Robert Prosser «Das geplünderte Nest», Jung und Jung

Nur wer Fragen stellt, nur wem dieses undefinierbare „komische“ Gefühl nicht genügt, nur wer weiss, dass Oberflächen niemals zeigen, was in den Schichten darunter liegt, erfährt Geschichte und Welt, wie sie wirklich sind. Robert Prosser misstraut den Oberflächen und reisst an den feinen Haarrissen, die wir sonst allzu gerne einfach mit frischer Farbe aufhübschen.

Eine Recherchereise in den Libanon, jenes von Krisen, Glaubenskriegen und Terrorismus zerfressene Land, auf den Spuren der dortigen Sprayerszene, die der Welt zwischen Trümmern und Partys einen Kontrapunkt setzten will. Die Reise eines Mannes, der selbst auf der Suche ist nach dem, was seine Sprache sein soll. Der Zwiespalt eines Mannes, der sein geerbtes Haus im Tirol zu einem Teil der touristischen Machinerie werden lässt, die sein Heimatdorf aushöhlt. Das Wissen um das „Nest“ irgendwo in den Bergen über dem Dorf, in dem sich während des Weltkriegs Deserteure versteckt hielten, Männer, die über Monate und Jahre in den Wäldern an der Baumgrenze auf das Ende des Krieges warteten und selbst mit dem Zusammenbruch des Dritten Reiches nicht mehr wussten, wo ihr Platz sein sollte. Und die Geschichte eines Malers, eines Deutschen, der durch den Krieg versehrt zusammen mit einer anderen Malerin sein Glück in einem kleinen Haus an eben jenem Dorfrand suchte, ein Mann, der im Krieg seinen rechten Arm verlor, seine Hand, mit der er malte, der in dem kleinen Tiroler Dorf hofft, wenigstens etwas von dem zurückzugewinnen, was ihm der Krieg genommen hatte.

Robert Prosser «Das geplünderte Nest», Jung und Jung, 2025, 176 Seiten, CHF ca. 35.90, ISBN 978-3-99027-427-9

Auf nicht einmal 200 Seiten webt Robert Prosser ein dichtes Netz aus Erzählsträngen, starken Bildern, eindringlichen Szenen und Dialogen, die zeigen, wie sehr Robert Prosser in seinem Schreiben performativ arbeitet. Mit der Lancierung seines neuen Romans wird Robert Prosser wie schon mit seinem Vorgängerroman „Verschwinden in Lawinen“ zusammen mit dem Percussionisten Lan Sticker Romanfragmente auf der Bühne inszenieren, eine Umsetzung, die seine Texte unvergesslich macht.

Vieles an diesem Roman ist autobiographisch. Ein junger Mann sucht nach seiner Art der Kunst. Schon als kleiner Junge schickt seine Mutter ihn zu dem Maler am Rande des Dorfes, zu Hugo Lenz, der in seinem kleinen Haus mit dem wenigen, das seine Kunst an Geld bringt, zu überleben versucht, der sich auch nicht zu schade ist, zwischendurch eine Garage frisch zu streichen, um wieder zu etwas Geld zu kommen. Ein Mann, der im Krieg seinen rechten Arm verloren hatte, mit seiner Linken malen lernen musste und zu Lebzeiten erst nur noch mit Schwarz arbeitete, später noch mit Rot dazu. Wie könnte er noch Farben verwenden? Es kam ihm falsch vor, verlogen. Ausser Schwarz, ja, alles müsste schwarz sein. Auch später, als der Erzähler bereits glaubte, in der Sprayerszene seinen Platz gefunden zu haben, waren es Spaziergänge mit Lenz, die ihn herausforderten. Und als Lenz dann mit einem Mal gestorben war, das Haus am Rand des Dorfes unbewohnt, die Kunst des Malers ins Vergessen zu sinken drohte, war es eine journalistische Arbeit, die den Erzähler zur vertieften Recherche veranlasst. Eine Recherche, die mehr ans Licht bringt als beabsichtigt, eine Recherche, die einen Mann zeigt, der sich ein Leben lang aus der Finsternis einer dunklen Kriegserfahrung herauszumalen versucht, der das Grauen eines Krieges stets mit sich herumtragen muss, am Stummel seines weggeschossenen Arms. Die Geschichte seines Grossvaters, der ihm das „Ludwig-Haus“ vererbt hatte, ein Haus, das der Erzähler zimmerweise vermietet, das ihm finanzielle Sicherheit gibt. Die Geschichte eines Grossvater, der nie viel erzählte während den letzten Monaten des Krieges, aber als Aufseher von Kriegsgefangenen amtete und dies wohl nur schwer mit seinem Gewissen vereinbaren konnte, auch lange nach dem Krieg. Erst recht, als einer dieser Gefangenen, der „Ukrainer“ flüchten konnte und sich jenen anschloss, die sich im „Nest“ oben in den Bergen über dem Dorf zu verstecken versuchten.

Es ist der Blick auf die Gegenwart, seine Reise in den Libanon, und in die Vergangenheit, die Recherche über den Maler Hugo Lenz (dem Maler Werner Scholz 1898 – 1982 nachempfunden), die diesen Roman auszeichnet, den Blick unter die Fassade. So wie sein Tiroler Heimatdorf für den Tourismus ebenfalls eine Hochglanzfassade verkauft. Und gleichsam seine Sprache, der Sound seiner Sprache, der Wechsel von klarem Rhythmus und äusserst sinnlichen Passagen. Ein Autor mit einem feinen Sensorium und einer ausgeprägten Gabe, seiner Sprache pulsierendes Leben zu schenken.

Musik und Komposition: Lan Sticker 
Text und Stimme: Robert Prosser
Produktion: Zora Pictures

Interview

Ich lese dich, höre dich und sehe dich – und ich bin schwer beeindruckt. Dein Roman ist vieles; ein Buch über einen Künstler wie dich, der nach seiner Ausdrucksfom sucht. Ein Roman über eine Rückkehr in eine Heimat, die Heimat und Fremde zugleich ist. Ein Roman über die Eindrücke einer intensiven Recherchereise in den Libanon, einem Land, das mehr als durch ein Meer von uns getrennt ist, das voll in Zeiten des Umbruchs steht, auf der Grenze zwischen Selbstzerstörung und Aufbruch. Ein Roman über einen Künstler, der im Krieg den Arm verlor, mit dem er seine Sprache gefunden hatte, mit dem er seine Kunst machte, der einen Neuanfang suchte und ihn bis zu seinem Tod nie wirklich fand. Ein Roman über Österreich und seine Vergangenheitsbewältigung, über Deserteure im Zweiten Weltkrieg, über Anpassung und Widerstand. Und ein Roman über das Erbe, über die verschwiegene Vergangenheit in Familien. Was stand am Anfang deines Schreibens?

Der eigentliche Auslöser für diesen Roman liegt weit zurück, gute zwölf Jahre. Ich schrieb eine meiner ersten Reportagen, über zwei Maler und eine Malerin, die in Alpbach, meinem Geburtsort, zur Zeit des Zweiten Weltkriegs eine Art Exil gefunden hatten. Im Nachhinein verfolgte mich lange das Gefühl, als wäre ich diesen drei Persönlichkeiten nicht gerecht geworden, als hätte ich an ihnen vorbeierzählt. Aus dem Vorhaben, nun endlich eine passable Geschichte hinzubekommen, wurde letztlich dieses Buch und das Schicksal der drei Künstler findet sich destilliert in den beiden Romanfiguren Lenz und Marie wieder.

Im Libanon sind die Trümmer der Geschichte überall sichtbar. In Österreich muss man sich auf die Suche machen, wenn man ihnen auf die Spur kommen will. Dort, nicht erst seit der der fatalen Explosionskatastrophe vom 4. August 2020, die Ruinen einer schleichenden Apokalypse, hier das Tirol, die perfekte Tourismuskulisse in einer Landschaft, unter der die Zeugnisse scheinbar vergangener Katastrophen schlummern, auch solcher, die nie wirklich ein Ende fanden. Nirgends ist Idylle. Unter jedem aufgesetzten Fuss ist Geschichte, Blut und Leid. Wie sehr verstehst du Literatur als Aufbrechen? Als Konfrontation?

Es müsste eine Konfrontation der leiseren Art sein. Oder besser: eine Beschwörung. Sodass die Idyllen ihre Brüchigkeit verraten, ihre Untiefen. Deshalb ist mir auch die Recherche sehr wichtig, alles, was vor dem eigentlichen Schreiben passiert, dieses Herantasten an den Erzählstoff, die eigene, körperliche Erfahrung der Nischen und Schatten. Und weil das Internet so wenig zur Recherche taugt, sich online nur Fetzen, Schnipsel finden, deshalb ergibt sich ein tiefergehendes Verständnis erst durch reale Begegnungen, durch Gespräche und die tatsächlich zurückgelegten Wege. Bezüglich Beiruts war es der Versuch, die Distanz zu überwinden, der Fremde ein wenig Vertrautheit abzugewinnen. Und bei Tirol ging es mir darum, in der gewohnten Umgebung eine Art von Fremde aufzuspüren. Beirut wollte ich mir in gewisser Weise erarbeiten, erschließen. Einer der mitunter faszinierendsten Aspekte dieser Stadt ist, dass sie viele Blickwinkel und Ansätze erlaubt und immer wieder anders erzählt werden kann. Die Romanhandlung setzt im Frühjahr 2024 ein – zu einem Zeitpunkt, an dem sich Beirut als sehr dunkel und verlassen zeigte, wortwörtlich: gekappter Strom, die auffällige Leere einer Stadt, aus der viele Menschen geflohen sind. Die Hisbollah präsentierte sich als staatstragende Macht, doch war zu erahnen, dass man im Zuge des Gaza-Kriegs auf eine Zäsur zusteuert. Und Alpbach – das Dorf, das in einer fiktionalisierten Weise im Roman als Vorlage dient – das musste umgekrempelt werden, um abseits der bekannten Klischees und all der Werbeschablonen, die auf den Bergen lasten, Rätselhaftes und Überraschendes zu finden.

Ins Dorf, in dem dein Roman spielt, setzt du eine ganze Reihe von Menschen, die auf die eine oder andere Weise am Leben zu scheitern drohen – oder auch wirklich scheitern. Keine Gewinner, keine Profiteure, Aussenseiter. Wie sehr fühlte sich Robert Prosser in seiner eigenen Geschichte in gewissen Zeiten als Aussenseiter?

Die Rolle als Aussenseiter, die ist für mich sehr positiv behaftet, vermutlich liegt das am Aufwachsen in einem Tiroler Bergdorf. Die Entscheidung, es mit dem Schreiben zu probieren, die ist selten eine leichte, egal von wo man kommt. Vielleicht hat mir Alpbach in meinem weiteren Weg sogar mehr geholfen, als wie wenn ich in Innsbruck oder Wien aufgewachsen wäre. Es hätte leicht passieren können, und ich wäre Bankangestellter geworden oder hätte eine Lehre gemacht, sommers Maurer, winters Schilehrer, etwas in diese Richtung. Das wäre natürlich auch kein Untergang gewesen, aber ich bilde mir ein, dass ich mir wegen Alpbach schon in meiner Jugend eine gewisse Starrköpfigkeit angeeignet habe, um auch in einer engen Dorfgesellschaft den Traum, ein Künstler zu werden, umsetzen zu können. Rückblickend kommt mir vor, als wäre ich in eine gewisse Aussenseiter-Rolle hineingeraten. Mein erster Schritt in Richtung Kunst, das war damals Hip-Hop und vor allem Graffiti. Der einzige Sprayer in einem Bergdorf, da lässt sich eine gewisse Absurdität nicht verleugnen. Und im Kern war die Existenz als Autor darin bereits angelegt. Wann wäre man als ein solcher kein Aussenseiter? Einerseits, weil es ein ungewöhnlicher Beruf ist und ich im Alltag oft mit Menschen zu tun habe, denen eine solche Existenz fremd ist. Andererseits – und das fällt mir bei Recherchen oft auf, oder wenn ich für Reportagen unterwegs bin – nimmt man aufgrund des Schreibens zuallererst die dankenswerte Position des Beobachters ein, des Fragestellers, einer, der im Hintergrund der Geschichte nachspürt, um aus diesem Abseits hervor schließlich den Text zu fördern.

Im „Nachwort“ zu deinem Roman verrätst du, dass es zur Figur des Malers Hugo Lenz eine reale Figur gibt, die des Malers Werner Scholz, den es mit anderen zusammen in der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts aus den Wirren der Ferne in deine Heimat verschlagen hatte, die gemeinsam eine Art Künstlerkolonie gründen wollten. Mir scheint dein Buch auch eine Homage an all jene Menschen, die kompromislos ihrer Kunst folgen, die alles daran setzen, um ihre Stimme, ihren Strich, ihre Farben zu finden. 

Absolut. Wenn jemand eine Passion, eine Berufung aufgrund einer inneren Notwendigkeit verfolgt, dann empfinde ich das persönlich wie auch aus einem literarischen Blickwinkel hervor als sehr anziehend. Durch die Figur des Lenz etwa konnte ich darüber schreiben, wie einer an einem fremden Ort versucht, heimisch zu werden, aber just aufgrund seiner Kunst, die ihn erst in die Fremde geführt hat, ein Aussenseiter bleibt. Und zugleich verbindet er sich dank der Malerei und dank der Suche nach Farben und Materialien, nach Rötel und Schiefer, mit dem Gebirge und wird ein eigenwilliger Teil davon. Darin steckt, glaube ich, nicht nur eine besondere Tragik, sondern auch eine erzählenswerte Schönheit.

Du bist ein Meister der Performance. Zusammen mit dem Percussionisten Lan Sticker schaffst du es in beeindruckender Weise, deine Texte in Sprachmusik, Klangbilder und Wortlandschaften umzusetzen. Wie sehr mischt sich der Performer schon in den Prozess des Schreibens ein? Gibt es neben dem Schriftsteller auch den Rapper Robert Prosser? Und gibt es den Sprayer noch?

Den Sprayer, den gibt es nur noch als interessierten Beobachter. Der Rapper, der geistert noch weiter, flackert in der Rezitation auf, das lässt sich vermutlich nie ganz abschütteln. Und die Aufführung selbst, die mischt sich relativ früh ein, insofern, als ich einzelne Skizzen auf ihre Bühnentauglichkeit abklopfe. Der Performer horcht beim Schreiben mit und wenn ich das Buch halbwegs vor Augen habe, dann versuche ich, daraus eine Erzählung zu lösen, eine Fährte aus dem Roman bis auf die Bühne – oder zumindest in den Proberaum, um dort mit Lan an einer Performance zu arbeiten. Die Rhythmen und Melodien, die wir dann ausprobieren, verändern wiederum meine eigene Sicht auf die Geschichte, der Text wird nochmals neu aufgefächert und in anderer Art lebendig.

Robert Prosser studierte Komparatistik sowie Kultur- und Sozialanthropologie in Innsbruck und Wien. Autor und Performancekünstler. Für seine Romane hat er zahlreiche Auszeichnungen erhalten, u.a. 2014 den Reinhard-Priessnitz-Preis. Mit «Phantome» (2017) stand er auf der Longlist zum Deutschen Buchpreis. Zuletzt erschienen: «Verschwinden in Lawinen» (2023).

Webseite des Autors

Beitragsfoto © Yannic Steuerer

«These words are everything or maybe words are just my only thing» – Robert Prosser und Lan Sticker im Literaturhaus Thurgau

Das Zitat aus dem Poem «These Words Are Everything» des US-Rappers Jonwayne hätte auch das Motto für die Performance zu Robert Prosser Roman «Verschwinden in Lawinen» sein können. Was dieser zusammen mit dem Schlagzeuger Lan Sticker auf die Literaturhausbühne brachte, war Sprache durch und durch.

Robert Prosser so einfach „Schriftsteller“ zu nennen, wird dem, was der Mann tut, nicht gerecht. Zwar wird Robert Prossers literarischer Fussabdruck weit über die österreichischen Grenzen hinaus schon seit 15 Jahren stetig grösser, aber der Erschaffer des Romans mit dem Titel „Verschwinden in Lawinen“ ist, wie alle, die sich an diesem wunderschönen Sommerabend ins Literaturhaus Thurgau trauten, sinnlich erlebten; Performer mit Leib und Seele, Vermittler, Kurator, Dichter, „Experimentierer“, in seiner Vergangenheit Graffitikünstler und seit einigen Jahren, nach einem Schreibaufenthalt in England, Boxer.
Robert Prosser ist körperlich durchdrungen von Sprache. Dass er schon seit mehreren Jahren zusammen mit dem Percussionisten Lan Sticker tourt und international auftritt, mit dem Drumbadour den Rhythmus der Sprache noch verdichtet, ist vielleicht auch ein bisschen aus dem Boxen entstanden; einer sprichwörtlich körperlichen Auseinandersetzung mit Rhythmen und Ein-drücken.

Lan Sticker, der an der Anton-Bruckner-Privatuniversität in Linz Schlagzeug studierte und sich in seiner Musik zwischen Pop und Jazz bewegt, verschmolz sicht- und hörbar mit dem sprachlichen Metronom seines Gegenübers. Ein Tiroler und ein Kärntner zusammen über die vielfachen Verschüttungen durch Lawinen aller Art. Ein Text über das Monster und das Verschwinden, über den Versuch der Befreiung und das erdrückende Gewicht sich verschiebender Sedimente – ob Schnee oder die Gesellschaft selbst, ob Schuld oder die pure Wucht der Vergangenheit.

Von Bergidylle keine Spur! Romane, die sich kritisch mit Herkunft und Heimat auseinandersetzen, haben in Österreich eine lange Tradition. Bisweilen werden Bücher fast toxisch, triefen im Schmerz der Auseinandersetzung. In der Schweiz scheint alles viel moderater. «Verschwinden in Lawinen» ist auch eine Auseinandersetzung mit den Auswirkungen des Tourismus, Veränderungen an Mensch und Landschaft, die ganze Gegenden zu Kulisse und Spielplatz machten und machen. Robert Prossers Herkunftsland Tirol ist Synonym für die verkaufte Vorstellung von Freiheit, Abenteuer, Idyll und karikierter Bäuerlichkeit. «Verschwinden in Lawinen» erzählt von den Auswirkungen dieser Veränderungen, wie sehr sich Menschen nach einem Verschwinden sehnen, wie omnipräsent die Bedrohungen vielerlei Lawinen sind.

In Robert Prossers fiktivem Dorf gibt es die Verschütteten; die wirklich Verschütteten, jene die in jugendlichem Übermut den Schnee ins Rutschen bringen, jene, die über Jahre und Jahrzehnte unter Schneemassen kamen. Aber auch die vom Leben Verschütteten; Mathoi, der Einsiedler und Heiler, der in den Bergen ein ganz eigenes Leben führt, Anna, die Mutter des Protagonisten Xaver, die sich aus ihrem alten Leben in die Berge verabschiedet, Xaver, der eigentlich Schauspieler werden wollte und zum Störmetzger wurde oder Flo, sein Freund, der sich von der Gegenwart einlullen, freiwillig verschütten lässt. 

Robert Prosser ist ein literarisches Ereignis und zusammen mit dem Schlagzeuger Lan Sticker eine Offenbarung.

«Langsam näherten wir uns Gottlieben – Station um Station von Bern kommend, nach relativ kurzer Nacht, und ebenso Schritt für Schritt tasteten wir uns an den Abend heran: Für die Begleitung durch diesen Tag sagen wir Danke, lieber Gallus Frei. Ebenso für die Zeit und den Rundgang durch das Dorf, die Ausblicke auf den See und auf die Literatur. Wie schön, dass sich dieses Gespräch, das so leicht und flink zwischen Themen wie Schreiben, Lesen und Leben tänzelte, auf der Bühne fortsetzen konnte, nach unserem eigenen wilden Tanz durchs Buch, als Lan getrommelt und ich dazu rezitiert hatte, eingenestelt unters Dach des Bodmanhauses.» Robert Prosser

Rezension zu «Verschwinden in Lawinen» auf literaturblatt.ch

Beitragsbilder © Gallus Frei-Tomic

Robert Prosser «Verschwinden in Lawinen», Jung und Jung

Gast im Literaturhaus Thurgau!

Robert Prossers scheinbarer Lawinenroman ist viel mehr. Das deutet schon der Infinitiv im Titel an. Lawinen sind vielfältig. Es gibt jene aus Schnee und Steinmassen, aus Schlamm und Geschiebe. Aber es gibt auch jene, die Leben unsichtbar verschütten, die Menschen niederdrücken, Menschen nicht entfliehen lassen.

Robert Prosser ist ein erstaunlich vielschichtiges Kunstwerk gelungen. Da gibt es die Geschichte einer Naturkatastrophe, einer Schneelawine, von der man befürchten muss, sie habe zwei noch ganz junge, einheimische Opfer gefordert. Irgendwann findet man das Mädchen, schwer verletzt, bringt es ins Spital und hofft. Vom gleichaltrigen Burschen fehlt jede Spur und es ist mit dem Schlimmsten zu rechnen. Das ganze Dorf steht unter Strom, in einer Mischung aus Ergebenheit den Naturkräften gegenüber und der Angst, eine weitere Tragödie akzeptieren zu müssen. 

Da ist die Geschichte einer Familie, die auseinandergebrochen, schon lange in einer Lawine aus Schicksalsschlägen begraben ist. Xavers Familie, jene des Protagonisten, der sich an der Suche nach dem Freund seiner Nichte, Noah, beteiligt. Xavers Grossvater war ein Mann, der Geheimnisse mit sich trug und ganz im Gegensatz zum Rest der Familie seine Welt mit der seines Enkels teilte. Jener Grossvater, schrullig und eigenwillig geworden, verschwand in den unwegsamen Schrunden der Berge. Als man ihn mit dem Hinweis eines Einsiedlers fand, war er bereits seit Tagen tot. Und mit dem Tod des Grossvaters begann auch das langsame Sterben von Xavers Mutter Anna, die sich irgendwann nur noch mit der Flucht vor sich selbst zu retten wusste – in eine Hütte auf einer der Almen.

„Das Knacken, als ob ein jagendes Wesen aus dem Gebüsch bricht, der Riss im Schnee, sekundenschnell wächst eine Gewalt, die abwärts stürzt und alles frisst, auch die Luft zum Atmen.“

Robert Prosser «Verschwinden in Lawinen», Jung und Jung, 2023, 192 Seiten, CHF 32.90, ISBN 978-3-99027-273-2

Da ist die Geschichte von Xaver selbst, der eigentlich Schauspieler hätte werden wollen, aber irgendwie im Dorf hängen blieb, nicht zuletzt, weil er einer der wenigen wurde, die mit mehr oder minder illegalen Schlachtungen zu einem gesuchten Mann im Dorf wurde. Jenes Gerät, den Blitzer, das Bolzenschussgerät dauernd mit sich herumträgt, vielleicht, weil nichts so wie seine Schlachtungen reibungslos von statten geht. Er ist im Dorf verschüttet, in einem Dazwischen, einem Hohlraum, den er zusammen mit seinem schläfrigen Freund Flo lieber mit Kifferdunst füllt als mit der wilder Entschlossenheit auszubrechen.

Und es ist die Geschichte eines ganzen Dorfes, das sich mit gespielter Freundlichkeit dem Tourismus verschrieben hat, einem Dorf zwischen Ergebenheit der Natur und jener der zahlenden Gäste. Ein Dorf, das gute Miene macht zu einem Spiel, das ihm das Letzte raubt; die Ehrlichkeit, das Authentische. Da kommt eine solche Lawine gerade recht. Sie bündelt das Wenige, das an Solidarität geblieben ist für eine hektische Suche nach Noah, dem Vermissten. Man rottet sich zusammen, man reisst sich zusammen.

„Irgendwann gehen dir die Möglichkeiten aus, glücklich zu werden, und bevor es soweit ist, versuch ich es lieber hier.“

Auch Xaver ahnt, dass in dieser Suche nach dem wahrscheinlich Verschütteten auch seine eigene Rettung liegen könnte. Und weil der Einsiedler und Heiler Mathoi damals seiner Mutter Anna den Hinweis gegeben hatte, wo Xavers Grossvater zu finden wäre, macht sich Xaver auf die Suche nach dem Bärtigen irgendwo in den Bergen. Und weil er weiss, dass sich auch seine Mutter nach oben zurückgezogen hat und man sich im Dorf mit Gerüchten um die beiden nicht zurückhält, wird es eine Suche nach vielem, nicht zuletzt nach dieser einen Chance, Wege herauszufinden.

Robert Prossers Roman ist ein kraftvolles Bergpanorama ohne jedes Pathos, ohne eine Faser Kitsch. Ein grosses Bild mit Übermalungen, Überblendungen, als würde sich das Szenario beim Lesen in mir zu einem feinmaschigen Teppich verweben. Robert Prossers Sprache ist stark, ihr Klang so archaisch wie das Licht, die Konturen der Berge, die Kälte; und so direkt, wie die Schilderungen einer Schlachtung im Dorf, als Xaver bereits weiss, dass irgendwo da oben ein noch nicht erwachsener Bursche einen langen Kampf ums Überleben auszustehen hat. Robert Prossers Schreiben folgt nicht dem Countdown um Leben und Tod, sondern den Verletzungen der vielfach Verschütteten, dem Verschwinden in Lawinen. Beeindruckend und nachhal(l)tig!

Man verzeihe mir den Druckfehler: Lan Sticker!

Robert Prosser, geboren 1983 in Alpbach in Tirol. Studium der Komparatistik und Kultur- und Sozialanthropologie, Autor und Performancekünstler. Für seine Romane hat er zahlreiche Auszeichnungen erhalten, u.a. Reinhard-Priessnitz-Preis 2014. Mit «Phantome» (2017) stand er auf der Longlist zum Deutschen Buchpreis. Robert Prosser lebt in Alpbach und in Wien. 

Webseite der Autors

Die Gäste im Literaturhaus Thurgau zwischen Mai und August 2023

«Vielleicht braucht es für Genauigkeiten die totale Reduktion der inneren Betriebsamkeit.» Lisa Elsässer

Liebe FreundInnen des kleinsten aber feinsten Literaturhauses,
zücken Sie Ihre Agenden, Planer, Mobilphones oder Wandkalender und markieren Sie die folgenden Termine. Wir danken Ihnen für Ihr Interesse, Ihre Treue und den Mut, sich in Neues hineinzugeben.

Donnerstag, 4. Mai, 19.30 Uhr
Ein Abend mit Lisa Elsässer
„Elsässers Sprache, die aus dem Unbewussten kommt, funktioniert wie eine Lupe. Sie vergrössert und bündelt das Licht, bis es plötzlich brennt.“ Felix Schneider, SRF Literatur

Donnerstag, 11. Mai, 19.30 Uhr
Nadja Küchenmeister „Im Glasberg“
Samstag, 13. Mai, 16 Uhr: Nachlese
In der jungen deutschsprachigen Lyrik gilt Nadja Küchenmeister als einzigartige Stimme. Sie verwebt Erinnerungen mit Märchen und Traumbildern – und findet im Unscheinbaren das Besondere, im Nebensächlichen das Wesen der Dinge. Ihre Dichtung ist immer suchend, tastend unterwegs: sprachspielerisch und zugleich von hoher formaler Schönheit.

Donnerstag, 1. Juni, 19.30 Uhr
Robert Prosser „Verschwinden in Lawinen“, Performance mit Gespräch
Percussion: Lan Stricker
In einem Bergdorf in Tirol herrscht am Ende der Wintersaison gespannte Stille: Zwei Einheimische sind von einer Lawine verschüttet worden. Während die junge Frau um ihr Leben kämpft, fehlt von ihrem Freund vorerst jede Spur.

Freitag, 9. Juni, 19.30 Uhr
Milena Michiko Flašar
„Oben Erde, unten Himmel“
Herr Ono ist unbemerkt verstorben. Allein. Es gibt viele wie ihn, immer mehr. Erst wenn es wärmer wird, rufen die Nachbarn die Polizei. Und dann Herrn Sakai mit dem Putztrupp, zu dem Suzu nun gehört. Sie sind spezialisiert auf Kodokushi-Fälle.

Donnerstag, 15. Juni, 19.30 Uhr
„Der Garten“ von Paul Bowles
mit Florian Vetsch (Autor), Dagny Gioulami (Schauspielerin, Autorin) und Klaus-Henner Russius (Schauspieler)
Szenische Lesung und Gespräch zu Paul Bowles› Bühnenstück „Der Garten“ (Tanger 1967). Paul Bowles (1911–1999) zählt zu den bedeutendsten Autoren der amerikanischen Literatur in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts.

Mittwoch, 21. Juni, 20 Uhr
Judith Hermann „Wir hätten uns alles gesagt“ 
in Kooperation mit dem Literaturhaus St. Gallen, im Kunstmuseum St. Gallen
„Judith Hermanns Bücher sind unbeirrbare Erkundungen der menschlichen Verhältnisse.“ Roman Bucheli, NZZ

Donnerstag, 6. Juli
Tabea Steiner „Immer zwei und zwei“
18 Uhr „Literatur am Tisch“
20 Uhr Lesung
Natali heiratet Manuel, Mitglied einer Freikirche, und wird so Teil einer streng christlichen Gemeinschaft. Zunehmend ist sie um ihre eigene und die Unabhängigkeit ihrer Töchter besorgt. Als sie die alleinstehende Theologin Kristin kennenlernt, wird ihr klar, dass sie so nicht weiterleben kann.

Samstag, 19. August, 18 Uhr, Sommerfest; Ausstellung, Lesungen
18.30 Uhr: Ruth Loosli, Schriftbilder und Lyrik, begleitet von Quirin Oeschger am Hackbrett 
20 Uhr Sarah Elena Müller „Bild ohne Mädchen“
„Sarah Elena Müller bringt eindrucksvoll zum Ausdruck, wie viel Uneinsichtigkeit, wie viel Hilf- und Sprachlosigkeit die Aufarbeitung eines Missbrauchsfalls oft erschweren oder gar verhindern. Ein starkes Debüt.“ Julian Schütt
«Ruth Loosli schreibt, wie andere tanzen. Anmutig, leichtfüssig, den Menschen zugeneigt.» Susanne Rasser, Salzburg

Illustrationen leafrei.com / Literaturhaus Thurgau