in memoriam: Markus Werner «Am Hang»

Am 3. Juli 2016 ist Markus Werner 71 jährig in Schaffhausen gestorben. Ein Grosser in der deutschsprachigen Literatur, ein Stiller in der Literaturszene, mit jedem Buch mehr zum Schwergewicht unter den Schweizer Autoren. Grund genug, sein letztes Buch, sein hintergründigstes Buch wiederzulesen.

Der junge Scheidungsanwalt Clarin reist mit der Absicht ins Tessin, dort in seiner Ferienwohnung die Ruhe zu finden, eine Arbeit für ein Fachmagazin zu schreiben. Ein beschauliches Pfingstwochenende. Am ersten Abend setzt er sich im nahen Hitel zu einem älteren Mann an den Tisch auf der Terrasse. Was sich zwischen Clarin und dem Fremden, der sich als Thomas Loos vorstellt, anbahnt, entwickelt schnell ungeheure Intensität und Dynamik. Auch auf Clarins Seite, der sich vor einem Jahr genau in diesem Hotel von seiner damaligen Freundin Valérie trennte. Eine endgültige Trennung. Auch Loos ist der Getrennte, der Verlassene, der Nachtrauernde. Und Loos erzählt, bestimmt die Richtung, selbst die Tiefe des Gesprächs. Sobald Clarin die Initiative ergeift, steckt Loos die Grenzen. Was als Männergespräch beginnt, wird schon am ersten Abend direkt und greift tief unter die Oberfläche. Loos ist ein Verletzter, ebenfalls von seiner Frau verlassener Mann, aber ganz offensichtlich in ganz anderer Intensität als der jüngere Clarin, der sich gerne von Frauen distanziert, wenn diese ein übermässiges Bedürfnis nach Nähe entwickeln. Das Gespräch bohrt sich in die Tiefe. Was auf den ersten Seiten wie das Protokoll eines Konfrontation erscheint, lässt Markus Werner in seinem letzten Roman zu einem Tauchgang in die Tiefe Thomas Loos werden. Loos ist ein Versehrter, dem die Trennung von seiner Frau den Boden unter den Füssen entzog. Loos, der erzählt, er sei Lehrer für tote Sprachen, ist am Zerbrechen an der Schlechtigkeit der Welt, am Zerfall, nicht nur jener in der Institution Ehe, sondern auch jenem in der Schule, der Moderne, der Gegenwart, der Jugend, der Welt. Clarin ist nach dem ersten Tag vom Gespräch mit seinem neuen «Freund» mehr als erschlagen, weit weg von seiner angestrebten Ruhe, seinen gefassten Plänen, so sehr getrieben von Neugier, Mitleid und einer schwer erklärbaren Faszination, dass er am folgenden Tag erneut zu Loos an den Tisch sitzt. Ein folgenschwerer Entschluss.

Autor: Markus Werner.Foto: Selwyn Hoffmann.Das Foto ist honorarfrei...Selwyn Hoffmann, Pfrundhausgasse 9, CH-8200 Schaffhausen, Tel. 052 625 99 07, srhoffmann@freesurf.ch
Foto: Selwyn Hoffmann.

Markus Werner wurde 1944 in der Schweiz, in Eschlikon im Kanton Thurgau, geboren. Er studierte in Zürich Germanistik, arbeitete bis 1990 als Lehrer und dann als freier Schriftsteller. Seine Bücher wurden in mehrere Sprachen übersetzt und vielfach ausgezeichnet. Er veröffentlichte die Romane «Zündels Abgang», «Froschnacht», «Die kalte Schulter», «Bis bald», «Festland», «Der ägyptische Heinrich» und «Am Hang». Zu seinem Werk erschien der von Martin Ebel herausgegebene Band «Allein das Zögern ist human».

Und der Film?

Sehenswert, auch wenn sich der direkte Vergleich mit der Romanvorlage nicht lohnt. Markus Imboden drehte einen Film. Und ganz offensichtlich reichte ihm die Dramaturgie des Romans nicht. Vielleicht wäre die Reihenfolge, zuerst der Film und dann das Buch, die bessere als so wie die unsere. Auf jeden Fall ein sehenswerter Film, der mit den Charakteren der drei Hauptdarsteller spielt, mit den Rissen, der Distanz, die auch durch Liebe nicht aufzuheben ist, der Verzweiflung, die Liebe nicht fassen zu können.

img_0140

Reif Larsen «Die Rettung des Horizonts», S. Fischer

2009 erschien Reif Larsons erster Roman «Die Karte meiner Träume», ein Buch, das mich berührte und das ich bei einer Bücherpräsentation einmal als eines der 10 schönsten Bücher auf eine Liste setzte. Auch wegen der Geschichte, die aus der Sicht eines 12jährigen seine heimliche Reise durch die Staaten erzählt. Aber mit Sicherheit wegen seiner Form; ein übergrosses Buch, voll mit Randnotizen, Skizzen, Plänen und Zeichnungen, die meisten vom Autor selbst gestaltet, ein Buch voller Originalität, formal und inhaltlich.

«Shiranu ga hotoke.»

Nun erschien wieder bei S. Fischer der neue Roman «Die Entdeckung des Horizonts» («I am Radar»): Im Frühling 1975 erblickt Radar Radmanovic in New Jersey das Licht der Welt, auch wenn im Moment seiner Geburt im Spital der Strom ausfällt und alles im Dunkeln vonstatten geht. Es ist stockfinster im Gebärsaal des Spitals. Und als das Licht wieder angeht, liegt da ein Junge mit aubergine-brauner Haut, obwohl seine Eltern weiss sind. Trotz einer naheliegenden Erklärung, ist Radars Mutter überzeugt, ihr Sohn sei das Resultat eines biologischen Irrtums. Sie setzt alles daran, Licht über die dunkle Haut ihres Sohnes zu bringen, allem Widerstand ihres Mannes entgegen. Sie pilgert von u1_978-3-10-002216-5Arzt zu Arzt, eines Tages bis in die norwegische Arktis zu einer illustren Gruppe mysteriöser «wissenschaftlicher» Puppenspieler, die den Eltern Heilung durch ein ganz besonderes Experiment versprechen. Noch mehr verunsichert, aber gleichermassen fasziniert reist die Familie zurück und tatsächlich verändert sich die Hautfarbe des Jungen Radar, wenn auch zu einem hohen Preis. Der sonst schon sonderbare Junge leidet fortan unter epileptischen Anfällen und bleibt künftig mehr als nur empfänglich für alle Arten von elektrischen Schwingungen. Radar wird zu einem Medium, Teil einer ganz speziellen Gruppe von Menschen, die im Laufe von 50 Jahren mehrere grosse Kunstperformances durchführen, in den Ruinen der vom Bosnienkrieg zerschossenen Nationalbibliothek von Sarajevo, im diktaturverseuchten Kambotscha oder im in Anarchie versinkenden Kongo.

«Meine Mutter meint, ich bin ein gutes Buch mit einem schlechten Cover.»

Reif Larsen erzählt die Geschichte von Menschen, die im Laufe ihres Lebens einmal aus den Schienen ihres Lebens herauskatapultiert wurden und nicht mehr in ihr altes Dasein so einfach zurückkehren können. Von Menschen, die durch Geschichte, Schicksal oder Zufall aus aller Sicherheit gerissen werden, ihr Leben, die Umgebung und zu Wahrheiten gewordene Zusammenhänge mit einem Mal auf ganz andere Weise und in ganz anderer Intensität wahrnehmen. «Die Entdeckung des Horizonts» ist eine phantasievolle Reise an die Ränder der Realität. Vielleicht ein Buch, dass so nur von US-Amerikanern geschrieben werden kann, die sich auch sonst in ihrem Selbstbewusstsein weniger um Grenzen kümmern. Ein Buch, das Kategorien sprengt und sich nur schwer einordnen lässt. Wieder ein Buch, das fasziniert, mich in verschiedenste Leben eintauchen lässt, das gerne so tut, als sei der Sonderfall die Normalität. Ein Buch, das einem während des Lesens fast kindlich begeistern lässt, mich mitzieht und teilhaben lässt an der «Entdeckung des Horizonts».

af_larsen_reif__001_web-jpg-55406257Reif Larsen, geboren 1980, lebt im Hudson Valley und in Schottland. Er schreibt, unterrichtet Literatur, dreht Dokumentarfilme in den USA, Großbritannien und in Afrika. Seine Erzählungen und Essays erscheinen u.a. in «The New York Times» und in «The Guardian». Sein erster Roman «Die Karte meiner Träume» (S. Fischer Verlag 2009) wurde ein Weltbestseller und 2013 von Jean-Pierre Jeunet verfilmt.

Christoph Ransmayr «Cox oder Der Lauf der Zeit», S. Fischer

«Fuck, sagte Jakob Merlin, ein bisschen sei ihr Leben hier doch wohl, als strampelten sie allesamt nur selber wie die mechanischen, von unsichtbaren Zahnrädchen angetriebenen Figuren eines Automaten dahin, als atmende Verzierungen einer Maschine, die von Mechanikern kontrolliert und gesteuert wurde, deren Bräuche denen eines anderen Sterns entsprachen; unbegreiflich.»

Der Londoner Uhrmacher Alister Cox wird zusammen mit seinen Gefährten vom chinesischen Kaiser Qiánlóng in die purpurne Stadt Zi jin chéng eingeladen. Alister Cox, der die lange Reise nach China antritt mit dem Schmerz über eine viel zu früh verstorbene Tochter und eine in ihre Stummheit verlorenen Frau, soll abgeschottet in der Verbotenen Stadt Uhren ganz nach den Vorstellungen des allmächtigen, gottähnlichen Kaiserfürsten bauen. Uhren, die nicht einfach die Zeit messen und Spielzeug für den Unermesslichen sein sollen, sondern Lebensuhren; Zuerst eine Uhr, die die Lebenszeit eines Kindes spürbar machen soll. Dann eine Uhr für Todgeweihte und zuletzt ein Uhrwerk, dass die Ewigkeit messen kann. Alister Cox und seine Begleiter tauchen in eine fremde, bizarre Welt der Gegensätze; auf der einen Seite die der überbordenden Sinnlichkeit des Schönen und auf der anderen Seite die Perfektion der Brutalität in der Strenge des chinesischen Imperators. Zudem ist es die Suche eines Mannes, der seine viel jüngere Frau an ihr Schweigen und die Angst vor Berührungen verlor, nachdem die einzige Tochter mit fünf Jahren starb. Ein Mann, der mit der langen Reise an die andere Seite der Welt Nähe in der Distanz zu gewinnen hofft. Erst recht, als er in den kurzen Begegnungen mit einer Konkubine des Kaisers seine Frau und sein Kind wie durch einen Spiegel zu erkennen glaubt. Die Männer mit Alister Cox schrauben und feilen an der perfekten Maschine, am «perpetuum mobile», in einem Palast, in dem «alles nach den Gesetzen und Proportionen des Sternenhimmels vermessen und gebaut, ein bis auf Herzschläge, Atemzüge und Kniefälle geregeltes, höfisches Leben nicht anders umfasste, als ein ziseliertes Gehäuse das Räderwerk einer Uhr».
Qianlong_Empress_(2)Christoph Ransmayrs Absicht war mit Sicherheit nicht einen historischen Roman zu schreiben. Christoph Ransmayr bedient sich der Historie, um vom Dilemma des schöpferischen Menschen zu schreiben. Davon, dass man am einen Ende erschafft, um am anderen Ende zu zerstören. Davon, dass es bei all den vielen Reisen, die der Autor unternimmt, nicht ums Verstehen geht. Ransmayr beschreibt, geschult durch den Blick des Nomaden, wie durch Kraft und Leidenschaft das scheinbar gleichmässige Ticken der Zeit ins Stocken geraten kann, auch durchaus beabsichtigt.
Christoph Ransmayr will nicht abbilden und nacherzählen, ist nur insofern an Geschichte interessiert, als dass sie zur Bühne seines Erzählers wird. Und auf dieser Bühne ist die Hauptperson die Sprache, der wuchtige Klang seiner Sätze, jene Sprache, die genau dort hineinpasst, in jene von Seide, Farben, Figuren, Diamanten, Gold und Edelsteinen durchsetzten Kunstwelt rund um einen entrückten Gottmenschen.
Ein Roman mit satten Farben und klaren Strichen, über Masslosigkeit und das Geheimnis der Zeit.

AF_Ransmayr_Christoph__0901_Druck.jpg.34712914Christoph Ransmayr (1954) wuchs als Sohn eines Volksschullehrers auf. Er besuchte das Stiftsgymnasium der Benediktiner in Lambach und studierte von 1972 bis 1978 Philosophie und Ethnologie. Seit 1982 ist er freier Schriftsteller, lebt in Wien und Irland. Sich selbst bezeichnet er als «Halbnomaden» aufgrund seiner vielen Reisen. Ransmayr verbindet in seiner Prosa historische Tatsachen mit Fiktionen. Charakteristisch für Ransmayrs Romane sind die Schilderung grenzüberschreitender Erfahrungen, die literarische Bearbeitung historischer Ereignisse und deren Verknüpfung oder Brechung mit Momenten aus der Gegenwart. Die Verbindung von spannenden Handlungen und anspruchsvollen Formen haben vor allem in seinen ersten beiden Romanen «Die Schrecken des Eises und der Finsternis» und «Die letzteWelt» viel Lob eingebracht.

Am 22. November liest Christoph Ransmayr im Kaufleuten in Zürich. Moderiert wird die Veranstaltung von Martin Ebel, Literaturredaktor beim Tages-Anzeiger.

Webseite über Christoph Ransmayr

Reinhard Kaiser-Mühlecker «Fremde Seele, dunkler Wald», S. Fischer

«Der Glanz des Neuen fiel ab, und ihm war auf einmal, als sei alles, was ihn umgab, nur der Schein von dem, wofür er es gehalten hatte.» – Wenn es noch ein wirklich gutes Buch für den Spätsommer braucht, dann dieses!

Reinhard Kaiser-Mühlecker hat grosse Literatur geschrieben! Ein Buch, dass sich «artverwandt» vor Juli Zehs neustem Roman «Unterleuten» nicht zu verstecken braucht; ein Roman über das Auseinanderbrechen von Leben, das Einbrechen von Sehnsüchten, das Ausbrechen von selbstzerstörerischer Wut nach innen. Ein Buch über drei Generationen in einem Bauernhaus, vor allem über die Brüder Jakob und Alexander. Der grosse Bruder Alexander, der sich in seiner Jugend durch fast nichts beirren lässt, zuerst den Weg eines Kirchenmanns so deutlich und entschlossen einschlägt und wieder verwirft, wie zwischendurch den eines Mediziners und schlussendlich eines Militärs, getrieben von Sinnsuche, dem jüngeren Bruder Jakob zuerst ein Vorbild, dann entlarvt von seiner Distanz zum Leben, von Jakob abgestossen. Jakob, viel zu früh dem «bäuerlichen Trott» verfallen, schmeisst im Alleingang den Hof, einen Hof, der durch die undurchsichtigen Geschäfte des Vaters zum Sterben verurteilt ist. Der Vater ist nie da, dauernd auf der Jagd nach dem todsicheren Geschäft, das endlich das grosse Geld, die grosse Rendite abwerfen soll, dafür aber nach und nach alles verkauft, was sich auf dem Hof zu Geld machen lässt. Niemand traut sich; nicht die letzte Generation aufzubegehren, die älteren Generationen ehrlich zu sein, Misserfolg und Verschwiegenes einzugestehen. Jeder verschanzt sich hinter seinem Schmerz, seinen Verletzungen, dem grossen Fehlen. Selbst über das Sterben des Grossvaters hinaus, der mit seinem Erbe aus undurchsichtiger Vergangenheit manch einem in der Familie eine Wende verspricht, die dann aber auf sich warten lässt.
u1_978-3-10-002428-2Reinhard Kaiser-Mühlecker schreibt in grossen Bögen, aus der Sicht der beiden scheinbar ungleichen Brüder, die sich bloss noch durch Zufälle näher kommen, und dann viel näher, als sie erahnen.
Ein starker Roman, der nicht bis an die Ränder zeichnet, vieles offen lässt, ohne mich als Leser alleine zu lassen. Ein Roman, der wie das Leben in keiner Weise zu erklären versucht und trotzdem ganz nah am Geschehen und den Personen bleibt. Ein Roman, dessen kunstvoller Plan glänzend schimmert und viel mehr dem Leben nach schildert als bloss Geschichte sein will. Ein Roman, der einen Lesesommer zu einem guten Sommer werden lässt. Unbedingt lesen!

Reinhard Kaiser-Muehlecker, oesterreichischer Schriftsteller, geb. 1982 | Reinhard Kaiser-Muehlecker, Austrian author, born in 1982

Reinhard Kaiser-Mühlecker wurde 1982 in Kirchdorf an der Krems geboren und wuchs in Eberstalzell, Oberösterreich, auf. Er studierte Landwirtschaft, Geschichte und Internationale Entwicklung in Wien.
Sein Debütroman «Der lange Gang über die Stationen» erschien 2008, es folgten die Romane «Magdalenaberg» (2009), «Wiedersehen in Fiumicino» (2011), «Roter Flieder» (2012) und «Schwarzer Flieder» (2014), alle bei Hoffmann & Campe. 2015 erschien erstmals bei S. Fischer «Zeichnungen. Drei Erzählungen». Für sein Werk wurde er mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, darunter dem Preis der Jürgen-Ponto-Stiftung, dem Kunstpreis Berlin, dem Österreichischen Staatspreis und dem Literaturpreis des Kulturkreises der deutschen Wirtschaft.

Der Roman findet sich zurecht auf der Longlist des Deutschen Buchpreises!

Judith Hermann «Lettipark», S. Fischer

Judith Hermanns neustes Buch «Lettipark» ist kein einem Roman nachgeschobener Erzählband, der im Schweif seines Vorgängers den Weg zu den Kassen finden soll. 17 Erzählungen, darunter Meisterwerke, gläserne Texte mit grösstmöglichem Deutungsspielraum. Geschichten vom Entschwinden, vom Verlust, keine fest eingerahmten und eingegrenzten Geschichten, sondern Szenen am offenen Herzen, der Zukunft ungewiss.

Nicht das Spektakuläre reizt Judith Hermann zu schreiben, aber Bilder aus Vergangenheiten und Gegenwart, die sich bei ihr einbrannten.
Vom kleinen Vincent, dessen Mutter im Winter zuvor gestorben war und er wie ein Grosser mit seiner kleinen Schubkarre Kohle in den Keller schippen will.
Von Freundinnen von einst, die sich auf einer Party begegnen, zwei, die einst gemeinsam in einer Studentenwohnung lebten, jetzt in fremden Welten voneinander getrennt, die eine als Fotografin Subjekt, die andere als Schauspielerin Objekt.
Von der Tochter, die ihren Messi-Vater besucht und beim Abschied das Gefühl vom allerletzten Küchenstück und gar nie wirklich einen Vater besessen zu haben mitnimmt.

u1_978-3-10-403716-5Judith Hermann beschreibt keine Verletzungen, aber die Narben, die sie alle mit sich herumtragen, die Male, Mutter- und Vatermale, Freundschafts- und Liebesmale, die nichts vergessen lassen. Und sie beschreibt sie mit Sätzen, die kurz und messerscharf sind, manchmal in ihrer Repetition wie Faustschläge auf blaue Flecken. «Er will es so. Genau so und nicht anders. Er will auf seinem gepackten Koffer inmitten einer Szenerie aus zusammenhangslosem Chaos sitzen, auf einem Trümmerhaufen, dann kann er sich den Anforderungen des Lebens halbwegs stellen.» Vielleicht einer der Schlüsselsätze im Buch. Einer jener Sätze so deutlich und klar in Geschichten, die ausufern, nicht in ihrer Erzähllänge, aber in der Potenz, die sie mit sich tragen.

Von zwei Paaren, die sich zum Essen in der Stadt treffen, vom Mond beschienen, jenem Ort, wo Neil Armstrong, den der eine Mann einmal getroffen zu haben behauptet, einen Teil des Astronauten zurückbehalten habe, so wie jeder Teile von sich zurücklässt, Teile, die unerreichbar verloren sind. Geschichten von Menschen, die wie gefaltete Papierflieger für Sekunden glauben, die Schwerkraft überwunden zu haben. Ein Buch über das Abhandenkommen von Nähe, das Verschwinden von Liebe, wenn nur noch die Hülle von Leere aufgeblasen zurück bleibt.

Judith Hermann geriet mit ihrem letzten Roman «Aller Liebe Anfang» übermässig in tadelnde Kritik, mit einem Roman, der mich beeindruckte. Mit diesem Erzählband straft sie jene mächtig, die ihr dumpf vorwarfen, sie könne nicht schreiben und habe nichts zu sagen. Unbedingt lesen!

AF_Hermann_Judith__562_Druck.jpg.43391514-1Judith Hermann wurde 1970 in Berlin geboren. Ihrem Debüt «Sommerhaus, später» (1998) wurde eine ausserordentliche Resonanz zuteil. 2003 folgte der Erzählungsband «Nichts als Gespenster». Einzelne dieser Geschichten wurden 2007 für das Kino verfilmt. «Alice» (2009), fünf Erzählungen, wurde international gefeiert. Zuletzt erschien der Roman «Aller Liebe Anfang». Für ihr Werk wurde Judith Hermann mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, darunter dem Kleist-Preis und dem Friedrich-Hölderlin-Preis. Die Autorin lebt und schreibt in Berlin.

Roland Schimmelpfennig «An einem klaren, eiskalten Januarmorgen zu Beginn des 21. Jahrhunderts», S. Fischer

Es ist eiskalt und von Osten kommend streift ein einsamer Wolf durch das verschneite Berlin. Was beinahe wie eine postapokalyptische Kulisse erscheint, ist in Roland Schimmelpfennigs erstem Roman die Spur durch seine Geschichten, vorbei an Einsamen in einer kalten Stadt, Verlorenen, die genauso wie der Wolf orientierungs- und ziellos durch die Stadt mäandern.
Tomasz, ein junger Pole, der in Baugruppen Häuser aushöhlt, zerfressen von Panikattacken und einer wilden Angst vor Einsamkeit. Seine Freundin Agnieszka, die täglich zwölf Stunden in fremden Häusern putzt und an den Wochenenden in Parties abtaucht. Ein greises Ehepaar, das sich weigert aus einem der Abbruchhäuser zu ziehen und ohne richtige Heizung, Strom und fliessendes Wasser mitten in der Stadt vom Puls abgeschnitten ist. Elisabeth, ein Mädchen, das geschlagen mit ihrem Freund Micha abhaut, beide mit nichts ausser ihrer schwarzen Kluft, die sie beinahe unsichtbar macht. CharlyIMG_0048 und Jacky, die am Prenzlauer Berg aus einer ehemaligen Bäckerei einen Spätkauf machten. Jacky sieht in Charlys Augen diesen sonderbaren Blick, seit der Wolf seine Spuren im Schnee und in den Schlagzeilen lässt, dutzendfach getroffen, mit Blicken und Objektiven. Die Mutter des Mädchens, verzweifelt und unentschlossen, einmal eine gefeierte Künstlerin, jetzt bloss noch ein Schatten ihrer selbst. Ein alter Jäger, ein betrunkener Vater und die Volontärin bei der Zeitung, die von nichts weiss und über den Wolf schreiben soll… ein ganzer Reigen Alleine-Gelassener.

Roland Schimmelpfennig macht in seinem ersten Roman, nach unzähligen Theaterstücken, die frostige Hauptstadt zur grossen Bühne. So einsam der Wolf, doch eigentlich ein Rudeltier, verloren die Nähe der Menschen sucht, schwärmt das Personal in seinem Roman auseinander. Der Autor beschreibt in seinem Roman Wirkungen und erzeugt suggestive Bilder. Roland Schimmelpfennig erklärt nicht, nimmt eine Spur auf und lässt sie wieder los.
Ein grossartiger Roman, eine ganz eigene Art des Erzählens. Und man darf den Titel, der auch der Beginn des erstens Satzes seines Romans ist, durchaus als Metapher verstehen. Der Wolf, ein Angsttier, schleicht durch die Stadt.

schimmelpfennigRoland Schimmelpfennig, Jahrgang 1967, ist der meistgespielte Gegenwartsdramatiker Deutschlands. Er hat als Journalist in Istanbul gearbeitet und war nach dem Regiestudium an der Otto-Falckenberg-Schule an den Münchner Kammerspielen engagiert. Seit 1996 arbeitet Roland Schimmelpfennig als freier Autor. Weltweit werden seine Theaterstücke in über 40 Ländern mit großem Erfolg gespielt.

Monika Maron «Krähengekrächz», S. Fischer

«Inzwischen sehe ich den Menschen als Sonderfall der grossen Tierfamilie und kann mich nicht einmal entscheiden, ob die menschliche Besonderheit eher ein Glück oder ein Unglück ist.»

Durch die Arbeit an einem Roman macht sich Monika Maron daran, der Krähe näherzukommen, dem Tier, dem der Mensch mit einer ganz speziellen Mischung aus Faszination und Aberglaube gegenübertritt. Wie kein anderes Tier war der Rabe Orakel, Götterbote, Gott und Weltenschöpfer, Begleiter des Bösen, Inbegriff dafür, wie sehr sich der Mensch in seiner Unkenntnis mit Angst zu schützen versucht. Aber je näher sich die Autorin mit dem Wesen der Tiere vertraut macht, ihre Nähe sucht, umso mehr spricht Achtung aus ihrem Text, wie stets, wenn Erkenntnis die Beobachtung krönt. So auch, wenn sich die Autorin jener mehr als zwielichtigen Furcht vor einem Tier nähert, die den Menschen selber entblösst: «Ich sehe den Krähen zu, wie sie friedlich aufpicken, was ich ihnen hinwerfe, sich manchmal auch streiten und einander verjagen, und denke, dass sie einem klügeren Gesetz folgen als wir. Wenn wir unmenschlich sagen, meinen wir das Tierhafte, als wären nicht wir die Mörder, Krieger und Folterer. Das Böse ist menschlich. Nicht das Tier in uns mordet, es ist der Mensch.»
In dem schmalen Büchlein, mit dem man sich an einem Abend vertiefen kann, ohne dass der schwarze Vogel einem in den Schlaf begleitet, schildert die Autorin den Weg zu einem Tier, dessen Augen einem nicht betören und kein Fell zum Kraulen lockt, dass den Menschen aber ganz offensichtlich nicht in Ruhe lässt, in einer Gegenwart, in der man Krähen noch immer abschiesst und gleichzeitig ebenso viel Scharfsinn zuspricht wie den Primaten.

«Vielleicht liegt es am Alter, am allmählichen Verfall und dem nahenden Sterben, das mich das Tier im Menschen so deutlich erkennen lässt.»
Leale 2Und wer noch mehr über Krähen lesen will:
Von Cord Riechelmann «Krähen», Matthes & Seitz, Naturkunden

Thomas von Steinaecker «Die Verteidigung des Paradieses», S. Fischer

In nicht allzu ferner Zukunft: Heinz ist 15 und lebt mit einer kleinen Gruppe Menschen auf einer Alp. Eine Schicksalsgemeinschaft, denn es trieb sie eine globale Katastrophe in die Berge. Weite Teile Europas sind verseucht und was um sie herum wie ein kleines Überbleibsel funktioniert, ist überdacht mit einer riesigen Kuppel, die verhindert, dass alles Leben stirbt. Doch ein infernalisches technisches Gewitter vertreibt die Gruppe aus dem Kuppelparadies, in der Hoffnung, irgendwo auf Reste einer funktionierenden Zivilisation zu stossen. Die Gruppe macht sich auf, Heinz zusammen mit Fennek, einem elektronischen Fuchs, seinem einzigen Freund, der ihn mit Geschichten tröstet und ein paar Heften im Gepäck, in die Heinz aufschreibt, was in noch fernerer Zukunft nicht vergessen sein soll. Mit Cornelius, der schon in der untergegangenen Vergangenheit in leitender Funktion war, zieht die Gruppe mit einem Ziel und Hoffnung durch verbranntes Land, apokalyptische Szenerien, verfolgt von Drohnen, bedroht von marodierenden Banden, verschreckt von Camps, in denen Mutanten vegetieren. Irgendwo im Westen soll ein Flüchtlingslager sein. Heinz will ein guter Mensch sein. Er sammelt nicht nur Geschichten, auch Wörter in seinen Heften, die aus seiner Erinnerung auftauchen. Er spürt, dass er ein Geheimnis mit sich herumträgt.

Thomas von Steinaecker erzählt die Geschichte episch, schildert eine düstere Zukunft mit Bildern, die wir aus Filmen und anderen Endzeitbüchern kennen. Warum soll ich also noch so eine Dystopie lesen. Weil Thomas von Steinaecker seinen Protagonisten, der damals als Kind auf die Alp kam und nur kennt, was er aus Erzählungen und ein paar Büchern von Cornelius weiss, auf der Flucht eine andere Welt kennen lernt und nicht mit Erinnerungen an eine verschwundene Vergangenheit verklebt ist. Er flieht mit den Augen eines Kindes, im Körper eines Jugendlichen, bis er alt und entkräftet im letzten Teil des Buches seine Geschichte zu Ende erzählt, ein Ende, das entrückt scheint.

Das Buch lebt von den Bildern und der Spannung, die der Autor zu erzeugen weiss. Michael von Steinaecker hat sich nicht wenig vorgenommen und literarisches Breitbandkino geschaffen.

268961p3_b

Thomas von Steinaecker, geboren 1977, wohnt in Augsburg. Er schreibt vielfach ausgezeichnete Romane – unter anderem «Wallner beginnt zu fliegen» und «Das Jahr, in dem ich aufhörte, mir Sorgen zu machen, und anfing zu träumen» – sowie Hörspiele. Außerdem dreht er Dokumentarfilme, für die er unter anderem den ECHO Klassik erhielt. Für S. Fischer Hundertvierzehn initiierte er das »Mosaik-Roman«-Projekt «Zwei Mädchen im Krieg» und veröffentlichte ab Oktober 2015 zusammen mit der Zeichnerin Barbara Yelin den Fortsetzungs-Webcomic «Der Sommer ihres Lebens».
Leale 1