich die Nebel.

Christian Haller, 1943 in Brugg, Schweiz geboren, studierte Biologie und gehörte der Leitung des Gottlieb Duttweiler-Instituts bei Zürich an. Er wurde u. a. 2006 mit dem Aargauer Literaturpreis, ein Jahr später mit dem Schillerpreis und 2015  mit dem Kunstpreis des Kantons Aargau ausgezeichnet. Zuletzt ist von ihm der letzte Teil seiner autobiographischen Trilogie erschienen: «Flussabwärts gegen den Strom». Er lebt als Schriftsteller in Laufenburg.

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Illustrationen © leale.ch

Schweizer Buchpreis 2023: Die 5 sind da! #SchweizerBuchpreis 23/02

Das beste Buch soll ermittelt werden? Das eine kann ich nach Bekanntgabe der fünf Nominierten unterstreichen: Auch wenn wie jedes Jahr Bücher auf der Liste der Nominierten fehlen; die fünf ausgewählten, nominierten Bücher lohnen sich alleweil zur Lektüre. Und alle haben das Zeug, einen bleibenden Eindruck zu hinterlassen.

Es waren fast 100 Bücher, die die Jury bis dato zu lesen hatte. Sieglinde Geisel, freie Kritikerin und Schreibcoach, Laurin Jäggi, Buchhändler, Inhaber der Buchhandlung Librium in Baden, Michael Luisier, Literaturredaktor SRF, Joanna Nowotny, Literaturwissenschaftlerin, Mitarbeiterin am Schweizerischen Literaturarchiv und freischaffende Journalistin und Yeboaa Ofosa, Kulturwissenschaftlerin und Literaturexpertin lasen sich durch die Bücherberge und tragen die inhaltliche «Verantwortung» für die diesjährige Liste der Nominierten.

Mit Christian Haller und Matthias Zschokke, zwei Eckpfeilern der CH-Literatur und Sarah Elena Müller, Damian Lienhard und Adam Schwarz, drei, die alle bereits ihren Platz in der Szene haben und in vielen privaten Bücherregalen beheimatet sind, ist kein Debüt, kein Erstling dabei. Also lauter Namen mit Schweif, die einen lang, die anderen etwas kürzer. Nicht dass es keine preiswürdigen Debüts gegeben hätte. Aber zum einen steigt bei solchen der Rechtfertigungsdruck und sehr oft bleibt ein schaler Nachgeschmack, wenn DebütantInnenromane mit solchen gestandener SchriftstellerInnen gemessen werden.

Was heisst schon gemessen werden! Ein Buchpreis ist kein Wettbewerb, auch wenn er sich als solcher gibt und der eine oder andere Autor sich präventiv aus diesem «Rennen» nimmt, weil man sich wegen dieses «Wettlaufs» echauffiert. Ein Buchpreis ist eine grosse, fünfstrahlige Bühnenshow, mit viel Pomp und überdurchschnittlicher Medienaufmerksamkeit, bei der sich die fünf Scheinwerfer im November auf das eine Buch, die eine Autorin oder den einen Autoren bündeln.
Ich bin hoch zufrieden mit der Liste. Fünf gute Bücher, fünf wichtige Geschichten und fünf Sprachkunstwerke!

 

«Sich lichtende Nebel» (Luchterhand) von Christian Haller
Kopenhagen 1925: Ein Mann taucht im Lichtkegel einer Laterne auf, verschwindet wieder im Dunkel und erscheint erneut im Licht der nächsten Laterne. Wo ist er in der Zwischenzeit gewesen? Den Beobachter dieser Szene, Werner Heisenberg, führt sie zur Entwicklung einer Theorie, die im weiteren Verlauf ein völlig neues Weltbild schaffen wird: die Quantenmechanik. Der Mann im Dunkel selbst hingegen weiss nichts von der Rolle, die er bei der Entdeckung neuer physikalischer Gesetze gespielt hat – er versucht, den Verlust seiner Frau zu verarbeiten und seinem Leben eine neue Ausrichtung zu geben. Christian Haller, der diese beiden durch den Zufall verknüpften Lebenslinien weiter erzählt, macht daraus ein hellsichtiges literarisches Vexierspiel über Trauer und Einsamkeit, die Grenzen unserer Erkenntnis und die Frage, wie das Neue in unsere Welt kommt.

Christian Haller, 1943 in Brugg, Schweiz geboren, studierte Biologie und gehörte der Leitung des Gottlieb Duttweiler-Instituts bei Zürich an. Er wurde u. a. mit dem Aargauer Literaturpreis (2006), dem Schillerpreis (2007) und dem Kunstpreis des Kantons Aargau (2015) ausgezeichnet. Zuletzt ist von ihm der letzte Teil seiner autobiographischen Trilogie erschienen: «Flussabwärts gegen den Strom». Er lebt als Schriftsteller in Laufenburg.

«Mr. Goebbels Jazz Band» (Frankfurter Verlagsanstalt) von Damian Lienhard
Berlin, Frühjahr 1940. Auf Beschluss von Joseph Goebbels wird für den Auslandsradiosender Germany Calling eine Big Band gegründet, die als Mr. Goebbels Jazz Band internationale Bekanntheit erlangt. Die besten europäischen Musiker, darunter auch Ausländer, Juden und Homosexuelle, spielen im Dienst der NS-Propaganda wortwörtlich um ihr Überleben – ausgerechnet mit Jazz, der als »entartet« galt. Bis zu 6 Millionen britische Haushalte täglich lauschen den Swing-Stücken mit anti-alliierten Hetztexten und dem Star-Moderator William Joyce alias Lord Haw-Haw, der nach seinem Aufstieg in der British Fascist Union aus London nach Berlin geflohen war. Joyce soll den Erfolg »an der Front im Äther« literarisch dokumentieren lassen. Der dafür ausgewählte Schweizer Schriftsteller Fritz Mahler findet sich im Zuge seines Auftrags, einen Propagandaroman über die Band zu schreiben, in verruchten Berliner Clubs und illegalen Jazzkellern wieder, trinkt zu viel Cointreau, verzettelt sich in seinen Recherchen und muss nicht nur die Skepsis der Musiker überwinden, sondern auch seine gefährlichen Auftraggeber über das schleppende Vorankommen seines Unterfangens hinwegtäuschen. Demian Lienhard erzählt die ungeheuerliche (fast bis ins Detail wahre) Geschichte von Mr. Goebbels Jazz Band und des berüchtigten Radiosprechers William Joyce. In furiosem Tempo jagt Lienhard seinen Figuren von New York nach Galway, London, Manchester, Zürich, Danzig und Berlin nach und stellt den menschenverachtenden Zynismus des NS-Staats ebenso bloß wie die Perfidie der Nazi-Propaganda. Gezeigt wird das Scheitern künstlerischer Produktion im Dienste einer Ideologie, wobei auch die eigene Erzählung verschmitzt unterwandert wird, bis hin zum überraschenden Paukenschlag.

Demian Lienhard, geboren 1987, aus Bern, hat in Klassischer Archäologie promoviert. Für sein Romandebüt «Ich bin die, vor der mich meine Mutter gewarnt hat» (2019) wurde er mit dem Schweizer Literaturpreis 2020 ausgezeichnet. Lienhards Roman «Mr. Goebbels Jazz Band», für den er u. a. Stipendien von Pro Helvetia, dem Literarischen Colloquium Berlin, der Stadt Zürich und dem Aargauer Kuratorium erhielt und Rechercheaufenthalte in Galway, London und Berlin absolvierte, erschien im Frühjahr 2023 in der Frankfurter Verlagsanstalt. Demian Lienhard lebt und arbeitet in Zürich.

«Bild ohne Mädchen» (Limmat) von Sarah Elena Müller
Die Eltern des Mädchens misstrauen dem Fernsehen, aber beim medienaffinen Nachbarn Ege darf es so lange schauen, wie es will. Eges Wohnung steht voller Geräte, und er dreht Videos, die nie jemand sehen will.
Die Eltern sind überfordert mit dem Kind, das sein Bett nässt und kaum spricht. Der Vater ist Biologe und wendet sich lieber bedrohten Tierarten zu. Die Mutter bildhauert und ist mit ihrer Kunst beschäftigt. Ein Heiler soll helfen. Das Mädchen sucht Zuflucht bei einem Engel, den es auf einer Videokassette von Ege entdeckt hat. Und wirklich, der Engel hält zu ihm.
Durch dieses Kabinett der Hilf- und Sprachlosigkeit nähert sich Sarah Elena Müller dem Trauma einer Familie, die weder den Engel noch die Gefährdung zu sehen imstande ist. Und von der Grossmutter bis zum Kind entsteht ein Panorama weiblicher Biografien seit dem grossen Aufbruch der Sechzigerjahre.

Sarah Elena Müller, geboren 1990, arbeitet multimedial in Literatur, Musik, Virtual Reality, Hörspiel und Theater. Sie tritt im Mundart Pop Duo «Cruise Ship Misery» als Ghostwriterin und Musikerin auf und leitet das Virtual Reality Projekt «Meine Sprache und ich» – eine Annäherung an Ilse Aichingers Sprachkritik. 2019 erschien ihr Szenenband «Culturestress – Endziit isch immer scho inbegriffe» beim Verlag Der gesunde Menschenversand. 2015 erschien die Erzählung «Fucking God» beim Verlag Büro für Problem. Als Mitbegründerin des Kollektivs RAUF ­engagiert sie sich für die Anliegen feministischer Autor*innen in der Schweiz. 

«Glitsch» (Zytglogge) von Adam Schwarz
Pools, Plastikpalmen, Polarsonne: Léon Portmann durchquert auf einem Kreuzfahrtschiff die ganzjährig eisfreie Nordostpassage. Klimakatastrophentourismus mit Schlagerprogramm und Analogfisch auf der Speisekarte inklusive.
Eigentlich wollte seine Freundin Kathrin die Reise allein machen, doch er hat sich ungefragt angehängt. Dabei sind die Risse zwischen den beiden offenkundig. Als Kathrin spurlos verschwindet, macht Léon sich auf die Suche nach ihr. Er taucht immer tiefer in den Schiffsbauch ab und gerät unter Verdacht, ein blinder Passagier zu sein. Weder Kathrin noch er stehen auf der Bordliste. Nach der Beziehung erhält auch die Wirklichkeit Risse: Gibt es Kathrin überhaupt? Und was haben ein neuseeländischer Philosoph, obskure Internetforen und ein 15 Jahre altes Videospiel damit zu tun?
«Glitsch» ist der Trennungsroman zum Ende der Menschheit. Ein abgründiger Abgesang auf die Welt, wie wir sie zu kennen glauben, packend und klug in Szene gesetzt.

Adam Schwarz, geboren 1990, studierte Philosophie und Germanistik in Basel und Leipzig. Seit 2011 veröffentlicht der Schriftsteller regelmässig Prosa in diversen Zeitschriften, darunter «entwürfe», «Das Narr», «Delirium», «Kolt» oder «poetin». Von 2016 bis 2020 war er Redaktor der Literaturzeitschrift «Das Narr». Zudem war er redaktioneller Mitarbeiter des «Literarischen Monats». 2017 erschien Adam Schwarz’ Debütroman «Das Fleisch der Welt», eine kritische literarische Auseinandersetzung mit dem Eremiten Niklaus von Flüe. Im selben Jahr wurde er mit einem Werkbeitrag der Kulturstiftung Pro Helvetia ausgezeichnet und war für den Literaturpreis «Aargau 2050» des Aargauer Literaturhauses nominiert. Zudem erhielt er ein Aufenthaltsstipendium vom Literarischen Colloquium Berlin. 

«Der graue Peter» (Rotpunkt) von Matthias Zschokke
Eigentlich müsste Peter ein unglücklicher Mensch sein, aber der Zufall, oder eine gütige Vorsehung, haben dafür gesorgt, dass ihm ein »Empfindungschromosom« fehlt. Schon seine Eltern kamen ihm vor wie fremde Wesen, und seine Frau, vermutet er, wird er bis an sein Lebensende nicht verstehen. Ihr erstes gemeinsames Kind ist bei der Geburt gestorben, und eines unscheinbaren Tages betritt eine Polizistin Peters Verwaltungsbüro, um ihm zu sagen, dass sein zweiter Sohn von einem Lastwagen überrollt wurde.
Sein Leben geht weiter, man schickt ihn nach Nancy, um eine belanglose Grußbotschaft zu überbringen. Als auf der Rückreise eine unvorhergesehene Fahrplanänderung angekündigt wird, vertraut eine verzweifelte Mutter Peter ihren Sohn an. Zéphyr, so heißt der Junge mit der orangefarbenen Schwimmweste, werde in Basel von seinem Onkel abgeholt. Auf der Fahrt versucht Peter dem fremden Jungen ein fürsorglicher Begleiter zu sein. Spontan steigen die beiden in Mulhouse aus, um Zéphyrs Tante (und ihre Carrerabahn) zu besuchen. Stattdessen landen sie in einem winterlich kalten Bach, einem 5-D-Film, der Zéphyr den Magen umdreht, einer Umkleidekabine und für die Nacht in einem Hotelzimmer. Von Unwägbarkeit zu Unwägbarkeit wird Peters Hilflosigkeit Zéphyr gegenüber zarter, ja zärtlicher. Eine schwer fassbare, in Momenten irritierende Beziehung entwickelt sich zwischen den beiden, bis sie doch noch in Basel ankommen und die Reise ein abruptes Ende nimmt.

Matthias Zschokke, geboren 1954 in Bern, ist Schriftsteller und Filmemacher und lebt seit 1979 in Berlin. Für seinen Debütroman «Max» erhielt er 1982 den Robert-Walser-Preis. Später wurde er u.a. mit dem Solothurner Literaturpreis, dem Grossen Berner Literaturpreis, dem Eidgenössischen Literaturpreis, dem Gerhart-Hauptmann- und dem Schillerpreis geehrt – und, als bislang einziger deutschsprachiger Autor, mit dem französischen Prix Femina étranger für «Maurice mit Huhn».

19. November 11 Uhr: Preisverleihung Schweizer Buchpreis 2023
Zum sechzehnten Mal vergibt der Schweizer Buchhandels- und Verlags-Verband SBVV zusammen mit LiteraturBasel den Schweizer Buchpreis. Zur feierlichen Preisverleihung 2023 im Foyer des Theater Basel sind Sie herzlich eingeladen. Der Eintritt ist gratis, Tickets können Sie ab Mitte Oktober über die Webseite des Internationalen Literaturfestivals BuchBasel beziehen.

Illustrationen © leale.ch

Die 45. Solothurner Literaturtage – Welten, die aufeinandertreffen!

Wie gut, dass es in Zeiten globaler Krisen Gelegenheiten wie die Solothurner Literaturtage gibt, die in konstruktiver Weise versuchen, vieles von dem zu spiegeln, was Grund genug gäbe, an den gegenwärtigen Tatsachen und ihrer Wirkungen zu verzweifeln. Wie noch nie strömten Besucherinnen und Besucher, als wäre jedem bewusst, wie schmal der Grat geworden ist.

Die Solothurner Literaturtage sind das Flaggschiff im nationalen Literaturbetrieb. Als solches von beachtlicher Grösse und mit viel Masse und Wasserverdrängung. Kein Wunder, wenn der eine Kapitän von Bord geht, dass es zuweilen vernünftig ist, diesen schweren Kahn unter eine furchtlose Doppelleitung zu stellen. Nathalie Widmer und Rico Engesser, beide noch lange nicht so alt wie das Festival selbst, müssen bestehen im Spagat zwischen den Erwartungen jener, die Tradition und Beständigkeit hochhalten und anderen, die dem in die Jahre gekommenen Schiff am liebsten mehr als nur neue Segel setzen wollen. 

Aber ganz offensichtlich goutiert man der neuen Leitung den guten Mix zwischen modernem Gesicht und reifer Haltung. Schon am ersten Tag wurden die Veranstaltungen förmlich überrannt. Lange Schlangen bildeten sich vor den Eingängen und Interessierte mussten freundlich weggewiesen werden, weil jeder mögliche Sitzplatz besetzt war. Der Dichter und Schriftsteller Andreas Neeser meinte im Vorfeld seiner Lyriklesung, es würden sich wohl nur eine Handvoll Interessierter an seiner Lesung finden, weil gleichzeitig Kim de L’Horizon im grossen Landhaussaal las. Weit gefehlt. Klar, die Schlange vor dem Landhaussaal war überwältigend. Aber genauso jene, die sich vor dem Einlass zur Lesung von Andreas Neeser formierte. Und als der Dichter dann las, die Stimmung von raunender Erwartung in andächtige Stille überging, war das Sprachglück fast mit Händen zu greifen. So wie sich Neesers Gedichte den Konventionen entziehen, ohne mich zu brüskieren, so schafft es das Festival immer wieder zwischen Tradition und Zeitgeist Brücken zu schlagen.

Das Festival zählt 45 Lenze. Ich mag den neuen Anstrich, die motivierte Crew und die zurückhaltenden Steuerleute, die das «Festivalgeschäft» schon jahrzehntelang kennen und es bestens verstehen, die verschiedensten Strömungen unter die gleiche Takelage zu bringen.
So wie beispielhaft die 25jährige Newcomerin Mina Hava mit ihrem Debütroman «Für Seka» und der 80jährige Routinier, das literarisches Urgestein Christian Haller mit seiner Novelle «Sich lichtende Nebel».

Mina Hava bei ihrer Lesung in der SRF-Sendung «Kultur-Talk» in der Cantina del Vino

Mina Hava schrieb sich mit ihrem Roman «Für Seka» in eine tiefe Auseinandersetzung mit ihrer Herkunft Bosnien, dem Ort Omarska, der es im Krieg in den 90er Jahren nie in ein kollektives Bewusstsein schaffte, obwohl die Gräuel, die der Krieg in und um jenes Gefangenenlager anrichtete eine Wunde klaffen lässt, die bis heute weit weg von einer historischen Aufarbeitung steht. Was damals in Srebrenica vor den Augen der Weltöffentlichkeit geschah, ritzte sich ins kollektive Bewusstsein. Was in Omarska passierte, begegnete selbst der Autorin, deren Familie ganz in der Nähe lebt, erst im Laufe ihrer Recherchen zu ihrer Herkunft. Omarska, ein Konzentrationslager damals, noch heute eine Mine, in der gnadenlos ausgenutzt wird, was Menschenkraft und Natur hergibt. Omarska, ein Schreckensort ohne Denkmal, wo man alles andere als interessiert ist, die Leichen in Massengräbern mit ihren Geschichten zu Tage zu bringen.
«Für Seka» ist nicht einfach Geschichte, die erzählt wird, sondern ein literarischer Zettelkasten genau jener Recherchen, mit denen Mina Hava in Rückblenden in verschiedene Vergangenheiten taucht. Auch eine Auseinandersetzung zwischen Bosnien und der Schweiz, ihre eigenen Geschichte, die sich in der Schweiz nicht «abgebildet» findet. Einmal mehr auch eine Auseinandersetzung mit dem verklärten Begriff der «Gastarbeiter und Gastarbeiterinnen».

nach seiner Lesung im voll besetzten Landhaussaal beim Signieren seiner Bücher

Oder Christian Haller, der heuer seinen 80. Geburtstag feierte und längst zu den ganz Grossen der Schweizer Literatur gehört. Ob als Romancier, Lyriker oder mit seiner kantigen Art auch als Essayist –  er mischt sich in aktuelle gesellschaftliche Fragen, in seinem neusten Essay «Blitzgewitter», wie weit digitale Medien unser Leben nachhaltig verändern.
Auch sein neuestes Buch, die Novelle «Sich lichtende Nebel» beschäftig sich mit der Wahrnehmung, dem Irritierenden. «Es kann nur existieren, wofür es Wörter, eine Sprache gibt.» Eine Geschichte darüber, wie eine Banalität einer weltbewegenden Idee die Initialzündung gibt. Christian Haller lässt Figuren auftreten, deren Biographien sich durch Handlungen und Ideen ineinander verschränken. Nach zwei Trilogien, die sich mit seiner Herkunft, seinem eigenen Leben auseinandersetzten, war der Stoff um Heisenberg und seine Quantenphysik wie eine neue, noch unbesetzte Keimzelle, die zur Novelle wurde. Eine Novelle, die viel mehr will als das Verbildlichen einer komplexen physikalischen Fragestellung. «Sich lichtende Nebel» ist eine Liebesgeschichte, nicht zuletzt eine zur Liebe des Sehens, des Erkennens.

Mina Hava und Christian Haller stellen Fragen, Schicht für Schicht. Die beiden Bücher repräsentieren das Suchen nach Antworten. Beide in reifer Distanz und doch so verschieden in der Überzeugung, was Erzählen bewirken soll. Sie bricht auf – er ordnet.