«Wir glauben, Erfahrungen zu machen, aber die Erfahrungen machen uns.» (12) #SchweizerBuchpreis 24/07

Lieber Gallus

Nach «Verschiebung im Gestein» von Mariann Bühler habe ich als zweites Buch (auch aus dem Atlantis Verlag!) der für den Schweizer Buchpreis 2024 Nominierten das aktuelle Werk «Tabak und Schokolade» von Martin R.Dean gelesen.

Dass auf dem schön gestalteten Cover «Roman» steht, stört mich nicht, dass die Halbgeschwister nur als Erben vorkommen ebenso wenig. Meiner und meiner Mutter Geschichte, diese Worte beschliessen das Buch, eine sehr berührende und anregende Recherche des Autors nach seinen karibischen Wurzeln. Es beginnt mit einer eindrücklichen Szene, wo die zwanzigjährige Mutter mit dem kaum einjährigen Kind vor dem betrunkenen, gewalttätigen Ehemann flieht, weil er seine Zigarette auf dem Baby ausdrücken will. Die Ehe zerbricht, die Mutter kommt nach mehreren Jahren Arbeit in Plantagen mit dem Kind in die Schweiz zurück. Damals war ein kaffeebraunes Kind in einem aargauischen Dorf eine Sensation. Die Mutter heiratet erneut einen Mann aus der Karibik, einen Arzt und verlor seither kaum ein Wort über die ersten Jahre mit «Martin» auf Trinidad. Als die Mutter stirbt, bleibt dem vom Pflegevater abgelehnten und von den Erben nicht berücksichtigten Autor nur «Die Geschichte». Sogar seinen Familiennamen musste er in der Primarschule ohne Erklärung ändern. Der Willensvollstrecker des nicht unbeträchtlichen Erbes teilt ihm mit, er sei nicht in der Erbengemeinschaft inbegriffen. Zufällig bemerkt er in der Schublade mit dem weggeschafften Schmuck der Mutter ein rotes Fotoalbum, das er heimlich zu sich nimmt. Anstelle von Gold und Silber entdeckt er so Bilder aus der versunkenen Welt seiner Kindheit.

In einer klaren genauen Sprache und fotografisch belegt breitet sich vor uns ein dichtes Kaleidoskop aus, in mehreren Erzählsträngen begleiten wir den Autor auf der Recherche seiner Kindheit, seiner Herkunft. Und nebenbei erfahren wir aus authentischer Sicht einen Teil der Kolonialgeschichte, die auch die Schweiz betrifft. Meisterhaft ist diese Suche nach Identität, nach Herkunft, nach Anerkennung beziehungsweise Ausgrenzung mit der Familiengeschichte verwoben.

Der Autor besucht nach dem Tod der Mutter erstmals seine Verwandten in Trinidad, die sich als Kontraktarbeiter im 19.Jahrhundert aus Indien in den Plantagen unter sklavenähnlichen Bedingungen hochgearbeitet hatten. Die Auswanderer konnten nur das nackte Leben mitnehmen, alle sozialen Bindungen gingen verloren. Millionen von Schwarzen Leibern wurden in süsse weisse Materie (Zuckerrohrplantagen) umgewandelt, damit Wirtschaft und Wohlstand in Europa in Schwung blieben. Kastenwesen und Rassismus lasteten auf diesen Menschen, erklären die Anfälligkeit für Alkoholismus und Gewalt.

«Tabak und Schokolade»: Tabak bezieht sich auf die Herkunftsfamilie der Mutter. Diese Grosseltern lebten und starben für die Zigarrenindustrie. Sie trugen den Tabakstaub aus den Fabriken nach Hause, nicht nur in den Kleidern, sondern auch in ihren Lungen. Mein Grossvater sog unentwegt an seinem Stumpen, wenn er im Garten Erde aushob, Unkraut jätete oder in der Werkstatt hämmerte, auch wenn er auf seinem Moped über Land fuhr.

Vor dem Rückflug in die Schweiz besucht der Autor eine Buchhandlung: Es berührt mich seltsam, mitten in Port of Spain auf eine Person zu stossen, die mir den Schriftsteller Edgar Mittelholzer als Schweizer vorstellt. Dies ein weiterer Erzählstrang, der den Lebensbericht des Protagonisten ergänzt und spiegelt. 

Bei ihrem achtzigsten Geburtstag bezeichnet seine Mutter die erste Zeit mit ihrem ersten Kind in Trinidad als ihre glücklichste. Ein kleiner Trost, da ihm nach deren Tod von den Erben nicht einmal das Tischchen, worauf er mit ihr bei seinen Besuchen Kaffee getrunken hat, überlassen wird.

Das Buch macht betroffen, liest sich aber weil, dass es Martin R. Dean gelungen ist, seine reiche, auch schwierige Biografie ohne anklagende Töne in Sprache zu fassen.

Was sind deine Eindrücke nach der Lektüre?

Herzlich

Bär

NB Meine Favoriten für den Schweizer Buchpreis 2024 sind diese beiden Bücher, an erster Stelle «Verschiebung im Gestein».

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Lieber Bär

Martin R. Dean «Tabak und Schokolade», Atlantis, 208 Seiten, CHF ca. 32.90, 2024, ISBN 978-3-7152-5039-7

Meine Leseeindrücke schilderte ich schon in meiner Rezension vom 17. September. «Tabak und Schokolade» ist ein Buch der Stunde, ein Buch über Mütter und Väter, ein autobiographischer Roman, eine Auseinandersetzung mit der eigenen Herkunft, eine Auseinandersetzung, die Martin R. Dean durch seine Hautfarbe aufgezwungen wurde, dieses Anderssein, Nicht-der-Norm-Entsprechen.

Das Besondere an diesem Buch; Martin R. Dean betreibt nicht blosse Nabelschau. Obwohl er sich verletzt und gekränkt fühlt, weil man ihn nach dem Tod seiner Mutter als Erbe noch einmal als Sohn/Mensch zweiter Klasse degradiert, ist das Buch nicht nur Ahnenforschung oder sanfte Abrechnung, sondern ein Sittengemälde der Nachkriegszeit, die Geschichte unerfüllter Wünsche in einer Gesellschaft, in der für (fast) alle alles möglich, Erfolg und Aufschwung Norm schien. In einer Gesellschaft, die mit der Schwarzenbachinitiative seine Vorbehalte gegenüber «anderen» ganz offen artikulierte und sich in ihrer Argumentation nicht allzu sehr von der Fremdenfeindlichkeit in der Gegenwart unterscheidet. Eine grosse Mehrheit von Wählerinnen und Wählern in ganz Europa macht das in der Gegenwart mehr als deutlich.

Martin R. Dean macht mit seinem Buch auch bewusst, wie sehr der Reichtum unseres Landes, hier beispielhaft mit der Tabak- und Schokoladenproduktion, auf den Schultern und Rücken Ausgebeuteter, Vergessener, Entwurzelter gewachsen ist. Noch immer stehen Denkmäler von Grossen aus Wirtschaft und Politik unkommentiert auf Plätzen bedeutender Schweizer Städte, deren Erfolg und Wichtigkeit ins Blut von Sklaverei und Ausbeutung getaucht ist.

Martin R. Dean kreist schon lange um das Thema «Fremdsein». Mit Sicherheit ist dies sein persönlichstes Buch in dem er überraschend viel über seine Geschichte und Herkunft erzählt und verrät. Ob das Buch nun mit Recht «Roman» genannt werden kann, darüber fehlt mir die Lust zu diskutieren. Wahrscheinlich eine Strategie des Verlags. Es lässt sich schlicht mehr Umsatz generieren, wenn auf einem Cover «Roman» steht.

In jeder Familie, in jeder Geschichte gäbe es Gründe genug, die Türen zur Vergangenheit zu öffnen. Letztlich versteckt sich dort immer ein Schatz, Reichtum, ein Fundament, auch wenn mit Überraschungen zu rechnen ist. Der Blick zurück stärkt den Schritt nach vorn, weil er Richtung gibt.

Ich bin nicht überrascht, dass Dir das Buch gefällt! Hast Du «Favorita» von Michelle Steinbeck schon gelesen? Nach einer Veranstaltung an den Solothurner Literaturtagen verging mir eigentlich die Lust. Und nun war ich doch ziemlich baff!

Freundschaftliche Grüsse
Gallus

Martin R. Dean «Tabak und Schokolade», Atlantis #SchweizerBuchpreis 24/03

Martin R. Dean erzählt in seinem autobiographischen Roman „Takab und Schokolade“ von Erkundungen über seine Herkunft, dem Gefühl einer Rastlosigkeit, der Suche nach Zugehörigkeit, Familie und Vergangenheit. Auch ein Roman darüber, was Verleugnung und drohendes Vergessen anrichten kann und nicht zuletzt ein Buch über Verlust.

Wir tragen nicht nur Geschichten mit uns, auch Geschichte. Und mit jedem Sterben, jedem Tod brechen Geschichten und Geschichte weg, sinken ins Vergessen. Es sind nicht nur die eigenen Erlebnisse eines Lebens, die sich ins Bewusstsein eingraben, mit denen man lebt, entscheidet, denen man folgt und von denen man zehrt. In unserem Unterbewusstsein begleitet uns mit Sicherheit Eingeschriebenes aus früheren Generationen, als wäre es ein genetischer Code, der erst dann reaktiviert wird, wenn wir uns mit unserer Geschichte auseinanderzusetzen beginnen.

Der Schriftsteller Martin R. Dean beschäftigt sich nicht erst mit seinem akuellen Buch mit Herkunft, Zuschreibung und Heimat. Seit drei Jahrzehnten kreist der Schriftsteller immer wieder um seine Herkunft, seine Familie aus mehreren Kulturen, einer aus Norddeutschland stammenden Familie seiner schweizer Mutter und eines aus Trinidad stammenden Vaters. Martin R. Dean, aufgewachsen in kleinbürgerlichen Verhältnissen im Kanton Aargau, ist sich seinem Anderssein schon sehr früh bewusst, nicht nur wegen seiner dunkleren Hautfarbe, sondern weil seine Mutter sich nach der Trennung von jenem Vater und eines gescheiterten Traums, in Trinidad heimisch zu werden, nie mehr in jenes Land zurückkehrt. Ein Land, ein Stück Vergangenheit, das die Mutter mehr und mehr aus ihrem Leben verdrängt, nicht zuletzt darum, weil neue Beziehungen der Mutter das Gravitationsfeld der Familie nachhaltig verändern, bis zur totalen Verdrängung.

„Von Raum zu Raum gerate ich immer tiefer in die Geschichte meiner Vorfahren.“

Martin R. Dean «Tabak und Schokolade», Atlantis, 208 Seiten, CHF ca. 32.90, 2024, ISBN 978-3-7152-5039-7

Mit Sterben und Tod seiner Mutter macht sich Martin R. Dean auf auf eine Suche nach der Familie seines leiblichen Vaters. Im Bewusstsein, dass sich hinter den Schwarzweissfotos seiner Mutter, die er aus ihrer Hinterlassenschaft retten konnte, nicht nur ein paar Lebensjahre eines versuchten Familienglücks verbergen, sondern die Geschichte eines ganzen Landes. Es beginnt eine Reise in die Tiefen eines andern Kontinents, ganz anderer Geschichten, einer ganz anderen Geschichte. Jene von Sklaverei, Ausbeutung, Verschleppung, Unmenschlichkeit und Entwurzelung. Jedes Treffen mit Verwandten öffnet neue Türen, Leben, die aus dem Vergessen hervortreten, Leben, die zum eigenen werden. Mit einem Mal offenbart sich ein Wurzelgeflecht, das sich zum Reichtum wandelt. Was ein Leben lang zu einengenden Zuschreibungen und Ausgrenzungen führte, wird durch diese Reise nach Innen und Aussen zu Weite und Perspektive, zu Reichtum und Heimat.

„An den Dingen kleben die Geschichten, und selbst wenn sie nicht mehr in Gebrauch sind, sprechen sie von dem, was sie uns einmal wert waren.“

„Tabak und Schokolade“ ist auch eine Rückeroberung der Mutter, die Suche nach dem verlorenen Paradies, jenen wenigen Jahren unter Palmen, einer Kindheit in der Karibik, die mehr und mehr erlosch. Jene junge Frau, die über dem Ozean ein neues Leben wagte, deren Ehe aber scheiterte und sie mit einem dunkelhäutigen Jungen an der Hand zurück in die Schweiz zwang, starb gleich mehrfach. Damals, als sie einen Traum aufgeben musste, mit der Dominanz eines Stiefvaters und dem Rassendünkel eines späten Lebenspartners.

Den Roman „Takab und Schokolade“ damit aber zu einer reinen Familienerkundung zu machen, wird dem Buch keineswegs gerecht. Sehr schnell wird mir bei der Lektüre bewusst, wie wenig ich über meine eigene Herkunft weiss, wie unbedarft ich mich über all den Schichten meines Seins bewege, wie gedankenlos ich mich in meinen westeuropäischen Privilegien bewege und wie viel Kampf, Leid und Erniedrigung unter den Grundfesten meiner Existenz verborgen sind.

Martin R. Dean wurde 1955 in Menziken, Aargau, als Sohn eines aus Trinidad stammenden Vaters und einer Schweizer Mutter geboren, studierte Germanistik, Ethnologie und Philosophie an der Universität Basel, unterrichtete an der Schule für Gestaltung in Basel und am Gymnasium in Muttenz. Dean ist vielfach ausgezeichneter Buchautor. Zu seinen jüngsten Werken gehören «Meine Väter» (Neuausgabe 2023), «Ein Stück Himmel» (2022), «Warum wir zusammen sind» (2019) und «Verbeugung vor Spiegeln – Über das Eigene und das Fremde» (2015). Martin R. Dean lebt in Basel.

Martin R. Dean «Spiegelungen», Plattform Gegenzauber

Webseite des Autors

Illustration © leale.ch

Die Nominierten des Schweizer Buchpreises im Überblick #SchweizerBuchpreis 24/02

Sie sind da. Die Nominierten zum Schweizer Buchpreis 2024. Drei Titel von vielbesprochenen AutorInnen, ein Debüt und ein Mundartroman, der nicht nur formal aus der Reihe tanzt. Eine illustre Mischung. Eine breite Auswahl mit der nötigen Portion Risiko – und vielen Absenzen.

Mariann Bühler «Verschiebung im Gestein», Atlantis
Lange hat draussen das Schild «Bis auf Weiteres geschlossen» gehangen, bis Elisabeth die Ent­scheidung trifft, die Bäckerei weiterzuführen. Sie allein. Jeden Morgen feuert sie an, rührt den Teig, schiebt die Brote in den Ofen – und überrascht das ganze Dorf und sich selbst dazu. In derselben Gegend Alois’ Hof. Ein Hof, seit Generationen in Familienbesitz, Alois wurde nicht gefragt, ob er ihn übernehmen wollte. Er lebt mit dem Hund, überhört die Erwartung, eine Familie zu gründen – aber etwas schnürt sich zu. Vielleicht hat das mit Camenzind zu tun. Unterdessen kehrt eine junge Frau ins Dorf zurück; die drei Stufen zur Bäckerei laufen sich wie von selbst. Bei den Grosseltern holt sie den Schlüssel zum Sommer­haus, es soll verkauft werden. Sie sieht alles wieder, den Bergkamm, das Tal, den Balkon mit der Zugbrücke. Bald, so scheint es ihr, beginnt das Haus mit ihr zu sprechen.
Der Roman verfolgt drei Figuren, die nichts voneinander wissen und doch verbunden sind – durch die Gegend, das Dorf und die drängende Frage, wie es eigentlich weitergehen soll. Hart­näckig haben sich in ihnen weitläufige Spuren von Vergangenem festgesetzt, aber dann gerät doch etwas in Bewegung. In ihrem sprachlich dichten Debüt beobachtet Mariann Bühler, wie Veränderung sich ihren Weg sucht und Ver­schiebungen passieren, die so nie vorgesehen waren, die zuweilen sogar Berge versetzen.

Mariann Bühler, geboren 1982 in der Nähe von Luzern, hat in Basel und Berlin Englische Literatur­ und Sprachwissenschaft, Islamwissenschaft und Gender Studies studiert. Sie lebt als Autorin, Literaturvermittlerin und Veranstalterin in Basel. «Verschiebung im Gestein» ist ihr Romandebüt; für einen Auszug aus dem Manuskript wurde sie mit dem Zentralschweizer Literaturpreis ausgezeichnet.

Zora del Buono «Seinetwegen», C. H. Beck
Zora del Buono war acht Monate alt, als ihr Vater 1963 bei einem Autounfall starb. Der tote Vater war die grosse Leerstelle der Familie. Mutter und Tochter sprachen kaum über ihn. Wenn die Mutter ihn erwähnte, brach die Tochter mit klopfendem Herzen das Gespräch ab. Sie konnte den Schmerz der Mutter nicht ertragen. Jetzt, inzwischen sechzig geworden, fragt sie sich: Was ist aus dem damals erst 28-jährigen E.T. geworden, der den Unfall verursacht hat? Wie hat er die letzten sechzig Jahre gelebt mit dieser Schuld?
«Seinetwegen» ist der Roman einer Recherche: Die Erzählerin macht sich auf die Suche nach E.T., um ihn mit der Geschichte ihrer Familie zu konfrontieren. Ihre Suche führt sie in abgründige Gegenden, in denen sie Antworten findet, die neue Fragen aufwerfen. Was macht es mit ihr, dass sie plötzlich mehr weiss über ihn, den Mann, der ihren Vater totgefahren hat, als über den Vater selbst? Und wie kann man heil werden, wenn eine Leerstelle doch immer bleiben wird?

Auf der Spur des verlorenen Vaters und seines „Töters“– Deutschlandfunk Kultur, 16. Juli 2024 [12:49min.]

Zora del Buono, geboren 1962 in Zürich. Studium der Architektur an der ETH Zürich, fünf Jahre Bauleiterin im Nachwende-Berlin. Gründungsmitglied und Kulturredakteurin der Zeitschrift mare.


Martin R. Dean «Tabak und Schokolade», Atlantis

Nach dem Tod der Mutter findet der Erzähler in einer Schublade ein Album mit Fotos seiner frühen Kindheit, die er auf der Karibikinsel Tri­nidad und Tobago verbracht hat. Als junge Frau hatte sich die Tochter von «Stumpenarbeitern» aus dem Aargau in ein Abenteuer mit einem Tunichtgut der westindischen Oberschicht gestürzt und ein Kind bekommen. Während die übrige Familie bemüht ist, das Gedächtnis an die Jahre der Mutter bei den «Wilden» aus­zulöschen, macht sich der Erzähler auf, diese Geschichte, die auch seine eigene ist, zu retten.
«Tabak und Schokolade» führt in den tropischen Dschungel einer britischen Kronkolonie der fünfziger und sechziger Jahre. Indem der Er­zähler immer weiter zu seinen indischen Vor­fahren, die als Kontraktarbeiter in die Karibik verschifft wurden, vordringt, legt er nicht nur einen Familienstammbaum, sondern auch ein Stück Kolonialgeschichte frei. Dem gegen­über wird die Erinnerung an das Aufwachsen im «Tabakhaus» der Grosseltern im Aargau gestellt und die Annäherung an eine Mutter, die zu Lebzeiten stets unnahbar erschien.

Podcast – Debatte zu dritt» Wir müssen uns den weissen Blick austreiben« Tim Guldimann diskutiert mit dem Schriftsteller Martin R. Dean und der Rassismus- und Genderforscherin Rachel Huber

Martin R. Dean wurde 1955 in Menziken, Aargau, als Sohn eines aus Trinidad stammenden Vaters und einer Schweizer Mutter geboren, studierte Germanistik, Ethnologie und Philosophie an der Universität Basel, unterrichtete an der Schule für Gestaltung in Basel und am Gymnasium in Muttenz. Dean ist vielfach ausgezeichneter Buchautor. 

Béla Rothenbühler «Polifon Pervers», Der gesunde Menschenversand
In einer beschaulichen Kleinstadt in der Schweiz passiert Erstaunliches: Kaum gegründet, mischen Sabine und Chantal mit ihrem Verein «Polifon Pervers» und einer neuen Vision von «Onderhaltig» die Kulturszene auf. Risikofreudig und clever agierend, steigen sie als Theater-Produzentinnen zu nationalen Grössen auf und scharen eine illustre Runde um sich: vom eitlen Regisseur Lüssiän über den versoffenen Ghostwriter Iiv, den Lebemenschen und DJ Milan und die opportunistische Schauspiel-Grösse Schontal bis zu Jule und seinen Hanf-Bauern, die unversehens als Performance-Künstler brillieren. Dem Erfolg ordnet der Verein für Unterhaltung im Laufe der Geschichte alles unter, und so folgen auf erste Unsauberkeiten schon bald alle möglichen Formen des Betrugs.
Béla Rothenbühler führt in seinem zweiten Roman die Tradition des Schelmenromans fort – für einmal mit Hochstaplerinnen und auf Luzernerdeutsch. Sein ironisch-satirisches Gedankenspiel über Kultur, Unterhaltung und Geld ist selbst grosse Unterhaltungs-Kunst.

Béla Rothenbühler, geboren 1990 in Reussbühl, freischaffender Dramaturg, Bühnenautor, Sänger, Ghostwriter, Gitarrist, Songwriter, Lyriker und vieles mehr. Seit 2016 Teil des freien Theaterkollektivs Fetter Vetter & Oma Hommage. Zudem Gitarrist, Sänger und Songwriter der Band Mehltau und Songtexter für Hanreti.

 

Michelle Steinbeck «Favorita», Ullstein
«Es tut mir leid, deine Mutter wurde getötet.» Mit diesen Worten beginnt Filas Odyssee zwischen Lebenden und Toten: Von der Schweiz, in der sie aufgewachsen ist, nach Italien, das ihre Grossmutter als junge Frau verlassen hat und wohin ihre Mutter verschwunden ist. Fila zeichnet die Wege der beiden Frauen nach, begleitet von den Gestalten, denen sie unterwegs begegnet: revolutionäre Amazonen, faschistische Deserteure und der Geist einer jungen Bäuerin mit durchschnittener Kehle. Der Roadtrip auf den Spuren ihrer geheimnisvollen Mutter führt sie zum mutmasslichen Mörder – und mitten ins Herz des Zirkels, der das Land kontrolliert. Fila sitzt in der Falle. Aber sie ist nicht allein.

Michelle Steinbeck, geboren 1990, aufgewachsen in Zürich, schreibt Prosa, Lyrik, und für Theater, Magazine und Zeitungen. Ihr Debütroman «Mein Vater war ein Mann an Land und im Wasser ein Walfisch» war schon nominiert für den Schweizer sowie den Deutschen Buchpreis 2016. Nach längeren Aufenthalten in Rom, Paris, Hamburg lebt sie zurzeit in Basel.

Die öffentliche Preisverleihung findet am Sonntag, 17. November 2024, 11 Uhr im Rahmen des Internationalen Literaturfestivals BuchBasel im Theater Basel statt.
Der Eintritt ist frei. Die Platzanzahl ist beschränkt. Gratis-Tickets können ab dem 1. Oktober 2024 unter www.buchbasel.ch bezogen werden.

Illustrationen © leale.ch

Martin R. Dean «Spiegelungen», Plattform Gegenzauber

Längst behandeln wir von der schreibenden Zunft Franz Kafka, seine Familienkonflikte, seine Autoritätskämpfe, seine Hochzeitsvorbereitungen, seine Diäten und seine Sorgen wie eine Heiligengeschichte, an der es nichts mehr zu zweifeln und hinterfragen gibt und die, mit welchen Anpassungen auch immer, zum Vorbild für unsere eigene Schriftstellervita geworden ist. Kafka ist unser schillernder Gott in Menschengestalt und damit jemand, den er selber in einem seiner Romane, zum Beispiel im «Prozess», hätte erfinden können.

Matthias Nawrat stellte sich für ein Gruppenfoto neben mich. Bist du wirklich so gross?, fragte ich erstaunt. Alle lachten über meine Frage, was hätte er denn sagen sollen? Er entgegnete, dass ihm seine Grösse unangenehm sei. Ich konterte und sagte zu meiner eigenen Überraschung, dass er mich an einen Scheinriesen, an Herrn Tur Tur aus „Jim Knopf“ erinnere und mir dieser Riese immer sehr sympathisch gewesen sei. – Tags darauf grub ich das Kinderbuch im Keller wieder aus und las es noch einmal durch. Erst da fiel mir der Grund auf, warum mir, nach über sechzig Jahren, das Kinderbuch noch immer in Erinnerung geblieben ist. Wegen Jim Knopf, der damals einer der ganz wenigen farbigen Helden in Kinderlektüren war. Und deswegen muss er ja auch auf die Suche nach seiner Herkunft gehen.

Versailles: die noch immer faszinierende Pracht der Gartenanlagen, jetzt von einem barocken Disneylandsound unterlegt, kontrastierte schon damals auf groteske Weise mit der Figur des Sonnenkönigs, der sich kaum mehr ernähren konnte. Einen Bandwurm im Magen, riss ihm der Leibarzt sämtliche Zähne aus und den halben Kiefer weg, sodass er seine Nahrung nur noch als Brei zu sich nehmen konnte. Während der Adel liebessüchtig durch die Bosquets flanierte, furzte und kotzte der König ununterbrochen, weil er an Blähungen und Durchfall litt. Gesundheit ist immer ein Derivat der Macht, der Macht über sich selber. Die Defizienzen des Königs konterkarierten jedoch die pompösen Anlagen, die den Horizont mit dem Himmel vermählten. Was erzählt uns besser von der Hohlheit des Pompösen, als dieser von seinen Leibärzten zugrunde gerichtete Popanz: an ihm war nur seine Position wichtig. Die physischen Bedingungen dieser Position musste cachiert werden, so wie Jahrhunderte später Mitterand trotz seines starken Krebsleidens als Präsident nur regieren konnte, indem er sein Krebsleiden verbarg. Während die Gärtner wie Le Notre die Natur mittels oktogonalem Teich, Bosquets, sternförmig angelegten Wegen und Statuen zum schönen Erlebnis machten, frass die erste Natur sich durch den maroden Leib des Despoten und höhlte ihn aus. Er muss gestunken haben wie der Sumpf, der Versailles ursprünglich war, bevor es für den schönen Schein trockengelegt wurde.

Paris, Café de Flore: ein leerer Ort, wo man sich nicht mehr «trifft». So wie die Öffentlichkeit im Internet die reale «Öffentlichkeit» diffundiert hat, so gibt es auch immer weniger Orte, wo «man» sich trifft, wo also die verschiedenen Schichten, Charaktere und Segmente gesellschaftlichen Lebens zusammenkommen. Der Kellner, der, das Tablett mit zwei vollen Gläsern, einer Karaffe und einem Tellerchen in der freien Hand, den Tisch säubert, verrichtet seine Kunst heute vor amerikanischen Touristen und saudiarabischen Emporkömmlingen, die wenig von der Schwerkraft französischen Porzellans wissen.

Sizilien, Bagheria: Kaum ein anderer hat den Wahnsinn einer aus den Fugen geratenen Barock-Welt besser dargestellt als der Fürst von Pallagonia mit seinen irren Figuren. Zur Bestätigung meiner überwältigenden Eindrücke lese ich Goethes Italienisches Tagebuch. Goethe musste den Wahnsinn abwehren, in sich zähmen, er musste sich gegen das Kranke zur Wehr setzen, deshalb lästert er über den Stil des Fürsten von Bagheria.

Im Übrigen empfinde ich sein Reisebuch als Wohltat. Die Lektüre zwingt mich, langsamer werden. Goethe notiert nicht nur, was ihm begegnet, er will immer auch herausfinden, wie etwas zustande kommt und funktioniert und das macht seinen Reisebericht spannend.

In Bagheria bin ich plötzlich nicht mehr sicher, ob ich nicht schon einmal da gewesen bin. Könnte es sei, dass ich die Stellen im «Guaynaknoten» (1995) nur aus der Fantasie geschrieben habe? Oder war ich da und das Geschriebene hat sich an die Stelle des Erlebten gesetzt? Unabweisbar ist, dass es mir immer weniger gelingt, Geschriebenes und Erlebtes auseinander zu halten. Für meine Umgebung ist das ein Ärgernis, für mich ein Glück.

Was unterscheidet selber gemachte Fotos, zum Beispiel das Ablichten einer Sehenswürdigkeit, von den Fotos, die für Reiseführer oder für Postkarten gemacht wurden? Ich glaube, es ist die Versicherung, gegen jedes Vergessen einmal selber an diesem Ort gewesen zu sein, diesen Ort mit eigenen Augen gesehen zu haben. Auch wenn sich weder die «Schönheit» noch das damalige Verzaubertsein von diesem Ort in das Bild, das einem Jahre später wieder in die Hand fällt, retten liess, so wird vielleicht doch ein Spurenelement der Sehnsucht wieder wach, das einen damals überhaupt zum Schiessen der Foto veranlasst hat.

Das Grab von Chateaubriand befindet sich einige hundert Meter vor St. Malo auf der Ile de Grand Bré. Ein klobiges Kreuz, eingefasst von Quadersteinen. Zu lesen ist: «Un grand écrivain français a voulu reposer ici pour n’y entendre que le vent et la mer. Passant respecte sa dernière volonté». Darüber hinaus trägt das Grab keine Inschrift, auch keinen Namen.

Es ist eine bemerkenswerte Geste eines Schriftstellers, seinen Namen zu verschweigen, wo andere Stiftungen gründen und auch sonst keine Mühe scheuen, ihren lächerlichen Ruhm in die Ewigkeit zu transportieren, andere ihren Namen posthum durch Agenten oder Familienangehörige verbreitet sehen wollen. Keiner von ihnen nimmt den Tod so ernst wie Chateaubriand, der für mich dadurch eine besondere Würde gewinnt.    

Zum Fest des runden Geburtstags hat die Schriftstellerkoryphäe seine Freunde ausgewechselt. Sein Ruhm, durch ein wachsendes Alter vermehrt, soll jetzt auf den Nachwuchs und die Betriebslieblinge strahlen, auf dass er sich bei ihnen am besten vermehre. Schliesslich ist er der letzte seiner Generation und seine Worte verwandeln diejenigen, die jetzt mit ihm am Tisch sitzen dürfen, automatisch in Jünger. Unter denen, die ihn feiern sollen, sitzen einige der Jüngsten auf der Bühne, die ihn kaum kennen und deren Namen auch er bisher nicht kannte. Nun feiern sie ihn, ohne seine Werke gelesen zu haben: sie feiern eine Filiation. Die Jungen stimmen Elogen auf ihn an und sonnen sich in seinem Glanz, derweil die alten Freunde, am Katzentisch versammelt, stumm das Glas an die Lippen führen.

Ich treffe einen zehn Jahre älteren Kollegen, der mir von einem Schriftstellertreffen in den siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts erzählt. Als er damals vor versammelter Runde von seinem Kritiker-Erfolg berichtete, sein neuestes Buch war gerade im «Spiegel» besprochen worden, habe ihn ein Kollege umgehend zum Boxkampf herausgefordert. Er aber habe abgelehnt. Da sei der Kollege, wohl aus Verdruss, wie wild um ihn herumgetänzelt und habe ihm, da er den Kampf nicht habe annehmen wollen, die Lippe blutig geschlagen. Bei einer anderen Gelegenheit, einem Suhrkamp Empfang, sei Max Frisch hereingeschneit. Er habe sich kurz zu ihm gesetzt, habe fünf Minuten Small Talk gemacht, danach sei er aufgestanden und habe, sich von allen verabschiedend, jedem ein Zündholzschächtelchen in die Hand gedrückt, auf dem der Name Max Frisch gestanden habe.

Die dritte Erzählung dreht sich um Dürrenmatt, dem er an einer Tagung gegenübergesessen sei. Dürrenmatt aber habe gar nicht mit ihm reden wollen, sondern sei einzig auf einige Frauen konzentriert gewesen, die ihn umsorgten. Am nächsten Morgen sei er mit Dürrenmatt am Frühstückstisch gesessen. Noch immer habe Dürrenmatt nichts von ihm wissen wollen und habe ihn die ganze Zeit mit «lieber Herr Laederach» angeredet. Zuhause habe er dann alle Bücher von Dürrenmatt aus dem Regal genommen und in die Abfalltonne geschmissen.

Wilhelm Genazino ist einer, der in seinen Aufzeichnungen («Der Traum des Beobachters») immer wieder über die Genese von Erfolg, den Staus von Ruhm und das Prekäre der Schriftstellerexistenz nachdenkt. Ist er mir darin nicht ein Vorbild? – Gerade dazu taugt Genazino nicht, nicht einmal posthum. Denn seine Sache war nie die Idolisierung, sondern die kluge Hinterfragung solcher Mechanismen, die letztlich alle literaturfeindlich sind. Literatur ist ein Infragestellen, ist Hinwendung und nicht Anbetung. So kann er mir kein «Vorbild» sein; aber darf ich mich denn getrauen, ihn einen «Gefährten» zu nennen?

Über einen Lyriker, mit dem ich seit der Schulzeit befreundet bin, würde ich Folgendes sagen: er ist konsequent ins Freie geschritten und unter Himmeln und in Wäldern verloren gegangen. Er hat alle Leiderfahrung in Sprache gegossen. (Dabei staune ich, dass man so auf der Kante leben kann.)

F., ein Student der Biologie, so wird in der Runde erzählt, brachte die Frauen, mit denen er schlief, jeweils mit einem einzigen Satz zum Orgasmus. Niemand kannte den Satz, nur die Frauen, aber die schwiegen. Als er den Satz auf einen Zettel schrieb und den Frauen mitgab, wollte keine Frau mehr mit ihm schlafen. Schliesslich wurde seine Schrift unleserlich und der Satz verlor seine Wirkung.

Der Selbstbehauptungskampf von Autoren und Autorinnen übertrifft oft das gewohnte Mass, weil er immer existenziell ist. In Laufe meines Lebens bin ich vielerlei Arten begegnet, mit der Verzweiflung fertig zu werden. Da war der Grosschriftsteller im Exil, dessen Familie mich umarmte, als ich mich bewundernd zeigte, aber darauf wartete, dass sich meine Bewunderung auch auszahlte. Da war der Alkoholiker in Berlin, der immer zynischer und bösartiger wurde, je mehr er trank- und seine Konkurrenten regelrecht rhetorisch kleinhackte. Da war einer, der hatte seinen Kragen hochgeschlagen und mimte den Unnahbaren; man musste sich zuerst mit seiner Entourage anfreunden, um mit ihm bekannt zu werden. Da war der Umgängliche, der sofort alles verstand, der Mistergesundermenschenverstand, der aber gegenüber den anderen Darstellungsgiganten als der grösste gelten wollte. Und da war zuletzt noch der eidgenössische Bescheidenheitsapostel, der zum Lobgesang auf seine Bescheidenheit einlud. Irgendwo in diesem Reigen bin auch ich verortet. –Warum aber mimen wir Schreibende sosehr die Politiker, die Mächtigen und Dummen dieser Welt? Weil wir uns nicht eingestehen können, zu den Machtlosen zu gehören?   

Nachdem ich meinen Roman, nach vier Jahren Arbeit, beendet hatte, verweilte ich, wie eine vergessene Zimmerpflanze, noch immer in der kreativen Zone und formulierte weiter Phantomsätze. Eine Maschine, die weiterläuft, obwohl sie keinen Auftrag mehr hat. Mit Schrecken stellte ich fest, dass das Buch Wochen, Monate und Jahre meines Lebens verschlungen, meinen Alltag geknebelt und meine Neugier manipuliert hatte. Was zurückblieb, in Form eines Buches, war die harte Substanz gekelterten Lebens, haltbar bis auf Weiteres.

Ohne zu ahnen, wie tief ich in die Vermischungen eindringen würde, besuchte ich das Wohn- und Schreibhaus des ehemaligen Senegalesischen Präsidenten Leopold Sédar Senghor in Dakar. Ein Guide führte mich in die privaten Gemächer, die mit Möbel aus den siebziger Jahren ausgestattet waren, schwarze Holztischchen, Marmorböden, eine mit senfgelbem Stoff überzogene Polstergruppe, die mit der afrikanischen Malerei an den Wänden überraschend gut harmonierte. Keinesfalls prunkvoll oder einschüchternd, sondern nüchtern und stilvoll präsentierte sich hier die Macht und das Schlafzimmer des Präsidenten war eine überraschende Verschmelzung von afrikanischen Accessoires mit dem Bauhausstil.

Der Guide, der als Leibwächter des Präsidenten sowohl für dessen leibliche Sicherheit wie für sein seelisches Wohl zuständig gewesen sein muss, führte uns, während er die tragische Geschichte des verunglückten Präsidentensohnes erzählte, ins Schreibzimmer, ins Zentrum der Macht: vor dem hufeisenförmigen hölzernen Schreibtisch des Präsidenten, der zugleich ein Schriftsteller war, standen Bücher und lagen Stösse von Zeitschriften, und an der gegenüberliegenden ockerroten Wand, unweit einer imposanten Holzmaske und im Blick des Schreibenden, entdeckte ich die Werke von Georg Trakl und Rainer Maria Rilke, die beide auch zu meinen Lieblingsautoren zählen.

Durch das Fenster, in dem sich ein Teil der Bibliothek spiegelte, sah ich draussen die senegalesischen Orangenverkäufer barfuss die staubige Strasse auf und ab gehen und nach Käufern Ausschau halten. Am Schreibtisch, stellte ich mir vor, studierte der Präsident die Gedichte Trakls und Rilkes in der Originalsprache und liess wohl den einen oder anderen Gedanken in seine Theorie der Négritude einfliessen. Dann sah ich den Präsidenten zur Feder greifen und jene Rede verfassen, die er auf Einladung des österreichischen Bundeskanzlers Bruno Kreisky 1977 zur Eröffnung der Salzburger Festspiele halten würde: Österreich als Ausdruck der Weltkultur.

 

Rezension

Martin R. Dean wurde 1955 in Menziken, Aargau, als Sohn eines aus Trinidad stammenden Vaters und einer Schweizer Mutter geboren, studierte Germanistik, Ethnologie und Philosophie an der Universität Basel, unterrichtete an der Schule für Gestaltung in Basel und am Gymnasium in Muttenz. Dean ist vielfach ausgezeichneter Buchautor. Zu seinen jüngsten Werken gehören «Warum wir zusammen sind» (2019), «Verbeugung vor Spiegeln –  über das Eigene und das Fremde» (2015) und «Falsches Quartett» (2014). Martin R. Dean lebt mit seiner Familie in Basel.

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Beitragsbild © Daniel Nussbaumer

Martin R. Dean «Ein Stück Himmel», Atlantis

Zwei Männer treffen sich nach Jahren wieder. Sam als Patient mit einer Rückenverletzung vor seiner Operation. Florian als sein Anästhesist. Die Operation ist „erfolgreich“, auch wenn Sam keine Zukunft als Gehender haben wird. Sam und Florian umkreisen sich, bis sich ihr Gravitationsfeld wieder zu jenem Doppelplaneten macht, der sie einmal waren.

Sie haben sich beide verloren, nicht nur gegenseitig, sondern jeder für sich. Sam galt einst als vielversprechender Künstler, Frauen lagen ihm zu Füssen. Nun liegt er im Krankenbett und hat keine Lust als Paraplegiker den Kampf gegen die Resignation aufzunehmen.
Florian wurde Mediziner, auch wenn sein Beruf mehr Rüstung war als Tat gewordene Leidenschaft. Ein Beruf, in dem er seinen Schmerz über die Trennung von Yvonne verbergen konnte, der einzigen Frau, die ihm ein Stück Himmel geben konnte. Ein Beruf, der ihn einlullte und zudeckte, der ihm zusammen mit all den Instrumenten jene Sicherheit gab, die er sonst in seinem Leben nicht finden konnte.
Sam will nicht mehr, trotz vielseitiger Bemühungen. Ein Leben durch Begrenzung eingeschränkt, will er sich nicht einmal vorstellen. Der fast zwei Meter grosse Hühne, der sich ein Leben lang durch Eigenwilligkeit von nichts zurückhalten liess, wird zu einem renitent verbitterten Koloss, dem der aufrechte Gang verwehrt bleibt. Ein in seinem Stolz gleich mehrfach geknickter Riese.

Martin R. Dean «Ein Stück Himmel», Atlantis, 2022, 240 Seiten, CHF 34.90, ISBN 978-3-7152-5001-4

Florian versucht zu helfen, zuzureden, das, was Ärzte tun, wenn sie in ihren weissen Kitteln ans Bett eines Patienten treten. Aber Sam verweigert sich seinen Aufmunterungen und Florian schafft es nicht, seinem Freund, den er verloren glaubte, die Geschichten zu glauben, hinter denen Sam sein Leben erklärt. Durch die zwei Jahre, in denen sie nichts voneinander mitbekamen, ist nicht nur die Freundschaft verwundet, sondern jeder auf sich selbst zurückgeworfen, unfähig auf den andern zuzugehen. Florian ahnt, dass es nicht einfach ein Sturz von einem Apfelbaum sein konnte, weil man Sam vor einem Fussballstadion gefunden hatte. Und Sam weiss, dass hinter der weiss bemantelten Souveränität seines Gegenübers, seines einstigen Freundes, ein Trümmerhaufen steht, ein Leben, das nur schwer zusammengehalten werden kann.

Sam und Florian sind beide Verwundete, in ihren Beschränkungen Gefangene, Eingesperrte. Jeder wartet auf den Schritt des Anderen, auf das die Krusten aufbrechen und sich die morastige Vergangenheit offenbare. „Ein Stück Himmel“ ist jene Ehrlichkeit, die es brauchen würde, nicht nur das kleine Stück Himmel über dem Bett von Sam, in dem er Wolken sieht, die ungehindert weiterziehen. Sam und Florian sind zwei kalt gewordene Planeten, die so lange umeinander kreisen, bis die Kraft der Gravitation die Schichten aufbricht und endlich an die Oberfläche tritt, was sichtbar werden muss, um in neue Bahnen zu geraten.

Klar ist das Buch auch ein Roman über einen Mann, der den Kampf gegen seine Einschränkung zu einem für Einschränkung wandeln muss. Aber „Ein Stück Himmel“ ist alles andere als eine Geschichte des Kampfes. Eingeschränkt sind wir alle. „Ein Stück Himmel“ stellt Fragen: Lebt man das Leben, das man leben will? Sieht man sich agierend oder bloss reagierend? Wann schaffe ich es, dem schweren Mantel eines Opfers zu entsteigen? Martin R. Deans Roman ist Auseinandersetzung. Auch eine um Fragen des Schmerzes, des physischen und psychischen Schmerzes. Martin R. Dean scheut sich nicht, sprachlich und inhaltlich klare Schnitte zu ziehen, so wenig, wie er offene Wunden scheut. „Ein Stück Himmel“ ist eine Reise zweier Freunde, eine Reise in die Tiefen der Geschichten, eine Reise in eine unbekannte Zukunft. Und letztlich ist der Roman ein ernstes Spiel mit den Gegensätzen in jedem von uns. Ein Kampf zwischen einem nach Sicherheiten Ringendem und einem nach Freiheit Suchenden!

© Sven Schnyder

Martin R. Dean wurde 1955 in Menziken, Aargau, als Sohn eines aus Trinidad stammenden Vaters und einer Schweizer Mutter geboren, studierte Germanistik, Ethnologie und Philosophie an der Universität Basel, unterrichtete an der Schule für Gestaltung in Basel und am Gymnasium in Muttenz. Dean ist vielfach ausgezeichneter Buchautor. Zu seinen jüngsten Werken gehören «Warum wir zusammen sind» (2019), «Verbeugung vor Spiegeln –  über das Eigene und das Fremde» (2015) und «Falsches Quartett» (2014). Martin R. Dean lebt mit seiner Familie in Basel.

«LiteraturPur» mit Martin R. Dean

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41. Solothurner Literaturtage «Warum wir zusammen sind»

Wie fast jedes Jahr wird scharf geschossen, sobald die Teilnehmenden und das Programm feststehen. So wie dieses Jahr; es wird eifrig polemisiert, geschimpft, gewarnt und Gift gestreut. Mit Sicherheit gibt es Kritikpunkte genug, Erwartungen, die sich im Vorfeld schon nicht erfüllen. Aber die Solothurner Literaturtage sind nicht nur Nabel- und Werkschau der Schreibenden, sondern Literaturtage der Lesenden. Und die freut’s.

Erster grosser Programmpunkt des ersten Tages war der neue Roman «Warum wir zusammen sind» von Martin R. Dean, dem schon kurz nach dem Erscheinen in den Medien viel Platz eingeräumt wurde, denn Martin R. Dean trifft mit seinem Buch den Nerv der Zeit. Der Roman erzählt nicht nur von Beziehungen und Lieben, es sind gesellschaftliche und sehr intime Betrachtungen dessen, was Paare verbindet, genau das, was jene betroffen macht und gleichermassen fasziniert, die morgens in Scharen den Landhaussaal an der Aare füllen.

Solothurn war, ist und wird während dreier Tage Nabel und Mekka der Schweizer Buchwelt, das Epizentrum aller tektonischer Literaturverschiebungen, die dieser Anlass jedes Jahr auslöst. Seien es die Diskussionen in den Medien darüber, was an jenem oder diesem zu kritisieren sei, an den Eingeladenen, der Programmierung, dem Frust der einen, nicht oder schon wieder nicht eingeladen zu sein, den Ärger, den einen oder anderen Fixstern im Programm zu vermissen.

Vielleicht liegen die Gründe für all die immer wiederkehrende Kritik darin, dass dieses Buchfest mit jedem Jahr um eine Stufe mehr ins Unermessliche und Unerfüllbare aufsteigt. In der Schweiz gibt es kein zweites derartiges, in der Tradition verwobenes Festival, das ein so breites und zahlreiches Publikum zu mobilisieren vermag, wo das Dabeisein darüber entscheiden kann, ob ein Buch zu einem «finanziellen Erfolg» wird, ob sich ein Titel, ein Name überhaupt erst an die Oberfläche schält, wo die Leserschaft ihre Fühler ausstreckt.

«Die Ehe ist der Repräsentant des Lebens, mit dem du dich auseinandersetzen sollst.» Franz Kafka 

Martin R. Dean eröffnete mit seiner Lesung den Reigen vor grossem Publikum mit einer Liebesgeschichte, einer Geschichte um Lieben, Verhältnisse, Tabubrüche, Bedrängnisse und das Elend des Getriebenseins. Eine Liebesgeschichte für die einen, das blanke Elend für die andern, genauso wie das ambivalente Verhältnis vieler zu den Solothurner Literaturtagen. Solothurn ist die alljährlich wiederkehrende, institutionelle Flitterwoche der Vermählung zwischen Literaturbetrieb und Leserschaft. Vielleicht müssten die vorhersehbaren Diskussionen über das Gute und Schlechte dieser Literaturtage einmal mit jenen geführt werden, die vom Bodensee und vom Genfersee, vom Tessin oder vom Glarnerland an die Aare reisen, sei es für einen Tag oder für die ganze Festivalzeit. Sie kommen aus Liebe zum Buch, zur Literatur. Liebe reibt sich am Widerspruch. Solothurn ist eine Langzeitbeziehung mit Höhen und Tiefen, durchdringendem Glücksgefühl dann, wenn man erhört wird, wenn einem gehuldigt wird. Enttäuschung und Frustration dann, wenn man sich missverstanden oder übergangen fühlt.

Die 41. Solothurner Literaturtage sind ins Alter gekommen. Gut, wenn da immer wieder frisches Blut durch die Arterien des Festivals gepumpt wird, durch neue, junge Namen bei Eingeladenen und Organisation. Gut, dass sich die Solothurner Literaturtage der Kritik aussetzen, sich stets zu erneuern versuchen. Nichts an dem Festival ist vergeistigt, verknöchert oder in einer Hülle von Tradition eingeschweisst. Solange die Besucherzahlen beweisen, dass es die Solothurner Literaturtage geben muss, solange Leserinnen und Leser strömen und bei alledem das Wetter derart freundlich mitspielt, wird die in die Jahre gekommene Liebe überleben.

Über Höhepunkte, Highlights und Überraschungen berichte ich später!

Illustration © Lea Frei (lea.frei@gmx.ch)