Zsuzsanna Gahse «Wie sonst?», Plattform Gegenzauber

Und ihre Eltern haben Sie dann aus den Augen verloren? Beide gleichzeitig?

Sie sagen nichts?

Bin ich Ihnen zu nahegetreten? Ich wollte Sie nicht beleidigen, ich wollte Sie ja verteidigen. Kennen Sie diesen Satz, diesen gesungenen Satz aus der Fledermaus? Könnte ich Ihnen vorsingen, vorsingen lassen. Aha, gefällt Ihnen nicht. Ich wollt Sie nicht beleidigen.

Entschuldigen Sie.

Mögen Sie Lieder und welche am liebsten?

Mit einem Mal sehen Sie merkwürdig aus. Wie eine hölzerne Gestalt. Im Augenblick sehen Sie aus wie eine Statue! Come una statua. Über die starre Statue könnte man auch singen.

Nun habe ich es verstanden. Sie finden es lächerlich, Sie mit Sie anzusprechen. Kommt nicht wieder vor.

Bist du ein Anhänger von Elvis? Du magst ihn also nicht.

Eher den Armstrong, die schöne tiefe, kratzige Stimme?

Derzeit gibt es Songs im Schweizer Dialekt, die sich südamerikanisch ausnehmen. Wäre das etwas?

Anfangs hast du Lisa erwähnt, die Braunblonde. Warum habt ihr euch getrennt?

Hast du wirklich Angst vor Frauen? Vor allen Frauen, oder hast du dir das eingeredet?

Gibt es das, gibt es alle Frauen als ein einziges großes Gebilde? Das frage ich mich auch. Ich glaube, dass es das nicht gibt. Alle Frauen zusammen gibt es nicht. Sie sind absolut unterschiedlich, divers, tausenderlei. Daher ist in den alten Dichtungen immer von einmaligen Frauen die Rede. Die Ersehnten sind einmalig. Im Hochgesang sind alle Ersehnten einmalige Frauen.

Nun aber, aber versammeln sich die einmaligen Frauen. Ausgerechnet sie. Fischschwärme von Einzelwesen. Sie schwirren aus.

Denkst du jetzt an das Forellenquintett? Eher nicht. Ich glaube nicht, dass du gerade an Schubert denkst.

Magst du eine Zigarette?

Gerade will mir kein Zigarettenlied einfallen. Dafür die sengende Sonne.

Oh, Insel in der glühenden Sonne, der Morgen bricht an. Die erschöpften schwitzenden Schwarzen hören nachts die Trommel und den philosophischen Calypso (jemand sagte, der Calypso sei philosophisch), bald bricht der Morgen an, während ich (in diesem Fall ist Ich ein schwarzer Sänger) schwere Lasten tragen und heben muss, zum Himmel empor heben, aber wo ich auch sein mag, auf welchen Meeren ich auch segeln mag, werde ich immer Deine Ufer preisen.

Sobald mir die Sonneninsel einfällt, folgt das Lied vom mutterlosen Kind. Manchmal, manchmal fühle ich mich wie ein mutterloses Kind, weit weg von zu Hause, weit, weit weg von zu Hause, manchmal fühle ich mich wie ein mutterloses Kind. A motherless child. Meist fällt mir gleich darauf oder kurz vorher Moses ein, der den Pharao auffordert, seine Leute mit ihm ziehen zu lassen. Let my people go.

Außerdem gibt es ein altes Lied mit einer ähnlichen Grundlaune, das ich allerdings nur in der von Kodály bearbeiteten Version kenne. Spät war ich aufgebrochen, war unterwegs, weit weg von zu Hause, ging immer weiter, aber auf halbem Weg blieb ich stehen, schaute zurück und hatte die Augen voller Tränen. Seither gibt es mittags Kummer, Kummer ist mein Abendbrot, unglücklich sind alle Stunden, und ich weine nicht selten unter dem Himmel voller Sterne.

Es gibt eine mehr oder minder bekannte Herbst-Melodie, vom Text her eher unbekannt, wobei in geglückten Fällen die Texte zusammen mit der Musik loslegen, sie sind miteinander unterwegs. In diesem Herbstlied sagt ein Ich ihrem Gegenüber, dass sie ihn nicht liebe, sie sagt ihm das mitten ins Gesicht (im Original sagt sie ihm das in die Augen). Später stellt sich heraus, und nach wie vor erzählt das der Text, dass sie das nur gesagt habe, um seine Antwort zu hören. Erst stand er wortlos vor ihr, dann ging er stumm, und seither sieht die Erzählerin seinen Blick, immerzu die dunklen Augen. Er sagte kein Wort und ging stumm. Vergilbte Herbstblätter fallen von den Bäumen, ihn hatte der Herbst fortgefegt. Automn Leaves.

Tränen, die sind das Ende, Tränen und leere Hände. Blieben allein zurück, Tränen vom großen Glück.

Das war Ende der 50er Jahre neben Shantys ein Lied, das heute nicht einmal auf YouTube auftaucht. Ein Billiglied, allerdings mit guten Beschleunigungen, mit wechselnden Tempi. Einfach zu singen, am besten mit Gitarrenbegleitung.

Abgedroschen, ausgeleiert, abgenutzt, abgesungen und trotzdem absolut ansprechend ist der lachende Bajazzo. Verzweifelte Arie eines Verlorenen. Ist er verloren?

Singen Sie oft?

Entschuldigung. Singst du oft?

Nie, wirklich nie? Liedallergie?

Wirst Du oft nach deiner Herkunft gefragt? Oder nach den Liedvorlieben.

Liedvorlieben ist ein gutes Wort.

Endlos nach der Herkunft zu fragen ist abscheulich.

Am besten nicht antworten, nur singen. Please hear my cry (Sam Cook).

 

(erschienen online in “Für den Fall», Salzburger Literaturhaus und in OSTRAGEHEGE, der Zeitschrift für Literatur und Kunst)

«Kaum zu fassen, wie unterschiedlich Berge betrachtet werden. Investitionsmöglichkeiten, Urlaubsregionen, Jagdgebiete, Regionen für Klettertouren zum Himmel hinauf …», notiert die Ich-Erzählerin von Bergisch in eine ihrer Mappen. Unterwegs in nicht nur freundlichen Alpengegenden sammelt sie in unterschiedlichen Hotels und Berghütten Porträts von Besuchern und den heimischen Gastgebern. Öfters ist sie auch mit Freunden unterwegs, die ihr Interesse für Speisen, Sprachen und deren topografische Zusammenhänge teilen. Sie sammeln Farben, suchen sogar nach Farblosigkeiten, und zu sechst entwickeln sie die Idee eines begehbaren Tagebuchs, um ihre Beobachtungen aufschlussreich archivieren und präsentieren zu können.
Nach und nach tauchen weitere Gebirge auf, unter anderem das Uralgebirge oder etwa die Guayana-Region, und auch die Berge aus Literatur und Kunst sind mit von der Partie.
In über 500 Aufzeichnungen entfaltet Zsuzsanna Gahse ein feinmaschiges Zusammenspiel zwischen den sechs Personen und zugleich entsteht ein lebendiges Panorama der Bergwelten, eine vielschichtige Typologie des «Bergischen».

Zsuzsanna Gahse, geb. 1946 in Budapest, aufgewachsen in Wien und Kassel, lebte längere Zeit als Schriftstellerin in Stuttgart und Luzern, zurzeit wohnt sie in Müllheim, Schweiz. Zahlreiche Preise und Auszeichnungen, u. a. aspekte-Literaturpreis (1983), Adelbert-von-Chamisso-Preis (2006), Italo-Svevo-­Preis (2017), Werner-Bergengruen-Preis (2017), Schweizer Grand Prix Literatur (2019).

Webseite der Autorin

Beitragsbild © privat

Peter K. Wehrli

 «Der Schoop’sche Katalog», Plattform Gegenzauber

Peter K. Wehrli über Fotografien von Jürg Schoop

 

1.                    das Thema

das Thema ‘Schichten’, das in Jürgs Bildern abgehandelt wird, vom abblätternden Rost an den Eisenbahngüterwagen über die Plakatwandfetzen bis zu den Farbschichten, die sich von einer Geländerstange schälen, dieses Bildthema das nun über die Bilder hinaus zum Thema wird, wo ich feststellen muss, dass die Fotografie jeweils die letzte Schicht ist, in diesem jahrzehntelangen Häutungsprozess: Schicht ist sie.

2.                    die Fotografien

die frühe Collage von 1962, die seit mehr als drei Jahrzehnten an meiner Zimmerwand hängt und die mir deshalb wichtig ist, weil sie mich gelehrt hat, mit meinem Blick in Gros-Plans zu teilen oder in der Totalen zusammenzufassen, was ich nur dort tun will, wo Jürg die Fetzen aus vier übereinandergeschichteten Fotografien so herausgerissen hat, dass drei menschliche Köpfe unverhofft nach Aufmerksamkeit gieren, ganz als ob sie es müde wären Teil des Ganzen zu sein.

3.                    die Papierblätter

die Veränderungen, die der Wind auf den weissen Papierblättern von Jürgs „objets trouvés“, 1978, herbeiführt, die Blätter, Fetzen und Krumen, die er dauernd neu komponiert, dieses Nochnicht und Nichtwieder, das in fernen Kanälen meiner Erinnerung die verschollene Erkenntnis aufsteigen lässt: ‘Zwischen heute und gestern liegt nichts als ein Moment , – zwischen heute und morgen aber ein halbes Jahrhundert», diesen enigmatischen Satz, der wie kein zweiter den  Gegensatz von Augenblick und Dauer trifft, dieses immerwährende Thema aller Fotographie..

4.                   die Passion

die Wirkung des Bildes, die wichtiger ist als das Bild, sogar als  jede Form von Abbildung, und die Passion des Fotografen, die mitschwelt in seiner Fotografie, so heftig diesmal, dass ich den Totenkranz aus Katalonien von 1984 so sehe als hörte ich den Fotografen zu mir sagen: “Ich will nicht, dass wenn man fotografiert am Schluss dann doch nichts anderes als nur ein Bild übrigbleibt“.

5.                 die Mechanismen

das Erforschen der Mechanismen des Erinnerns, das Teil jeder Beschäftigung mit Fotografie ist, die Erfahrung also, dass ich, damit ich mich an die Porzellanrosen von São Tomé erinnern kann, diese Blume fotografiert haben müsste,

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und die von den Gesichtern in Jürgs Pariser Photografie, 1998, geweckte Erinnerung an Renatos legendäre Behauptung, der Gewinn des Erinnerns liege nicht in der Erinnerung an ein Geschehnis, sondern in dem möglicherweise lebensverlängernden Wiedergewinn der Zeitspanne, in der es geschehen war.

6.                    der Film

der Herbststurm, der Berge welken Laubs in eine Mauerecke des „Bellevue“
in Kreuzlingen peitschte, und der Fotograf, der sich 1983 – so stelle ich mir das vor – aus diesem Sturm nach Hause gerettet hatte und sich eingestehen musste, dass er ihn, diesen Herbstwind, erst erlebte als er den Film entwickelt hatte.

7.                    der Umgang

mein Umgang mit Sprache, den ich mir mit der Feststellung erklärte: “Ich schreibe mir herbei was ich nicht habe“, den ich nach tagelangem Betrachten der Bilder dieses schoopschen Kataloges auf den Umgang des Fotografen mit dem Bild zu übertragen versuchte (Fotografiert sich der Fotograf herbei was es nicht hat ?), was mir erst gelang, als ich  meine Feststellung übersetzte in den Satz: „Der Fotograf verleibt sich ein, was er fotografiert“.

8.                    die Pixels

die oft gemachte und doch jedesmal wieder abenteuerlich neue Erfahrung, dass eine gute Fotografie immer Gegenwart ist, auch wenn das Abgebildete längst vergangen ist, wie es in Jürgs Bild  ‘Im Wald’ von 1987 der Fall sein müsste, dieses Verblassen, das mich nicht nur deshalb beschäftigt, weil als Motto „Vanishing Pixels“ darübersteht.

9.                   das Licht

der Gegensatz zwischen Bild und Text, der mir nie grösser erscheinen wollte als jetzt wo ich für diesen schoopschen Katalog, nach dem Licht suche, das auf den Fotoplatten das Bild erzeugt, weil es mir – und dies erst würde die erhoffte sinnliche Deckungsgleichkeit erzeugen – nicht gelingen will, herbeizuführen, dass der Gegenstand den Satz erzeugt, der ihn beschreibt.

10.                  die Gewaltsamkeit

das Durstlöschangebot, das ‘Coca-Cola’ in Jürgs Aufnahme des sienensischen Papierkorbes von 1998 unabsichtlich und doch so äufsässig heftig vor meine Augen hält, dass die Gewaltsamkeit dieses Angebots meine Sprechmuskeln veranlasst, die Frage halblaut vor mich hin zu sagen: ‘Das Wesentliche ist das, was verlangt würde, auch wenn es dies nicht gäbe’.

11.                   der Satz

die Frage, warum mir wohl dieser Satz immer nur auf Englisch einfallen will, obschon er doch schweizerdeutsch gedacht worden war, und der mir nach langem ausgerechnet jetzt wieder einfällt, wo mich Jürg Schoops „Founded Pictures“ zur Feststellung veranlassen: „Je mehr man schaut, umso mehr sieht man“.

12.                  das Erleben

die Gegenwart, die immer Teil des Kunstwerkes ist, – sonst ist es lediglich ein Bild oder eine Fotografie -, diese jedem Erleben innewohnende Zeitform, die mir deshalb ins Bewusstsein kam, weil Dieter unser Gespräch an der Schifflände nicht enden lassen wollte, bis er die Gelegenheit bekam zu sagen, auch der Fotokünstler müsse von Imperfekt und Futur, gerade so viel einfangen, dass es sich lohne, in unserem umstrittenen Praesens  zu verweilen.»

13.                  die Decollage

der in Nr. 2 beschriebene widerspenstige Teil des Ganzen, der sich im Blick, der die Totale fasst, in der Bildebene verliert und genau jener Fleck ist, der bewirkt, dass die aus zufälligen Rissen entstandene Decollage sich  die souveräne Stuktur gibt, die ein japanische Schriftzeichen aufbaut: für mich formuliert es: Feuerfunkeln.

14.                   das Niemandsland

die Beklemmung des messerscharfen Ungefähren, dieses besonnen erforschten Niemandslandes in den Bildern aus Frauenfeld,2000, diese verhaltene Atmosphäre, die mich irritiert als betrachte ich nicht einen Bildraum sondern den Schauplatz einer Tat.

15.                  die Erkennbarkeit

die abstrakten Strukturen, die Jürg in seiner Fotografie jahrelang aus allem Gegenständlichen herausgearbeitet hat und seine Rückkehr zur „gegenständlichen“ Fotografie (als ob es das gäbe !), die mich nun angesichts der wirklichen Bürste im Fahrhof 1999 derart irritiert, dass ich alle Erkennbarkeit der Dinge korrigieren muss indem ich mir einrede: ‘Wüsste man was man sieht, so sähe man es’.

16.                 der Gegenstand

die Vermutung, die sich allmählich zur Gewissheit klärt, dass es Fotografien gibt, die deshalb unwiderruflich sind, weil sich in ihnen nicht in erster Linie der abgebildete Gegenstand zeigt, sondern das Licht, das die fotografische Abbildung ebendieses Gegenstandes erzeugt hat.

17.                 das Ungewöhnliche

mein ebenso aufgeregtes wie neugieriges Blättern in den «clou»-Nummern von 1959 auf der Suche nach Malereien und Photogaphien von Jürg Schoop aus jener Zeit, die sich mit den Bildern dieser CD vergleichen liessen, damit deutlich werden könne, wie weit die Zeit an diesen Bildern mitarbeite, und mein Verzicht aufs Weiterblättern, als mir klar wurde, dass die Fünfzigerjahre jene Epoche waren, in der das Ungewöhnliche noch nicht etwas unter Vielem war.

18.                 die Quadrage

das Zurückfallen in frühere Bilder, von dem ich früher einmal reden zu müssen glaubte und das jetzt wieder virulent wird, wo mir Jürg mit ‘Escala’,1999, zeigt, dass die Wege der Erinnerung durch Schichten und Ebenen führen werden, die jedesmal von einer anders eingerichteten Quadrage begrenzt sind.

19.                 die Hingabe

der Zwang zum Photoapparat greifen zu müssen und mit ihm dann auch zu fotografieren, diese Passion, die in der Serie der Türen von marokkanischen Elektrokasten zu derart bestechenden Bildern führt, dass ich jetzt begreife wie der Fotograph Robert Weibel die bereitwillige Hingabe an den Zwang begründen konnte: „Ich fotografiere! Wie wüsste ich denn sonst, dass ich nicht träume ?“

20.                 der Sucher

die in eine endlich wohltuende Erschütterung mündende Ahnung, dass der im Sucher sich darbietende Ausschnitt aus dem Strom Leben nicht den Ausschnitt zeigt, sondern das Leben, weil in einer guten Fotografie auch der kleinste Ausschnitt immer das ganze Leben enthält.

21.                  die Komposition

die Entwürfe, die Skizzen von Künstlern aller Sparten,  die das entstehende
Werk vorausahnen lassen und die Aufnahme der Blumen auf dem Miststock von 1986, die ebenso abgeschlossene Komposition ist wie verwegenes Formsuchen, dass sie mich zur bislang unbeantworteten Frage veranlasst, unter welchen Bedingungen (und ob überhaupt ?) Fotographie Entwurf sein könne.

22.                  der Lichtwechsel

das Ineinander von Kunstlicht und Naturlicht beim Tagesanbruch, den ich bislang als organischen Lichtwechsel erlebt habe, ganz anders als jetzt, wo ich fiebernd beobachte, wie die Morgendämmerung das Dunkel vertreibt, als schicke der Tag erste Schlieren seines Lichtes als Vorhut in die renitente Nacht hinein.

23.                 die Selbstverständlichkeit

die Fenster und die Türen, die – seien sie nun abgebildet oder nicht – Jürg Schoops immerwährendes Thema sind durch fünf Jahrzehnte hindurch, dieses Fenstersein und Türwerden, dieses Türsein und Fensterwerden, das mir jetzt plötzlich jene Frau im violetten Rock in Erinnerung ruft, die das Fenster auf die Rua do Carioca hinaus öffnete um auf den Balkon heraustreten zu können, mit jener Selbstverständlichkeit, als wolle sie uns beweisen, dass sich – vielen Ahnungen zum Trotz – überhaupt nichts ändere dadurch, dass hierzulande (also: dort) jedes Fenster eine Türe ist.

24.                  die Zeichen

die handschriftliche Angabe ‘Italien’ unter der Fotografie der verrammelten Türe von 1985 (und nicht etwa die Aufzählung der Städtenamen Rom, Florenz, Alba, Siena) die mich nun in das Reich aller jener
vielen Dinge, Gesten – und dazu gehört die Art, wie sich der alte Ezio auf den Kastanienstock stützt wenn er abends den Weg vom Dorf herunterkommt – Verhaltensweisen und Zeichen versetzt, die, obschon Carmine kaum eine Viertelstunde von der Schweizer Grenze entfernt liegt, doch so radikal Italien bedeuten, dass ich mich ertappe, wie ich carminensischsage wo ich italienisch sagen will, und dass ich deshalb versucht bin,  Schoops Aufnahme der italienischen Tür als eine carminensiche zu bezeichnen, weil ich das carminensische Wesen als italienischer erlebe als das italienische.

25.                  die Unschärfe

die Brille, die ich nicht auf hatte als mein Blick zufällig die in Nr. 2. beschriebene Collage streifte, und die mir den Eindruck von formaler Grossartigkeit verschaffte, weil erst die Unschärfe alle Bildelemente ineinander verfliessen lässt und nicht mehr zulässt, dass sich ein Detail – die drei Gesichter – als aufsässiges Realitätspartikel meldet.

26.                  die Oberfäche

die Unentschiedenheit zwischen Interpretationssucht und ihrer Parodie, mit der ich die Oberfläche von Jürgs florentinischer Fotografie von 1998 absuche um den Gegenstand aufzuspüren, der das Bedürfnis in mir ausgelöst haben könnte, angesichts dieser Decollage den abstrus erscheinenden Satz zu formulieren:  „Buchstaben werden Wörter werden, Bilder werden Gegenstand“.

27.                  die Unfähigkeit

die Unfähigkeit, angesichts meiner Lieblingstüre unter Schoops Türaufnahmen (jener von Rom 1978), den Eindruck in einen einzigen Satz zu fassen, wie es den eisernen Regeln der Katalogsprache entspräche, und mein Eingeständnis des Regelverstosses indem ich den verbotenen Abschnitt nun doch hinschreibe:
Wo alle Türen Rahmen sind, die lebensgrosse Bilder halten, gibt es keine Zeichen unter Glas. Ins Bild hinein und aus dem Bild heraus: der Rand ist Rahmen und ist keine Grenze, es führen alle Wege durch ihn durch. Ein gutes Bild ist stets ein Bild von allem, und ein Bild gibt es nie allein: Vorlage und Abbildung, – der Rahmen hält sie gegengleich. Und nirgends spiegeln sich Betrachter, weil jeder Gast in beiden Bildern ist“.

28.                 die Konturen

die elf Gegenstände im Bild von Barcelona, 1999, die danach gieren, beschrieben zu sein mit Wörtern, die so dicht ihre Körper füllen und so satt alle Konturen fassen, dass meine Sprache wie das Echo wirkt, das ertönt, wenn der Blick die fotografierten Dinge streift.

29.                 die Welt

die Kratzer, Striche, Risse und Sprünge im bearbeiteten Negativ von 1958, die mich an die Kratzer, Striche, Risse und Sprünge an der Zellenwand erinnerten, in denen der Gefangene den Flusslauf des Amazonas erkannte, die Schlingen der Seine und des Brahmaputra, und dazu erklärte, wenn die Welt die Ausmasse seiner Zelle hätte, würde er sich frei fühlen wie noch nie.

30.                  die Notwendigkeit

die quälende Insistenz, mit der sich beim Anblick von Jürgs marokkanischen Schwemmgutbildern die beiden Schlüsselsätze in die Quere kommen, jener des Mannes im Markt von Caruarú, ein Bild sei auf jeden Fall besser als kein Bild, und Peter Rosei’s beeindruckend vorgebrachter Anspruch, Bilder müssten  besser sein als ihre Vorlage, sonst seien sie unnötig,

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und die Beruhigung, die auch gleich doppelt eintrat, als erstens die Bilder ihre Notwendigkeit zu erkennen gaben und ich zweitens erkennen musste, dass Rosei eigentlich doch nicht von Bildern gesprochen hatte, sondern von Beschreibungen, die übrigens ja immer Bilder fassen.

31.                  der Zufall

die Pariser Fotografie von 1958 mit der zerfetzten Plakatwand, von der ein einigermassen unversehrter W.C. Fields lacht, dieses BiId, das ich deshalb nicht vergessen kann (nicht etwa, weil ich W.C. Fields Komödiantik verehren würde, sondern:), weil es erläutert, dass es nie der Gegenstand sein kann, der Kunstwerk sein will, sondern mein Blick, der ein Ding (das der Zufall zur Collage gemacht hat ) als Kunstwerk erleben will.

32.                  die Zeit

die Anschläge des Zirkus Bramarbasani, die mich daran erinnern, dass in der Schweiz die Zirkusplakate von den Wänden entfernt werden , sobald der Zirkus weitergezogen ist, und dass in den Ländern, in denen Jürg Decollagen fotografieren konnte, die Anschläge – Respekt ist es vor dem Wirken der Zeit ! – erst dann nicht mehr sichtbar sind, wenn sie die Sonne ausgeglüht, der Regen verwaschen und der Wind zerzaust hat.

© Peter K. Wehrli & wiedingpress

Der schoopsche Katalog“                           

Ja, Jürg Schoop ist Künstler. Und wenn ich sagen würde: Maler, Fotograf, Dichter, Objektkunstler, Komponist, so würde ich nur kleine Teile seines Tun nennen. Denn er ist Künstler. Als ich noch Teenager war, da war er viel mehr als das: Er war für mich der Inbegriff des Künstlers. Einer, der Kunst nicht nur machte, sondern sie auch lebte.
Und Ende der Fünfzigerjahre war er noch etwas mehr: Er war Chefredaktor der Zeitschrift „Clou“. Und weil ich damals gewagt hatte, eigene Gedichte einzusenden, wurde ich unverhofft zu einer Redaktionssitzung eingeladen. Dort habe ich Jürg Schoop kennengelernt.  Und da zu jener Zeit Schoops erster Gedichtband erschien „So tanz ich den Tanz“, wurden einige Zeilen daraus für mich sozusagen zum Aufruf der Solidarität: „…wo sollen wir Almosen flehn, wir am Leben trunken gewordene Narren?“  Damit hatte Schoop auch mein damaliges Lebensgefühl formuliert, lange vor 1968 als die Narretei sich dann mit Wut bewaffnete. Für uns war damals schon das Durchbrechen der Grenzen zwischen den künstlerischen Gattungen ein strikter Mut- oder Wutakt. Und Jürg hat  diesen Durchbruch auch mit Witz- durch Sinnschichtungen vollzogen.
Als ich 1968 meine Orientreise – weil ich den Fotoapparat vergessen hatte – mit Worten statt mit Bildern dokumentieren musste, (was als Initialzündung für den „Katalog von Allem“ wirkte) war das Tun und Lassen, die Ideen und die Haltung von Jürg Schoop noch so präsent in mir, dass sie sich in meiner Sehweise und meiner Auffassungsart niederschlugen, – mehr noch: Jetzt, wo der Katalog von Allem“ auf 2849 Katalognummern angewachsen ist, lassen sich 32 Nummern davon zum „Schoopschen Katalog“ zusammenfassen. Und damit sind nur jene Nummern gemeint, in denen Schoops Werke und sein Tun explizit genannt werden; wo Schoops Sichtweise und seine Art des Verarbeitens von Beobachtetem zum Zuge kommen, würde die Zahl der Nummern um ein Vielfaches zunehmen.
Nicht allein im Bildgegenstand in diesen „geschriebenen Fotografien“ steckt die Allusion an Jürgs sensibel wählenden Blick, auch im Rhythmus der Sprache, in ihrer Art von Farbigkeit, im Umgang mit Rhythmus und Klangstufe, in der Quadrage der Einstellungen (Totale oder Grossaufnahme) der geschriebenen Bilder, in möglichen Überblendungen und Einzelbildern, Zoom oder Schwenk oder Standbild, in allen diesen Erscheinungsformen liessen sich Nachwirkungen  von Jürgs künstlerischen Taten aufspüren und von seiner Sensibilität, die er mir vor sechs Jahrzehnten zu injizieren begann. Und auch dem Zufall, der sich ins Bild drängt, gilt es seinen Platz zu lassen. So erst kann sich das Widerspiel von Natürlichkeit und Künstlichkeit entwickeln.
Und übrigens: Schoop festigte es, dieses Spiel, schon früh in seinem legendären Satz: „Wenn man künstlerisch tätig ist, überlegt man sich nicht, warum und wozu man etwas tut. Man gehorcht einfach dem Trieb.
Auch dies hatte mich Jürg damals gelehrt.

Peter K. Wehrli, geboren 1939, Studium der Kunstgeschichte in Zürich und Paris. Reisen durch die Sahara und zur Piratenküste. Längere Aufenthalte in Südamerika. Redaktor beim Schweizer Fernsehen DRS. Tätigkeit als Herausgeber. Zahlreiche Veröffentlichungen, u.a. «Zelluloid-Paradies» (1978), «Eigentlich Xurumbambo» (1992), «Katalog von Allem» (1999).
Webseite von Peter K. Wehrli

Jürg Schoop, Ex-Maler, Collagist, Literat, Fotograf und Filmer seit 1952. Vorwiegend Autodidakt. Geboren 1934 in St.Gallen, aufgewachsen in Romanshorn. Lehre als Schaufenstergestalter in Arbon mit Besuch der Gewerbeschule St.Gallen (Lehrer Baus + Nüesch). Ab 1972 10 Jahre Aufenthalt in Zürich. Anschliessend Rückkehr in den Thurgau. Um die Unabhängigkeit sicher zu stellen, arbeitete der Künstler meist teilzeitlich in vielen Nebenberufen und schlug diverse Karrierenangebote aus. 1998 Kulturpreis des Kantons Thurgau. Letzte Veröffentlichung: «Brunnenpoesie», Schuber mit 50 Fotografien bei Orell Füssli.
Ausführliche Biographie
Webseite von Jürg Schoop

Vera Schindler­-Wunderlich «Langsamer Schallwandler», Plattform Gegenzauber

Die Behandlung eines Schafes

Ich nahm ein weiches, dunkelweißes Schaf, 
ein altes deutsches Krippenschaf.

Zwei Kinder spielten mit dem Schaf,
es war am Heiligen Abend.

Ich zeichnete es leicht auf braunes Papier.
Ich legte rotes Glas auf das Schaf, es sprach:

             „Jochen ist noch klein,
             doch er zieht bald in den Krieg.“

Ich stellte Panzer hinter das Schaf –

             Wilhelm schiesst Vögel vom Kirschbaum,
             auch er will bald in den Krieg.“

Ich malte dem Schaf einen Pfad, 
da lief es hinaus aus dem Bild.

              „Sie schossen und wurden erschossen,
              da ich stand erneut an der Krippe.“

Wer Schafe zeichnet, muss sanftmütig sein.
Wer Kinder zum Töten holt, muss fachkundig sein.

 

Vom fernen, glücklichen Fest

Gestern um siebzehn Uhr,
ich saß auf einer Holzbank,
stand die Jungfrau vor mir,
          grün bestreut, tonnenschwer,
          schneeschwebend

Mir war, als sei keine Welt 
hinter ihr, als röche sie nach 
Borretsch und Rosen und Stall, 
          ich packte mich in Wolken
          und rührte mich nicht

War Juni, im Zwanzig-Uhr-
Licht stand ich auf und aß.   
Die Jungfrau rührte sich nicht, 
           sie hüllte sich ein 
           in goldenen Dampf

All der Schrecken, 
das Landverlieren, 
Kriechen und Rennen,
           es barg sich eine Stunde 
           im dichten, blendenden Dampf

Da legte die Jungfrau den Schleier weg, 
wie winkten die Gletscher, 
der Borretsch freute sich sehr –
           all der Schrecken, das Scheuchen,
           das ferne, glückliche Fest

 

Anfangen zu fischen

Das Wort wurde sacht,
als ich sagte: Ich hause unter Tage,

als unsere Körper über die Erde flogen
und die Küste eines alten Landes grüßten

Das Wort wurde jung und scheuerte, 
es war am See Genezareth

Ich schwankte, war’s nicht die galiläische Sonne, 
ein Schwank-Tag war’s und ein Willst-du-noch-Tag
unter Kappen klopfte es,

            – und die feine Linie links auf deiner Stirn –

         als wir uns lang sam los ban den 
         von Rang und Diktum

        Doch „als wir uns langsam losbanden“ 
        ist nur mein Tagebucheintrag

        Wir fischten still, das weiß ich genau

                    – Standard? wessen Standard –

               und gossen Wasser auf die 
               Ich-Zischerei, du strichst über meine 
               Worte und sagtest:

               „Ach doch, es war ein Als-wir-uns-
               langsam-vernahmen-und-langsam-
               banden-Tag“

               und mich wunderten deine Augen

                                                                    sela daselbst

 

Übungsanlage

Während ich zahle, atme, 
Updates funkeln, ich Astern
betrachte und Kummergesichter

bewundere, wenn sie einst 
auferstehen und es noch gar nicht 
wissen, schwing ich für mich 
im Ja-Lager: im Bus, Meer, Mantel,
Dampf, im Treibhaus, ich glühe 
am Spülbecken, rühr mich.

Ich rufe: Verborgen 
bist Du, auffindbar bist Du!

Ist es nicht einsam im 
Ja-Lager, ist es nicht schön? 
Ich finde es schön, 
sehr schön.

 

Mittlere Brücke

„Selvi, sieh dir meine Fotos vom 
Rhein an, Selvi, sieh mal das Eis auf der 
Mittleren Brücke, Selvi, du kannst nicht mehr 
geigen, hantieren, das Fell deiner Katze nicht – 
Selvi, gefällt dir dieser gelbgestreifte 
Strohhalm, sieh, wie dein roter Rollstuhl 
in der Wintersonne glänzt –“

Und mit einem kleinen 
Löffel schieb ich

ich Täuschkörper ich Schönwetterschwätzer weiß nicht 
schieb ich wer bin ich, dass meine Muskeln nicht 
verrecken wie deine schieb ich jetzt Stückchen 
um Stückchen einer „sehr, sehr leckeren 
Torte“ in deinen Muss-es-sein-Mund,
der mir zu entgegnen scheint: 
«Es rührt mich nicht, was mir hier 
widerfährt, lass uns nicht über Löffel 
und Strohhalme sprechen.»

           Sie lehnte sich ins Leid
           wie in einen kalten Sessel, 
           sie spähte ins Leid
           wie in das Licht des Wintermorgens 
           am Rhein auf der Mittleren Brücke.

„Selvi, sieh dir mein Gedicht an“

 

Akt des Ach doch

als der lange tag sich um mich drehte
als das mahlwerk licht war und april
(Astrid Schleinitz)

Dein tägliches Rollen 
und Schaukeln, das völlige Fehlen von 
Hüpfen und Springen

Ins Bad gefahren werden,
überaus eingeseift sein, lang 
entkleidet bleiben

«Früher habe ich Cellosonaten gespielt –»

Dein Leben als Gliederpuppe, Anziehpuppe? 
Gelenkig, heiter, beschämt

«Erst lief ich verwackelt, dann lahmte
und wankte ich, schließlich
knickte ich ein.»

Abends ein Hingelegtwerden,
als Pflegling, Liebling,
nächtlich: Plage Lagerei

«Früher konnte ich Meere
malen, Wege rennen,
Söhne halten –»

Obwohl es dir alle Kraft
kappt, ungalant, obwohl es ein
Rollstuhl ist und keine Sänfte  –

Und was den Körperschall angeht und dein
Schnappen nach Morgenluft,
wie kannst du nur

kannst du inzwischen
so schön sein so

ins Fröhliche
schwappen

 

aus dem Gedichtband „Langsamer Schallwandler“, Oktober 2022, mit freundlicher Genehmigung der edition pudelundpinscher. Vernissage des Gedichtbands ist am 28. Oktober am Buchfestival Olten.

Vera Schindler-Wunderlich «Langsamer Schallwandler», edition pudelundpinscher, 2022, 100 Seiten, CHF 28.90, ISBN 978-3-906061-31-3

Vera Schindler-Wunderlich ist in einer Industriestadt in Nordrhein-Westfalen, im Singsang einer bergischen Mundart aufgewachsen. Arbeitet seit 1994 in der Schweiz, lebt in Allschwil bei Basel. Studium der Musikwissenschaft und Anglistik in Köln, Aberdeen und Freiburg i. Brsg. Heute Redaktorin bei den schweizerischen Parlamentsdiensten. Im Oktober 2022 erscheint nach «Dies ist ein Abstandszimmer im Freien“ (2012) und «Da fiel ich in deine Gebäude“ (2016) bei der edition pudelundpinscher ihr dritter Gedichtband „Langsamer Schallwandler“. 2014 erhielt sie einen der Schweizer Literaturpreise, war 2020 nominiert für den Publikumspreis des Feldkircher Lyrikpreises. Einige ihrer Gedichte wurden übersetzt ins Französische, Italienische, Spanische, Slowenische, Indonesische, Arabische.

Beitragsbild: Sharon Stucki, Select

Li Mollet «weiße Linien», Plattform Gegenzauber

sie steigt aus dem Nachtkino
schwebt
zwischen da und dort
döst eine Weile
und möchte zurück
etwas schmerzt
etwas blieb ungelöst
etwas braucht ihre Stimme
wenn wir die Zeit
festhalten könnten
wenn wir sie nicht splitterten
etwas zieht Josefine O.s
Mundwinkel nach oben aber was
die Augen schlitzweit geöffnet
es ist Tag
Josefine O. streckt sich
es ist Tag
aufstehen
weil es Tag ist
Rabenkrächzen
ein Lastwagen brummt
ein Flugzeug
Josefine O. dreht sich
aber mit dem Wort Tag
ist schon zu viel
sie öffnet die Augen
immer wieder ist es hell
heute prachtvoll
und mit dem prachtvollen Tag
beginnt das Denken
tun
denken
tun
die Schwester der Träumerin
streckt sich
reckt sich
ohne Bewegung
keine Beweglichkeit
sagt Josefine O.
zu Josefine O.
zieht die Decke über die Ohren
sie legt sich auf den Bauch
zieht die Schultern hoch
senkt den Kopf
streckt sich wieder
harrt aus
und nochmals von vorn
die Arme anwinkeln
abstoßen
sie nennen es Liegestütze
Josefine O. atmet tief
eine Anstrengung frühmorgens
wenn jemand zuschaute
wenn jemand zuhörte
an diesem Morgen
hört und sieht niemand
wie sie schnaubt
Josefine O. macht weiter
mit der Beweglichkeit
ob sie sicher halten lässt
die Fehltritte
die sie machte und machte
als sie Stöckelschuhe trug
und die schmerzenden Knöchel
so wäre es mit der Stimme
wenn sie sänge
jeden Tag
sänge sie ein Kinderlied
die Basslinie
von Schuberts Unvollendeter
oder von der Freude
wenn sie sänge
wäre ihre Stimme
tragend
strahlend
sie ist es nicht
sie knattert
wenn sie Kindern
eine Geschichte liest
inzwischen schieben
die Hände die Haut zum Ellbogen
hin und her
dann hüpfen
die Wölbungen
ein wenig
auf dem Rücken
liegen
die Beine
luftfahren
eins, zwei, drei
und weil es sie langweilt
zählt sie quatre, cinq, six
oder sette, otto, nove
ten, eleven, twelve
sie würde auch russisch
oder chinesisch zählen
bei fifty macht sie die Brücke
und tief durchatmen
sagt sich Josefine O.
jeden Morgen
spricht sie mit ihrem Gehirn
bitte nicht entzünden
bitte nicht klumpen
was war das denn neulich
sagt sie zum Beispiel
die Suche nach einem Namen
oder schlimmer noch nach einem Wort
das ärgert mich
sagt Josefine O. zu ihrem Gehirn
es beschämt mich
a wie Annette von Droste Triste
b wie Bettina von Anderswo
c wie Catherine Colombe
d wie wer bitte
e wie elke erb
zum Frühstück kocht sie Tee und Kaffee
bäckt das Brot auf
legt zwei Teller auf den Tisch
zwei Gläser
zwei Tassen
Messer und Löffel
sie setzt sich auf ihren Stuhl
und sagt
würdest du bitte Brot schneiden
möchtest du Tee
Kaffee
hier ist die Butter
Marmelade oder Honig?
sie nickt zum Stuhl
Josefine O. lächelt zum Stuhl
auf dem niemand sitzt
guten Morgen sagt sie
und küsst in die Luft

Am Anfang waren der Klang und die weiten Schritte. Die Frau mit leiser Stimme würde den Kopf etwas schief stellen und beiläufig, worauf warten wir, fragen. Die Hammerschläge auf dem Dach verschluckten das Gesprochene. Ich drehe den Kopf zum Fenster. Dort die Lichter der Häuser, in welchen viele eine bessere Zukunft träumen. Die Lampen, Ampeln, blinkende Barrieren. Grün oder die Farbe der Vergänglichkeit. Vielstimmiger Balzgesang am Morgen ganz nah. Die Frau sähe den Schleier über den Dingen. Wenn sich alle fürchten, wenn sie hoffen, sich freuen, zaudern. Heute Morgen sah ich ein Buch über die Büsche fliegen, sage ich.

Die Tagespresse verspricht nicht allen Gutes. Die Frau mit leiser Stimme mag nicht darüber reden. Sie weiß, worauf es ankäme, sie ahnt, was sich entzweit. Sand knirscht unter ihren Sohlen. Als Kind hätte sie mit einer Schaufel noch mehr Sand angehäuft. Sie hätte mit beiden Händen einen kleinen Kegel gepatscht. Die Schaufel scheppert zu Boden. Schau, sagt das kleine Mädchen und steckt seinen Finger in die aufragende Form. Unterdessen klopfe ich an seine Tür, klopfe nochmals, sehe die Klinke aus der Waagrechten drehen. Er steht da im fleckigen Arbeitsanzug, der dank Übergröße einiges verbirgt. Guten Morgen, sage ich.

 

Li Mollet «weiße Linien», Ritter Verlag, 2021, 80 Seiten, CHF 28.80, ISBN 978-3-85415-622-2

Li Mollet, geb. 1947 in Aarberg (BE) studierte Erziehungswissenschaften und Philosophie, lebt und schreibt in Spiegel bei Bern. Ihre Prosa wurde mit Stipendien und Preisen gefördert, u.a. erhielt sie zweimal den Literaturpreis des Kantons Bern, zuletzt 2020 «weiterschreiben» von Kultur Stadt Bern. Bisher im Ritter Verlag erschienen: «weisse Linien» (2021), «und jemand winkt» (2019). 2023 erscheint der dritte Band im selben Verlag.

www.literaturport.de

http://literapedia-bern.ch

kritisches lexikon zur gegenwartsliteratur

Beitragsbild © Ritter Verlag Klagenfurt

Agnes Siegenthaler «Meret 2» & «Café Krokodil», Plattform Gegenzauber

Ich mag es, wie du Brot schneidest. In schmale, austarierte Scheiben. Du kaufst stets ein dunkles Brot, ein schweres, eins mit viel Gehalt. Auch das mag ich. Du bist nicht interessiert an leichtem, luftigem Material, du willst für mich das Undurchdringliche und Gewichtige. Dieses Brot ist eine höhere Gewalt. Es drückt unter sich eine Kuhle in den kleinen Tisch aus Fichte. Auf die schmalen, schweren Scheiben schmierst du Butter. Nicht zu viel, denn das mag ich nicht. Und auf die Butter Zucker, simplen, raffinierten Zucker, du drückst ihn an die Butter, drückst ihn fest, damit er nicht herunterfällt auf den Fichtentisch. Ich sehe dir dabei zu, wie du das tust. Du bewegst dich langsam, du hast schwere Hände und breite Finger. Du machst alles langsam und mit zu viel Kraft. Du legst das garnierte Brot auf den kleinen türkisenen Teller, du wischst den trotz deiner Mühe heruntergefallenen Zucker vom Tisch, du stellst den Teller mit dem Brot darauf auf den Altar neben die Kerze. Und dann gehst du zur Arbeit. Gehst aus der Küche und erst viele Stunden später kehrst du zurück. In der Zwischenzeit verzehre ich lautlos dein Brot.

 

Café Krokodil

Es gibt nicht viel mehr als ein paar Lichter,
in die Äste der Bäume gehängt
Und darunter
Plastiktische und
Plastikstühle
Direkt auf dem Gras
In der Nacht wird das Gras
feucht.

Es gibt das Tosen
Des Flusses
Es ist ein fremder Fluss
Er macht Furcht.
Doch möglicherweise lässt
er sich besser kennenlernen

An der Mauer
hält sich die Wärme der Sonne fest.
und in der Nacht
legt sie sich
auf die nackten Beine
zwischen die Haare.

Es gibt die Stimmen.
Aber die Worte sind
unmöglich zu verstehen.
Wichtig ist,
dass die Stimmen oft froh sind
und von unterschiedlichsten
Stimmbändern erzeugt.

Tonbänder wiederum
Machen Musik.
Immer wieder dieselbe.
Es gibt bloss vier
Kassetten hier.
Das klingt prekär.
Doch so ist es nicht.

Unter den Tischen
Liegen
gutgenährte
Krokodile und lassen sich über die buckligen Köpfe streicheln.
Sie sind dem Vegetarismus
Verpflichtet
und essen
gern Löwenzahn.

Agnes Siegenthaler, geboren 1988, lebt und arbeitet rund um Bern und hat soeben das Literaturinstitut in Biel abgeschlossen. Für ihre Texte sucht sie nach Zeugenschaft in verlassenen Häusern und bei herumirrenden Steinblöcken. Sie interessiert sich für unwahrscheinliche Perspektiven und für das übersehene Offensichtliche. Im Moment arbeitet Agnes Siegenthaler an ihrem ersten Roman und an verschiedenen kleineren Projekten.

Beitragsbild © Wiebke Zollmann

Samira El-Maawi «Lyrikcollagen», Plattform Gegenzauber

***

***

Samira El-Maawi, geb. 1980 in Thalwil, gelernte Drehbuchautorin, arbeitet als freischaffende Autorin und ist als Coach von Schreib- /und psychosozialen Prozessen tätig, lebt heute im Kanton Zürich.

In der Heimat meines Vaters riecht die Erde wie der Himmel“ ist immer wieder durchsetzt von Sätzen, die wie Mantras auftauchen und manchmal ist ein Satz wie ein Monolith aus einer Seit ganz allein. Eine Geschichte, aus der die Autorin nicht aussteigen kann. Eine Geschichte, die einem bewusst macht, wie zerbrechlich das Fundament einer Zehnjährigen sein kann und wie viel Kraft eine junge Seele aufbringen muss, um zusammenzuhalten, was auseinanderzubrechen droht.

Webseite der Autorin

Beitragsbild © Franziska Reichel

Jürg Beeler «Möglicher Anfang eines Romans», Plattform Gegenzauber

1

Nun ist es still geworden um mich, endgültig still, und ich weiß nicht, ob ich diese Stille mag, ob ich für sie geschaffen bin.
Vielleicht bin ich bald einer wie mein Vater. In den letzten Jahren seines Lebens trug er immer dasselbe Sakko, das ihm zu groß war. Jedes Jahr wurde es größer, jedes Jahr sah er darin noch verlorener aus. Bald kannst du darin zelten, sagte ich ihm.

 

2

Mein Vater saß in den Drei Mönchen vor seinem Glas, als wir uns zum letzten Mal sahen. Schnee fiel hier noch nie, sagte er, und das Licht ist dasselbe wie in der Stadt, nur fällt es anders, stiller.

Mein Vater konnte nur mit Mühe lesen, mit dem Alphabet stand er auf Kriegsfuß, wie er mit vielen Dingen im Leben auf Kriegsfuß stand.
Wenn ich mit dem Schulbus an der Tankstelle vorbeikam, winkte mein Vater im blauen Overall. Im Sommer saß er auf einem Klappsessel im Schatten, wartete auf Kunden und hätte gerne den neuesten Lancia oder Alfa Romeo gefahren, doch er bediente lediglich die Zapfsäule und fuhr mit dem Schwamm über die Frontscheibe, wenn ein Kunde es verlangte. Nachher hätte man auch bei klarem Himmel nur Nebel gesehen.

Sobald mein Vater nach Hause kam, stellte meine Mutter das Radio lauter. Es gefiel ihr nicht, dass sie ausgerechnet mit diesem Mann verheiratet war. Einem Mann, der eines Tages in dem Hotel abgestiegen war, in dem sie arbeitete. Es regnete nicht, der Himmel war von urlaubsmäßigem Blau, doch die Gassen der Stadt waren überflutet. Nichts zu machen, er konnte das Hotel nicht verlassen, und die Frau, die am Empfang saß, war zu hübsch, um sich darüber zu beschweren. Zwei Wochen später als vorgesehen kehrte er aus dem Urlaub zurück, eine Ungeheuerlichkeit, die ihn seine dritte Stelle kostete. Doch er war noch jung, zwanzig erst, und machte sich keine Sorgen.

 

3

Meine Mutter kam aus Venedig. Genauer aus Mestre, aber sie sagte immer Venedig. Das ist nicht dasselbe, Venedig und Mestre sind durch einen Damm voneinander getrennt, korrigierte sie mein Vater, um sie zu ärgern, doch meine Mutter ignorierte diesen Damm, wie sie im Leben überhaupt Dämme und Grenzen nicht mochte.
Ich war fünf oder sechs Jahre alt, als wir aus der Stadt ins Dorf zogen. Die Wäsche meiner Mutter trocknete im Freien, und man sah, was sie unter den Röcken trug: verschiedene Farben, leuchtende Farben, und das sorgte für Unruhe im Dorf.

Nie lud ich Kameraden nach Hause ein. Meine Mutter wunderte sich, dass ich nicht Fußball spielte wie andere Jungs. Lass ihn doch, sagte Onkel Karl. Hauptsache, er wird größer.
Für Onkel Karl, der nie Fußball gespielt hatte, war Größerwerden schon viel, mehr konnte man von einem Kind nicht verlangen.
Der Fußball ist eine vollkommen nutzlose Erfindung, doch ich lag gerne auf einem verlassenen Fußballplatz und betrachtete den Himmel. Kaum fixierte ich eine Wolke, erschrak sie und veränderte sich unter meinem Blick, dehnte sich aus, ballte oder teilte sich, ich betrachtete den Himmel, und irgendwann zogen immer Wolken auf.
Der Junge zieht das Unglück an, behauptete meine Mutter. Dasselbe soll auch Fernando Pessoas Mutter von ihrem Sohn gesagt haben, aber das wußte ich damals noch nicht.

Wenigstens einmal im Leben eine Haremsdame sein, notierte dieser große portugiesische Dichter gleich zwei Mal in seinem Buch der Unruhe. Pessoa war ein scheuer Mensch, darum träumte er sich in einen Harem hinein. In seiner Phantasie war er der Scheich, den die Haremsdamen liebten wie eine Mutter ihr Kind, zugleich war er die Haremsdame, die leidet. Er wollte beides sein, Mann und Frau, er wollte als Mann in sich selbst eindringen, in sich als Frau. Er war zu delikat gebaut, zu melancholisch und luzide, um dem Terror eines Ehelebens etwas abgewinnen zu können.
Was ist ein Harem, fragte ich als kleiner Junge Onkel Karl. In einem Harem gehören alle Frauen dir, und das macht das Leben weniger kompliziert.

Onkel Karl war der Jüngste von Vaters Brüdern. In den Augen seiner Frau brauchte er für alles zu lange. Warum muss immer alles so schnell gehen, beschwerte er sich, rückte vor dem Spiegel seine Weste zurecht, zupfte an seinem Schnauzbart und lächelte, als wäre er sehr eingenommen von der Begegnung mit seinem Doppel.
Mach schon, wir kommen zu spät!
Wenn man sich Zeit lässt, ist man überall rechtzeitig, antwortete Onkel Karl und holte zu einer weitschweifigen Erklärung aus, um die Geduld seiner Frau noch ein wenig zu strapazieren.
Bevor ich das Haus verlasse, will ich überprüfen, ob ich wirklich mit meinem Spiegelbild identisch bin. Wäre das nicht der Fall, hätte ich dauernd Meinungsverschiedenheiten mit mir, ich läge mit mir im Streit, und das brächte niemandem Glück. Man sollte keine Freunde besuchen, wenn man nicht im Einklang mit sich selbst ist. Aber heute bringt ja keiner mehr die Geduld auf, solche Dinge zu überprüfen, als wäre völlig egal, wer wir sind.

 

4

Mein Vater saß in seinen letzten Jahren fast täglich in den Drei Mönchen. Ich habe ihn in diesen Jahren nie mehr lachen gehört, aber er lächelte, wenn ich kam.
Warum sagte er, Schnee fiel hier noch nie? In der Ferne sah man die Voralpen, Schnee fiel im Dorf fast jeden Winter. Ich fragte nicht nach, mein Vater war keiner, der sich die Dinge erklärte.
Noch abwesender als sonst schien er, als hätte er sich von dieser Welt bereits verabschiedet. Doch das wurde mir erst in der Erinnerung deutlich, denn die späteren Ereignisse ließen mich unser Treffen anders sehen.
Ich werde die Wohnung verkaufen, sagte er. Ich will noch einmal verreisen, diesmal endgültig. Ich will mein Leben nicht in diesem Nest beenden.
Ich nickte, seit Jahren schon redete er davon, dass er seine Frau, meine Mutter, noch einmal sehen wolle, ich nahm seine Worte nicht sehr ernst. Warum sollte er, der im Leben nie etwas angepackt hatte, sich ausgerechnet jetzt aufraffen?
Ich ahnte nicht, dass es unsere letzte Begegnung sein würde. Mein Vater musste schon länger in den Drei Mönchen auf mich gewartet haben, sein Weinglas war fast leer.
Du weißt es wohl noch nicht, sagte er. Karl ist gestorben.
Onkel Karl?
Im vergangenen Sommer.

Mit einer Trompete flog ich am nächsten Morgen nach Lissabon zurück. Mit Onkel Karls Trompete. Mein Vater hatte sie mit in die Drei Mönche genommen. Sie gehört dir. Karl hat dich immer besonders gemocht.

 

5

Onkel Karl war Trompeter im Orchester des Opernhauses gewesen, der einzige Stadtmensch unter meinen zahlreichen Onkeln. Trotzdem war er häufig bei uns auf dem Land.
Wenn Onkel Karl uns besuchte, war meine Mutter glücklich und nachsichtig mit meinem Vater und mir. Onkel Karl war ein schwerer Mann, doch in seiner Nähe fühlte ich mich leicht. Gespannt beobachtete ich, wie sich Onkel Karl auf einen der morschen Gartenstühle setzte, aber Onkel Karl zauberte, der Stuhl krachte unter ihm nicht zusammen.
Eines Tages nahm mich Onkel Karl mit in die Stadt, wir besuchten den Zoo. Die Flamingos standen auf einem Bein, reglos, den Kopf im Gefieder. Noch nie hatte ich einbeinige Vögel gesehen, doch Onkel Karl schüttelte den Kopf. Sie haben zwei Beine wie alle Vögel, erklärte er.
Was macht das andere Bein, fragte ich.
Es schläft.
Wacht es nie auf?
Doch. Wenn es aufwacht, geht das andere Bein schlafen. Die Beine wechseln einander ab.
Träumt das Bein, wenn es schläft?
Natürlich träumt es. Und wenn es aufwacht, erzählt es dem Flamingo seine Träume, und darum wird es dem Flamingo nie langweilig.

Jürg Beeler anlässlich einer Lesung aus «Die Zartheit der Stühle» auf Schloss Mörsburg

Jürg Beeler, geboren 1957 in Zürich, studierte Germanistik in Genf, Tübingen und Zürich. Arbeitete als Deutsch- und Fremdsprachenlehrer und als Reisejournalist. Lebt in Südfrankreich und Zürich. Für seine literarische Tätigkeit wurde er verschiedentlich ausgezeichnet. Publikationen (Auswahl): «Die Liebe, sagte Stradivari» (2002), «Das Gewicht einer Nacht» (2004), «Solo für eine Kellnerin» (2008), «Der Mann, der Balzacs Romane schrieb» (2014), «Die Zartheit der Stühle» (2022)

Beitragsbild © Barbara Dietl

Hans Gysi «Paul geht fort» (Auszug), Plattform Gegenzauber

1

Paul war in einem Alter, wo die Schönheit keine so grosse Rolle mehr spielte und die Erfahrungen einen langsam dahin brachten, die noch verbleibende Zeit zu geniessen oder mindestens ohne grossen Druck zu verbringen. Was wollte man noch erreichen? Welche Stadt noch besuchen? Welche Pläne noch zur Ausführung bringen? So ungefähr lauteten die Fragen, die Paul an sich selbst richtete. Dennoch beschäftigte ihn sein Alter so sehr, dass er, wenn er nachts erwachte, manchmal die Jahre nachrechnete und es nicht recht fassen konnte, dass er nun schon an der Schwelle seines letzten Lebensabschnitts stand. Um besser zu begreifen, was die Zahlen bedeuteten, machte er es sich zur Gewohnheit, die Jahre in seiner Vorstellung wie eine Landschaft aus Kurven und Hyperbeln neben sich auf der Fläche seines Bettes auszulegen und sie gewissermassen von der Seite zu betrachten. Vielleicht war seine Seele irgendwo dort im Gelände unterwegs. Er stellte sich vor, dass die Episoden sei- nes Lebens kleine Täler bildeten, Mulden und Diagramme, die eine fremde und schöne Landschaft beschrieben, welche er einst bewohnt haben mochte. Dadurch gewann sein Leben etwas Fassbares und zugleich etwas Künstliches, sodass er bald nicht mehr wusste, ob er in seinen eigenen Erinnerungen kramte oder in einem fremden Buche las.

2

Paul hatte Kathrin. Kathrin hatte Paul. Sie war freundlich und klug. Und sie hatte noch viele andere Qualitäten, von denen Paul kaum sprach. Sie war etwas bekümmert wegen Pauls Gesundheit. Paul war ihr nicht gleichgültig, das spürte er immer häufiger. Manchmal lachte sie ansteckend und hell. Dann wieder war sie ganz still in sich gekehrt. Die Gefühle bestimmten ihre Befindlichkeit. Auch Paul war ein Gefühls- mensch, gelegentlich ganz nah am Wasser gebaut. Er passierte ihm, dass er weinend im dunklen Kino sass, sich seiner Tränen leicht schämend. So fuhren ihre Gefühle Achterbahn: sie an der steilsten Stelle und er in gemächlicher Ebene oder umgekehrt. Mit den Gefühlen kam die Ungleichzeitigkeit, und sie wurde ein ständiger Begleiter. Kathrin hatte den Eindruck, dass Paul sich zu viel auflud. »Und man weiss«, sagte sie, »dass dieses Alter gefährlich ist: Die Kräfte lassen nach und die Anforderungen steigen!« Paul versuchte, eins nach dem andern anzupacken, vorsätzlich ruhig und nüchtern, doch im Grunde wusste er, dass sie recht hatte. Er konnte sich ein Leben ohne Kathrin nicht vorstellen. In den langen Jahren war sie zu einem Teil von Pauls Da- sein geworden, körperhaft. Ob sie sich nach einer eventuellen Wiedergeburt nochmals zusammentäten, darüber hatte sich Paul keine Gedanken gemacht. Er glaubte nicht an die Wiedergeburt in diesem Sinne. Kathrin hatte viele Vorzüge, das wusste Paul. Zum Beispiel konnte man ihr kaum etwas vormachen, ausser man überraschte sie wie ein lahmer Zauberer mit einer vergessenen Taube aus dem Zylinder. Dass sie vergesslich war, schätzte Paul besonders. Er hatte es nötig.

3

Bevor Paul zur Arbeit ging, prüfte er mit einem schnellen Blick seine Silhouette im Spiegel und dachte an manch eine seiner Gesten, die eine ungeschickte bis fahrige Form annahmen. Manchmal fluchte er leise über ein Missgeschick oder einen Fehlgriff. Da fiel ihm ein Behälter aus der Hand und zu Boden, dort trat sein Fuss nicht mehr sicher auf, was ihn leicht schwanken liess. Das Schwanken konnte er mit et- was Glück in ein sportliches Wippen verwandeln. Vielleicht, dachte er bei sich, war der kritische Punkt überschritten, wo mit täglichem Training und grosser Disziplin etwas auszurichten war. Absurd. Paul war noch nicht so weit, wusste aber, dass man die eigene Unfähigkeit verdrängte und über grösser werdende Defizite hinwegsah, solange man sie kompensieren oder mit Aktivitäten überdecken konnte. Wie ein Feldforscher, der sich für seltene Käfer interessiert und sie auf Nadeln aufspiesst, so fühlte sich Paul, wenn er an sich selbst Ticks und Gewohnheiten beobachtete: Das waren ähnliche Nadelstiche, die ihn unbeweglich zu machen drohten. Häufiger erinnerte ihn sein fahriges Grinsen, eine schiefe Kaubewegung oder ein Kratzen am Kopf und eine selbstvergessene, unbewegte Miene an Bildeinstellungen, die er von seinen älter werdenden Eltern gespeichert hatte. Es graute ihn vor einem Alter, wo ihm Nasenpopel am Hemd kleben würden oder Sabber aus dem Mund rinnen in Selbstvergessenheit und aus Unachtsamkeit. Seine eigene Schusseligkeit nahm zu, da half nichts. Vielleicht sollte er einen Hut tragen, dachte Paul etwas hilflos.

4

Paul hatte Arbeit, er war Lehrer. Zu einem Satz von vierzig Prozent war er eingestellt. Daneben arbeitete er frei fürs Theater. Als Teilzeitlehrer hatte er grosse Träume, weil er viel Zeit mit ihnen verbringen konnte. Er liebte es, in der Stunde Schiefertafeln vollzuschreiben. Wichtige Eckdaten und Zahlen konnte man darauf wieder finden. Paul dachte: Der Unterrichtende hat ein Gedächtnis, aus dem zieht er das Nötigste ans Trockene, wie ein Fischer die Netze einholt. Was beim Fischer die Netze, sind bei ihm die Kreidestifte und der grüngraue Belag der Wandtafeln. Die Tafeln kann er aufklappen, aber er hat kein Recht, alle Tafeln zu füllen, auch das Stehenlassen von Textpartien ist nur in Ausnahmefällen erlaubt. Denn ein Teilzeitlehrer ist Gast in den bereitgestellten Zimmern. Was Paul schrieb, verbündete sich am Schluss der Stunde mit dem Wasser des Tafelschwamms und rann davon. Die Quintessenz seiner Lektionen versammelte sich im Schwamm und am untern Rand der Tafel in trüben Pfützen. Das war das Sichtbare des Bleibenden und gleichzeitig ein schönes Bild für die Vergeblichkeit, das Verschwinden der Erkenntnis. In leichter Melancholie betrachtete er das weisslich-graue Wasser und dachte: Die Schule ist eine Attrappe, die sich in der Weltgeschichte verliert.

Hans Gysi «Paul geht fort», edition 8, 2022,
128 Seiten, CHF 21.00,
ISBN 978-3-85990-454-5

Der Protagonist dieser melancholisch-witzigen Prosaminiaturen ist ein Mensch mit ambivalentem Innenleben, das vielen bekannt vorkommen könnte. Paul ist Lehrer, unterrichtet routiniert seine Klassen und ist in einem Alter, «wo die Schönheit keine so grosse Rolle mehr spielt». Er beobachtet gerne Menschen, die ›Comédie humaine‹ regt ihn zu Betrachtungen an, er schreibt Bücher und hat auch etwas Erfolg damit. Kurz: Er scheint im Leben angekommen zu sein, hat sich eingerichtet.
Da ist aber auch ein Zaudern, ein Zweifeln, eine innere Unruhe, die ihn den Boden unter den Füssen verlieren lässt. Gefangen im «Dickicht der Pflichten», «festgezurrt von Vorbild und Gewohnheit», sucht Paul nach Auswegen aus seinem Alltag, misst sich an seinen Träumen – und bricht auf.
Hans Gysis Texte bestechen durch den nachdenklichen Grundton mit stets präsentem Humor, die fein gezeichneten Beobachtungen und die überraschenden Wendungen, die in einem Finale voll tiefsinnigem Nonsens gipfeln.

Hans Gysi ist 1953 in Arosa geboren und aufgewachsen. Schulen und Ausbildung hat er in Arosa, Schiers gemacht und studiert an der Uni Zürich gemacht. 1976 Sek.-Lehrer Phil I. Von 1982-85 Schauspielakademie Zürich. Seit 1985 zwei Jahre als Schauspieler tätig beim Kitz und später freischaffend als Schauspieler, Regisseur, Theaterpädagoge und Autor mit verschiedenen Theatergruppen Viele Inszenierungen vom Frühlingserwachen bis zur Kleinbürgerhochzeit, u.a. auch mit Andreas Schertenleib «Ich habe eine grosse Sache im Grind», ein Glauserabend. Hat den Förderpreis des Kantons Thurgau erhalten, einen Werkpreis der PRO HELVETIA und einen Förderpreis des Kuratoriums Aargau. Den Rilkepreiserhielt er für das Buch «pocket songs» im Verlag edition 8. Weitere Lyrikbände bei edition 8: «Zettel und Litaneien», «Ein Tag mit Chili Geschmack», lebt in Kreuzlingen Thurgau.

Frédéric Zwicker «Songtexte», Plattform Gegenzauber

Ich möchte eine Ente sein

Was willst du werden, wenn du mal gross bist?
Und was soll nachher aus dir werden
Was willst du werden, wenn du mal tot bist
Weisst du, wir müssen alle sterben

Zum Glück gibt es die Buddhisten
Dank denen sind wir bald wieder hier
Man kann so ein Menschendasein schon mal fristen
Lieber wär ich ein anderes Tier

Schwimmen, tauchen, fliegen und ein Haus am See
Ich möchte eine Ente sein
Entenfrauen lieben, bis ich untergeh
Ich möchte eine Ente sein

Hast du schon mal einem Stockentenweibchen so richtig tief in ihre Augen geschaut
Kannst du mir sagen, du hättest da deinen Gefühlen und Augen zu glauben getraut
Bei Entenschnäbeln und Entenbrüsten ist es im Nu um mich gescheh’n
Sowas Erotisches habe ich im ganzen Menschen und Tierreich noch nicht geseh’n

Schwimmen, tauchen, fliegen und ein Haus am See
Ich möchte eine Ente sein
Entenfrauen lieben bis ich untergeh
Ich möchte eine Ente sein

 

Hey Mond

Hey Mond – Hey Mond

Hey Mond, mach doch nicht so ein Gesicht
Da heulen ja die Wölfe, wenn sie dich sehen
Die Kinder geh’n ins Bett
Wo sie schreien oder sich schlafend stell’n

Langeweile ist manchmal sicher ein Grund
Dass Mensch sich schwertut

Als Mond ist man mal Sichel, mal rund
Kein Grund für Schwermu
Denk mal an die USA,
Kriege, Aids, Malaria

Auf dem Mond gibt’s sowas nicht
Auf dem Mond gibt’s sowas nicht
Auf dem Mond gibt’s sowas nicht
Auf dem Mond gibt’s sowas nicht

Ich säh dich gern bei Tag, doch du tanzt in der Nacht
Du hast deine ganz eigene Anziehungskraft
Warum du dein Licht unter den Scheffel stellst, weiss ich nicht
Wer von innen strahlt, glänzt im besten Licht
Wer von innen strahlt, glänzt im besten Licht

Kommende Auftritte:

Samstag, 21. Mai, Hekto Super Schaufenster-Session II, Esperanto Store, Tiefenaustrasse 2, Rapperswil SG

Donnerstag, 26. Mai, Insel Lützelau

Freitag, 10. Juni, Restaurant Bären, Marktgasse 9, Rapperswil SG

Samstag, 2. juli, Zeughausfest, Schönbodenstrasse 1, Rapperswil-Jona

Freitag, 2. September, Lottis Festival, Villa Grünfels und ZAK Jona SG

leafrei.com / Literaturhaus Thurgau

Frédéric Zwicker, geb. 1983 in Lausanne, aufgewachsen in Rapperswil-Jona am Zürichsee, wo er heute wieder lebt. Er studierte Germanistik, Geschichte und Philosophie. 2006 gründete er die Band ‹Knuts Koffer›. Aktuell tourt er neben seinem Schreiben als Leadsänger von ‹Hekto Super›. Seit 2008 ist er Kolumnist bei der ‹Linthzeitung› und der ‹Südostschweiz Glarus›. Er arbeitete u.a. als Werbetexter, Journalist, Reisejournalist in Ostafrika, Musiklehrer, Slam-Poet, Pointenschreiber für die Satiresendung Giacobbo/Müller, Drehbuchautor. Sein Romandebüt «Hier können Sie im Kreis gehen» erschien 2016 bei Nagel & Kimche, sein aktueller «Radost» 2020 bei Zytglogge.

Nora Schramm «Die Geige verstecken» (Auszug), Plattform Gegenzauber

Zum wiederholten Mal hat das Literaturfestival Literaare Thun den länderübergreifenden Wettbewerb für Lyrik und Spoken Word TEXTSTREICH ausgeschrieben. Dieses Jahr in Kooperation mit dem Literaturmagazin Manuskripte aus Graz und dem Haus für Poesie in Berlin. 

«Die Geige verstecken» (Auszug) ist nicht der Wettbewerbstext, der exklusiv in der Literaturmagazin Manuskripte erscheint, aber ein freundlicherweise an literaturblatt.ch freigegebener Text:

 

«Die Geige verstecken» (Auszug)

Mein Gott, jetzt sitzt du da mit deiner Geige in der U-Bahn und hast fünfzigtausend weniger und dafür eine Angst

Jetzt hast du wirklich fünfzigtausend ausgegeben

Na und, sagst du dir

Na und

Fünfzig tausend für eine Geige

Fünf zig tausend für ein Stück Holz, das innen hohl ist

Das kann man doch keinem erklären

Deinen alten Freunden kannst du das nicht erklären

Neue hast du nicht

Du könntest sagen, das sei eine Geldanlage

Sicherer als Gold

Wovon kann man das schon behaupten, sicherer zu sein als Gold

Von dir nicht, du bist eine unsichere Anlage

Du schwankst

Die Pumps sind zu hoch

Du bist echt ein hoher Stapel

Du hast ein neues Kleid, du zupfst daran

Du weißt jetzt, dass es nicht zu deinem Mantel passt, weil du jetzt weißt, dass es verschiedene Schwarztöne gibt

Der Mantel ist tiefschwarz und das Kleid hat einen Lila-Blau-Schimmer

In den Kleidergeschäften werden dir jetzt Beratungen angeboten und du sagst nicht nein

Das hat doch nichts mehr mit Musik zu tun

Da hat dich doch was verlassen

Da hast du doch was übersehen, irgendwas nicht bemerkt

Jetzt fängst du schon wieder an, die Geige zu verstecken

Weil du dir eine für fünfzigtausend kaufen musstest und den Leuten nicht traust, weil du es ja weißt

Du weißt ja, wie sich der Neid anfühlt

Hungrig, geil, mit zu viel Spucke im Mund und einem steifen Nacken vom vielen Glotzen

Der Neid macht, dass du jemand sein willst, den du hasst

Oder dass du hasst, wer du sein willst

Jetzt hast du schon wieder die Angst auf dir sitzen

Du wirst geritten von der Angst

Die hockt dir auf den Schultern und peitscht dir den Hintern und trifft genau die Ritze

Du schmeißt die Angst nie ab, du machst andere Sachen

Du versteckst die Geige unterm Mantel

Du wirst jetzt immer einen Mantel tragen müssen, auch im Sommer

Du bist jetzt eine Angestellte und hast immer einen Mantel an

Das ist doch jetzt das

Das

Hier, das Ding

Wenn du die Angst abschmeißt, wie willst du dir dann beweisen, dass du jetzt eine von denen bist, die was zu verlieren haben, irgendein Ding

Du sagst jetzt Dienst zur Probe und Doppeldienst zum Konzert

Sicher und sicherer sind für dich blickdichte Adjektive geworden

Sie haben sich in deinen Wortschatz geschlichen und vor die Substantive gesetzt und du siehst die Substantive gar nicht mehr hinter ihnen

Du sagst, du hast es jetzt geschafft und hoffst, dass du bald auch mit dem Sprechen aufhören kannst, mit dir selber in der U-Bahn

Dass du einfach mal ein Buch lesen kannst und dabei einschlafen und dass dich ein Fremder weckt an der Endstation und dass ihr zusammen zurück fahrt und euch vorlest und dabei einschlaft, bis euch jemand an der Endstation weckt, ein Fremder, der euch auf dem Weg zurück was vorliest, bis ihr alle drei einschlaft und an der anderen Endstation geweckt werdet von einer Fremden, die liest und liest mit einer weichen Stimme und dann schläft, genau wie ihr und wenn ihr an der Endstation seid, weckt euch einer so sanft, dass ihr fast nicht aufgewacht wärt und setzt sich dazu und liest was vor und ihr habt alle die Köpfe auf fremden Schultern, und Hände voneinander im Schoß und schlaft vorsichtig zwischen euren Atemstößen und dann wird dem Vorleser der Kopf schwer und irgendwann kommt ihr wieder an, an der ersten Endstation und da ist alles schon wie immer geworden, es steigt eine ein und weckt euch, ganz schüchtern sieht sie aus und riecht gut und sie liest vor auf dem Rückweg, der gar kein Rückweg mehr ist und

Dass du einfach wieder runter fährst mit dem Aufzug

Das wäre doch kein

Naja das

Das wäre doch kein Ding

Du verdienst jetzt Geld mit Musik, sagst du dir selber ins Ohr

Fünfzigtausend für dein Arbeitsgerät

Andere haben Dienstwagen oder Dienstwaffen, sagst du dir

Du machst jetzt Online-Banking ohne Angst, ganz lässig bankst du hin und her

Das hat dir keiner geglaubt, du selber nicht, dass du einmal grüne Scheine aus dem Automaten ziehst, als wären es Fahrscheine für den Nahverkehr

Dass du mal den Nahverkehr bezahlst, das hätte keiner gedacht

Dafür hast du die Siedlung belogen

Hast gesagt, dass du schon verabredet bist, mit Leuten, die es gar nicht gibt, deinem Vater zum Beispiel

Denen hättest du das nicht erklären können, dass du eine Jugend lang Geige übst

Dafür bist du jeden Tag nach der Schule zu deiner Geigenlehrerin gefahren, zur Frau Zacharias

Die hat dich ins Gästezimmer gelassen und dir ihre Geige geliehen

Dass du üben kannst, ohne, dass es einer merkt

Dass du keine eigene Geige brauchst

Deine Mutter hätte das Geld irgendwie zusammengekratzt für eine schlechte Geige, aber die hättest du dann mit dir herumtragen müssen, das wäre ein Beweis gewesen, gegen den du nicht angekommen wärst

Dafür hast du dir den Bauchnabel piercen lassen, dass keiner merkt, dass du eigentlich eine mit einem heilen Bauchnabel bist, dass sie dir nicht auflauern, dass sie dich nicht abziehen

Dafür bist du aus der Siedlung raus, wo deine Mutter die Spritzen von deinem Bruder weggeräumt hat mit Handschuhen an und alles im Waschbecken verbrannt, die Handschuhe und die Spritzen

Obwohl man Plastik nicht verbrennen darf

Dafür bist du in eine andere Stadt mit einem historischen Stadtkern gezogen und ins Ausland und dann wieder zurück

Dafür hast du vier Jahre in einer Übezelle gehockt

Dafür wurde ein ganzer Keller ausgebaut, lauter Zellen, in die man die Musik mit den Studenten sperrt

Dass du den Nahverkehr bezahlst, wo sowieso nie kontrolliert wird, weil die Leute sich selber kontrollieren

Du warst mit der Musik eingesperrt, als wäre euer Aufzug stecken geblieben

Ihr wolltet zusammen hoch fahren, oder vielleicht war es Zufall

Vielleicht habt ihr euch doch erst so richtig im Aufzug kennengelernt, als du schon die Knöpfe gedrückt hattest nach oben

Die Musik hat dich so zart angeschaut, dass du ihr nichts abgeschlagen hast

Die wollte immer alles von dir, du musstest deine Tasche ausleeren und aus deinen Schulaufsätzen vorlesen

Die Musik hat dir versprochen, dass sie etwas hat, was du willst, aber sie hat nie gesagt, was das sein soll

Du hast der Musik alles geglaubt

Die hatte manchmal eine Zartheit

Um die hast du sie beneidet, weil du damals schon gewusst hast, dass du dir diesen Zartheitsluxus nicht leisten kannst

Die hat gestrahlt und du nicht, die hat dich bestrahlt bis du ganz warm geworden bist und irgendwie

Transparent

Irgendwie zart

Zartsein war ja immer so eine Idee von dir, die perverseste, die du je hattest

Von acht bis achtzehn Uhr, sechs Tage die Woche warst du in der Übezelle

Hast geübt, zärter zu werden, dass man dich nicht raus hört, aus der Musik, weil es größenwahnsinnig wäre, zu glauben, du hättest Mozart was hinzuzufügen

An dem anderen Tag hast du dich nutzlos gefühlt und bemerkt, dass man sonntags nicht einkaufen kann

An dem anderen Tag bist du vorm Netto gestanden und die automatische Glastür hat sich nicht auseinandergeschoben, du bist näher ran, wieder weg, die blieb zu

Da ist dir alles wieder eingefallen

Dass du eine feste Stelle im Orchester brauchst, die Öffnungszeiten, dass du dünn geworden bist, dass die Nadeln übrig bleiben, wenn man die Spritzen verbrennt, solche Sachen

Jetzt steigst du aus der Bahn und lässt dein Spiegelbild an der Scheibe sitzen, es ist so transparent wie du gern wärst, es ist das Bahngleis mit den ganzen Leuten, den Bänken, den Fliesen hinter deinem Gesicht

Auf dem Gleis krabbelt einer auf allen Vieren zwischen den Beinen der Leute

Einer der alles verloren hat, sein Alter, seinen Ausweis mit seinem Namen drauf, seinen Geruch, die Angst

Nur die kleinen dichten Locken hat er behalten

Es ist dein Bruder

Du weißt nicht, ob er dich erkennt, deine Locken hast du geflochten und eine Mütze drüber gezogen

Er schaut auch gar nicht her

Er war ja immer in Zuständen, die letzten Jahre, die ihr zusammen gewohnt habt, immer in Zuständen, solche, in denen er selber gar nicht mehr existiert hat, er ist verschwunden hinter seinen Zuständen, er war nichts anderes mehr als Zittern oder Krampf oder Kotze oder auf dem Rücken liegendes Lachen, das gegen die Decke knallt

Vor den Weihnachtsferien hatte dir die Frau Zacharias mal die Geige aufgedrängt, du solltest sie mitnehmen, dass du weiter üben kannst

Das hättest du ihr nicht erklären können, dass das nicht ging

Du hast überlegt, ob du die Geige auf dem Weg einfach stehen lässt und sagst, du hättest sie verloren

Aber in der Stadt warst du so stolz, eine mit dir rum zu tragen, dass du es nicht übers Herz gebracht hast

Du hast sie immer weiter mitgenommen

Als du von der Bahn in den Bus umgestiegen bist, hast du im Supermarkt eine große Tüte gekauft, mit einem Zipper, in der man Tiefgekühltes transportiert, hast die Geige aus dem Kasten genommen und den auf dem Supermarktparkplatz stehen lassen, hast die Jacke ausgezogen und die Geige darin eingewickelt und alles zusammen in die Tiefkühltüte gesteckt, die nicht mehr zuging

Dann bist du erst in den Bus eingestiegen, wo du angefangen hast, Leute zu kennen und hast dich unterhalten

Gefroren hast du, aber das Zittern hast du dir nicht erlaubt, bis du in der Wohnung warst

Dein Bruder hat nicht gefroren, der lag in seinem Zimmer mitten in seinem Zustand und hat gelacht und auf den Boden eingeschlagen

Und du hast im Zimmer nebenan die Geige festgehalten, die Stimme von der Frau Zacharias im Ohr, du sollst nicht so krampfen, nicht so klammern, beim Spielen, obwohl du noch nicht einmal gespielt hast, nur die Geige festgehalten

Und in denselben Ferien gab es den Tag, an dem es im Zimmer deines Bruders stiller war als sonst, als du dachtest, heute musst du dich nicht schämen, die Musik zu dir nach Hause einzuladen und hast dich nicht zurückgehalten, hast gespielt, ohne Angst, dass die Siedlung dich entlarvt, dir die Geige wegnimmt, hast bemerkt, dass das eine Amputation wäre, eine sehr schwierige Operation, die kaum einer kann und das hat dich beruhigt, man hat ja auch nicht ständig Angst, dass einem die Beine abgenommen werden und die Musik hat zu allem ja gesagt, hat dir alles erlaubt, du bist schier abgehoben vor Glück, bist schier Luft geworden und die Musik hat dich umarmt mit ihren Flügelchen, die Musik kann nämlich Luft umarmen, da warst du umarmt und trotzdem frei und hast gewusst, das kann dir sonst keiner geben, da hast du gewusst, dass du jetzt etwas weißt und als es dunkel war, bist du ins Wohnzimmer und da lag deine Mutter auf der Couch und dein Bruder war kein Zustand, sondern dein Bruder, und er hat ihr Isabel Allende vorgelesen und du warst sauer auf die Musik, dass sie dich so lange in deinem Zimmer in ihren Flügelchen festgehalten hat, dass du nicht mit deiner Mutter auf der Couch eingeschlafen bist unter dem fransigen Stehlampenlicht und dein Bruder hat gesagt, aus dir wird mal was, aus dir wird mal eine Musikerin, und er hat so gestrahlt dabei, da bist du der Musik hinterher, in den Aufzug eingestiegen

Nora Schramm (1993) studiert Theorien und Praktiken professionellen Schreibens in Köln. 2021 war sie Stipendiatin des 1:1 Mentoringprogramms am Literaturbüro NRW. Ihre Texte wurden in diversen Zeitschriften veröffentlicht, ihr Hörspiel FRIEDEN UND RUHE auf dem Theaterfestival «Poligonale» als szenische Lesung gezeigt.

Literaare Literaturfestival Thun

Beitragsbild © Siggi Herbst