Walter Fabian Schmid «Die Lost Places zucken noch», Plattform Gegenzauber

TOKAMAK

Du hast unseren Frieden in den Vorhof
gepflanzt. Abgesteckte Beete. Wie Kammern,
aus denen unbekannte Namen flimmern.

Wir Auferstandenen steigen weiter und weiter auf.

An den Rändern schwarzer Löcher verglühen
unsere Herzen. Nur Plasma. Energie
für unsere Kinder, die nie mehr kommen.
Die nie diese Wärme spüren. 150 Millionen
Grad. Gemessen in der Zeit,
die wir als Menschen verbrachten.

 

AUCH TOURISTEN VERSTRÖMTEN WÄRME

Im Sonnenbrand der Winteräpfel
warfen die Meere Blasen,
verbrühten die Gletscher und
verdampften an der Himmelskruste.

Wir sassen in unseren Autos
und bestaunten die Feuer.

»Was für ein Postkartenmotiv!«

Auf halbem Weg ging die Sendung verloren.
Auch unsere Restsouvenirs gingen zu Bruch.

Tollpatschig fielen die Felswände um.
Berge besuchten uns öfter
im Tal. Die Gäste fuhren schon früher
mit E-Bikes dem Sturz entgegen.

Im Winter legte sich Frost
über das Magma. Ein roter
Spiegel voller Risse,
die blicken liessen
auf die eingeschmolzenen
Feldspaten abgewanderter Bauern.

 

WIR TRUGEN DÜNNERE HÄUTE

Seen schwitzten das Klima aus.
Wälder nur qualmende Stummel.

»Wer verträgt schon diese Gluten?«

Sommerfrischler bestiegen ausgekühlte Halden.
Ihr Schweiss schwemmte Fahrbahnen frei
für Aschetransporter. »Feinstes Karbon!«

Die Staublungen der Erdhörnchen keuchten.
Schwer scharrten sie alte Apparate aus.
iPhones auf Stand-by. Ein Beistand
für grausame Bilder.

Wir zählten die Baumringe unter den Augen,
als die Schattenseite der Äpfel schon brannte.

Die Luft trug einen reizenden Feststoff
aus und wir schlüpften in dünnere Häute.

 

MAN HÄNGTE UNS EINFACH SO AB

In unseren Stuben lagen die
Leitungen blank.

Aus Dielen rieselten Schritte.
Wege, die sich wie Frassgänge
in unser Holz gekerbt hatten.

Erinnerung legte sich
nur noch den Tieren in die Instinkte.

Dem Marder, der nach den Kabeln schürfte,
um am versiegten Stromfluss zu lecken.

Vom Berghang rollten
verlorene Echos, krochen durch
Röhren unserer Fernseher,
die niemand mehr reparierte.

Abgehängt hinterliessen auch wir
nur die hellen Flecken auf der Tapete.

 

WIR WURDEN ZU STAUB,
AUS DEM WIR UNS MACHTEN

Im Herbst kam den Feldern
das Suppenkraut hoch.

Mit schiefem Kreuz
humpelten Alte zur Kirche.

Der Mief holte sich noch einmal Luft
von entlaufenen Kindern.

Wir aber waren schon abgefahren
mit unseren Zweitaktern und
holten die Auferstandenen
unmöglich ein.

 

(Die wiedergegebenen Gedichte sind aus «Die Lost Places zucken noch», edition offenes feld. Dortmund 2023.)

Walter Fabian Schmid, geboren 1983 in Regen, ist Schweizer und Deutscher und lebt im Kanton Bern. Er studierte Diplom-Germanistik in Bamberg, arbeitete als Redaktor, Literaturvermittler und Texter. Er erhielt den Calwer-Hermann-Hesse-Preis 2010 als Mitredaktor der Literaturzeitschrift poet, war nominiert für den Leonce-und-Lena-Preis 2011 und 2015 sowie den open mike 2014 und den Dresdner Lyrikpreis 2020. Gemeinsam mit Tristan Marquardt gründete er die Lesereihe «meine drei lyrischen ichs».

Beitragsbild © Sascha Kokot

Thomas Kunst «Irische Traumung. Ein Küstenspiel», Plattform Gegenzauber

I

Geduckter Rauch

Trafen sich ein Mann.
Trafen sich und hatten nur den Namen bei. Ihm Düren.
Trafen sich in dieser hochbegabten Steppe aus kurz
Geschorener Musik. Wie das klingt. Frag Ihm doch.
Ihm seine Augen, ich beginne immer mit den
Augen, wirkten, aber waren braun und
Zerstritten.
Als hätte
Ihm
In einer verschärften Situation
Die Brille zu lange auf –
Behalten. (Siehst du.) Die enge Allee
Durch den stahlblonden Heimat ist eine
Verschorfte Situation. Da passen zwei März Ärzte
Ohne Schwestern nebeneinander. Warum ausgerechnet
Zwei. Das kann ich dir sofort sagen, weil du nur so, schon von
Weitem mit Mitte rechnest. Heimat kannst du schon auswendig
Lernen, sobald sie nur über Wörter verfügt, die
Freiwillig bei dir bleiben. Draußen, aber nicht unbedingt, zerriss der
Schnee. Ich wusste, dass du nur Gas lachst, die blasse Allee in einer
Angenehmenen Stadt, von der links und 
Rechts Flammen ab –
Gehen. Pass doch auf, wo du hin 
Trittst, Kleiner, das
Schöne Feuer.
Zuerst ist es ganz sacht und spielt mit dir Mutter, Vater,
Mitte. Dann ist es ganz Mitte und spielt mit dir Mutter, Vater,
Feuer. Ist die Asche schon fertig. Wie lange braucht
Ihr denn noch. Einsblondundachtzig. Das müsste doch in
Einem Land zu machen sein, auch wenn es
Hier nicht ganz für die sieben Winden reicht, aber vier,
Dürre, flache würden sich schon auf –
Treiben lassen. Einer davon hat Strandgut geatmet, ein wenig
Schaum, ein wenig Flaschen –
Rost. Dieser wäre Ihm sicher der liebste. Ich habe das
Land nicht im Reim erstickt. Dabei ersticke ich
Es gar nicht so gern. Ihm hat es so gewollt.
Trafen sich ein Mann.
Trafen sich und hatten nur den Namen bei. Ihm Düren.
Trafen sich in dieser kurzbegabten Steppe aus hoch –
Geschorener Musik.

 

II

Ihrisches Crescendo

Trafen sich eine Frau.
Trafen sich und hatten nur den Namen bei. Ihr Belwas.
Trafen sich in dieser hochgesteppten Musik aus kurz –
Geschorener Begabung. Ich habe das Land nicht
Im Reim erstickt. Dabei ersticke ich es gar nicht so
Gern. Ihm hat es so gewollt. Ihr hat es so
Gewollt. Schaum, 
Elektrischer Süden rückt von den Rändern nach 
Innen, Lehn –
Sucht bleibt unser Ledergewächs, das Lager
Hinauf, frisch
Gerissene Ängste ändern die Sätze 
Auf, was ist
Schon eher zu Ende (sag an) als kaum zu
Beginnen, Belwas.
Ihr hatte ihr glänzendes Haar, ich beginne immer mit dem
Haar, aus frischen Kastanien gezogen. Weiß lag noch Mehl
Auf dem Nabel. Ihrs Monat war der Oktober, geflochten aus Segel –
Bekleideten Stürmen und den Überresten der Stranddorn –
Kolonnen. Ihrs Heirat war folgerichtig mit dem Tag zusammen –
Gefallen, da sie sich entschlossen hatte, allein zu
Lieben. Doch nun trug sie einmal den Ring. Und das
War schon immer so. Ihr hatte darauf bestanden, 
Ihren Mann nicht weiter zu erwähnen. Ich hatte
Ihrs Schmerzen längst begriffen und willigte ein, natürlich
Auch, um ihr, als Figur weiter folgen zu dürfen, ihr, der von
Vornherein nichts anderes übrigblieb, sie bis ins
Feinste auszukosten, die Technik des Scheiterns,
Belwas, wenn du das durch –
Hältst, finde ich dich zum Kosten. Schmerz gegen
Schmerz ergibt irgendwann weit hinten an der Küste
Einen neutralen Aufprall. In Ihrs Fall war es anders, sie
Konnte nicht schwimmen, und das machte sich
Ihr zunutze. Nach drei Tagen wurde
Ihr, an den Strand geworfen, gefunden. Weiß platzte
Der Schaum auf dem Nabel. 
Trafen sich eine Frau.
Trafen sich und hatten nur den Namen bei. Ihr Belwas.
Trafen sich in dieser hoch –
Begabten Steppe aus kurz –
Geschorener Musik. Frag Ihm doch. Frag
Ihr doch.

 

III

Verwaschene Grafschaft

Traf sich eine Mann und ein Frau.
Traf sich und hatte nur den Namen bei. Ihm Düren. Ihr 
Belwas.
Der golfene Strom hatte seine flache Wärme ins Land
Gespült und das Januarmittel aufgeheizt auf sieben Komma sieben 
Grad, so dass Sich selbst hier, in dieser 
Abgeraschelten, bröckeligen Gegend Palme
Und Rhododendron als zarte Requisiten entfalten konnten, was sich als
Äußerst günstig erwies, denn dieser subtropische Hauch hatte die
Beiden Toten ein wenig grün betastet. Verwesung ist doch auch nichts
Anderes als nachlassende Kondition. Ihm hatte ein aschfahles Gesicht. Ich
Beginne immer mit Asche. Ihrs Körper hatte die ausgeschlafene Form fleisch –
Farbenen Wassers. Ich beginne immer mit Wasser. Nur, dass sie nicht weinte, schien
Ihren Körper noch zusammenzuhalten. Es ist natürlich einfach, zwei
Verendete Körper leger in dieselbe Landschaft zu streuen. Ich hatte ziemlich
Genau darauf geachtet, dass es sich dabei um eine Region
Handelte, so wie die Grafschaft Galway, die ziemlich dünn besiedelt
War, so dass ich einigermaßen sicher sein konnte, nicht in die Lage zu
Geraten, ländliche Bauern und deren Hütten skizzieren zu müssen, sobald
Es Ihm und Ihr darauf anlegten, auf etwas Lebendiges zuzuhalten. Obwohl
Eine schon vor Jahren verlassene Lehmmauer doch auch etwas
Hat. Dass sich Ihm und Ihr vorher noch nie gesehen hatten, blieb erstmal
Ihre einzige Verwandtschaft. Doch was willst du mit zwei Menschen
Anfangen, die frieren, Hunger haben, doch keine Hütte aus ungefähr gleich –
Langem Holz. Hier ist ein Hochlandrind zum Umwickeln. Hier
Sind die Beeren. Hier sind neun besonders eng stehende
Bäume. Bevor ich die Beiden jedoch sich näherkommen
Ließ in der geölten Mechanik der Küste, nahm ich von
Schafen, nahm von den Schultern und Säften, das, was sich eignet zur
Scham. Jetzt bist du dran, Düren. Darf ich Sie zu einem Fell
Einladen. Darf ich Sie zu den Beeren einladen. Darf ich Sie zu den
Neun besonders eng stehenden Bäumen einladen. Am Ende solcher
Sätze, die auch immer in einen Dschungel von nicht –
Gesagten Sätzen münden, die jedoch nie den gemeinsamen
Kern preisgeben, am Ende solcher Sätze entzündete sich immer
Beinahe das schmale Fest des Fleisches. Ein wenig zuckten
Die Lenden auf, in ihrer deutlichen, ledernen
Sprache. Jetzt bist du dran, Belwas. Ihr sagte zwar
Nichts. Ihr berührte zart mit dem Ellenbogen
Ihms Kinn.

 

IV

Tage ja Monatelahm

trug ständig das Meer die gleichen Klänge nach innen, vor
Die Hütte aus ungefähr gleichlangem Holz.
Die neun besonders eng stehenden Bäume hatten Ihm und
Ihr mit Schlamm und Steinwerk höhergezogen, so dass keine
Behaarten Sterne mehr dazwischenfahren konnten, nur die Geräusche
Gestrandeter Seevögel hatten noch gute Aussichten eingelassen zu
Werden. Düren hatte mit Feuer, das Feuer habe ich ihnen zukommen
Lassen, falls es Fragen gibt, Düren hatte mit Feuer einen majestätischen Stamm
Gehöhlt, den er in den frühen Stunden der kaum behinderten Sonne zum
Fischen benutzte, bis das Netz, das Netz habe ich ihnen zukommen lassen, falls 
Es Fragen gibt, bis das Netz gefüllt war mit beweglichem Bronzebesteck. Belwas
Hatte in Ihms Abwesenheit ihr glänzendes Haar zu weichen, fließenden Kastanien
Geflochten, die langsam und feucht auf die Lenden zu –
Strömten. Den ganzen Tag nur die braune See, der Regen roh und in Würfel
Geschnitten. So hielt die Insel ihren genauen
Unterricht ab. Düren, nach vorn, an die Tafel, an welche denn
Sonst. Hat ein Wort wie Heimat, wenn es dich ständig in einer beengenden
Situation betrifft, nicht auch außerhalb solcher Zustände seine
Neutrale Geschlossenheit. Sind nicht die Worte selbst zu 
Einem Täuschungsobjekt einer nicht eingestandenen, einer
Verhinderten Liebe geworden, runtergehandelt zu dem Preis, für etwas
Anderes nur Schmiere zu stehen. Erst wenn die Scham zerrissen,
Zuckend vor unseren Füßen liegt, krümmt sich die Sprache
Zurück in ihren tierisch zarten Zustand, gehört so noch
Enger an die Zähne. Die wesende Geburt des Herbstes, beige faulten
Die Bäume ineinander über, hatte es längst bewiesen, selbst die Liebe war
Nur eine Schlichtungsform der Neugier. Jetzt, nach überstandenen Monaten
Der Ähnlichkeit, hielt ich es für angebracht, ihm und ihr eine gleich –
Mäßige und bedächtige Zerstörung der Insel durch das Wasser vorzu –
Schlagen. Ihms und Ihrs Reaktionen darauf waren diesem
Traurigen Programm angemessen. Belwas löste ihre erstaunlichen Kastanien 
Zu einem allmählichen Wasser. Golf, Rhododendron und eine
Schon vor Jahren verlassene Lehmmauer hatten sich in feinen
Fasern verbunden. Auch wenn es hier nicht ganz
Für die sieben Winde reicht. Aber vier dürre, flache
Würden sich schon auftreiben lassen. Und es kam wie ein trockenes, hoch –
Triftiges Gas, das in den feinen Fasern ein zittriges Sirren
Erzeugte und beim Berühren das Wasser
Verähnelte in eine starre, elektrische
Weide. Tage ja monatelahm trug ständig das Meer die gleichen
Klänge nach Hütte, vor die Holz aus ungefähr gleich –
Langem Innen. Jetzt bist du dran, Ihm. Darf ich Sie zu den nass
Gewordenen Beeren einladen. Darf ich sich zu den neun besonders eng
Unter Wasser stehenden Bäumen einladen. Darf ich dich in das Fell
Tun. Ein wenig zuckten die Lenden auf, in ihrer
Deutlichen, ledernen Sprache. Sehgestöber, Sanddornperlen von der Schnur
Gelassen, Schlamm und Steinwerk in weicher
Veränderung, Geräusche aufgespülter Seevögel, nur, dass 
Sie nicht weinte, schien Ihrs Körper noch zusammenzu –
Halten. Es gelang ihr nicht mehr, ihm zu zeigen, wie sehr
Sich über ihnen die See schloss. Das gefiel ihm an
Ihr. Und ihr machte es Spaß, Ihm nicht zeigen zu
Müssen, wie sehr sich über ihnen die See schloss.
(Dürwas)

(Veröffentlicht in «Die Verteilung des Lächelns bei Gegenwehr» (Gedichte und Texte 1986-1988, Connewitzer Verlagsbuchhandlung, Leipzig))

Thomas Kunst „Zandschower Klinken“, Suhrkamp, 254 Seiten, CHF ca. 32.90, ISBN 978-3-518-42992-1

Thomas Kunst wurde am 09.06.1965 in Stralsund geboren. Nach dem Abitur studierte Thomas Kunst zunächst 3 Monate Pädagogik in Leipzig und ist seit 1987 als Bibliotheksassistent der Deutschen Nationalbibliothek tätig. Er schreibt Gedichte und Romane. Kunst debütierte 1991 bei Reclam Leipzig mit dem Buch »Besorg noch für das Segel die Chaussee. Gedichte und eine Erzählung«. Bislang sind 20 Einzeltiteln veröffentlicht worden. 2021 war er mit seinem Roman «Zandschofer Klinken» auf der Shortlist zum Deutschen Buchpreis. 2023 überreichte man ihm den Kleist-Preis. 2024 wir bei Suhrkamp sein neuer Gedichtband «Wü» erscheinen.

Webseite des Autors

Beitragsbild © Franziska Reck

Martin R. Dean «Spiegelungen», Plattform Gegenzauber

Längst behandeln wir von der schreibenden Zunft Franz Kafka, seine Familienkonflikte, seine Autoritätskämpfe, seine Hochzeitsvorbereitungen, seine Diäten und seine Sorgen wie eine Heiligengeschichte, an der es nichts mehr zu zweifeln und hinterfragen gibt und die, mit welchen Anpassungen auch immer, zum Vorbild für unsere eigene Schriftstellervita geworden ist. Kafka ist unser schillernder Gott in Menschengestalt und damit jemand, den er selber in einem seiner Romane, zum Beispiel im «Prozess», hätte erfinden können.

Matthias Nawrat stellte sich für ein Gruppenfoto neben mich. Bist du wirklich so gross?, fragte ich erstaunt. Alle lachten über meine Frage, was hätte er denn sagen sollen? Er entgegnete, dass ihm seine Grösse unangenehm sei. Ich konterte und sagte zu meiner eigenen Überraschung, dass er mich an einen Scheinriesen, an Herrn Tur Tur aus „Jim Knopf“ erinnere und mir dieser Riese immer sehr sympathisch gewesen sei. – Tags darauf grub ich das Kinderbuch im Keller wieder aus und las es noch einmal durch. Erst da fiel mir der Grund auf, warum mir, nach über sechzig Jahren, das Kinderbuch noch immer in Erinnerung geblieben ist. Wegen Jim Knopf, der damals einer der ganz wenigen farbigen Helden in Kinderlektüren war. Und deswegen muss er ja auch auf die Suche nach seiner Herkunft gehen.

Versailles: die noch immer faszinierende Pracht der Gartenanlagen, jetzt von einem barocken Disneylandsound unterlegt, kontrastierte schon damals auf groteske Weise mit der Figur des Sonnenkönigs, der sich kaum mehr ernähren konnte. Einen Bandwurm im Magen, riss ihm der Leibarzt sämtliche Zähne aus und den halben Kiefer weg, sodass er seine Nahrung nur noch als Brei zu sich nehmen konnte. Während der Adel liebessüchtig durch die Bosquets flanierte, furzte und kotzte der König ununterbrochen, weil er an Blähungen und Durchfall litt. Gesundheit ist immer ein Derivat der Macht, der Macht über sich selber. Die Defizienzen des Königs konterkarierten jedoch die pompösen Anlagen, die den Horizont mit dem Himmel vermählten. Was erzählt uns besser von der Hohlheit des Pompösen, als dieser von seinen Leibärzten zugrunde gerichtete Popanz: an ihm war nur seine Position wichtig. Die physischen Bedingungen dieser Position musste cachiert werden, so wie Jahrhunderte später Mitterand trotz seines starken Krebsleidens als Präsident nur regieren konnte, indem er sein Krebsleiden verbarg. Während die Gärtner wie Le Notre die Natur mittels oktogonalem Teich, Bosquets, sternförmig angelegten Wegen und Statuen zum schönen Erlebnis machten, frass die erste Natur sich durch den maroden Leib des Despoten und höhlte ihn aus. Er muss gestunken haben wie der Sumpf, der Versailles ursprünglich war, bevor es für den schönen Schein trockengelegt wurde.

Paris, Café de Flore: ein leerer Ort, wo man sich nicht mehr «trifft». So wie die Öffentlichkeit im Internet die reale «Öffentlichkeit» diffundiert hat, so gibt es auch immer weniger Orte, wo «man» sich trifft, wo also die verschiedenen Schichten, Charaktere und Segmente gesellschaftlichen Lebens zusammenkommen. Der Kellner, der, das Tablett mit zwei vollen Gläsern, einer Karaffe und einem Tellerchen in der freien Hand, den Tisch säubert, verrichtet seine Kunst heute vor amerikanischen Touristen und saudiarabischen Emporkömmlingen, die wenig von der Schwerkraft französischen Porzellans wissen.

Sizilien, Bagheria: Kaum ein anderer hat den Wahnsinn einer aus den Fugen geratenen Barock-Welt besser dargestellt als der Fürst von Pallagonia mit seinen irren Figuren. Zur Bestätigung meiner überwältigenden Eindrücke lese ich Goethes Italienisches Tagebuch. Goethe musste den Wahnsinn abwehren, in sich zähmen, er musste sich gegen das Kranke zur Wehr setzen, deshalb lästert er über den Stil des Fürsten von Bagheria.

Im Übrigen empfinde ich sein Reisebuch als Wohltat. Die Lektüre zwingt mich, langsamer werden. Goethe notiert nicht nur, was ihm begegnet, er will immer auch herausfinden, wie etwas zustande kommt und funktioniert und das macht seinen Reisebericht spannend.

In Bagheria bin ich plötzlich nicht mehr sicher, ob ich nicht schon einmal da gewesen bin. Könnte es sei, dass ich die Stellen im «Guaynaknoten» (1995) nur aus der Fantasie geschrieben habe? Oder war ich da und das Geschriebene hat sich an die Stelle des Erlebten gesetzt? Unabweisbar ist, dass es mir immer weniger gelingt, Geschriebenes und Erlebtes auseinander zu halten. Für meine Umgebung ist das ein Ärgernis, für mich ein Glück.

Was unterscheidet selber gemachte Fotos, zum Beispiel das Ablichten einer Sehenswürdigkeit, von den Fotos, die für Reiseführer oder für Postkarten gemacht wurden? Ich glaube, es ist die Versicherung, gegen jedes Vergessen einmal selber an diesem Ort gewesen zu sein, diesen Ort mit eigenen Augen gesehen zu haben. Auch wenn sich weder die «Schönheit» noch das damalige Verzaubertsein von diesem Ort in das Bild, das einem Jahre später wieder in die Hand fällt, retten liess, so wird vielleicht doch ein Spurenelement der Sehnsucht wieder wach, das einen damals überhaupt zum Schiessen der Foto veranlasst hat.

Das Grab von Chateaubriand befindet sich einige hundert Meter vor St. Malo auf der Ile de Grand Bré. Ein klobiges Kreuz, eingefasst von Quadersteinen. Zu lesen ist: «Un grand écrivain français a voulu reposer ici pour n’y entendre que le vent et la mer. Passant respecte sa dernière volonté». Darüber hinaus trägt das Grab keine Inschrift, auch keinen Namen.

Es ist eine bemerkenswerte Geste eines Schriftstellers, seinen Namen zu verschweigen, wo andere Stiftungen gründen und auch sonst keine Mühe scheuen, ihren lächerlichen Ruhm in die Ewigkeit zu transportieren, andere ihren Namen posthum durch Agenten oder Familienangehörige verbreitet sehen wollen. Keiner von ihnen nimmt den Tod so ernst wie Chateaubriand, der für mich dadurch eine besondere Würde gewinnt.    

Zum Fest des runden Geburtstags hat die Schriftstellerkoryphäe seine Freunde ausgewechselt. Sein Ruhm, durch ein wachsendes Alter vermehrt, soll jetzt auf den Nachwuchs und die Betriebslieblinge strahlen, auf dass er sich bei ihnen am besten vermehre. Schliesslich ist er der letzte seiner Generation und seine Worte verwandeln diejenigen, die jetzt mit ihm am Tisch sitzen dürfen, automatisch in Jünger. Unter denen, die ihn feiern sollen, sitzen einige der Jüngsten auf der Bühne, die ihn kaum kennen und deren Namen auch er bisher nicht kannte. Nun feiern sie ihn, ohne seine Werke gelesen zu haben: sie feiern eine Filiation. Die Jungen stimmen Elogen auf ihn an und sonnen sich in seinem Glanz, derweil die alten Freunde, am Katzentisch versammelt, stumm das Glas an die Lippen führen.

Ich treffe einen zehn Jahre älteren Kollegen, der mir von einem Schriftstellertreffen in den siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts erzählt. Als er damals vor versammelter Runde von seinem Kritiker-Erfolg berichtete, sein neuestes Buch war gerade im «Spiegel» besprochen worden, habe ihn ein Kollege umgehend zum Boxkampf herausgefordert. Er aber habe abgelehnt. Da sei der Kollege, wohl aus Verdruss, wie wild um ihn herumgetänzelt und habe ihm, da er den Kampf nicht habe annehmen wollen, die Lippe blutig geschlagen. Bei einer anderen Gelegenheit, einem Suhrkamp Empfang, sei Max Frisch hereingeschneit. Er habe sich kurz zu ihm gesetzt, habe fünf Minuten Small Talk gemacht, danach sei er aufgestanden und habe, sich von allen verabschiedend, jedem ein Zündholzschächtelchen in die Hand gedrückt, auf dem der Name Max Frisch gestanden habe.

Die dritte Erzählung dreht sich um Dürrenmatt, dem er an einer Tagung gegenübergesessen sei. Dürrenmatt aber habe gar nicht mit ihm reden wollen, sondern sei einzig auf einige Frauen konzentriert gewesen, die ihn umsorgten. Am nächsten Morgen sei er mit Dürrenmatt am Frühstückstisch gesessen. Noch immer habe Dürrenmatt nichts von ihm wissen wollen und habe ihn die ganze Zeit mit «lieber Herr Laederach» angeredet. Zuhause habe er dann alle Bücher von Dürrenmatt aus dem Regal genommen und in die Abfalltonne geschmissen.

Wilhelm Genazino ist einer, der in seinen Aufzeichnungen («Der Traum des Beobachters») immer wieder über die Genese von Erfolg, den Staus von Ruhm und das Prekäre der Schriftstellerexistenz nachdenkt. Ist er mir darin nicht ein Vorbild? – Gerade dazu taugt Genazino nicht, nicht einmal posthum. Denn seine Sache war nie die Idolisierung, sondern die kluge Hinterfragung solcher Mechanismen, die letztlich alle literaturfeindlich sind. Literatur ist ein Infragestellen, ist Hinwendung und nicht Anbetung. So kann er mir kein «Vorbild» sein; aber darf ich mich denn getrauen, ihn einen «Gefährten» zu nennen?

Über einen Lyriker, mit dem ich seit der Schulzeit befreundet bin, würde ich Folgendes sagen: er ist konsequent ins Freie geschritten und unter Himmeln und in Wäldern verloren gegangen. Er hat alle Leiderfahrung in Sprache gegossen. (Dabei staune ich, dass man so auf der Kante leben kann.)

F., ein Student der Biologie, so wird in der Runde erzählt, brachte die Frauen, mit denen er schlief, jeweils mit einem einzigen Satz zum Orgasmus. Niemand kannte den Satz, nur die Frauen, aber die schwiegen. Als er den Satz auf einen Zettel schrieb und den Frauen mitgab, wollte keine Frau mehr mit ihm schlafen. Schliesslich wurde seine Schrift unleserlich und der Satz verlor seine Wirkung.

Der Selbstbehauptungskampf von Autoren und Autorinnen übertrifft oft das gewohnte Mass, weil er immer existenziell ist. In Laufe meines Lebens bin ich vielerlei Arten begegnet, mit der Verzweiflung fertig zu werden. Da war der Grosschriftsteller im Exil, dessen Familie mich umarmte, als ich mich bewundernd zeigte, aber darauf wartete, dass sich meine Bewunderung auch auszahlte. Da war der Alkoholiker in Berlin, der immer zynischer und bösartiger wurde, je mehr er trank- und seine Konkurrenten regelrecht rhetorisch kleinhackte. Da war einer, der hatte seinen Kragen hochgeschlagen und mimte den Unnahbaren; man musste sich zuerst mit seiner Entourage anfreunden, um mit ihm bekannt zu werden. Da war der Umgängliche, der sofort alles verstand, der Mistergesundermenschenverstand, der aber gegenüber den anderen Darstellungsgiganten als der grösste gelten wollte. Und da war zuletzt noch der eidgenössische Bescheidenheitsapostel, der zum Lobgesang auf seine Bescheidenheit einlud. Irgendwo in diesem Reigen bin auch ich verortet. –Warum aber mimen wir Schreibende sosehr die Politiker, die Mächtigen und Dummen dieser Welt? Weil wir uns nicht eingestehen können, zu den Machtlosen zu gehören?   

Nachdem ich meinen Roman, nach vier Jahren Arbeit, beendet hatte, verweilte ich, wie eine vergessene Zimmerpflanze, noch immer in der kreativen Zone und formulierte weiter Phantomsätze. Eine Maschine, die weiterläuft, obwohl sie keinen Auftrag mehr hat. Mit Schrecken stellte ich fest, dass das Buch Wochen, Monate und Jahre meines Lebens verschlungen, meinen Alltag geknebelt und meine Neugier manipuliert hatte. Was zurückblieb, in Form eines Buches, war die harte Substanz gekelterten Lebens, haltbar bis auf Weiteres.

Ohne zu ahnen, wie tief ich in die Vermischungen eindringen würde, besuchte ich das Wohn- und Schreibhaus des ehemaligen Senegalesischen Präsidenten Leopold Sédar Senghor in Dakar. Ein Guide führte mich in die privaten Gemächer, die mit Möbel aus den siebziger Jahren ausgestattet waren, schwarze Holztischchen, Marmorböden, eine mit senfgelbem Stoff überzogene Polstergruppe, die mit der afrikanischen Malerei an den Wänden überraschend gut harmonierte. Keinesfalls prunkvoll oder einschüchternd, sondern nüchtern und stilvoll präsentierte sich hier die Macht und das Schlafzimmer des Präsidenten war eine überraschende Verschmelzung von afrikanischen Accessoires mit dem Bauhausstil.

Der Guide, der als Leibwächter des Präsidenten sowohl für dessen leibliche Sicherheit wie für sein seelisches Wohl zuständig gewesen sein muss, führte uns, während er die tragische Geschichte des verunglückten Präsidentensohnes erzählte, ins Schreibzimmer, ins Zentrum der Macht: vor dem hufeisenförmigen hölzernen Schreibtisch des Präsidenten, der zugleich ein Schriftsteller war, standen Bücher und lagen Stösse von Zeitschriften, und an der gegenüberliegenden ockerroten Wand, unweit einer imposanten Holzmaske und im Blick des Schreibenden, entdeckte ich die Werke von Georg Trakl und Rainer Maria Rilke, die beide auch zu meinen Lieblingsautoren zählen.

Durch das Fenster, in dem sich ein Teil der Bibliothek spiegelte, sah ich draussen die senegalesischen Orangenverkäufer barfuss die staubige Strasse auf und ab gehen und nach Käufern Ausschau halten. Am Schreibtisch, stellte ich mir vor, studierte der Präsident die Gedichte Trakls und Rilkes in der Originalsprache und liess wohl den einen oder anderen Gedanken in seine Theorie der Négritude einfliessen. Dann sah ich den Präsidenten zur Feder greifen und jene Rede verfassen, die er auf Einladung des österreichischen Bundeskanzlers Bruno Kreisky 1977 zur Eröffnung der Salzburger Festspiele halten würde: Österreich als Ausdruck der Weltkultur.

 

Rezension

Martin R. Dean wurde 1955 in Menziken, Aargau, als Sohn eines aus Trinidad stammenden Vaters und einer Schweizer Mutter geboren, studierte Germanistik, Ethnologie und Philosophie an der Universität Basel, unterrichtete an der Schule für Gestaltung in Basel und am Gymnasium in Muttenz. Dean ist vielfach ausgezeichneter Buchautor. Zu seinen jüngsten Werken gehören «Warum wir zusammen sind» (2019), «Verbeugung vor Spiegeln –  über das Eigene und das Fremde» (2015) und «Falsches Quartett» (2014). Martin R. Dean lebt mit seiner Familie in Basel.

Webseite des Autors

Beitragsbild © Daniel Nussbaumer

Boglárka Horváth «Begegnung mit Graf Dracul»

Da stehe ich.
Ich stehe da und wache.
Unter meinen nackten Füssen bebt die Welt.
Es ist meine Welt, die bebt.
Erschüttert vom Gedankenhauch an meine Erinnerungen.
Vom blossen Hauch nur.
Allein in der Fremde, stehe ich da.
Ich wache am Tag und … nein … des Nachts wache ich nicht.
Des Nachts gebiert mich die Erde zum Tanz
und es tanzt mich zum Rhythmus meines Herzschlags in meine Erinnerungen hinein. Meine Bilder trinken mich gierig.
Ich lasse mich verschlucken, nicht wissend, wo ich landen werde.
Bis jetzt ging es immer gut – ich kam nach jedem Tauchgang wieder zurück.
Ich tauche tief.
Kalt ist es, dann plötzlich warm.
Ströme, die sich abwechseln, während ich immer tiefer tauche und mich frage,
ob ich nicht Luft holen müsste.
Ich tauche in die Bilder meiner Ängste:
Damals
In Transylvanien.
Als Zeit noch keine Rolle spielte in meiner Welt.
Begegnete ich Graf Dracul.
Am helllichten Tag.
Auf einer steinig-staubigen Strasse kam er mir entgegen.
Nichts als eine Trauerweide in der Landschaft.
Der Wind spielte mit ihren Ästen.
Graf Dracul streifte mir mit seinem Blick die Kleider vom Leib.
Mir war, als ob ich durch seinen Blick hindurch mich selbst sah:
Nackt und bewegungslos stehe ich da.
Aus meinem Auge fliesst eine Träne Richtung Mund.
Ich schlucke sie und schmecke Blut.
Mein Blut. Sein Blut.
Eine ungeheuerliche Kraft durchfährt meinen Leib.
Die Trauerweide erzittert. Ich hätte sie ausreissen können.
Stattdessen breite ich meine Flügel aus und Flügelschlag um Flügelschlag
steige ich höher, immer höher.
Eines Raben gleich erhebe ich mich und ziehe meine Kreise,
während ich Schatten auf mich selbst werfe.
Ich geniesse den Flug.

Und dann plötzlich lande ich sanft.
Die Trauerweide nimmt mich schützend unter ihre Äste und spricht:
«Bald wirst du aufgestanden und losgegangen sein.
Deinen Leib gesäubert,
deine Wunden geleckt,
einen Fuss vor den anderen gesetzt
und deine Spuren hinterlassen haben.»
Ich nehme Abschied von der Trauerweide und stehe auf.
Der steinig-staubige Weg unter meinen nackten Füssen.
Der Blutstropfen Graf Draculs in meinem Herzen.
Da stehe ich.
Ich stehe da und wache.
Unter meinen nackten Füssen bebt die Welt.
Und ich frage mich, warum ich nackt bin und warum ich tief tauche und ob ich nicht Luft holen müsste. Dann diese Stimme, die sagt: «Lass dich verschlucken!»
Ein Rabe, der mit seinen Flügeln den Staub aufwirbelt.
Ich möchte fliegen.
Ich spüre eine Kraft, alsob ich Bäume ausreissen könnte, aber ich kann mich nicht bewegen. Ich kann weder fliegen noch tauchen. Ich komme keinen Schritt vorwärts und ich höre mich schreien.
Doch dann plötzlich lande ich sanft.
Wiegend die Strahlen
Wärmend die Wellen
Berührungen, die
Zärtlich erhellen
Meine Sinne.
Ich weiss wo ich bin
Ich kenn diesen Ort
Hier ist der Anfang
Das Leben, das Wort
Getragen, gewärmt und genährt
Mein Kind sich noch heute verzehrt
Nach mehr
Nach viel
Doch für den Moment
Liegt sie still
die Welt.

Boglárka Horváth stammt aus Siebenbürgen (Rumänien). Im Alter von sieben Jahren floh sie mit ihrer Familie nach Österreich. Sie absolvierte ihre Schauspielausbildung in Wien und Budapest. Sie studiert Dramatherapie und schreibt Texte für Theaterprojekte. Sie ist Mutter von zwei Kindern, lebt und arbeitet in St. Gallen. 

Webseite der Autorin

Beitragsbild © Ana Hofmann

Beatrix Katharina Langner «Die frösche am bach», Plattform Gegenzauber

Die frösche am bach

Nachts bei den glühenden scheiten am bach
Höre ich dem zwiegespräch der frösche zu
Verschlungene lautpfade durch die stille
Wovon reden sie im wechselgesang,
Verstehen sie den dialekt des feuers,
Wie es im innern des holzes rhythmisch atmet,
Antworten sie ihm, an dem ich mich wärme,
Ein lebendiges wesen, pulsierend im takt
Der elemente, kleine sonnenkraftwerke
Die durch die graue sommernacht glimmen,
Geheimnis des lebens, keim der zerstörung

 

 

Wolken

Aus dem atem der erde
Wachsen wolken
Wächter getürmt
Im lichtgrauen halbrund
Über dem kornfeld
Taumeln die ersten kohlweisslinge
Abgesandte der wolken
Geboren aus dem
Schaum des himmels.

 

 

Am Fluss

Wind spielt mit meinen haaren,
Die von den jahren gebleicht sind
Wie das vorjährige schilf
Während ich mich betrachte
Im spiegel des flusses, der mein bild
Davonträgt auf den eiligen wellen,
Rauschen am ufer die weiden
Und im gesang der nereiden
Der göttlichen schwestern
Verrinnen ungezählt die stunden
Im antlitz der zeit.

 

Beatrix Langner, 1950 geboren, ist promovierte Germanistin, Autorin und Literaturkritikerin und lebt in Berlin. Seit 1990 zahlreiche Rundfunk-Features und Kulturreportagen für DeutschlandRadio Berlin sowie Feuilletons und Kritiken für Süddeutsche Zeitung, Neue Zürcher Zeitung, Deutschlandfunk Köln u.a. Sie veröffentlichte eine Biografie über Jean Paul (C. H. Beck), für die sie 2013 den Gleim-Literaturpreiserhielt, und ist Mitglied des PEN-Zentrums Deutschland.

Rezension von «Der Vorhang» auf literaturblatt.ch

Anna Kim «Die Zähne», Plattform Gegenzauber

Gilbert träumt: Er sitzt in einem Zugabteil neben zwei Frauen. Sie stellen sich mit einer kleinen Verbeugung vor. Martha sagt, sie heißen Ida und Martha. Ida ist stumm, da sie aus ihrem Mund eine Gebirgslandschaft bläst. Sie hört nicht auf, bis alle Berggipfel vollzählig sind und die Wolken einen Himmel gebildet haben. Martha trägt eine Fellmütze auf dem Kopf. Endlich knarrt Ida: Der Arzt sagt, Sie sind ein Engel. Gilbert: Sprechen Sie mit mir? Martha wiederholt: Der Arzt sagt, Sie sind ein Engel. Sie nestelt in ihrer Handtasche, gibt ihm zwei verschlossene Briefumschläge. Er öffnet sie, beide Karten sind unbeschrieben. Ida und Martha ziehen schwarze Lederhandschuhe an. Sie nähern sich seinem Hals, drücken auf seinen Kehlkopf. Er zieht eine Bratpfanne aus der Hosentasche. Gilbert schlägt auf Idas und Marthas Köpfe. Die Pfanne gewinnt. Das Abteil verwandelt sich in einen Hotelflur. Martha ruft den Aufzug herbei. Der Aufzug stürzt ab.

An einem Sonntagmorgen, die Kopfschmerzen lagen noch im Bett, und auf den Straßen herrschte schüchterner Verkehr, schüttelte Gilbert den Traum ab, einen Wiederkehrer, und beschloss statt einer Dusche ein Sandbad zu nehmen. Er füllte die rote Plastikwanne seiner Kinder mit Vogelsand und warf sich, Rücken voran, in den Sand; die Beine und Füße wälzte er zuletzt. Anschließend schüttelte er sich so lange, bis er den Sand vollkommen losgeworden war, und lief in die Küche, wo er ein hart gekochtes Ei und eine Scheibe Toastbrot in seine Backen schob, ohne zu kauen. Im Badezimmer spuckte er die Ladung in den Wäschekorb, die Reste, die in den Zähnen und Wangen stecken geblieben waren, holte er mit den Fingern hervor und schmierte sie dazu. Er schloss den Korb und lief erneut in die Küche, wo er Kaffee aus der Kanne schleckte. Beim Hinauslaufen packte er ein paar Salamischeiben, etwas Vollkornbrot und eine Gewürzgurke in die Wangen und spie die Mischung auf die Dreckwäsche. Danach lief Gilbert in die Abstellkammer zum Schlafen, in einen dunklen Raum unter der Treppe, der wegen der Heizrohre in der Wand warm war.

Als er erwachte, waren seine Lippen zerbissen, und es war ihm kaum möglich, den Mund zu schließen. Seine Zähne waren gewachsen; Gilbert überprüfte dies mit Hilfe eines Spiegels und eines Lineals. Noch während er sie abtastete, musste er feststellen, dass sie bereits weitergewachsen waren, so beschloss er, sie an einem Tischbein abzuwetzen. Er wieselte aus der Kammer, blieb aber mit einer Wange an der Türklinke hängen. Auch die Backen hatten sich verändert, wieder griff Gilbert zum Spiegel, sie hatten sich in Hängebacken verwandelt, reichten bis zur Kinnspitze und schlabberten bei jeder Bewegung. Gilbert machte dies allerdings nichts aus, im Gegenteil: Sie gefielen ihm besser als vorher. Zufrieden ließ er sie in seinen Händen auf und ab hüpfen, als wären sie Brüste.

Es begann zu dämmern, Gilberts Magen knurrte laut und anhaltend. Auf Salami hatte er keine Lust mehr, wohl aber auf Vollkornbrot. Nach dem mühsamen Abendessen, es bestand aus Sonnenblumenkernen, die er mit seinen Zähnen und Fingern aus den Fitnessbrötchen pulte, verspürte er den Drang zu laufen. Laufen gehörte zu den Dingen, die Gilbert früher stets vermieden hatte: Nie wäre er gerannt, um einen Bus zu erwischen, und schon gar nie aus Spaß. Doch heute drängte es ihn geradezu danach zu rennen, er war besessen von dem Wunsch, die Beine zu bewegen, den Wind in den Haaren und hinter den Ohren zu spüren. Hin und wieder schlich sich der Gedanke an Sonnenblumenkerne ein, dann hielt er Ausschau nach einem weiteren Fitnessbrötchen, schließlich aber gewannen die Füße die Oberhand, und er nahm sie unter die Arme und rannte los, aus dem Haustor, die Straße hinauf zur Busstation und weiter nordwärts bis zum Ende der asphaltierten Wege; er lief auf verlassenen Schienen, die mit Gras überwuchert waren, Gras und Unkraut, rannte auf ein Wäldchen zu, über eine Wiese, und verrannte sich. Da er sich nicht entscheiden konnte, in welcher Richtung er weiterrennen sollte, rannte er auf der Stelle, nur um zu rennen. Als er ein verdächtiges Knacksen hinter sich hörte, floh er in den U-Bahn-Schacht.

Für die Zwillinge vergingen die Stunden im Hort zu langsam, die Mädchen starrten auf die große Uhr mit dem römischen Zifferblatt, hatten aber das Gefühl, die Zeiger bewegten sich nicht, tatsächlich waren sie sich nicht sicher, ob der Zeitzähler überhaupt Zeit zählen konnte. Zudem mussten sie stillsitzen, ein Buch in der Hand war alles, was ihnen gestattet war; die Beine brav übereinander geschlagen, und aus den zusammengebundenen Haaren verirrte sich keine Strähne. Die Aufpasserin war stets auf der Suche nach Briefchen, die die Mädchen einander zusteckten. Vielleicht aber, meinte der eine Zwilling, war sie nicht auf der Suche nach Briefchen, sondern dabei, ihre Nummer zu proben. Nummer, fragte der andere. Siehst du denn nicht, sagte daraufhin der eine Zwilling, dass sie eine Schlangenfrau ist?

An der Haltestelle stiegen die Zwillinge in die Tram und pressten ihre Gesichter an die Glasscheibe: Ein Luftballon versuchte dem Gartenzaun zu entkommen. Plötzlich sprang ein Mann auf die Schienen, der Schaffner zog die Notbremse, der Mann blickte sich verwirrt um und verschwand im U-Bahn-Tunnel, und die Schwestern sprangen aus dem Zug und jagten ihm hinterher.

Es roch nach Berührungen von Regen mit Welt; im Tunnel fanden sich weder Gehwege noch der rasende Wilde, nur Feuchtigkeit und die Gewissheit, dass sich Moder in den Haaren und in der Kleidung niederlässt, um für immer eingenistet zu bleiben, und doch kehrten die Zwillinge nicht um, sondern versuchten, den Mann mit den langen Wangen zu erschnuppern; es schien ihnen, als müsste er duften.

Gilbert war in einem Aufsichtsraum angekommen, in einer kleinen Kammer in einem Seitentunnel. Ein Fernseher stand auf einem Plastiktisch, die Zeitung war zusammengefaltet und hing (gerade noch) über der Lehne. Vorsichtig sah sich Gilbert um, seine Schnurrhaare auf dem Nasenrücken zuckten nicht, also schlüpfte er in den Raum, zog die Tür hinter sich zu, schlüpfte unter den Tisch und schlief ein. Vielleicht hatte es ihn danach gedrängt, aus der Wohnung zu laufen, weil er sich in den Höhlen unterhalb der Stadt sicherer fühlte. Die Dunkelheit machte ihm nicht zu schaffen, im Gegenteil, sie erleichterte das Erkennen: Die Finsternis schärfte seinen Sehsinn. Zudem konnte er endlich seinem Drang nachgehen, mit den Händen und Füßen zu graben, in der Erde zu wühlen, sich auf der Erde und in ihr zu wälzen und Dreck auf sich zu häufen, ohne gesellschaftliche Konsequenzen.

Nach dem Nickerchen begann er in den Nebenhöhlen des U-Bahnnetzes Gänge zu graben, vier Eingänge hatte er geplant, die Nestkammer sollte sich genau einen Meter unter der Erdoberfläche befinden und mit Gras ausgelegt sein, seine Fingernägel, seine Schaufeln, hatten schon begonnen, sich diesem Wunsch anzupassen, sie wuchsen sich aus zu Krallen, und die Hände zu Pfoten, etwas stärker behaart und um einiges kräftiger als zuvor. Zunehmend entfiel ihm die helle Welt, und seine Erinnerungen wurden vom Dunkel verschluckt.

Die Zwillinge hatten sich verlaufen. Seit einigen Tagen irrten sie durch das unterirdische Labyrinth und hatten es schon fast aufgegeben, an die Erdoberfläche zu gelangen, als sie an einer Abzweigung eine Abstellkammer entdeckten. Die hölzerne Tür war hinter einem Vorsprung verborgen; sie war ihnen nur aufgefallen, weil ein eigenartiger Geruch durch einen Spalt in den Tunnel strömte.

Vorsichtig spähten sie in den Raum, konnten aber im Schein des Streichholzes nicht viel erkennen. Um sicher zu gehen, dass im Inneren der Höhle niemand auf sie lauerte, blieben sie eine Weile vor der verschlossenen Tür sitzen und horchten auf verdächtige Geräusche. Erst als sie sich vergewissert hatten, dass ihr Leben nicht in Gefahr war, schlüpften sie in die Futterkammer. Eine große Auswahl an Lebensmitteln gab es nicht, sie ertasteten hauptsächlich Erdnüsse, Haselnüsse, Walnüsse, Sonnenblumenkerne und etwas weiches, fauliges Obst, außerdem tote Fliegen, Würmer und Käfer.

Die Mädchen stürzten sich auf das Essen. Im Schein des vorletzten Streichholzes beschlossen sie, an diesem Ort zu bleiben und auf den Besitzer der Fressalien zu warten; auch wenn er böse auf sie wäre, weil sie seinen Vorrat dezimiert hatten, wollten sie ihn um Hilfe bitten, er musste den Weg ins Freie kennen, vielleicht würde er sie sogar bis zur Erdoberfläche begleiten. Doch bereits nach wenigen Stunden bereuten sie ihre Entscheidung: Nichts deutete darauf hin, dass der Sammler zurückkehren würde, wahrscheinlicher war, dass er diesen Ort aufgegeben hatte, daher das verfaulte Obst und die vielen toten Insekten. Diese Kammer war nicht für die Lebenden gedacht, schoss es ihnen durch den Kopf.

Gerade, als sie sich wieder in die Finsternis wagen wollten, kam ein Schatten durch die Tür gehumpelt, stieß bei ihrem Anblick ein aufgeregtes Pfeifen aus und begann bedrohlich zu knurren.

Sein rechter Unterschenkel stand waagrecht in die Luft, Gilbert war auf seinen Beutezügen von einem Balkon gefallen. Er hatte zwar als Vierbeiner eine beachtliche Geschicklichkeit erworben, war aber gerade deswegen leichtsinnig geworden und hatte sich seine Ziele immer höher und höher gesteckt. Während er von Balkon zu Balkon gesprungen war, mehr ein Affe als ein Nager, war er abgerutscht und dabei mit einem Fuß im Geländer hängen geblieben. Also hatte er die Futtersuche abgebrochen und war in seinen Bau zurückgehinkt. Auf dem Weg in den U-Bahn-Schacht hatte er sich ständig umgesehen, er war das beklemmende Gefühl nicht losgeworden, dass sich ihm ein Raubtier näherte. Nun hatte er zwei Mädchen vor sich, denen die Finsternis sämtliche Farben von Gesicht und Kleidung gestohlen hatte: zwei Geister.

Gilbert machte es sich (so gut es ging) in seinem Nest bequem, krempelte das rechte Hosenbein hoch und untersuchte die Verletzung, die sich, von Schwärze angesteckt, ebenfalls schwarz verfärbt hatte. Das Geisterduo fragte, ob es in der Nähe ein Krankenhaus gebe, aber Gilbert hörte nicht zu, er hatte sich schon über das Bein gebeugt und begonnen, es abzubeißen.

Als er die Operation beendet hatte, reinigte er seine Zähne mit der Zunge und den Fingern. Die Schwestern, die ihm noch immer stumm gegenübersaßen, ignorierte er, akzeptierte aber die Haselnuss, die ihm Nummer Eins anbot. Nummer Zwei trug den abgetrennten Unterschenkel in den Nachbargang und stopfte ihn in einen Spalt, dann säuberte sie Gilberts Nest und streute trockenes Stroh auf die blutdurchtränkte Stelle.

Wie zahm er ist, dachten die Zwillinge, als sie ihm, wie jeden Tag, den Bauch kraulten und ihm Sonnenblumenkerne und Erdnüsse zusteckten. Ließen sie die Nuss auf der Hand, setzte er sich sogar auf ihre Hände, wobei diese vollkommen unter seinem Gesäß verschwanden. Da er sich weigerte mit ihnen zu sprechen – außer einem lauten Pfeifen kam nichts aus seinem Mund –, nannten sie ihn Hallo. Dies war das einzige Wort, auf das er reagierte. Auf die Idee, sich selbst mit Namen vorzustellen, kamen sie nicht. Es reichte ihnen, dass er wusste, wann er angesprochen war.

Sie begleiteten ihn überall hin, auch bei der Futtersuche, da er ständig das Gleichgewicht verlor und sich wunderte, wenn er umfiel. Manchmal versuchte er gar, sich mit dem Phantomfuß am Oberschenkel zu kratzen. Sein wohliger Gesichtsausdruck stand dabei ganz im Gegensatz zum Gelenk, das orientierungslos durch die Luft ruderte. Gilbert schien die Amputation vergessen zu haben, ebenso seinen Unfall; das Einzige, an das er sich erinnerte, waren gute Futterplätze und -verstecke sowie die Mädchen, die ihn mit Nüssen und Streicheleinheiten gezähmt hatten.

Aber auch die Zwillinge vergaßen; sie vergaßen, dass sie vor wenigen Tagen noch verzweifelt versucht hatten, einen Ausgang aus dem Labyrinth zu finden. Nun, da sie ihre genaue Position kannten, genossen sie Gilberts Gesellschaft und dachten gar nicht mehr daran, in ihr Zuhause zurückzukehren. An manchen Abenden wagten sie sich ohne seine Hilfe in die Oberwelt und brachten ihm einen Eimer voll Sand mit, den sie in seine Sandkiste schütteten, damit er ein Sandbad nehmen konnte. Ihr altes Leben vermissten sie nicht; an seinem Haar lasen sie den Wechsel der Jahreszeiten ab, im Oktober verlor es seine Farbe und wurde winterweiß, im Februar dunkelte es nach und wurde wieder hellbraun.

Gilbert wurde ihr Haustier und Anführer, was immer er befahl, sie folgten ihm. Er lehrte sie das Leben im Untergrund, und die Zwillinge revanchierten sich, indem sie ihm seine dreibeinige Existenz so angenehm wie möglich machten – zu angenehm, wie sich herausstellte: Er vergaß vollkommen, seine Zähne zu wetzen. So wuchsen seine unteren Nagezähne aus der Mundhöhle heraus und spiralförmig in seinen Oberkiefer, die oberen Zähne aber krümmten sich um sich selbst und durchstießen sein Kinn.

Kurz bevor Gilbert erstickte, streichelten ihn die ergrauten Zwillinge und stellten sich endlich vor. Du sollst unsere Namen erfahren, sagten sie, wir heißen Ida und Martha.

(Eine längere Fassung erschien 2017 im Erzählband „Fingerpflanzen“, Topalian & Milani)

Anna Kim wurde 1977 in Südkorea geboren, zog 1979 mit ihrer Familie nach Deutschland und schliesslich weiter nach Wien, wo die Autorin heute lebt. Im Suhrkamp Verlag erschienen zuletzt die Romane «Anatomie einer Nacht» (2012) und «Die grosse Heimkehr» (2017). Für ihr erzählerisches und essayistisches Werk erhielt sie zahlreiche Stipendien und Preise, darunter den Literaturpreis der Europäischen Union.

Illustration © leafrei.com

Frank Keil-Behrens „Ich weiß nichts über meine Familie, suche sie aber trotzdem“ – ein erster Auszug, Plattform Gegenzauber

„Tut mir leid“, sagt meine Großmutter, „Sie haben sich verwählt.“ „Wen wollen Sie denn sprechen?“, fragt sie beim nächsten Mal. Ich höre sie atmen, dann klickt es in der Leitung. 
„Frank?“, fragt sie, bevor ich etwas sagen kann. Sie fragt: „Du hast noch das Auto?“

Wir vereinbaren den Tag, die Uhrzeit, mehr besprechen wir nicht, so ist es immer, sie ist wie sie ist. Sie steht unten auf dem Parkplatz vor ihrem Wohnblock, sie steht da in ihrem blauen Mantel, mit ihrem Gehstock, auf den sie sich mit beiden Händen stützt. Ich halte an, ich steige aus, ich helfe ihr beim Einsteigen und Anschnallen, ich rieche ihr Parfüm, leicht seifig riecht es, wir lächeln uns an, ich steige wieder ein, starte den Wagen, einen roten VW-Käfer, den ich bald verschrotten lassen muss, wir fahren los. 
Es geht in den Sonnenland, am Einkaufszentrum vorbei, ich biege rechts in die Kapellenstraße ein, ich folge der Straße zum Friedhof vorbei, auf dem meine jüngere Schwester beerdigt liegt. „Petra“ steht auf ihrem Grabstein, es fehlt ihr Nachname, es fehlt der Tag, an dem sie geboren wurde, es fehlt der Tag, an dem sie starb, ein erster September, der nachmittags noch herbstmild wurde, nachdem es am Vormittag geregnet hatte, so wie um uns doch noch ein wenig zu trösten, nachdem der Bestatter seinen in Kunstleder eingeschlagenen Katalog mit den verschiedenen Sargmodellen, Blumenbestecken und Totenhemden zugeklappt hatte und gegangen war. Meine Großmutter hält ihre Handtasche auf dem Schoß, und sie hält sie fest, sie schaut geradeaus.

„Fahr‘ erst mal“, sagt meine Großmutter, sie blickt durch die Windschutzscheibe, als sei alles neu für sie, was sie um sich herum sieht, die Bäume am Straßenrand, die Steinbeker Kirche, die hinter den Häusern hervorlugt und die auf einem Geesthang erbaut wurde, wie ich mal im Gemeindebrief gelesen habe, während ich die Gänge schalte und ich mich langsam entspanne. Vielleicht schaffe ich es nachher noch ins Büro.
Mal geht es in die Vier- und Marschlande, wo sie Balkonpflanzen kaufen will, falls wir an einer Gärtnerei vorbeikommen. Mal führt es ins Lauenburgische, wo es bald waldig wird und es nach nassen Nüssen und Moos riecht. Diesmal aber geht es zur Tatenberger Schleuse. Wir schauen auf die Bauernhäuser mit den Gewächshäusern, wir schauen auf das Schleusenbecken, wo gerade Wasser eingelassen wird, dass strudelnd vorwärts drängt. Ein Segelboot mit eingeklapptem Mast wartet auf die Weiterfahrt. Ein Mann steht auf dem Vorderdeck und hält die Leine konstant stramm, mit der das Boot an einem eisernen Ring festgebunden ist. Wir kehren um, wir halten an den Gasthof, an dem wir zuvor vorbeigefahren sind, beide werden wir Gulasch bestellen, dass auf der Schiefertafel vor dem Eingang angezeigt ist, dazu Kartoffelsuppe als Tagessuppe vorweg. „Viel los ist ja hier nicht“, flüstert meine Großmutter und nickt in den leeren Gastraum, in dem bestimmt 50 Personen Platz finden könnten, am Wochenende, wenn die Motorradfahrer einfallen. Aus der Küche kommt leise Musik, manchmal hören wir Stimmen. Der Wirt scheint ein Lied zu summen, doch als er schwungvoll den Gastraum betritt, verstummt er und stellt uns wortlos die Teller hin, erst meiner Großmutter, dann mir, wie es sich gehört. „Lass es dir schmecken“, sagt meine Großmutter, die ihren Hut nicht abgesetzt hat. Sie sieht mich aufmunternd aus ihren mittlerweile wassertrüben Augen an. Sie legt sich die Serviette in den Schoß, faltet sie nicht auseinander.

Sollen wir noch ein paar Schritte gehen? Wir gehen noch ein paar Schritte. Gehen kurz über den Gaststättenparkplatz bis zur Hauptstraße, langsam gehen wir, Schritt für Schritt, meine Großmutter ist jetzt 81 Jahre alt, 1910 geboren, sie erwähnt es manchmal. Sie hakt sich bei mir unter. „Das war ein schöner Ausflug“, sagt sie und ich weiß, dass wir nun umkehren werden. Und wir steigen wieder ein, und ich fahre auf die Stadt zu, die sich langsam vor uns aufbaut, in weiter Ferne die Hauptkirchen, der Fernsehturm, dann die Lagerhallen im Billwerder Industriegebiet, die näherkommen, als wir ostwärts abbiegen, als wir den Unteren Landweg entlang fahren, verschiedene Kanäle überqueren, die Grüne Brücke nehmen, Richtung Billstedt fahren wir, es ist dichter Verkehr, der Nachmittag bricht an, nicht jede Ampel ist nach einem Stopp zu nehmen. „Viel Verkehr“, sagt meine Großmutter zu dem vielen Verkehr und ich versuche mich zu erinnern, ob ich eigentlich gerne bei ihr war, an manchen Wochenende, wenn in der Tischlerei am Deich, in dessen Werkswohnung sie mit ihrem Mann wohnte, niemand arbeitete und auch sonst.

Frank Keil-Behrens, 1958 in Hamburg geboren und aufgewachsen, hat an der dortigen Universität studiert, hat die Stadt nie wirklich verlassen. Er arbeitet als freier Kulturjournalist für verschiedene Print-Medien und Magazine. Er ist Mitbetreiber der Plattform maennerwege.de und stellt dort regelmäßig das „Männerbuch der Woche“ vor; außerdem ist er Deutschland-Redaktor für das Magazin ERNST. Für sein Roman-Projekt „Ich weiß nichts über meine Familie, suche sie aber trotzdem“ bekam er einen der Hamburger Literaturpreise 2022.

Webseite des Autors

Beitragbild © Petra Behrens

René Frauchiger «Gespräche und Geschichten», Plattform Gegenzauber

Die Gabel

Er schneidet sein cordon bleu, sie stellt das Weinglas wieder auf den Tisch. «Weisst du, Mari, ich weiss eigentlich gar nicht mehr, wie du aussiehst», sagt er. «Ich sehe dich da und sehe dich auch nicht. Wenn ich auf deine Wangen sehe, denke ich immer nur, ich sehe wieder die gebleichten Küchenwände unserer ersten Wohnung im Schangnau, als ich Möbel ausgeliefert habe für den Steffen. Am Abend sind wir am Küchentisch gesessen und unter der Lampe hat alles dieselbe Farbe gehabt. Deine Wangen hatten den matten Schimmer, wie die Wand hinter dir. Und diesen Schimmer sehe ich jetzt noch auf deinen Wangen, da kann man nichts machen. Und deine Augen, das sind die Augen vom Sean. Das sind Kinderaugen für mich. Sie sagen mir immer, wie er hat Landschaftsmahler werden wollen und du stolz auf ihn gewesen bist und ich nur gemeint habe, dass man damit kein Geld verdiene, auch wenn er Talent habe, was ich nicht beurteilen könne. Dabei haben mich die Augen vom Sean zuerst an deine Augen erinnert und nun ist es umgekehrt. Und bei deiner Stirn ist der Huttwiler Wald, wo wir uns immer gestritten haben, das Moos an den Bäumen, wo du deine Stirn daraufgelegt hast und immer, wenn ich gedacht habe, dass du weinst und ich dir einen Arm um die Schultern gelegt habe, hast du zu wüten angefangen und mich beschimpft und auf deiner Stirn ist noch etwas Moos gewesen, was du nicht weggemacht hast. Und bei deinen Haaren sehe ich wieder die Scheiben meines Alten VWs, die innen sich beschlagen haben im Winter, als wir das erste Mal miteinander geschlafen haben, weil deine Eltern mich dich nicht besuchen lassen wollten und wir uns draussen getroffen haben, auch im Winter und deine Haare sind über die Scheibe geglitten und feucht geworden und du hast dich geekelt vor dem feuchten Haar, dass ich dich nicht mehr habe berühren dürfen an dem Abend. Aber wenn ich deine Lippen ansehe, dann sehe ich auch meine Wohnung in Aarwangen, wo du nie gewesen bist, den Velourteppich der Wohnung, ich weiss nicht weshalb. Damals als wir uns getrennt haben für zwei Jahre und du mit diesem Basler zusammen warst. Da bin ich oft auf diesem Velourteppich geschlafen, weil mir das Bett zu leer gewesen ist und mein Gesicht ist am Morgen wund gewesen von diesem Teppich. Das kommt mir in den Sinn, wenn ich deine Lippen ansehen. So ist das: Bei den Wangen die Küchenwände in Schangnau und bei den Augen die Augen von Sean und bei der Stirn das Moos im Huttwiler Wald und bei den Haaren die feuchten Scheiben vom VW und bei den Lippen der Velourteppich. Eigentlich ist es nur dein Hals, an dem ich nichts sehe, als deinen Hals, den ich immer gern geküsst habe und der mir schon aufgefallen ist, als du mich nicht beachtet hast und ich neben dir gesessen bin und mich nicht getraut habe dich anzusprechen.»

Im Oltner Restaurant lächelt sie, streicht kurz über seinen Handrücken und nimmt wieder ihr Besteck auf. Sie bemerkt wie er erneut auf ihre Wangen sieht, auf ihre Stirn, ihre Augen, ihre Haare, auf ihren Hals, und sie schiebt ein Stück des cordon bleus an den Tellerrand, sticht mit der Gabel hinein. Sie mag kein cordon bleu und bestellt es immer nur, weil er es mag und sie ihm sagen kann, dass sie satt sei und ob er nicht den Rest noch möge. Sie nimmt mit dem Messer den heruntergelaufenen Käse auf und streicht ihn auf das Stück Fleisch an der Gabel.

 

Wunderschön

Matthias Hauser ist blind, doch seit seiner Kindheit fotografiert er jedes Ereignis, welches ihm wichtig scheint, lässt die Fotos entwickeln und klebt sie in ein Album. Bilder des ersten Schultags, der ersten Liebe, der Reise nach Marokko. Auch wenn er nicht sehen kann, meint Matthias Hauser, so sehe doch die Kamera für ihn und nichts ginge verloren. Trotzdem hat er seine Bilder noch keinem Menschen gezeigt, aus Angst, es könnte nicht das darauf sein, was er sich vorstellt. Als Matthias Lisa kennenlernt, sie sich verlieben und bald heiraten wollen, holt er an einem Abend ein erstes Mal sein Album hervor. Lange und schweigend blättert Lisa durch die Bilder, bis sie zu ihm sagt, sie seien wunderschön.

 

Kurz vor Olten

«Hey Peter, ja, ich bin’s … stör ich dich? Nein, ich bin im ZUG. … Gut … nein, kein Stress.»
Einige lesen, einige sehen in ihre Laptops. Ein dicker Mann schläft mit offenem Mund.
«Hab vorhin auf dem Perron gewartet, und mir überlegt: wie lange ist es her, seit ich eigentlich mit jemandem geredet hab. Wirklich, also so richtig geredet … man spricht viel, wenn der Tag lang ist, aber nicht richtig … Was ich sagen wollte, Peter … In der letzten Zeit kommt es mir vor, als wär ich … wär ich allein. Ich weiss, das klingt komisch, wenn jemand wie ich das sagt. Ich habe ja nie Mühe auf Menschen zuzugehen, da kenn ich nichts, und bei meinem Beruf, da lernt man immer neue Leute kennen und in Langenthal kennt mich die halbe Stadt und … und die Vereine und die Projekte. Aber weisst du, Peter, ich … Ich fand das komisch, als ich mir das überlegt hab und ich hab mir gedacht: das müsse etwas Anderes sein, allein … das kannst du bei jemandem wie mir nicht sagen, nein, so etwas wie das Burn-out vom Lüthi, das … Aber es kommt mir vor, als versteht mich niemand. Als wüsste gar niemand, wer ich bin. Dann dachte ich, es seien die Frauen. Und wenn jemand bis vierzig keine gefunden hat, dann findet er keine. Dass es dieses Alleine-Sein ist. Die Bettkälte. Und ich gebe zu, dass es nicht leicht war, aber heute, wenn man sich an das Leben so gewöhnt hat, da will man auch nicht noch eine Frau. Ehrlich, da … Da gibt es die, die sind glücklich mit einer Frau und die, die sind unglücklich mit einer Frau. Und da gibt es die, die sind glücklich ohne Frau und die anderen sind unglücklich ohne Frau. Da gibt es immer beides. Aber wenn ich mich etwas frage, dann warum ich eigentlich keine Frau hab; wenn ich doch so gut mit den Leuten kann. Und es ist mir auch nie schwergefallen, eine Frau anzusprechen und ich hab mit so mancher etwas gehabt, ich hab sie gar nicht mehr gezählt. Das sage ich nicht zum Prahlen, Peter, du weisst das. Aber ich will dich gar nicht so lange aufhalten, und dich vollquatschen, Peter, nein, um was es … Aber es ist genau das. Das hab ich mich gefragt. Warum ist da trotzdem nie etwas Richtiges daraus geworden. Und ich denk mir auch, dass ich vielleicht schon eine spannende Person bin und viel erlebt habe und viel mache, aber wenn man mich kennt und wirklich kennt, dann ist es halt vorbei. Ich weiss nicht, ob ich jemand bin, mit dem man länger etwas zu tun haben will. Ich bin ein komischer Mensch, und rede viel und mache viel, und das macht mich auch interessant und deshalb kann ich auch gut mit Menschen. Aber das ist dann auch alles. Aber ja, Peter, ich muss aussteigen. War schön mit dir zu sprechen, hab das mal gebraucht. Sorry, jetzt, dass ich dich so vollgequatscht hab. Ist wahrscheinlich einfach eine Laune und morgen ist es wieder vorbei. Ja, man sieht sich. Du, am Donnerstag, dann ist ja die Opel-Messe in Burgdorf. So, ich muss. Tschüss, Peter, tschüss.»
Er steht auf. Ohne aufzulegen, schiebt er das Mobil-Telefon wieder in die Tasche. An der Türe wartet er mit drei Männern und einer Frau. Er hat Peter nicht angerufen.
Der Zug hält, er steigt aus. Als er sich umdreht, sieht er hinter den Fenstern die Passagiere des Regionalzuges nach Olten. Einige lesen, einige sehen in ihre Laptops. Es war ein langer Tag.

 

Intensivkurs Französisch

Nachdem die Lehrerin nach der letzten Stunde des Französischkurses sie zu einem Kaffee eingeladen hat, kommen die Schülerinnen und Schüler gemeinsam aus dem Restaurant. Michael Ledermann geht neben einer grossgewachsenen Frau, ohne etwas zu sagen. Er kennt ihren Namen nicht, nur den Nachnamen hat er während den Stunden erfahren. Sie heisst Madame Schleiermacher. Vorhin im Restaurant sprachen sie in einer kleinen Gruppe über Paris. Nun hat sich die Gruppe aufgelöst, einige gehen zu zweit, einige allein. Er neben ihr. Er mag Madame Schleiermacher, wenn auch nur wegen ihrer Art Kugelschreibern nervös auf dem Pult zu drehen. Gerne würde er das Gespräch fortführen, doch es fällt ihm nichts ein. Schade sei es, sei der Kurs bereits vorbei, könnte er sagen. Er hätte viel gelernt. Nett sei es von der Lehrerin, hätte sie sie alle zum Kaffee eingeladen, auch das könnte er sagen. Er sagt nichts. Es wäre zu offensichtlich, dass er nur ein Gespräch anfangen möchte. Er hört vorne die Lehrerin etwas erzählen, das er nur schwer versteht. Es geht um Tulpen. Thomas Ledermann sieht zurück. Er sieht das Restaurant. Die Fenstergläser glänzen in der Sonne. Eines der Fenster ist geöffnet. Sie wohnt in Zürich, hat sie erzählt. Er könnte sie fragen, ob sie von Zürich hierher pendle. Das könnte er. Doch ist zu viel Zeit vergangen. Wenn er sie jetzt etwas fragen würde, würde sie denken, er hätte sich die ganze Zeit überlegt, was er mit ihr sprechen könnte. Es wäre seltsam. 

 

Die Leber

Bereits als sie den ersten Bissen der Kalbsleber in den Mund schiebt, merkt sie, dass es ihr nicht schmeckt. Das Fleisch ist schwammig und beinahe sauer. Muriel Amstutz denkt an das Kalb, das man wegen dieser Leber geschlachtet hat, nicht nur geschlachtet, man hat es gehalten, aufgezogen, es hat wegen diesem Stück Fleisch gelebt, und nun schmeckt es ihr nicht, es ekelt sie sogar ab dieser sauren Art von Fleisch. Muriel Amstutz wird still. Es war der jungen Kuh so gegangen, wie ihr selbst. Alle die Erwartungen, die die Menschen an sie hatten – und es waren im Grunde wenige – konnte sie nicht erfüllen. Die Buchhändlerlehre hat sie abgebrochen, letzten Sommer ist ihre langjährige Beziehung auseinandergegangen. Am Ende ihrer Tage würde es wenig geben, was sie richtig gemacht hätte. Je mehr sie darüber nachdenkt, desto mehr versteht sie dieses Kalb. Und obwohl es ihr noch immer nicht schmeckt, ist sie froh, es bestellt zu haben.

 

Goethe (eine Novelle)

Nachdem der Basler Pharmakonzern Novartis Patrick Huber gekündigt hat, haust dieser jahrelang ausgesteuert erst in Muttenz dann in Pratteln und züchtet in der Küche aus dem Genmaterial eines Fingerknöchels den Klon des längst verstorbenen Weltliteraten Johann Wolfgang von Goethe heran. Huber übergibt den Goethe-Klon, den er im umgebauten Backofen bis zum Säuglingsstadium reifen liess, seiner Freundin Flavia Gut, damit sie das Geschöpf wie ihr eigenes Kind aufziehe.
Der Klon erhält den Namen Johann Wolfgang Gut.
Johann überspringt mehrere Klassen, beginnt mit fünfzehn Philosophie, Botanik, Mathematik, englische und deutsche Literatur, Chemie und Physik zu studieren. Seinen ersten Doktortitel erhält er noch vor seinem zwanzigsten Geburtstag. Johann Wolfgang legt sich nicht auf ein Gebiet fest, seine Studien treiben ihn in alle Richtungen. In einem Zeitungsbericht wird er als letzter Universalgelehrter betitelt, bald fällt das Adjektiv: „olympisch.“
Ein brillanter Mensch jedoch auch ein umgänglicher Gesellschafter, ein ästhetischer Wanderer, ein engagierter Politiker und Redner, so sieht man ihn. Johann Wolfgang Gut ist der Mensch der Menschen.
An einem zweiten Dezember, Johann Wolfgang Gut ist vierundzwanzig Jahre alt, schlägt er die Einleitung zu Goethes Farbenlehre auf, die ein Freund ihm anempfohlen hat, obwohl er selbst sie für überholt hält. Er beginnt zu lesen. Johann Wolfgang erkennt in Goethe einen Seelenverwandten. Am nächsten Montag lässt er sich drei Biographien zukommen, eine Woche später kauft er Goethes Werke in hundertdreiundvierzig Bänden. Johann verlässt das Haus nicht mehr, wandert, politisiert, schreibt nicht mehr, Johann hält keine Reden, beantwortet keine Mails, keine Anrufe nimmt er entgegen. Johann Wolfgang Gut liest Goethe. 
Jahre vergehen, zusehends verarmt Johann; er zieht nach Pratteln in die Wohnung seines Paten und geheimen Schöpfers Patrick Huber, der mittlerweile eine Professur für Genetik erhalten hat. Johann Wolfgang schläft in der Küche, die überstellt ist von Goethe-Bänden und Kommentaren. Im Alter von zweiunddreissig Jahren stirbt der Goethe-Klon Johann Wolfgang Gut an einem Magengeschwür.
Während er am Küchenboden liegt, schmiegt sich eine Katze an seinen Kopf. „Gewiss weiss ich, Bützi“, sagt er keuchend zum Tier, „ich hätte mehr tun müssen als lesen. Aber jetzt … was mich jetzt plagt, ist nicht, das Neue, das ich nicht gesucht habe, die Taten, die ich nicht vollbracht habe, sondern die Seiten dort auf dem Pult, bei denen ich noch nicht weiss, was darin steht.“ Die Katze leckt ihre Tatzen.

René Frauchiger «Ameisen fällt das Sprechen schwer», Knapp, 2022, 113 Seiten, CHF 27.00, ISBN 978-3-906311-99-9

René Frauchiger, geboren 1981 in Madiswil, ist Autor von Kolumnen und Kurzgeschichten, sowie Gründer und Mitherausgeber vom Literaturmagazin «Das Narr» (seit 2011). Heute leitet René Frauchiger den Bereich Werkstätten des Aargauer Literaturhauses und lebt in Basel. Im September 2019 erschien sein erster Roman: «Riesen sind nur grosse Menschen» im homunculus-Verlag, 2022 folgte «Ameisen fällt das Sprechen schwer» bei Knapp. 

Webseite des Autors

Zsuzsanna Gahse «Wie sonst?», Plattform Gegenzauber

Und ihre Eltern haben Sie dann aus den Augen verloren? Beide gleichzeitig?

Sie sagen nichts?

Bin ich Ihnen zu nahegetreten? Ich wollte Sie nicht beleidigen, ich wollte Sie ja verteidigen. Kennen Sie diesen Satz, diesen gesungenen Satz aus der Fledermaus? Könnte ich Ihnen vorsingen, vorsingen lassen. Aha, gefällt Ihnen nicht. Ich wollt Sie nicht beleidigen.

Entschuldigen Sie.

Mögen Sie Lieder und welche am liebsten?

Mit einem Mal sehen Sie merkwürdig aus. Wie eine hölzerne Gestalt. Im Augenblick sehen Sie aus wie eine Statue! Come una statua. Über die starre Statue könnte man auch singen.

Nun habe ich es verstanden. Sie finden es lächerlich, Sie mit Sie anzusprechen. Kommt nicht wieder vor.

Bist du ein Anhänger von Elvis? Du magst ihn also nicht.

Eher den Armstrong, die schöne tiefe, kratzige Stimme?

Derzeit gibt es Songs im Schweizer Dialekt, die sich südamerikanisch ausnehmen. Wäre das etwas?

Anfangs hast du Lisa erwähnt, die Braunblonde. Warum habt ihr euch getrennt?

Hast du wirklich Angst vor Frauen? Vor allen Frauen, oder hast du dir das eingeredet?

Gibt es das, gibt es alle Frauen als ein einziges großes Gebilde? Das frage ich mich auch. Ich glaube, dass es das nicht gibt. Alle Frauen zusammen gibt es nicht. Sie sind absolut unterschiedlich, divers, tausenderlei. Daher ist in den alten Dichtungen immer von einmaligen Frauen die Rede. Die Ersehnten sind einmalig. Im Hochgesang sind alle Ersehnten einmalige Frauen.

Nun aber, aber versammeln sich die einmaligen Frauen. Ausgerechnet sie. Fischschwärme von Einzelwesen. Sie schwirren aus.

Denkst du jetzt an das Forellenquintett? Eher nicht. Ich glaube nicht, dass du gerade an Schubert denkst.

Magst du eine Zigarette?

Gerade will mir kein Zigarettenlied einfallen. Dafür die sengende Sonne.

Oh, Insel in der glühenden Sonne, der Morgen bricht an. Die erschöpften schwitzenden Schwarzen hören nachts die Trommel und den philosophischen Calypso (jemand sagte, der Calypso sei philosophisch), bald bricht der Morgen an, während ich (in diesem Fall ist Ich ein schwarzer Sänger) schwere Lasten tragen und heben muss, zum Himmel empor heben, aber wo ich auch sein mag, auf welchen Meeren ich auch segeln mag, werde ich immer Deine Ufer preisen.

Sobald mir die Sonneninsel einfällt, folgt das Lied vom mutterlosen Kind. Manchmal, manchmal fühle ich mich wie ein mutterloses Kind, weit weg von zu Hause, weit, weit weg von zu Hause, manchmal fühle ich mich wie ein mutterloses Kind. A motherless child. Meist fällt mir gleich darauf oder kurz vorher Moses ein, der den Pharao auffordert, seine Leute mit ihm ziehen zu lassen. Let my people go.

Außerdem gibt es ein altes Lied mit einer ähnlichen Grundlaune, das ich allerdings nur in der von Kodály bearbeiteten Version kenne. Spät war ich aufgebrochen, war unterwegs, weit weg von zu Hause, ging immer weiter, aber auf halbem Weg blieb ich stehen, schaute zurück und hatte die Augen voller Tränen. Seither gibt es mittags Kummer, Kummer ist mein Abendbrot, unglücklich sind alle Stunden, und ich weine nicht selten unter dem Himmel voller Sterne.

Es gibt eine mehr oder minder bekannte Herbst-Melodie, vom Text her eher unbekannt, wobei in geglückten Fällen die Texte zusammen mit der Musik loslegen, sie sind miteinander unterwegs. In diesem Herbstlied sagt ein Ich ihrem Gegenüber, dass sie ihn nicht liebe, sie sagt ihm das mitten ins Gesicht (im Original sagt sie ihm das in die Augen). Später stellt sich heraus, und nach wie vor erzählt das der Text, dass sie das nur gesagt habe, um seine Antwort zu hören. Erst stand er wortlos vor ihr, dann ging er stumm, und seither sieht die Erzählerin seinen Blick, immerzu die dunklen Augen. Er sagte kein Wort und ging stumm. Vergilbte Herbstblätter fallen von den Bäumen, ihn hatte der Herbst fortgefegt. Automn Leaves.

Tränen, die sind das Ende, Tränen und leere Hände. Blieben allein zurück, Tränen vom großen Glück.

Das war Ende der 50er Jahre neben Shantys ein Lied, das heute nicht einmal auf YouTube auftaucht. Ein Billiglied, allerdings mit guten Beschleunigungen, mit wechselnden Tempi. Einfach zu singen, am besten mit Gitarrenbegleitung.

Abgedroschen, ausgeleiert, abgenutzt, abgesungen und trotzdem absolut ansprechend ist der lachende Bajazzo. Verzweifelte Arie eines Verlorenen. Ist er verloren?

Singen Sie oft?

Entschuldigung. Singst du oft?

Nie, wirklich nie? Liedallergie?

Wirst Du oft nach deiner Herkunft gefragt? Oder nach den Liedvorlieben.

Liedvorlieben ist ein gutes Wort.

Endlos nach der Herkunft zu fragen ist abscheulich.

Am besten nicht antworten, nur singen. Please hear my cry (Sam Cook).

 

(erschienen online in “Für den Fall», Salzburger Literaturhaus und in OSTRAGEHEGE, der Zeitschrift für Literatur und Kunst)

«Kaum zu fassen, wie unterschiedlich Berge betrachtet werden. Investitionsmöglichkeiten, Urlaubsregionen, Jagdgebiete, Regionen für Klettertouren zum Himmel hinauf …», notiert die Ich-Erzählerin von Bergisch in eine ihrer Mappen. Unterwegs in nicht nur freundlichen Alpengegenden sammelt sie in unterschiedlichen Hotels und Berghütten Porträts von Besuchern und den heimischen Gastgebern. Öfters ist sie auch mit Freunden unterwegs, die ihr Interesse für Speisen, Sprachen und deren topografische Zusammenhänge teilen. Sie sammeln Farben, suchen sogar nach Farblosigkeiten, und zu sechst entwickeln sie die Idee eines begehbaren Tagebuchs, um ihre Beobachtungen aufschlussreich archivieren und präsentieren zu können.
Nach und nach tauchen weitere Gebirge auf, unter anderem das Uralgebirge oder etwa die Guayana-Region, und auch die Berge aus Literatur und Kunst sind mit von der Partie.
In über 500 Aufzeichnungen entfaltet Zsuzsanna Gahse ein feinmaschiges Zusammenspiel zwischen den sechs Personen und zugleich entsteht ein lebendiges Panorama der Bergwelten, eine vielschichtige Typologie des «Bergischen».

Zsuzsanna Gahse, geb. 1946 in Budapest, aufgewachsen in Wien und Kassel, lebte längere Zeit als Schriftstellerin in Stuttgart und Luzern, zurzeit wohnt sie in Müllheim, Schweiz. Zahlreiche Preise und Auszeichnungen, u. a. aspekte-Literaturpreis (1983), Adelbert-von-Chamisso-Preis (2006), Italo-Svevo-­Preis (2017), Werner-Bergengruen-Preis (2017), Schweizer Grand Prix Literatur (2019).

Webseite der Autorin

Beitragsbild © privat

Peter K. Wehrli

 «Der Schoop’sche Katalog», Plattform Gegenzauber

Peter K. Wehrli über Fotografien von Jürg Schoop

 

1.                    das Thema

das Thema ‘Schichten’, das in Jürgs Bildern abgehandelt wird, vom abblätternden Rost an den Eisenbahngüterwagen über die Plakatwandfetzen bis zu den Farbschichten, die sich von einer Geländerstange schälen, dieses Bildthema das nun über die Bilder hinaus zum Thema wird, wo ich feststellen muss, dass die Fotografie jeweils die letzte Schicht ist, in diesem jahrzehntelangen Häutungsprozess: Schicht ist sie.

2.                    die Fotografien

die frühe Collage von 1962, die seit mehr als drei Jahrzehnten an meiner Zimmerwand hängt und die mir deshalb wichtig ist, weil sie mich gelehrt hat, mit meinem Blick in Gros-Plans zu teilen oder in der Totalen zusammenzufassen, was ich nur dort tun will, wo Jürg die Fetzen aus vier übereinandergeschichteten Fotografien so herausgerissen hat, dass drei menschliche Köpfe unverhofft nach Aufmerksamkeit gieren, ganz als ob sie es müde wären Teil des Ganzen zu sein.

3.                    die Papierblätter

die Veränderungen, die der Wind auf den weissen Papierblättern von Jürgs „objets trouvés“, 1978, herbeiführt, die Blätter, Fetzen und Krumen, die er dauernd neu komponiert, dieses Nochnicht und Nichtwieder, das in fernen Kanälen meiner Erinnerung die verschollene Erkenntnis aufsteigen lässt: ‘Zwischen heute und gestern liegt nichts als ein Moment , – zwischen heute und morgen aber ein halbes Jahrhundert», diesen enigmatischen Satz, der wie kein zweiter den  Gegensatz von Augenblick und Dauer trifft, dieses immerwährende Thema aller Fotographie..

4.                   die Passion

die Wirkung des Bildes, die wichtiger ist als das Bild, sogar als  jede Form von Abbildung, und die Passion des Fotografen, die mitschwelt in seiner Fotografie, so heftig diesmal, dass ich den Totenkranz aus Katalonien von 1984 so sehe als hörte ich den Fotografen zu mir sagen: “Ich will nicht, dass wenn man fotografiert am Schluss dann doch nichts anderes als nur ein Bild übrigbleibt“.

5.                 die Mechanismen

das Erforschen der Mechanismen des Erinnerns, das Teil jeder Beschäftigung mit Fotografie ist, die Erfahrung also, dass ich, damit ich mich an die Porzellanrosen von São Tomé erinnern kann, diese Blume fotografiert haben müsste,

5a.                

und die von den Gesichtern in Jürgs Pariser Photografie, 1998, geweckte Erinnerung an Renatos legendäre Behauptung, der Gewinn des Erinnerns liege nicht in der Erinnerung an ein Geschehnis, sondern in dem möglicherweise lebensverlängernden Wiedergewinn der Zeitspanne, in der es geschehen war.

6.                    der Film

der Herbststurm, der Berge welken Laubs in eine Mauerecke des „Bellevue“
in Kreuzlingen peitschte, und der Fotograf, der sich 1983 – so stelle ich mir das vor – aus diesem Sturm nach Hause gerettet hatte und sich eingestehen musste, dass er ihn, diesen Herbstwind, erst erlebte als er den Film entwickelt hatte.

7.                    der Umgang

mein Umgang mit Sprache, den ich mir mit der Feststellung erklärte: “Ich schreibe mir herbei was ich nicht habe“, den ich nach tagelangem Betrachten der Bilder dieses schoopschen Kataloges auf den Umgang des Fotografen mit dem Bild zu übertragen versuchte (Fotografiert sich der Fotograf herbei was es nicht hat ?), was mir erst gelang, als ich  meine Feststellung übersetzte in den Satz: „Der Fotograf verleibt sich ein, was er fotografiert“.

8.                    die Pixels

die oft gemachte und doch jedesmal wieder abenteuerlich neue Erfahrung, dass eine gute Fotografie immer Gegenwart ist, auch wenn das Abgebildete längst vergangen ist, wie es in Jürgs Bild  ‘Im Wald’ von 1987 der Fall sein müsste, dieses Verblassen, das mich nicht nur deshalb beschäftigt, weil als Motto „Vanishing Pixels“ darübersteht.

9.                   das Licht

der Gegensatz zwischen Bild und Text, der mir nie grösser erscheinen wollte als jetzt wo ich für diesen schoopschen Katalog, nach dem Licht suche, das auf den Fotoplatten das Bild erzeugt, weil es mir – und dies erst würde die erhoffte sinnliche Deckungsgleichkeit erzeugen – nicht gelingen will, herbeizuführen, dass der Gegenstand den Satz erzeugt, der ihn beschreibt.

10.                  die Gewaltsamkeit

das Durstlöschangebot, das ‘Coca-Cola’ in Jürgs Aufnahme des sienensischen Papierkorbes von 1998 unabsichtlich und doch so äufsässig heftig vor meine Augen hält, dass die Gewaltsamkeit dieses Angebots meine Sprechmuskeln veranlasst, die Frage halblaut vor mich hin zu sagen: ‘Das Wesentliche ist das, was verlangt würde, auch wenn es dies nicht gäbe’.

11.                   der Satz

die Frage, warum mir wohl dieser Satz immer nur auf Englisch einfallen will, obschon er doch schweizerdeutsch gedacht worden war, und der mir nach langem ausgerechnet jetzt wieder einfällt, wo mich Jürg Schoops „Founded Pictures“ zur Feststellung veranlassen: „Je mehr man schaut, umso mehr sieht man“.

12.                  das Erleben

die Gegenwart, die immer Teil des Kunstwerkes ist, – sonst ist es lediglich ein Bild oder eine Fotografie -, diese jedem Erleben innewohnende Zeitform, die mir deshalb ins Bewusstsein kam, weil Dieter unser Gespräch an der Schifflände nicht enden lassen wollte, bis er die Gelegenheit bekam zu sagen, auch der Fotokünstler müsse von Imperfekt und Futur, gerade so viel einfangen, dass es sich lohne, in unserem umstrittenen Praesens  zu verweilen.»

13.                  die Decollage

der in Nr. 2 beschriebene widerspenstige Teil des Ganzen, der sich im Blick, der die Totale fasst, in der Bildebene verliert und genau jener Fleck ist, der bewirkt, dass die aus zufälligen Rissen entstandene Decollage sich  die souveräne Stuktur gibt, die ein japanische Schriftzeichen aufbaut: für mich formuliert es: Feuerfunkeln.

14.                   das Niemandsland

die Beklemmung des messerscharfen Ungefähren, dieses besonnen erforschten Niemandslandes in den Bildern aus Frauenfeld,2000, diese verhaltene Atmosphäre, die mich irritiert als betrachte ich nicht einen Bildraum sondern den Schauplatz einer Tat.

15.                  die Erkennbarkeit

die abstrakten Strukturen, die Jürg in seiner Fotografie jahrelang aus allem Gegenständlichen herausgearbeitet hat und seine Rückkehr zur „gegenständlichen“ Fotografie (als ob es das gäbe !), die mich nun angesichts der wirklichen Bürste im Fahrhof 1999 derart irritiert, dass ich alle Erkennbarkeit der Dinge korrigieren muss indem ich mir einrede: ‘Wüsste man was man sieht, so sähe man es’.

16.                 der Gegenstand

die Vermutung, die sich allmählich zur Gewissheit klärt, dass es Fotografien gibt, die deshalb unwiderruflich sind, weil sich in ihnen nicht in erster Linie der abgebildete Gegenstand zeigt, sondern das Licht, das die fotografische Abbildung ebendieses Gegenstandes erzeugt hat.

17.                 das Ungewöhnliche

mein ebenso aufgeregtes wie neugieriges Blättern in den «clou»-Nummern von 1959 auf der Suche nach Malereien und Photogaphien von Jürg Schoop aus jener Zeit, die sich mit den Bildern dieser CD vergleichen liessen, damit deutlich werden könne, wie weit die Zeit an diesen Bildern mitarbeite, und mein Verzicht aufs Weiterblättern, als mir klar wurde, dass die Fünfzigerjahre jene Epoche waren, in der das Ungewöhnliche noch nicht etwas unter Vielem war.

18.                 die Quadrage

das Zurückfallen in frühere Bilder, von dem ich früher einmal reden zu müssen glaubte und das jetzt wieder virulent wird, wo mir Jürg mit ‘Escala’,1999, zeigt, dass die Wege der Erinnerung durch Schichten und Ebenen führen werden, die jedesmal von einer anders eingerichteten Quadrage begrenzt sind.

19.                 die Hingabe

der Zwang zum Photoapparat greifen zu müssen und mit ihm dann auch zu fotografieren, diese Passion, die in der Serie der Türen von marokkanischen Elektrokasten zu derart bestechenden Bildern führt, dass ich jetzt begreife wie der Fotograph Robert Weibel die bereitwillige Hingabe an den Zwang begründen konnte: „Ich fotografiere! Wie wüsste ich denn sonst, dass ich nicht träume ?“

20.                 der Sucher

die in eine endlich wohltuende Erschütterung mündende Ahnung, dass der im Sucher sich darbietende Ausschnitt aus dem Strom Leben nicht den Ausschnitt zeigt, sondern das Leben, weil in einer guten Fotografie auch der kleinste Ausschnitt immer das ganze Leben enthält.

21.                  die Komposition

die Entwürfe, die Skizzen von Künstlern aller Sparten,  die das entstehende
Werk vorausahnen lassen und die Aufnahme der Blumen auf dem Miststock von 1986, die ebenso abgeschlossene Komposition ist wie verwegenes Formsuchen, dass sie mich zur bislang unbeantworteten Frage veranlasst, unter welchen Bedingungen (und ob überhaupt ?) Fotographie Entwurf sein könne.

22.                  der Lichtwechsel

das Ineinander von Kunstlicht und Naturlicht beim Tagesanbruch, den ich bislang als organischen Lichtwechsel erlebt habe, ganz anders als jetzt, wo ich fiebernd beobachte, wie die Morgendämmerung das Dunkel vertreibt, als schicke der Tag erste Schlieren seines Lichtes als Vorhut in die renitente Nacht hinein.

23.                 die Selbstverständlichkeit

die Fenster und die Türen, die – seien sie nun abgebildet oder nicht – Jürg Schoops immerwährendes Thema sind durch fünf Jahrzehnte hindurch, dieses Fenstersein und Türwerden, dieses Türsein und Fensterwerden, das mir jetzt plötzlich jene Frau im violetten Rock in Erinnerung ruft, die das Fenster auf die Rua do Carioca hinaus öffnete um auf den Balkon heraustreten zu können, mit jener Selbstverständlichkeit, als wolle sie uns beweisen, dass sich – vielen Ahnungen zum Trotz – überhaupt nichts ändere dadurch, dass hierzulande (also: dort) jedes Fenster eine Türe ist.

24.                  die Zeichen

die handschriftliche Angabe ‘Italien’ unter der Fotografie der verrammelten Türe von 1985 (und nicht etwa die Aufzählung der Städtenamen Rom, Florenz, Alba, Siena) die mich nun in das Reich aller jener
vielen Dinge, Gesten – und dazu gehört die Art, wie sich der alte Ezio auf den Kastanienstock stützt wenn er abends den Weg vom Dorf herunterkommt – Verhaltensweisen und Zeichen versetzt, die, obschon Carmine kaum eine Viertelstunde von der Schweizer Grenze entfernt liegt, doch so radikal Italien bedeuten, dass ich mich ertappe, wie ich carminensischsage wo ich italienisch sagen will, und dass ich deshalb versucht bin,  Schoops Aufnahme der italienischen Tür als eine carminensiche zu bezeichnen, weil ich das carminensische Wesen als italienischer erlebe als das italienische.

25.                  die Unschärfe

die Brille, die ich nicht auf hatte als mein Blick zufällig die in Nr. 2. beschriebene Collage streifte, und die mir den Eindruck von formaler Grossartigkeit verschaffte, weil erst die Unschärfe alle Bildelemente ineinander verfliessen lässt und nicht mehr zulässt, dass sich ein Detail – die drei Gesichter – als aufsässiges Realitätspartikel meldet.

26.                  die Oberfäche

die Unentschiedenheit zwischen Interpretationssucht und ihrer Parodie, mit der ich die Oberfläche von Jürgs florentinischer Fotografie von 1998 absuche um den Gegenstand aufzuspüren, der das Bedürfnis in mir ausgelöst haben könnte, angesichts dieser Decollage den abstrus erscheinenden Satz zu formulieren:  „Buchstaben werden Wörter werden, Bilder werden Gegenstand“.

27.                  die Unfähigkeit

die Unfähigkeit, angesichts meiner Lieblingstüre unter Schoops Türaufnahmen (jener von Rom 1978), den Eindruck in einen einzigen Satz zu fassen, wie es den eisernen Regeln der Katalogsprache entspräche, und mein Eingeständnis des Regelverstosses indem ich den verbotenen Abschnitt nun doch hinschreibe:
Wo alle Türen Rahmen sind, die lebensgrosse Bilder halten, gibt es keine Zeichen unter Glas. Ins Bild hinein und aus dem Bild heraus: der Rand ist Rahmen und ist keine Grenze, es führen alle Wege durch ihn durch. Ein gutes Bild ist stets ein Bild von allem, und ein Bild gibt es nie allein: Vorlage und Abbildung, – der Rahmen hält sie gegengleich. Und nirgends spiegeln sich Betrachter, weil jeder Gast in beiden Bildern ist“.

28.                 die Konturen

die elf Gegenstände im Bild von Barcelona, 1999, die danach gieren, beschrieben zu sein mit Wörtern, die so dicht ihre Körper füllen und so satt alle Konturen fassen, dass meine Sprache wie das Echo wirkt, das ertönt, wenn der Blick die fotografierten Dinge streift.

29.                 die Welt

die Kratzer, Striche, Risse und Sprünge im bearbeiteten Negativ von 1958, die mich an die Kratzer, Striche, Risse und Sprünge an der Zellenwand erinnerten, in denen der Gefangene den Flusslauf des Amazonas erkannte, die Schlingen der Seine und des Brahmaputra, und dazu erklärte, wenn die Welt die Ausmasse seiner Zelle hätte, würde er sich frei fühlen wie noch nie.

30.                  die Notwendigkeit

die quälende Insistenz, mit der sich beim Anblick von Jürgs marokkanischen Schwemmgutbildern die beiden Schlüsselsätze in die Quere kommen, jener des Mannes im Markt von Caruarú, ein Bild sei auf jeden Fall besser als kein Bild, und Peter Rosei’s beeindruckend vorgebrachter Anspruch, Bilder müssten  besser sein als ihre Vorlage, sonst seien sie unnötig,

30a.               

und die Beruhigung, die auch gleich doppelt eintrat, als erstens die Bilder ihre Notwendigkeit zu erkennen gaben und ich zweitens erkennen musste, dass Rosei eigentlich doch nicht von Bildern gesprochen hatte, sondern von Beschreibungen, die übrigens ja immer Bilder fassen.

31.                  der Zufall

die Pariser Fotografie von 1958 mit der zerfetzten Plakatwand, von der ein einigermassen unversehrter W.C. Fields lacht, dieses BiId, das ich deshalb nicht vergessen kann (nicht etwa, weil ich W.C. Fields Komödiantik verehren würde, sondern:), weil es erläutert, dass es nie der Gegenstand sein kann, der Kunstwerk sein will, sondern mein Blick, der ein Ding (das der Zufall zur Collage gemacht hat ) als Kunstwerk erleben will.

32.                  die Zeit

die Anschläge des Zirkus Bramarbasani, die mich daran erinnern, dass in der Schweiz die Zirkusplakate von den Wänden entfernt werden , sobald der Zirkus weitergezogen ist, und dass in den Ländern, in denen Jürg Decollagen fotografieren konnte, die Anschläge – Respekt ist es vor dem Wirken der Zeit ! – erst dann nicht mehr sichtbar sind, wenn sie die Sonne ausgeglüht, der Regen verwaschen und der Wind zerzaust hat.

© Peter K. Wehrli & wiedingpress

Der schoopsche Katalog“                           

Ja, Jürg Schoop ist Künstler. Und wenn ich sagen würde: Maler, Fotograf, Dichter, Objektkunstler, Komponist, so würde ich nur kleine Teile seines Tun nennen. Denn er ist Künstler. Als ich noch Teenager war, da war er viel mehr als das: Er war für mich der Inbegriff des Künstlers. Einer, der Kunst nicht nur machte, sondern sie auch lebte.
Und Ende der Fünfzigerjahre war er noch etwas mehr: Er war Chefredaktor der Zeitschrift „Clou“. Und weil ich damals gewagt hatte, eigene Gedichte einzusenden, wurde ich unverhofft zu einer Redaktionssitzung eingeladen. Dort habe ich Jürg Schoop kennengelernt.  Und da zu jener Zeit Schoops erster Gedichtband erschien „So tanz ich den Tanz“, wurden einige Zeilen daraus für mich sozusagen zum Aufruf der Solidarität: „…wo sollen wir Almosen flehn, wir am Leben trunken gewordene Narren?“  Damit hatte Schoop auch mein damaliges Lebensgefühl formuliert, lange vor 1968 als die Narretei sich dann mit Wut bewaffnete. Für uns war damals schon das Durchbrechen der Grenzen zwischen den künstlerischen Gattungen ein strikter Mut- oder Wutakt. Und Jürg hat  diesen Durchbruch auch mit Witz- durch Sinnschichtungen vollzogen.
Als ich 1968 meine Orientreise – weil ich den Fotoapparat vergessen hatte – mit Worten statt mit Bildern dokumentieren musste, (was als Initialzündung für den „Katalog von Allem“ wirkte) war das Tun und Lassen, die Ideen und die Haltung von Jürg Schoop noch so präsent in mir, dass sie sich in meiner Sehweise und meiner Auffassungsart niederschlugen, – mehr noch: Jetzt, wo der Katalog von Allem“ auf 2849 Katalognummern angewachsen ist, lassen sich 32 Nummern davon zum „Schoopschen Katalog“ zusammenfassen. Und damit sind nur jene Nummern gemeint, in denen Schoops Werke und sein Tun explizit genannt werden; wo Schoops Sichtweise und seine Art des Verarbeitens von Beobachtetem zum Zuge kommen, würde die Zahl der Nummern um ein Vielfaches zunehmen.
Nicht allein im Bildgegenstand in diesen „geschriebenen Fotografien“ steckt die Allusion an Jürgs sensibel wählenden Blick, auch im Rhythmus der Sprache, in ihrer Art von Farbigkeit, im Umgang mit Rhythmus und Klangstufe, in der Quadrage der Einstellungen (Totale oder Grossaufnahme) der geschriebenen Bilder, in möglichen Überblendungen und Einzelbildern, Zoom oder Schwenk oder Standbild, in allen diesen Erscheinungsformen liessen sich Nachwirkungen  von Jürgs künstlerischen Taten aufspüren und von seiner Sensibilität, die er mir vor sechs Jahrzehnten zu injizieren begann. Und auch dem Zufall, der sich ins Bild drängt, gilt es seinen Platz zu lassen. So erst kann sich das Widerspiel von Natürlichkeit und Künstlichkeit entwickeln.
Und übrigens: Schoop festigte es, dieses Spiel, schon früh in seinem legendären Satz: „Wenn man künstlerisch tätig ist, überlegt man sich nicht, warum und wozu man etwas tut. Man gehorcht einfach dem Trieb.
Auch dies hatte mich Jürg damals gelehrt.

Peter K. Wehrli, geboren 1939, Studium der Kunstgeschichte in Zürich und Paris. Reisen durch die Sahara und zur Piratenküste. Längere Aufenthalte in Südamerika. Redaktor beim Schweizer Fernsehen DRS. Tätigkeit als Herausgeber. Zahlreiche Veröffentlichungen, u.a. «Zelluloid-Paradies» (1978), «Eigentlich Xurumbambo» (1992), «Katalog von Allem» (1999).
Webseite von Peter K. Wehrli

Jürg Schoop, Ex-Maler, Collagist, Literat, Fotograf und Filmer seit 1952. Vorwiegend Autodidakt. Geboren 1934 in St.Gallen, aufgewachsen in Romanshorn. Lehre als Schaufenstergestalter in Arbon mit Besuch der Gewerbeschule St.Gallen (Lehrer Baus + Nüesch). Ab 1972 10 Jahre Aufenthalt in Zürich. Anschliessend Rückkehr in den Thurgau. Um die Unabhängigkeit sicher zu stellen, arbeitete der Künstler meist teilzeitlich in vielen Nebenberufen und schlug diverse Karrierenangebote aus. 1998 Kulturpreis des Kantons Thurgau. Letzte Veröffentlichung: «Brunnenpoesie», Schuber mit 50 Fotografien bei Orell Füssli.
Ausführliche Biographie
Webseite von Jürg Schoop