Mireille Zindel „Bald wärmer“, Pano

„Was, wenn ich ehrlich wäre?“ schreibt Mireille Zindel ganz zu Beginn ihrer literarischen Auseinandersetzung mit dem Tod ihrer kleinen Tochter Zoé. 12 Tage lebte das kleine Mädchen, ohne das Spital jemals zu verlassen. Und sechs Jahre dauerte es, bis die Schriftstellerin den einen Roman zur Seite legte, um auf ihre ganz eigene Art und Weise mit dem Abschied fortzufahren.

Adventszeit; man feiert in der Erwartung des Kindes. Kein Ereignis im Leben eines Menschen ist derart einschneidend wie die Geburt eines Kindes. Nichts generiert ein derart tiefes Glücksgefühl wie das erste In-die-Hand-Nehmen eines Kindes. Es ist nicht nur im christlichen Glauben die personifizierte Hoffnung, die menschgewordene Glückseligkeit. Auf der anderen Seite der Tod, das unwiderbringliche Abschiednehmen, die Trennung, das Auseinanderreissen. Die Angst, was dann passiert und danach sein wird. Die Angst vor der Leere, vor dem Verlorensein. Und was ist, wenn Geburt und Tod nur 12 Tage voneinander entfernt liegen? Wenn mit dem Moment des grösstmöglichen Glücks die Angst beginnt, das Bangen, das verzweifelte Greifen nach jedem Halm Hoffnung? Wenn der Tod unmittelbar bevorsteht, unabwendbar, wie ein Urteil, ein übergrosses Schwert, das trennen wird, was zusammengehört, was eine Schwangerschaft lang nicht nur im Bauch wuchs, sondern im Herzen, den Plan für ein gemeinsames Leben, eine Familie ausmachte?

Mireille Zindel «Bald wärmer», Pano, 2024, 244 Seiten, CHF ca. 32.80, ISBN 978-3-290-22073-0

Ich mag Bücher nicht, die mich zum Zeugen und Mitwisser einer Bewältigung, eines Heilungsprozesses machen. Bücher, die mir beweisen wollen, dass ich bloss stark genug sein muss, um mich meinem Trauma zu stellen. Die von mir ein Schulterklopfen provozieren wollen, die Anerkennung, es bravourös gemeistert zu haben. Mireille Zindel nimmt mich ganz behutsam mit auf einen Weg durch diese 12 Tage und weit darüber hinaus. Nicht Mitleid, sondern Selbstreflexion will sie provozieren. Sie zeigt, wie sehr wir uns auf Schienen bewegen, wie leicht es uns aus den Schienen wirft und Leben kippen kann, entgleisen, still stehen. Wie leicht wir uns von der Erwartung des Glücks verführen lassen, alles mit unsäglicher Selbstverständlichkeit erwarten und es mit grösstmöglicher Lockerheit ausblenden, dass neben all dem Glück bodenloses Unglück geschieht.

Spinale Muskelatrophie, SMA, war die Diagnose, die die Eltern zehn Tage nach der Geburt bekamen, zwei Tage vor dem Tod der kleinen Tochter. Ein Gendefekt. Damit war nur erklärt, was seit dem Moment der Geburt eine permanente Hektik und Dramatik auslöste, weil beim Kind schon mit dem ersten Augenblick lebensrettende Sofortmassnahmen ergriffen werden mussten. Weil ganz schnell klar wurde, dass dem Kind nicht jene Zukunft geschenkt werden würde, von der man neun Monate lang hoffte, mit der man Strampelhosen und Kinderbettchen kaufte, das Familienglück werden sollte. Ein Kind, das man der Mutter schon nach der Geburt wegnehmen musste, um es zu beatmen. Die Geburt war keine Fanfare des Glücks, sondern der Beginn langen Leidens, der Verzweiflung darüber, ob man es je schaffen würde. Das Gefühl umfassender Sinnlosigkeit drohte zu einem Lebensgefühl zu werden.

Mireille Zindel erzählt von ihrer grenzenlosen Liebe zu ihrem Kind, das sie nur kurz begleiten konnte, das in jener Zeit trotz allem ihr Glück ausmachte. Ein Glück, dass Mireille Zindel um jeden Preis zu konservieren versucht. „Bald wärmer“ erzählt vom Kampf. Aber auch von den Irrungen, dem Hadern und der Verzweiflung. Alles existiert gleichzeitig, schreibt Mireille Zindel. Spitäler sind Orte eben jener Gleichzeitigkeit.

Eigentlich müssten Männer dieses Buch lesen, denn es beweist, wie viel uns entgeht, wie gross die Welt einer Mutter ist. „Bald wärmer“ rüttelt mich wach, zeigt mir Tiefen, von denen ich nichts weiss. Und nicht zuletzt ist „Bald wärmer“ ein Buch der Hoffnung.

Mireille Zindel, Germanistin und Romanistin, Jahrgang 1973, ist eine Schweizer Schriftstellerin und lebt in Zürich. Für ihren ersten Roman «Irrgast» erhielt sie 2008 den Preis der Literaturperle (art-tv.ch) und den Literaturpreis der Marianne und Curt Dienemann Stiftung. Nach «Laura Theiler», «Kreuzfahrt», und «Die Zone» erschien 2024 ihr neuster Roman «Fest». Mireille Zindel schreibt auch Gedichte, Shortstories, Artikel und Reportagen und veröffentlicht Videos (Rest in poetry, Friedhofforum Stadt Zürich, 2024).

Webseite der Autorin

Beitragsbild © Ayse Yavas

Mireille Zindel «Fest», lectorbooks

Eine junge Frau verliert sich im Strudel ihrer Liebe, einer Hingabe, einem Bild von sich selbst, das sie wie eine Fessel an den Wahn kettet. „Fest“ von Mireille Zindel ist eine Erkundung in die Seele einer verirrten Frau, in eine Welt, die sich nur noch an Oberflächlicheiten hält.

Noëlle ist noch jung, verheiratet mit Bertram, aber von ihm getrennt, weil sie ihn nicht mehr erträgt. Seine fordernde Enge. Aber es ist er, der sich von ihr scheiden lassen will. Noëlle ist mit Haut und Haar David verfallen. Aber auch David ist verheiratet. Noëlle leidet unter ihrer Liebe zu diesem Mann. Sie leidet an der Tatsache, dass sie nichts lieber will, als sich David ganz hinzugeben, dieser ihr aber die kalte Schulter zeigt, sie nur soweit mit Zeichen der Zuneigung füttert, dass sie nicht abfällt, ihre Leidenschaft austrocknet.

Zu Beginn des Buches folge ich der Frau in ein Haus im Jura, weit ab vom Lärm der Zeit. Noëlle scheint dort Ruhe zu suchen, um ein Buch zu schreiben, die Geschichte einer verzweifelten Liebe. Aber im Laufe der Lektüre wird klar, dass dieses Haus eine Klinik ist und Noëlle eine der Patientinnen. So durchscheinend ihre Lebenssituation, so durchscheinend die Welt, in der sie sich bewegt, die Menschen, mit denen sie sich umgibt. Noëlle hat sich verloren, weiss nicht mehr, woran sie sich halten muss, hat sich ganz und gar verloren in den kleinen Zeichen, die auf dem Display ihres Mobilphones erscheinen.

Mirelle Zindel "Fest", lectorbooks, 2024, 416 Seiten, CHF ca. 35.00, ISBN 978-3-906913-43-8
Mirelle Zindel «Fest», lectorbooks, 2024, 416 Seiten, CHF ca. 35.00, ISBN 978-3-906913-43-8

„Fest“ ist kein Buch zur blossen Unterhaltung. Wer liest, begibt sich auf einen 400 Seiten langen Tripp in die Seelenlandschaft einer jungen Frau, deren Wahrnehmung sich verschoben hat, ver-rückt ist. Selbst die Gewissheit, ob David real ist oder bloss Projektion, erhellt sich während der Lektüre nie ganz. Überhaupt bleibt während der Lektüre immer alles auf der Kippe. Man reibt sich als Leser am permanten Bedürfnis, Ordnung in die verrückte Wahrnehmung dieser jungen Frau zu bringen. Aber „Fest“ ist auch ein Stück Abbild unserer Zeit. Wie weit wir uns mit unserem Leben, unserer eigenen Wahrnehmung vom realen Leben entfernt haben, wie sehr wir uns in einer von Algorhythmen dominierten Welt tummeln, die uns mehr und mehr im festen Griff hat. Wie wir uns unsere Welt zurechtlegen und sie mit Erklärungen und Deutungen zupappen, auch wenn man uns immer und immer wieder „zurechtzuweisen“ versucht.

Ganz in der Nähe der Klinik ist Muiras Laden. Muira, die sich selbst als Hexe bezeichnet. So wie sie dort Kerzen und Utensilien für die Suche nach Glück und Erfüllung verkauft, einer jener esoterischen Gemischtwarenläden auf der Suche nach einer Lebenshilfe in den Stürmen des Lebens, bedient Muira Noëlle grosszügig mit ihren Deutungen und Weisheiten, unterstützt sie in einem hartnäckigen Glauben an ein Glück, an das man nur fleissig genug glauben muss, um daran teilhaben zu dürfen. Muira, die Hexe dort und Penelope hier, eine Freundin, die mit Anrufen und Besuchen versucht, Noëlles verirrte Seele, ihre verschobene Wahrnehmung in die richtige Richtung zu rücken. Ein Unterfangen, das über lange Sicht genauso erfolglos ist, wie die Therapieversuche von Sascha, einem Arzt und Therapeuten in der Klinik. Nachdem Noëlle eigenmächtig ihre Medikamente aussetzt, klärt sich zwar ihr Blick nach Aussen, aber nicht jener nach Innen.

Ob „Fest“ ein Entwicklungroman ist, ist zweifelhaft. So wie Mireille Zindel die wirre Welt einer jungen Frau schildert, so verwirrt lässt sie mich als Leser zurück. Aber Mireille Zindels Absicht ist es nicht, Ordnung zu schaffen. Dafür nährt sie die Einsicht, dass wir alle mehr oder weniger Gefangene unserer Wahrnehmung sind, dass unser Leben bloss die Summe unserer eigenen Wahrnehmung ist. „Fest“ ist ein Tauchgang in die Tiefen einer verirrten Seele, ein Spiegel unserer Zeit und wie alle Romane der Autorin, ein Ausloten der menschlichen Abgründe. Wer mit der Lektüre mehr als blosse Unterhaltung will, ist mit „Fest“ bestens bedient, auch wenn Sprache und Überlänge zuweilen reiben.

Mireille Zindel, geboren 1973 in Baden (AG), ist eine Schweizer Schriftstellerin. Sie hat Germanistik und Romanistik studiert. Ihre vier Romane »Irrgast« (2008), »Laura Theiler« (2010), »Kreuzfahrt« (2016) und »Die Zone« (2021) wurden mehrfach ausgezeichnet.

Webseite der Autorin

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Lesekreis „Gegenwartsliteratur“ im Literaturhaus St. Gallen – Rückblick und vielversprechender Ausblick

Überall gibt es sie – Lesekreise. Aber dieser eine in St. Gallen soll sich von allen anderen unterscheiden. Ein Begegnung mit Autorinnen und Autoren auf Tuchfühlung, im vergangenen Halbjahr mit Karl Rühmann und Mireille Zindel, im kommenden mit Rebekka Salm und Jens Steiner.

Der Lesekreis! Mindestens 2 Bücher, 5 Abende, maximal 12 Teilnehmerinnen oder Teilnehmer, jeweils von 19 bis 21 Uhr in St. Gallen, bei Wein und Knabberzeug und mit der einmaligen Gelegenheit, die ausgewählten Schriftstellerin und Schriftsteller persönlich kennenzulernen.

«Dienstagabend, sieben Uhr. Wir treffen uns im Bürgerratssaal des Stadthauses zur Abschlussdiskussion meines neuen Romans «Fest». Das heisst, Gallus holt mich am Bahnhof ab und spaziert mit mir durch die Innenstadt dorthin. Und so geht der Abend weiter: wärmend, nährend. Zwölf Teilnehmende des Lesezirkels, die sich in insgesamt drei Sitzungen eingehend mit «Fest» befasst haben, stossen in der Abschlussrunde auf mich. Ich erfahre, wie die Lektüre auf sie gewirkt hat, beantworte ihre Fragen und höre Dinge, die mich riesig freuen. Zum Beispiel, dass Ueli drei Monate lang kein anderes Buch lesen konnte, weil «Fest» ihn so sehr anging. Oder Dieter, der nach zwei Stunden ein Zitat aus dem Roman vorliest und das Gespräch so zu einem perfekten Abschluss bringt. Die direkte Begegnung mit Lesenden und das Gespräch mit ihnen ist äusserst wertvoll, nochmals ganz anders als bei Lesungen, intensiver, weil näher. Und es ist schön zu beobachten, wie sie das Buch – so scheint es – beinahe besser kennen als ich.» Mireille Zindel

Dieser Lesekreis ist ein ganz besonderer! Nicht nur dass wir uns im Gespräch ganz intensiv an mehreren Abenden mit den Romanen zweier Schweizer Schriftsteller der Gegenwart beschäftigen. An zwei der fünf Abenden besuchen uns die jeweiligen Autoren der gelesenen Bücher und ermöglichen so einen ganz speziellen Einblick in das Werk dieser Künstler. Diese Begegnungen bei einem Glas Wein eröffnen Gespräche weit über die Bücher hinaus!

Zwischen September 2024 und Januar 2025 werden dies an fünf weiteren Abenden Jens Steiner («Die Ränder der Welt«, Hoffmann & Campe) und Rebekka Salm («Wie der Hase läuft«, Knapp) sein.

Anmeldungen sind noch immer möglich. ➜ literaturhaus@wyborada.ch.

»Jens Steiner erzählt von einer lebenslangen Odyssee durch die Wirren der Zeit, auf der Suche nach einem Zuhause, nach Freundschaft und Liebe.« Gallus Frei, literaturblatt

«Rebekka Salm hat ein absolut tolles Gefühl für Dramaturgie, Aufbau, Erzählökonomie. Sie schreibt gute Dialoge und hält wunderbar die Spannungsfäden zusammen bis zum Ende.» Elke Heidenreich

Mireille Zindel «Kreuzfahrt», Kein und Aber Verlag

«Früher hatte das Leben so viele Möglichkeiten. Dann schliesst man das Studium ab, beginnt zu arbeiten, hat Familie, und plötzlich ist man auf dieser Autobahn für die nächsten 25 Jahre. Nicht dass ich Angst hätte, dass ich diese Jahre abstrampeln würde, aber Gedanken macht man sich schon.» Meret ist verheiratet mit Dres, Mutter zweier kleiner Kinder und weit weg von den unendlichen Möglichkeiten einer 20jährigen, unzufrieden in der tief empfundenen Sackgasse von Einfältigkeit und ungestillter Sehnsucht. Bei einem Ferienaufenthalt an der Küste Italiens lernen Meret und Dres das Paar Jan und Romy kennen, auch sie mit zwei Kindern. Bald spielt zwischen der Erzählerin Meret und Jan mehr als freundschaftliche Nachbarschaft. Die Entfremdung von ihrem Mann, die Ferne zu den eigenen Kindern, die Mutlosigkeit, das Steuer selbst in die Hand zu nehmen, scheinen ihr das Recht zum Verlieben zu geben. «Wie weit kann man sich voneinander entfernen, bis man sich nicht mehr findet?» Und als Jan mit seiner mitteilungssüchtigen Frau Wochen später in Zürich dann auch noch in die Wohnung unter ihnen zieht, man Tür an Tür, Wand an Wand lebt, wird das Begehren unausweichlich und die Geschichte zwischen Meret und Jan für mich als Leser zum Kippbild. Wo hört Liebe auf? Wo endet blosses Begehren? «Man muss die Liebe ernst nehmen wie den Tod. Man darf nicht gleichgültig sein. Denn ist sie einmal vergangen, ist sie unausweichlich weg», meint Meret, die ihre Geschichte mit Jan im Rückblick erzählt und nicht nur mit dem Erzählen selbst das Gegenteil beweist.

Mireille Zindel schreibt mit unglaublicher Empathie. Der Text riecht nach Erschöpfung und Trauer. Als hätte Meret mehr als ein Leben aus der Hand gegeben. Ein Buch mit einem grossen Sog, eines, das man gerne mit einem Stift hinterm Ohr liest, um Sätze, die ins Mark treffen, mitzunehmen.

Mireille Zindel (1973), Germanistin und Romanistin, lebt und schreibt in Zürich. Ihre beiden ersten Bücher «Laura Theiler» und «Irrlicht», erschienen im Salis-Verlag Zürich, wurden von Publikum und Presse begeistert aufgenommen und mit Preisen ausgezeichnet.

Die Autorin liest aus ihrem neuen Buch am 5. April, um 19.30 Uhr im Literaturhaus Zürich.