«These words are everything or maybe words are just my only thing» – Robert Prosser und Lan Sticker im Literaturhaus Thurgau

Das Zitat aus dem Poem «These Words Are Everything» des US-Rappers Jonwayne hätte auch das Motto für die Performance zu Robert Prosser Roman «Verschwinden in Lawinen» sein können. Was dieser zusammen mit dem Schlagzeuger Lan Sticker auf die Literaturhausbühne brachte, war Sprache durch und durch.

Robert Prosser so einfach „Schriftsteller“ zu nennen, wird dem, was der Mann tut, nicht gerecht. Zwar wird Robert Prossers literarischer Fussabdruck weit über die österreichischen Grenzen hinaus schon seit 15 Jahren stetig grösser, aber der Erschaffer des Romans mit dem Titel „Verschwinden in Lawinen“ ist, wie alle, die sich an diesem wunderschönen Sommerabend ins Literaturhaus Thurgau trauten, sinnlich erlebten; Performer mit Leib und Seele, Vermittler, Kurator, Dichter, „Experimentierer“, in seiner Vergangenheit Graffitikünstler und seit einigen Jahren, nach einem Schreibaufenthalt in England, Boxer.
Robert Prosser ist körperlich durchdrungen von Sprache. Dass er schon seit mehreren Jahren zusammen mit dem Percussionisten Lan Sticker tourt und international auftritt, mit dem Drumbadour den Rhythmus der Sprache noch verdichtet, ist vielleicht auch ein bisschen aus dem Boxen entstanden; einer sprichwörtlich körperlichen Auseinandersetzung mit Rhythmen und Ein-drücken.

Lan Sticker, der an der Anton-Bruckner-Privatuniversität in Linz Schlagzeug studierte und sich in seiner Musik zwischen Pop und Jazz bewegt, verschmolz sicht- und hörbar mit dem sprachlichen Metronom seines Gegenübers. Ein Tiroler und ein Kärntner zusammen über die vielfachen Verschüttungen durch Lawinen aller Art. Ein Text über das Monster und das Verschwinden, über den Versuch der Befreiung und das erdrückende Gewicht sich verschiebender Sedimente – ob Schnee oder die Gesellschaft selbst, ob Schuld oder die pure Wucht der Vergangenheit.

Von Bergidylle keine Spur! Romane, die sich kritisch mit Herkunft und Heimat auseinandersetzen, haben in Österreich eine lange Tradition. Bisweilen werden Bücher fast toxisch, triefen im Schmerz der Auseinandersetzung. In der Schweiz scheint alles viel moderater. «Verschwinden in Lawinen» ist auch eine Auseinandersetzung mit den Auswirkungen des Tourismus, Veränderungen an Mensch und Landschaft, die ganze Gegenden zu Kulisse und Spielplatz machten und machen. Robert Prossers Herkunftsland Tirol ist Synonym für die verkaufte Vorstellung von Freiheit, Abenteuer, Idyll und karikierter Bäuerlichkeit. «Verschwinden in Lawinen» erzählt von den Auswirkungen dieser Veränderungen, wie sehr sich Menschen nach einem Verschwinden sehnen, wie omnipräsent die Bedrohungen vielerlei Lawinen sind.

In Robert Prossers fiktivem Dorf gibt es die Verschütteten; die wirklich Verschütteten, jene die in jugendlichem Übermut den Schnee ins Rutschen bringen, jene, die über Jahre und Jahrzehnte unter Schneemassen kamen. Aber auch die vom Leben Verschütteten; Mathoi, der Einsiedler und Heiler, der in den Bergen ein ganz eigenes Leben führt, Anna, die Mutter des Protagonisten Xaver, die sich aus ihrem alten Leben in die Berge verabschiedet, Xaver, der eigentlich Schauspieler werden wollte und zum Störmetzger wurde oder Flo, sein Freund, der sich von der Gegenwart einlullen, freiwillig verschütten lässt. 

Robert Prosser ist ein literarisches Ereignis und zusammen mit dem Schlagzeuger Lan Sticker eine Offenbarung.

«Langsam näherten wir uns Gottlieben – Station um Station von Bern kommend, nach relativ kurzer Nacht, und ebenso Schritt für Schritt tasteten wir uns an den Abend heran: Für die Begleitung durch diesen Tag sagen wir Danke, lieber Gallus Frei. Ebenso für die Zeit und den Rundgang durch das Dorf, die Ausblicke auf den See und auf die Literatur. Wie schön, dass sich dieses Gespräch, das so leicht und flink zwischen Themen wie Schreiben, Lesen und Leben tänzelte, auf der Bühne fortsetzen konnte, nach unserem eigenen wilden Tanz durchs Buch, als Lan getrommelt und ich dazu rezitiert hatte, eingenestelt unters Dach des Bodmanhauses.» Robert Prosser

Rezension zu «Verschwinden in Lawinen» auf literaturblatt.ch

Beitragsbilder © Gallus Frei-Tomic

Robert Prosser «Verschwinden in Lawinen», Jung und Jung

Gast im Literaturhaus Thurgau!

Robert Prossers scheinbarer Lawinenroman ist viel mehr. Das deutet schon der Infinitiv im Titel an. Lawinen sind vielfältig. Es gibt jene aus Schnee und Steinmassen, aus Schlamm und Geschiebe. Aber es gibt auch jene, die Leben unsichtbar verschütten, die Menschen niederdrücken, Menschen nicht entfliehen lassen.

Robert Prosser ist ein erstaunlich vielschichtiges Kunstwerk gelungen. Da gibt es die Geschichte einer Naturkatastrophe, einer Schneelawine, von der man befürchten muss, sie habe zwei noch ganz junge, einheimische Opfer gefordert. Irgendwann findet man das Mädchen, schwer verletzt, bringt es ins Spital und hofft. Vom gleichaltrigen Burschen fehlt jede Spur und es ist mit dem Schlimmsten zu rechnen. Das ganze Dorf steht unter Strom, in einer Mischung aus Ergebenheit den Naturkräften gegenüber und der Angst, eine weitere Tragödie akzeptieren zu müssen. 

Da ist die Geschichte einer Familie, die auseinandergebrochen, schon lange in einer Lawine aus Schicksalsschlägen begraben ist. Xavers Familie, jene des Protagonisten, der sich an der Suche nach dem Freund seiner Nichte, Noah, beteiligt. Xavers Grossvater war ein Mann, der Geheimnisse mit sich trug und ganz im Gegensatz zum Rest der Familie seine Welt mit der seines Enkels teilte. Jener Grossvater, schrullig und eigenwillig geworden, verschwand in den unwegsamen Schrunden der Berge. Als man ihn mit dem Hinweis eines Einsiedlers fand, war er bereits seit Tagen tot. Und mit dem Tod des Grossvaters begann auch das langsame Sterben von Xavers Mutter Anna, die sich irgendwann nur noch mit der Flucht vor sich selbst zu retten wusste – in eine Hütte auf einer der Almen.

„Das Knacken, als ob ein jagendes Wesen aus dem Gebüsch bricht, der Riss im Schnee, sekundenschnell wächst eine Gewalt, die abwärts stürzt und alles frisst, auch die Luft zum Atmen.“

Robert Prosser «Verschwinden in Lawinen», Jung und Jung, 2023, 192 Seiten, CHF 32.90, ISBN 978-3-99027-273-2

Da ist die Geschichte von Xaver selbst, der eigentlich Schauspieler hätte werden wollen, aber irgendwie im Dorf hängen blieb, nicht zuletzt, weil er einer der wenigen wurde, die mit mehr oder minder illegalen Schlachtungen zu einem gesuchten Mann im Dorf wurde. Jenes Gerät, den Blitzer, das Bolzenschussgerät dauernd mit sich herumträgt, vielleicht, weil nichts so wie seine Schlachtungen reibungslos von statten geht. Er ist im Dorf verschüttet, in einem Dazwischen, einem Hohlraum, den er zusammen mit seinem schläfrigen Freund Flo lieber mit Kifferdunst füllt als mit der wilder Entschlossenheit auszubrechen.

Und es ist die Geschichte eines ganzen Dorfes, das sich mit gespielter Freundlichkeit dem Tourismus verschrieben hat, einem Dorf zwischen Ergebenheit der Natur und jener der zahlenden Gäste. Ein Dorf, das gute Miene macht zu einem Spiel, das ihm das Letzte raubt; die Ehrlichkeit, das Authentische. Da kommt eine solche Lawine gerade recht. Sie bündelt das Wenige, das an Solidarität geblieben ist für eine hektische Suche nach Noah, dem Vermissten. Man rottet sich zusammen, man reisst sich zusammen.

„Irgendwann gehen dir die Möglichkeiten aus, glücklich zu werden, und bevor es soweit ist, versuch ich es lieber hier.“

Auch Xaver ahnt, dass in dieser Suche nach dem wahrscheinlich Verschütteten auch seine eigene Rettung liegen könnte. Und weil der Einsiedler und Heiler Mathoi damals seiner Mutter Anna den Hinweis gegeben hatte, wo Xavers Grossvater zu finden wäre, macht sich Xaver auf die Suche nach dem Bärtigen irgendwo in den Bergen. Und weil er weiss, dass sich auch seine Mutter nach oben zurückgezogen hat und man sich im Dorf mit Gerüchten um die beiden nicht zurückhält, wird es eine Suche nach vielem, nicht zuletzt nach dieser einen Chance, Wege herauszufinden.

Robert Prossers Roman ist ein kraftvolles Bergpanorama ohne jedes Pathos, ohne eine Faser Kitsch. Ein grosses Bild mit Übermalungen, Überblendungen, als würde sich das Szenario beim Lesen in mir zu einem feinmaschigen Teppich verweben. Robert Prossers Sprache ist stark, ihr Klang so archaisch wie das Licht, die Konturen der Berge, die Kälte; und so direkt, wie die Schilderungen einer Schlachtung im Dorf, als Xaver bereits weiss, dass irgendwo da oben ein noch nicht erwachsener Bursche einen langen Kampf ums Überleben auszustehen hat. Robert Prossers Schreiben folgt nicht dem Countdown um Leben und Tod, sondern den Verletzungen der vielfach Verschütteten, dem Verschwinden in Lawinen. Beeindruckend und nachhal(l)tig!

Man verzeihe mir den Druckfehler: Lan Sticker!

Robert Prosser, geboren 1983 in Alpbach in Tirol. Studium der Komparatistik und Kultur- und Sozialanthropologie, Autor und Performancekünstler. Für seine Romane hat er zahlreiche Auszeichnungen erhalten, u.a. Reinhard-Priessnitz-Preis 2014. Mit «Phantome» (2017) stand er auf der Longlist zum Deutschen Buchpreis. Robert Prosser lebt in Alpbach und in Wien. 

Webseite der Autors

Die Gäste im Literaturhaus Thurgau zwischen Mai und August 2023

«Vielleicht braucht es für Genauigkeiten die totale Reduktion der inneren Betriebsamkeit.» Lisa Elsässer

Liebe FreundInnen des kleinsten aber feinsten Literaturhauses,
zücken Sie Ihre Agenden, Planer, Mobilphones oder Wandkalender und markieren Sie die folgenden Termine. Wir danken Ihnen für Ihr Interesse, Ihre Treue und den Mut, sich in Neues hineinzugeben.

Donnerstag, 4. Mai, 19.30 Uhr
Ein Abend mit Lisa Elsässer
„Elsässers Sprache, die aus dem Unbewussten kommt, funktioniert wie eine Lupe. Sie vergrössert und bündelt das Licht, bis es plötzlich brennt.“ Felix Schneider, SRF Literatur

Donnerstag, 11. Mai, 19.30 Uhr
Nadja Küchenmeister „Im Glasberg“
Samstag, 13. Mai, 16 Uhr: Nachlese
In der jungen deutschsprachigen Lyrik gilt Nadja Küchenmeister als einzigartige Stimme. Sie verwebt Erinnerungen mit Märchen und Traumbildern – und findet im Unscheinbaren das Besondere, im Nebensächlichen das Wesen der Dinge. Ihre Dichtung ist immer suchend, tastend unterwegs: sprachspielerisch und zugleich von hoher formaler Schönheit.

Donnerstag, 1. Juni, 19.30 Uhr
Robert Prosser „Verschwinden in Lawinen“, Performance mit Gespräch
Percussion: Lan Stricker
In einem Bergdorf in Tirol herrscht am Ende der Wintersaison gespannte Stille: Zwei Einheimische sind von einer Lawine verschüttet worden. Während die junge Frau um ihr Leben kämpft, fehlt von ihrem Freund vorerst jede Spur.

Freitag, 9. Juni, 19.30 Uhr
Milena Michiko Flašar
„Oben Erde, unten Himmel“
Herr Ono ist unbemerkt verstorben. Allein. Es gibt viele wie ihn, immer mehr. Erst wenn es wärmer wird, rufen die Nachbarn die Polizei. Und dann Herrn Sakai mit dem Putztrupp, zu dem Suzu nun gehört. Sie sind spezialisiert auf Kodokushi-Fälle.

Donnerstag, 15. Juni, 19.30 Uhr
„Der Garten“ von Paul Bowles
mit Florian Vetsch (Autor), Dagny Gioulami (Schauspielerin, Autorin) und Klaus-Henner Russius (Schauspieler)
Szenische Lesung und Gespräch zu Paul Bowles› Bühnenstück „Der Garten“ (Tanger 1967). Paul Bowles (1911–1999) zählt zu den bedeutendsten Autoren der amerikanischen Literatur in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts.

Mittwoch, 21. Juni, 20 Uhr
Judith Hermann „Wir hätten uns alles gesagt“ 
in Kooperation mit dem Literaturhaus St. Gallen, im Kunstmuseum St. Gallen
„Judith Hermanns Bücher sind unbeirrbare Erkundungen der menschlichen Verhältnisse.“ Roman Bucheli, NZZ

Donnerstag, 6. Juli
Tabea Steiner „Immer zwei und zwei“
18 Uhr „Literatur am Tisch“
20 Uhr Lesung
Natali heiratet Manuel, Mitglied einer Freikirche, und wird so Teil einer streng christlichen Gemeinschaft. Zunehmend ist sie um ihre eigene und die Unabhängigkeit ihrer Töchter besorgt. Als sie die alleinstehende Theologin Kristin kennenlernt, wird ihr klar, dass sie so nicht weiterleben kann.

Samstag, 19. August, 18 Uhr, Sommerfest; Ausstellung, Lesungen
18.30 Uhr: Ruth Loosli, Schriftbilder und Lyrik, begleitet von Quirin Oeschger am Hackbrett 
20 Uhr Sarah Elena Müller „Bild ohne Mädchen“
„Sarah Elena Müller bringt eindrucksvoll zum Ausdruck, wie viel Uneinsichtigkeit, wie viel Hilf- und Sprachlosigkeit die Aufarbeitung eines Missbrauchsfalls oft erschweren oder gar verhindern. Ein starkes Debüt.“ Julian Schütt
«Ruth Loosli schreibt, wie andere tanzen. Anmutig, leichtfüssig, den Menschen zugeneigt.» Susanne Rasser, Salzburg

Illustrationen leafrei.com / Literaturhaus Thurgau