Dorothee Elmiger «Aus der Zuckerfabrik», Hanser #SchweizerBuchpreis 20/6

Dorothee Elmiger erzählt ganz eigen, mit Sicherheit nicht von Anfang bis Ende. „Aus der Zuckerfabrik“ ist eine eigentliche Erzähllandschaft, das Experimentierfeld der Schriftstellerin, eine verschlungene Reise mit unbestimmtem Ziel. Wer sich mit der Autorin auf den Weg macht, muss aushalten können, dass nicht einmal sie selbst ihrer Sache sicher zu sein scheint.

Zugegeben, es war Auseinandersetzung! Auseinandersetzung mit dem Buch, den Stoffen, den Themen, der Erzählweise, den Zeitsprüngen. Als sässe man in einem überfüllten Zug, in dem in jedem Abteil eine Geschichte erzählt wird und man von Abteil zu Abteil huscht, nie sicher, ob man das Entscheidende versäumt hat, während draussen vor dem Fenster die Landschaft vorbeirast. Es passiert und die Gleichzeitigkeit der Dinge verwirrt in höchstem Masse. Nicht weil die Autorin der Ordnung wiedersagt, sondern weil „Aus der Zuckerfabrik“ ein Forschungsbericht ist, nicht das Resultat einer Forschung.

Sonst sind Romane Endprodukte, denen Recherche vorausging. „Aus der Zuckerfabrik“ ist eine Werkschau, ein Recherchebericht. Wer nur einfach eine Geschichte erzählt bekommen will, ist bei Dorothee Elmiger an die Falsche geraten. Auch wenn sich Dorothee Elmiger Geschichten annähert. So wie jener des Schweizer Psychiaters Ludwig Binswanger und seiner Patientin Ellen West vor hundert Jahren, einer Frau, die „dauernd ans Essen dachte“ und jung durch Suizid starb. Oder jener des Lottomillionärs Werner Bruni, dessen Gewinn sich irgendwann verflüchtigte und man sein letztes Hab und Gut bei einer Versteigerung zur Schuldentilgung verhökerte. Eines Mannes, der zum Lottokönig wurde und dabei kein Glück fand. 

© Illustration: Lea Frei
Dorothee Elmiger «Aus der Zuckerfabrik» Hanser, 2020, 272 Seiten, CHF 34.90, ISBN 978-3-446-26750-3

Alles ist mit allem verbunden, über und durch die Zeiten. So wie Zucker den Hunger nie zu stillen vermag, höchstens kurzfristig. Sie alle haben Hunger. Hunger nach Liebe, nach Anerkennung, nach Erfüllung, nach dem Gefühl des satten Zufriedenseins. Dorothee Elmiger spürt dem nach, diesem Hunger. „Je mehr ich zu wissen meine über diese Geschichte, desto zahlreicher die Unstimmigkeiten, Abweichungen…“ Und weil dieses Nachspüren und Nachforschen nicht zwingend in der Klarheit enden muss, weil Dorothee Elmiger an keinem Resultat interessiert zu sein scheint, bleibt das Buch das Experiment selbst. Sprachlich glasklar, inhaltlich mit voller Absicht verunsichernd.

So wie die Geschichte des Zuckers eine Geschichte der Abhängigkeiten, der Sklaverei ist, so kostet und misst die Schriftstellerin den Zuckergehalt des Lebens, sei es im Leben einer jungen Haitianerin im Wunsch sich ganz und vollkommen hinzugeben oder im Leben eines Lottomillionärs, den die Boulevardpresse lüstern in seinem Untergang begleitet.

„Ob man mir bis hierher noch folgen oder dies alles als Protokoll eines Wahns, als Material für eine Fallstudie lesen wird…“ Dorothee Elmigers literarisches Experiment „Aus der Zuckerfabrik“ ist sprachlich bestechend, als Unterhaltung eine «Zumutung». Ich habe grosse Teile des Buches laut gelesen, las mich über lange Passagen in einen wahren Rausch, fasziniert von Sätzen, Bögen und Konstruktionen. Aber so sehr die Lektüre in der Kleinheit verzückt, lässt sie einem in ihrer Gänze allein.

Lauter Menschen, deren Hunger nicht zu stillen war. Mein Hunger ist geblieben. Literatur soll nicht stillen. „Aus der Zuckerfabrik“ tut es ganz und gar nicht.
Dorothee Elmiger schrieb ein Buch, das in keine Kategorie passt, sich nicht einordnen lässt. Sie entzieht und verweigert sich jeder Kategorisierung, schert sich einen Deut um Konventionen, darum, was Literatur soll und muss. Das ist mutig. Ihr Schreiben dreht sich in die Tiefe, nicht in die Breite. Ihr Schreiben ist kein Fluss, sondern ein Absinken, manchmal sogar ein Absacken in Tiefen, die mich verwirren. Und Dorothee Elmiger will schon gar nicht unterhalten. Der Genuss dieses Buches liegt in seiner Sperrigkeit ebenso wie in seiner Eleganz. Sperrig, weil es sich den gewohnten Leseerfahrungen entzieht. Elegant, weil die Sprache etwas Berauschendes hat. Sie macht mich trunken.

Bildende Kunst darf verunsichern. Man nimmt beim «Lesen» dieser Kunst Unklarheiten, Schatten, Provokation und ein gewisses Mass an Unverständnis in Kauf, will das gar so. Ebenso bei der Musik. Warum muss bei Literatur immer alles glasklar sein?

Als ich als Buchpreisbegleiter ganz zu Beginn gefragt wurde: «Was wünschst du dir für den Schweizer Buchpreis 2020?», antwortete ich: «Mut!» Verleiht die Jury den Buchpreis an Dorothee Elmiger für «Aus der Zuckerfabrik», dann ist das Mut.

Dorothee Elmiger, geboren 1985, lebt und arbeitet in Zürich. 2010 erschien ihr Debütroman «Einladung an die Waghalsigen», 2014 folgte der Roman «Schlafgänger» (beide DuMont Buchverlag). Ihre Texte wurden in verschiedene Sprachen übersetzt und für die Bühne adaptiert. Dorothee Elmiger wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, u. a. mit dem Aspekte-Literaturpreis für das beste deutschsprachige Prosadebüt, dem Rauriser Literaturpreis, einem Werkjahr der Stadt Zürich, dem Erich Fried-Preis und einem Schweizer Literaturpreis.

Webseite der Autorin

Kultbau St. Gallen

Anna Stern «das alles hier, jetzt.», Elster & Salis #SchweizerBuchpreis 20/4

Ananke stirbt nach kurzer Krankheit. Eine junge Frau. Ihr Tod hinterlässt nicht nur eine Lücke, sondern pulverisiert ein ganzes Gravitationsfeld. Nichts ist mehr so, wie es einmal war, gar nichts. Und weil es nach 150 Tagen aus der Trauer keinen Weg zu geben scheint, machen sich Anankes Freunde auf, um sich ihrem Eingeschlossenen Luft zu machen.

Anna Sterns Roman überrascht nicht nur inhaltlich, sondern auch formal. Das kündigte sich schon in ihrem letzten, ihrem dritten Roman „Wild wie die Wellen des Meeres“ an. Aber mit „das alles hier, jetzt.“ geht die junge Schriftstellerin aus der Ostschweiz noch einen Schritt weiter. Ichor erzählt, wahrscheinlich ein Mann, wahrscheinlich. Er erzählt von der Zeit nach Anankes Tod und von der Zeit davor, den Erlebnissen als Kinder, als Jugendliche, als junge Erwachsene, mit Ananke zusammen oder in der Gruppe mit Freunden, in der kleinen Stadt am See.

„du hast angst vor dem vergessen und fängst an, alles aufzuschreiben.“

Anna Stern «das alles hier. jetzt.» Salis & Elster, 2020, 288 Seiten, CHF 34.90, ISBN 978-3-03930-000-6

Anna Stern erzählt in zwei Teilen. Der erste Teil, jeweils auf der linken Seite in schwarzer Schrift von der Zeit nach Anankes Tod und rechts in grauer, etwas blasserer Schrift von den Erinnerungen aus der gemeinsamen Zeit mit Ananke, vor der Krankheit, vor ihrem Tod. Die Gegenwart klar wie in Stein gehauen. Die Vergangenheit, die irgendwann einmal verblassen wird, auch wenn man daran nicht denken will und kann, grau geworden. Die Textstücke in diesem ersten Teil erzählen unabhängig voneinander und zwingen mich als Leser, das eine oder andere Mal vor- und zurückzublättern, obwohl mir die Autorin bei der Vernissage in Rorschach versichert, den ersten Teil könne man überall zu lesen beginnen. Vielleicht könnte man den Roman auch im letzten Viertel beginnen, dem zweiten Teil des Buches, in dem Anna Stern linear und „traditionell“ von Anankes Freunden erzählt, die mehr oder weniger gemeinsam beschliessen, ihren dunklen Tunnel der Trauer zu verlassen und „Nägel mit Köpfen zu machen“. Dann wiederum könnte man den ersten Teil danach lesen und er würde mir erschliessen, was die Freunde dazu treibt, in einer Nacht-und-Nebel-Aktion auf den Friedhof zu fahren.

Aber Anna Stern springt formal noch mehr aus der Spur. Ausser den Namen ist nichts gross geschrieben, nicht einmal Satzanfänge. Vielleicht weil Namen das einzig Konstante sind, an das man sich halten kann. Und neben Ananke und dem Erzähler Ichor sind alle Namen so gewählt, dass sie seltsam androgyn erscheinen, geschlechtslos, als ob die Autorin Gefühle und die Art des Erinnerns von geschlechtspezifischen Vorstellungen abkoppeln möchte.
Zudem lässt die Autorin in vielen Sätzen das Verb weg, entseelt die Sätze, genauso wie Ananke mit ihrem Tod die Zurückgebliebenen entseelte. So wird Text und Form zu einem Spiegel der Geschichte.

Ananke war ein Fixstern. Mit ihrem Tod verschwand das Zentrum eines Sternensystems. Die Gravitation brach auseinander! Ananke war lebend ein Mythos, nach ihrem Tod nicht weniger.

„du bist müde, müde und schwer mit einem eigenartigen glück, mit dem gefühl, gleichzeitig in deinem Körper zu sein und ausserhalb, eins zu sein, ganz nah bei dir zu sein: traumgleich.“

Dass sich Anna Stern nicht an gängige Erzählmuster hält, ist erfrischend und konsequent. Anna Stern geht es nicht darum, den Lebens-, Leidens- und Sterbensweg einer jungen Frau zu erzählen. „das alles hier, jetzt.“ ist auch kein Trauerroman, kein Abschiedsroman, schon gar kein Protokoll. Anna Stern erzählt ungeheuer sinnlich und in dieser Sinnlichkeit höchst präzis und unemotional. „Unemotional“ darum, weil „kühl“ falsch wäre. Ihr Roman bewegt ohne zu erschüttern. Er hinterlässt nicht Trauer, sondern das pure Glück über ein absolut gelungenes Sprachabenteuer. An Anna Sterns Roman ist nichts zu viel und schon gar nichts zu wenig. Er ist mutig und konsequent. Und so wie die Autorin selbst, ganz eigen. 

Anna Stern, geboren 1990 in Rorschach, schreibt und doktoriert in Zürich.»das alles hier, jetzt.» Zuvor erschienen «Wild wie die Wellen des Meeres» (2019, Roman, Salis), beim Bachmann-Wettbewerb in Klagenfurt 2018 mit dem 3sat-Preis ausgezeichnet, «Beim Auftauchen der Himmel» (2017, Erzählungen, lectorbooks), «Der Gutachter» (2016, Roman, Salis) und «Schneestill» (2014, Roman, Salis). Anna Stern ist Förderpreisträgerin der St. Gallischen Kulturstiftung. 2019 zeichnete die Stadt Zürich ihr literarisches Werk aus.

Webseite der Autorin

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Charles Lewinsky «Der Halbbart», Diogenes #SchweizerBuchpreis 20/3

Charles Lewinsky ist ein exzellenter Geschichtenerzähler. Sein neuester Streich «Der Halbbart» ist eine wahre Fundgrube hunderter Geschichten, die der Schriftsteller zu einem grossen, epischen Ganzen verbindet. Die Shortlist des Schweizer Buchpreises hat ihn schon zum dritten Mal.

«Erzählen ist wie Seichen: Wenn man einmal damit angefangen hat, ist es schwer, wieder aufzuhören.»

Anfang des 14. Jahrhunderts schwelt ein Streit zwischen dem Kloster Einsiedeln und den Bauern, die Land und Wälder des Klosters bewirtschaften. Und weil das Kloster unter der Schirmherrschaft der Habsburger steht, wird aus dem konfliktreichen Nebeneinander ein Konflikt, der das Potenzial gehabt hätte, sich zu einer Katastrophe auszuwachsen. Glücklicherweise sind die Habsburger aber so sehr mit sich und der Nachfolge nach dem Tod Heinrich VII beschäftigt, dass der Marchenstreit erst 2 Jahre nach den Geschehnissen, die im Buch beschrieben werden, zur Schlacht bei Morgarten führen.

Warum erzählt Charles Lewinsky eine Geschichte, die um 1313 spielt? Mag sein, dass ihn eine Zeit lockte, die im «eidgenössischen» Bewusstsein über Jahrhunderte allzu sehr verklärt wurde, durch männliches Heldentum aufgeblasen und durch staats- und kulturhistorische Glorie bis zur Unkenntlichkeit verzerrt. Mag sein, dass der Protagonist Sebi ein Geschichtensammler ist und zu einem Geschichtenerzähler werden will und das Geschichtenerzählen damals noch aus fast nur mündlicher Überlieferung bestand. Das Volk konnte weder lesen noch schreiben. Und Geschichten trösteten oft genug über das eigene sorgenvolle Leben, kalte Winternächte und angstvolle Abende.
Aber vielleicht ist jene Zeit vor 700 Jahren der unsrigen gar nicht so fremd. Man hatte Angst vor fremden Mächten. Zwischen Wahrheit und Fiktion zu unterscheiden war damals nicht einfacher als heute. Oft genug und gut genug erzählt wurden und werden Unwahrheiten zu Wahrheiten. Die Angst, damals der Teufel, heute Teufelszeug, war allgegenwärtig und Klassenbewusstsein Grund genug, dass niemand seine Privilegien opfern wollte.

«Ein Gerücht muss nicht wahr sein, um seine Wirkung zu tun, es muss nur geglaubt werden.»

Charles Lewinsky «Der Halbbart», Diogenes, 2020, 688 Seiten, CHF 35.00, ISBN 978-3-257-07136-8

Der begnadete Geschichtenerzähler Charles Lewinsky erzählt die Geschichte des begnadeten Geschichtenerzählers Eusebius, Sebi, und die eines Mannes, der im gleichen Dorf wie Sebi auf seiner langen Flucht strandet. Alle nennen ihn nur Halbbart, ein Mann, dessen eine Gesichts- und Körperhälfte verbrannt und verkrustet ist, der aus einem alten Leben floh, der viel mehr weiss als fast alle im Dorf und der einen prallvollen Sack an Geheimnissen mit sich herumträgt. Geheimnisse, die Sebi und ich als Leser nur ganz langsam, häppchenweise erfahren. Halbbart schleppt ein Trauma mit sich, das Trauma einer Verbrennung, vieler schrecklicher Tode, das Trauma eines lauernden Feindes.

Sebi hats nicht einfach. Er ist der Jüngste in der Familie. An Mutter und Vater kann er sich kaum erinnern, höchstens aus den Erzählungen – und seine beiden grossen Brüder sind im Umgang mit ihm alles andere als zimperlich. Schnell ist klar; Sebi ist ein «Finöggel» und für die Arbeit auf dem Feld nicht zu gebrauchen. Auch nicht als Gehilfe des Totengräbers und nicht einmal im Kloster, in der Hoffnung, dereinst lesen und schreiben zu lernen. Schliesslich wird er zum Gesellen der Teufels-Anneli, einer umherziehenden Geschichtenerzählerin. Sebi wird das, wonach er sich sehnt, auch wenn er immer zwischen den Fronten bleibt.

«Wenn der Schnee klafterhoch liegt, kann ein Vogelschiss genügen, um eine Lawine auszulösen.»

Doch, Charles Lewinsky kann es. Er kann es mit übersprudelnder Vielfalt, mit einer Authentizität, die mir als Leser das Gefühl gibt, Charles Lewinsky hätte den unerschöpflichen Quell aller Phantasie gefunden. Und wer wie ich die Vielfalt, den Fleiss, und die unbestreitbaren Qualitäten des Tausendsassas kennt, würde ihm am liebsten den Titel «Sir» verleihen. Ein Roman über die Macht von Geschichten und die Wertlosigkeit so mancher Wahrheit. Heute wie früher – es wird munter erfunden, nicht nur aus Spass und Not, sondern strategisch. Dass aus Erfindung Lüge wird, ist auch keine Erscheinung der Gegenwart, nicht einmal die Schwierigkeit, das eine vom andern zu unterscheiden. Der Unterschied liegt im Bewusstsein des «Konsumenten», der aus der Lüge den Hass extrahiert.
Aber dem neuen Roman scheint trotz aller Üppigkeit und Fabulierkunst etwas zu fehlen; beiden Protagonisten scheint das Blut in den Adern nicht warm genug zu fliessen. Weder der junge Geschichtenerzähler noch der Halbbart, der zum Erfinder der Halbbarte (Hellebarde) wird, schlüpft einem während der 680 Seiten Lektüre unter die Haut. Es reiht sich Geschichte an Geschichte, Bild an Bild, Clou an Clou (was der Serienschreiber vorzüglich beherrscht). Aber mir wird nicht warm. Schade.

Charles Lewinsky, 1946 in Zürich geboren, ist seit 1980 freier Schriftsteller. International berühmt wurde er mit seinem Roman «Melnitz». Er gewann zahlreiche Preise, darunter den französischen Prix du meilleur livre étranger. Sein jüngster Roman «Der Halbbart» hat es auf die Shortlist des Deutschen und auf die Shortlist des Schweizer Buchpreises geschafft. Sein Werk erscheint in 14 Sprachen. Charles Lewinsky lebt im Sommer in Vereux (Frankreich) und im Winter in Zürich.

Illustrationen © leafrei.com

Die Shortlist ist da! #SchweizerBuchpreis 20/2

Die Mischung hätte illustrer nicht sein können. Eine Mischung, die es in sich hat. Charles Lewinsky gehört seit Jahrzehnten zu den Grossen im deutschsprachigen Literaturhimmel. Die Ostschweizerinnen Dorothee Elmiger und Anna Stern zählen noch immer zu den Geheimtipps. Tom Kummer weiss sich zu inszenieren, nicht erst seit dem Klagenfurter Wettlesen. Und Karl Rühmann? Karl Rühmann ist die Überraschung!

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Charles Lewinsky «Der Halbhart», Diogenes
Charles Lewinsky ist das Schwergewicht unter den Nominierten. Nur schon deshalb, weil er bereits zweimal unter den Nominierten zum Schweizer Buchpreis sass: 2011 mit seinem Roman «Gerron» und 2016 mit dem Roman «Andersen». Auch im Wettbewerb zum Deutschen Buchpreis stand und steht sein Name schon auf der Liste. Aber ein Wettbewerb soll überraschen! Charles Lewinsky ist einer der Namen, den man längst für seine literarischen Verdienste hätte adeln sollen. Wäre ich König, hätte ich dem Schriftsteller, Drehbuch-, Theater- und Hörspielautor, Musical- und Songtexter schon längst für sein Lebenswerk den Titel «Sir» verliehen. Charles Lewinsky ist eine Grossmacht, ein Tausendsassa, ein Schriftsteller, der sich stets neu erfindet.
Rezension von «Der Stotterer» (2019) auf literaturblatt.ch

© Lea Frei

Dorothee Elmiger «Aus der Zuckerfabrik», Hanser
Dorothee Elmigers neues Buch ist kein Roman. Dorothee Elmiger versucht mit «Aus der Zuckerfabrik» die Welt zu verstehen, nimmt mich mit ihrem Buch mit auf ihre Kopfreise in die Tiefen des Denkens. Mit ihrem dritten Buch erscheint sie zusammen mit Charles Lewinsky nicht nur auf der Shortlist des Schweizer Buchpreises, sondern auch auf der Shortlist zum Deutschen Buchpreis 2020. Erinnern wir uns an «Tauben fliegen auf» der Schweizerin Melinda Nadj Abonji. 2010 gewann sie mit ihrem zweiten Roman sowohl den Deutschen wie den Schweizer Buchpreis. Und Dorothee Elmiger hätte mit Sicherheit das Zeug dazu, es Melinda Nadj Abonji gleich zu tun. «Elmiger ist Dichterin, Historikerin, Analytikerin, Theoretikerin und begnadete Erzählerin in einem», schreibt die Presse.

© Lea Frei

Anna Stern «das alles hier, jetzt», Elster & Salis
Anna Stern, Umweltnaturwissenschaftlerin und Autorin, schreibt sich mit jedem neu erscheinenden Buch tiefer, höher, prägnanter in die Szene. Anna Stern stellt die grossen Fragen der Zeit und die ewig grossen Fragen des Menschseins, experimentiert mit ihrem Schreiben, verbindet in ihren Büchern die verschiedensten Sparten der Kunst. Sie schreibt kompromisslos und wer Anna Stern schon einmal lesend und argumentierend erlebt hat, weiss, was es heisst, ganz für eine Sache einzustehen. Es ist längst Zeit, dass Anna Stern einen grossen Preis für ihr Schreiben verliehen bekommt. Es ist längst Zeit, dass man Anna Stern den Platz einräumt, der ihr gebührt.
Rezension von «Wild wie die Wellen des Meeres» (2018) auf literaturblatt.ch

© Lea Frei

Tom Kummer «Von schlechten Eltern», Tropen
Tom Kummer – ein bunter Vogel, der weiss, wie Geschichten erzählt werden müssen, nicht nur weil er einst die Hollywoodstories fürs Schweizer Publikum aufbereitete, weil er ein ausgezeichneter Journalist ist, sondern weil er in seinem Schreiben zeigt, dass Dichtung und Wahrheit nicht in zwei verschiedenen Schubladen gebettet liegen. Das eine mischt sich mit dem andern, unweigerlich, ob man es wahrhaben (wieder so ein Wort) will oder nicht. Sein neuer Roman «Von schlechten Eltern», von den einen gefeiert, von den andern mit Distanz quittiert (wie könnte es bei Tom Kummer anders sein). Tom Kummers Protagonist in seinem Roman ist ein VIP-Chauffeur, der vom Flughafen nach Bern oder Zürich fährt, ein Geschichtensammler, der noch viel mehr mit sich herumschleppt, alles zwischen Himmel und Hölle.

© Lea Frei

Karl Rühmann «Der Held», rüffer & rub
Und Karl Rühmann? Kennen sie Karl Rühmann? Karl Rühmann schrieb vor zwei Jahren den Roman «Glasmurmeln, ziegelrot», ein wunderbares Buch, das in der Öffentlichkeit niemals jene Aufmerksamkeit erreichte, die der Roman verdient hätte. Dass Karl Rühmann unter den Nominierten ist, freut mich ungemein. Und ich stelle mir seine Überraschung mit grösstem Vergnügen vor, die ihn heimsuchen wird, wenn er von seiner Nominierung erfährt! Lesen sie seinen Roman «Der Held» aus dem Verlag rüffer & rub, einem Verlag, in dem Karl Rühmann fast das ganze literarische Programm ausmacht. Ein Roman, der aus dem Internationalen Tribunal in Den Haag eine literarische Bühne macht – existenziell!
ein Interview mit Karl Rühmann auf der Verlagsseite
Rezension von «Glasmurmeln, ziegelrot» auf literaturblatt.ch

Ich bin von der Shortlist beeindruckt. Sie ist listengewordener Mut! Der Beweis dafür, wie vielfältig die Schweizer Literatur sein kann – und angesichts all derer, die sich nicht auf der Liste finden, aber das Zeug dazu absolut hätten, ein starker Jahrgang!

Illustrationen © leafrei.com