Wolfram Schneider-Lastin (Hrsg.) «Fragen hätte ich noch. Geschichten von unseren Grosseltern», Rotpunktverlag

30 Autorinnen und Autoren aus der Schweiz, Deutschland und Österreich erzählen von ihren Grosseltern, Geschichten bis nach Italien, Frankreich, Polen, Tschechien, Ungarn, der Ukraine, Israel, Pakistan und der DDR. Geschichten von Berührten, Geschichten, die berühren.

Auf einem meiner Regale steht ein eingerahmtes, sepiafarbenes Foto. Ein Mann in Anzug und Kravatte sitzt in einem Korbstuhl neben einem Tischchen mit Spitzendecke. Mein Grossvater. Er war Tischler, Schreiner. Auf dem Foto hatte er etwas zu repräsentieren. Dazu gehören wohl auch die Bücher auf der Ablage unter dem Tischchen und das offene Buch mit Stift auf dem weissen Tischtuch. Mein Grossvater starb, als ich ein Jahr alt war. Meine Mutter erzählt, er habe mich, schon gezeichnet von seiner Krankheit, noch in Händen gehalten. Er wurde nicht alt, aber von meinem Grossvater gibt er Zeugnisse, die noch immer an den Wänden im Haus meiner Mutter und meiner Tante hängen; Aquarelle und Ölbilder, von naturalistisch bis abstrakt. Mein Grossvater war begabt und hätte sich wohl viel lieber als Künstler gesehen, statt als Handwerker, der nur mit grösster Anstrengung dem nachgehen konnte, was seiner Leidenschaft entsprach. Aus Geldknappheit und weil meine Grossmutter wohl alles andere als glücklich darüber war, dass ihr Gemahl Geld für Ölfarben ausgab, bemalte er seine Leinwände gar beidseitig, sodass man sich später, als man dann doch das eine oder andere Bild einrahmte, sich stets für das eine oder andere entscheiden musste, im Wissen darum, dass das verborgene Bild Schaden nehmen würde. Die Begabung meines Grossvaters setzte sich in meiner Mutter, die auch heute noch mit über achtzig malt, meinem Bruder, der in Zürich seit Jahrzehnten ein Atelier führt und meinen Kindern fort. Eine Begabung, die mich stets in die Nähe der Kunst führte, gepaart mit dem ewigen Zweifel, der mit Sicherheit auch meinen Grossvater begleitete, denn nach seinem Tod sah man an den Wänden meiner zur Witwe gewordenen und wieder verheirateten Grossmutter nie ein gemaltes Bild meines Grossvaters. 

«Schon lange wollte ich meine Beziehung zu meinem Grossvater in einer Erzählung festhalten. Mir war klar, dass mir das einiges abfordern würde. Vielleicht hatte ich sie deshalb noch nicht zu Papier gebracht, als die Einladung mit der Frage kam, ob ich einen Text beisteuern möchte für ein Grosseltern-Buch. Ja, natürlich, das war mein erster Gedanke. Und doch zögerte ich ein paar Wochen lang, bevor ich zusagen konnte, denn ich wusste: Über meinen Grossvater schreiben bedeutet über mich schreiben. Und das heisst: rausrücken mit dem, was ich für sehr privat halte. Das war und ist schwierig für mich, denn ich leide durchaus nicht unter Bekenntiszwängen. Nun bin ich aber überglücklich, es gewagt zu haben, über diese Geschichte entspannen sich neue Beziehungen, auch in der Familie, ich stehe neu mit zwei Cousins in intensivem Kontakt, ich erfuhr so viel mehr über meinen Grossvater und meine Herkunft. Die Geschichte ist noch lange nicht auserzählt. Und nicht zuletzt: Die Geschichte meines Grossvaters verbindet sich mit allen Geschichten und mit allen Grosseltern im Buch. Und auch die Autorinnen und Autoren haben – so behaupte ich – einen neuen und vertieften Zugang zueinander. Das hat grosse poetische Kraft.» Romana Ganzoni

Wolfram Schneider-Lastin «Fragen hätte ich noch. Geschichten von unseren Großeltern», Rotpunkt, 2024, 256 Seiten, CHF ca. 32.00, ISBN 978-3-03973-039-1

Vielleicht ist genau das die grosse Tür, die sich auftut, wenn man die Geschichtensammlung „Fragen hätte ich noch“ liest. Das Buch lädt ein, sich mit den eigenen Grosseltern zu befassen, sich zu fragen, was denn an Erinnerungen, an Wissen, an Persönlichem noch da ist. Wer sich nicht aktiv mit seinem Stammbaum, seiner Herkunft befasst, weiss vielleicht nur wenig, vor allem von dem, was Fotografien nicht erzählen. Urgrosselten und ihre Vorfahren verschwinden im Vergessen. So wie die meisten von uns in 100 Jahren vergessen sein werden. Meine Mutter ist weit über achzig. Wenn ich sie noch einmal fragen möchte, dann wäre es jetzt an der Zeit. Wer war meine Grossmutter? Warum habe ich von ihr ein derart nüchternes Bild? Warum empfinde ich meinem Grossvater gegenüber derart viel Wärme und Sympathie, obwohl ich ihn nie wirklich erleben konnte.

«Einige der Geschichten im Buch rufen in Erinnerung, dass Europa in der Weltgeschichte eine ebenso verdienstvolle wie zerstörerische Rolle spielt. Von hier gingen ja auch vielfältige Brutalitäten aus, die sich vor, während und nach den beiden Weltkriegen zugetragen haben, etwa die Gründung der Staaten Israel, Indien und Pakistan, oder die Zerstückelung ganzer Kontinente. Die meisten meiner Vorfahren – aber nicht alle von ihnen – entkamen der Vergewaltigung, Enteignung und Entwurzelung durch die europäischen Kolonialmächte. Durch eine postkoloniale Fügung des Schicksals bin ich in der Schweiz aufgewachsen: Mein Vater war Bankier.» Waseem Hussain

Wolfram Schneider-Lastin, der Herausgeber und Mitverfasser des Buches, schildert in seinem knappen Vorwort die Entstehungsgeschichte des Buches, wie er während der Pandemie begann, die Geschichte seiner Grossväter aufzuschreiben, sie an Freunde weitergab und Lektüre und Reaktionen eine wahre Welle auslösten. Entstanden ist eine erstaunliche Sammlung von Geschichten, von Frauen und Männern im 20. Jahrhundert, die sich ganz verschieden durch ein Jahrhundert der Kriege und Umwälzungen stemmten. Geschichten von Liebe und Hass, von Ernüchterung und Enttäuschungen, vom grossen Schweigen und dunklen Geheimnissen, von tiefer Verbundenheit und schmerzhaftem Ekel.

«Dass sich meine Grosseltern krumm und bucklig gearbeitet haben, dass vor lauter Arbeit kein Denken möglich war, das kam nochmals stärker durch. Und ist damit übertragbar auf Menschen, die eben am Rand und «unten» wie blöd und hart arbeiten, dass nichts anderes mehr möglich ist. (s.a. «Jahrhundertsommer»). Und – das ist mir im Vergleich mit den anderen Geschichten aufgefallen – dass es von meiner Oma nur überhaupt zwei Fotos gibt, denn niemand hatte einen Fotoapparat und auch keine Zeit für so etwas, dass sie auch kein Auto hatten, vor dem man sich hätte fotografieren lassen können, dass sie auch nie in Urlaub fahren konnten, von dem es Fotos hätte geben können, dass sie arm waren, ohne dass sie je von sich gedacht hatten, arm zu sein. (Und meine andere Seite der Familie war noch sehr viel ärmer.) D.h. die Klassenfrage, die Frage nach der Herkunft, drängt bei jedem weiteren Schreiben und im Alter immer stärker durch.» Alice Grünfelder

Ein wunderbares Buch, eine Einladung, ein Zeitdokument.

Wolfram Schneider-Lastin, geboren 1951 in Schwäbisch Gmünd, studierte Schauspiel, Germanistik, Geschichte, Altphilologie und Kunstgeschichte an den Hochschulen Stuttgart, Tübingen, Wien und Rom. Seit 1988 lebt er in der Schweiz, wo er seine wissenschaftliche Karriere – nach der Promotion über Johann von Staupitz – an verschiedenen Universitäten und als Redakteur der Zeitschrift Librarium fortsetzte. Als Schauspieler hat er sich vor allem mit literarischen Lesungen einen Namen gemacht.

Die Autorinnen und Autoren: Fabio Andina (CH), Esther Banz (CH), Nelio Biedermann (CH), Sabine Bierich (D/CH), Zora del Buono (CH/D), Alex Capus (CH), Verena Dolovai (A), Daniela Engist (D), Oded Fluss (ISR/CH), Romana Ganzoni (CH), Roswitha Gassmann (CH), Alice Grünfelder (D/CH), Gottfried Hornberger (D), Waseem Hussain (PAK/CH), Markus Knapp (D), Andreas Kossert (D), Martin Kunz (CH), Hanspeter Müller-Drossaart (CH), Christa Prameshuber (A/CH), Helmut Puff (D/USA), Klemens Renoldner (A), Christian Ruch (D/CH), Ariela Sarbacher (CH), Thomas Sarbacher (D/CH), Herrad Schenk (D), Gerrit Schneider-Lastin (DDR/CH), Wolfram Schneider-Lastin (D/CH), André Seidenberg (CH), Ruth Werfel (CH), Anke Winter (D/CH)

«Ich wundere mich über die historische Amnesie in Jurys, Feuilletons, sogenannten Kulturkreisen, wie wenig von diesem Wissen vorhanden ist, wie wenig diese Leute in diesen Bubbles selbst von anderen Kreisen wissen, in denen sie sich nicht bewegen, wie viel für «alt» gehalten wird und noch lange nicht überwunden ist – und wie viel Kraft es kostet, diese Vergangenheit und auch Krisen anderswo wieder und wieder gegen den Mainstream in Erinnerung zu rufen.» Alice Grünfelder

Illustration © Hannes Binder

Martin Kunz «Vom Adel der Alltagsfragen» Edtion Baes, Interview mit Urs Heinz Aerni

In seinem neuen Buch setzte der Philosoph Martin Kunz den Untertitel: «Philosophische und andere Notizen in einem merkwürdigen Jahr». Was machte die Pandemiezeit mit einem Philosophen und wie könnte der Alltag eine neue Qualität erhalten?

Interview: Urs Heinz Aerni

Urs Heinz Aerni: Ich beginne mit einem Zitat: «Vom Einzelnen wird Autonomie verlangt, diese ist aber im Grunde eine Bürde». Wissen Sie, wo ich diesen Satz las?

Martin Kunz: Alle, die über Autonomie nachdenken, kommen darauf zu sprechen, dass sie, also die Konkretisierung der Freiheit, ein selbstbestimmtes Leben zu führen, eine Aufgabe ist und nicht einfach ein Geschenk. Autonom bin ich, wenn ich den Willen habe zu wollen. Das heisst, ich muss nachdenken können, und zwar so, dass schliesslich das, was ich will, handlungsleitend wird.
Aber nun zu Ihrer Frage. Ich habe das so oder ähnlich sicher in einem meiner Essays geschrieben.

Aerni: Dieser Satz findet sich auf Seite 55 in Ihrem Buch «Die stille Erotik der Melancholie». Ich komme auf dieses Buch zurück. Doch nun zu diesem hier vorliegenden, das ja mitten in eine Zeit hinein oder aus ihr heraus geschrieben worden ist, in der die Frage nach Freiheit und Autonomie eine zusätzliche Brisanz bekommt. Das Buch enthält aber durchaus auch Notate, wie «Was koche ich für Vera?». Es scheint, dass Alltagsfragen wie diese, durch die Pandemiekrise geadelt werden. Weisst du noch, was du ihr dann gekocht hast?

Kunz: Ich erinnere mich nicht. Wahrscheinlich gab‘s zwei Gänge, etwas Vegetarisches und dann vielleicht einen Fisch. Sie sagen es übrigen sehr eindrücklich: Alltagsfragen werden in einer solchen Krise geadelt. Viele Verrichtungen habe ich bewusster ausgeführt. Das scheinbar Unwichtige erhält einen besonderen Glanz.

Aerni: Auch in diesem Buch hier reflektieren Sie über Ihre Existenz – mit Fragen und Gedankenspielen. Die letzten Bücher sind entstanden in Zeiten, in denen die Welt pulsierte: mit Events, Kinos, offenen Konzerthäusern und Theatern. Könnte es sein, dass Ihre Zurückgeworfenheit in die eigenen vier Wände mit Tätigkeiten wie Entkalken der Kaffeemaschine das Schreiben gelähmt hat? Oder war es für Sie eine Art Rettung?

Kunz: Das Warten der Kaffeemaschine habe ich gewissermassen zelebriert. Wenn die Grossräume des Heiligen, also Kirchen, Kinos und Wellnesstempel, geschlossen sind, stellt sich die Frage, ob andere seelische Verdichtungen bzw. Öffnungen gefunden werden können. Vielleicht eben Würdigungen des Nebensächlichen. Als es hiess ‹Bleibt zu Hause›, habe ich zunächst gedacht, dass ich ja nun etwas Grösseres anpacken könnte, ein Buch über den utopischen Aspekt der Romantik zum Beispiel.

Aerni: Da höre ich nun das berühmte «Aber»…

Martin Kunz «Alltag – Philosophische und andere Notizen in einem seltsamen Jahr» mit einem Vorwort von Zora del Buono. Edtion Baes, 2021, ISBN 978-3-9519872-7-9

Kunz: Genau … Ich habe dann eben gemerkt, dass ich energetisch dazu nicht in der Lage war, und kam deshalb aufs Tagebuchschreiben wie viele andere ja auch. Es wurde für mich existentiell wichtig. Man könnte geradezu sagen, dass das Tagebuchschreiben Ausdruck der Suche nach Selbstbestimmung ist. Ich schreibe, also bin ich im Quadrat. Dazu kommt noch das Klavierspielen, künstlerische Arbeit und die Kunst des alltäglichen Tuns. Deshalb schreibe ich auch übers Essen, über Liebesgefühle und nicht nur über die Kopfarbeit. Interessant dabei auch die Frage, worüber ich nicht schreibe …

Aerni: … was vielleicht durch das Lesen erahnt werden könnte…

Kunz: Auch habe ich mich Immer wieder gefragt, wie andere Alleinlebende, denen all das nicht zur Verfügung steht, mit der Situation umgehen. Ich bin in dieser Hinsicht privilegiert.

Aerni: Ob es Ihr persönlichstes Buch von allen ist, sei hier mal offengelassen, aber wir erfahren zwischen den Zeilen allerhand über Ihre inneren Konflikte und Sehnsüchte. Gab es auch Momente, in denen Sie die Philosophie und die Kunst als gescheiterte Stützen empfandest?

Kunz: Noch in der ärmlichsten Hütte wird sich ein Väschen mit einem Zweig, die Figur einer Gottheit oder ein einfaches Spielzeug finden. Genau dies, Anteil zu haben am Reich des Ästhetischen, der Phantasie, des Sakralen, trägt hindurch. Fragen zu stellen, Gedankenreichtum, Spiel, Schönheit und die Erfahrung von Sprengendem, von etwas, das uns aus unserem Weltimmanenzgefängnis hinausschauen lässt, das hilft. Und es ist kein Widerspruch zum Gedanken der Nobilitierung des Alltags. All dies mit Fragezeichen. Mich beflügelt`s. Meistens.

Aerni: «Weltimmanenzgefängnis», ein Wort, das man sich auf der Zunge zergehen lassen muss. Wir erleben hier, bei der Lektüre, nicht nur eine Reise durch Ihre Gedanken, sondern erfahren auch, was Sie gelesen haben. Befanden sich darunter Titel oder Texte, die Sie als Gewinn empfunden haben oder die Sie vielleicht enttäuscht haben?

Kunz: Enttäuscht haben mich jene Intellektuellen, die vorschnell wissen, wie alles ist, es besser wissen als die Experten, die in der Regel bescheiden sind. Schreibende, die zu Kurzschlüssen neigen, mag ich nicht besonders. Ein Kurzschluss ist das Ergebnis eines Zusammenbruchs der Spannung zwischen zwei Schaltungspunkten mit verschiedenem Potential. Oder anders gesagt: Wem der Doppelblick mangelt, der denkt nicht.

Aerni: Zum Glück gibt es auch noch andere Geister…

Kunz: In der Tat, ich bin bewegt worden durch Philosophen, die letztlich angetrieben sind vom Versuch, «alle Dinge so zu betrachten, wie sie sich vom Standpunkt der Erlösung aus sich darstellten» – so Adorno. Immer wieder hat mich da auch der Philosoph Ernst Bloch vereinnahmt mit seiner Utopie des transzendenzlosen Transzendierens. Jetzt verwende ich wohl wieder eine etwas strapazierende Formel. Nun ja, Philosophen sind in den Fragen der seelisch-geistigen Vertikalspannung manchmal mutiger als Theologen.

Aerni: Und die Kunst am Text, sprich Literatur?

Kunz: Philosophisches zu lesen genügt mir, wie Sie ahnen, noch nicht. Hölderlin, Trakl, Celan – Poesie, gehört dazu. Auch eigene Versuche. Und Klavier zu spielen, mich mit Kunst auseinanderzusetzen und nach dem Göttlichen zu fragen, unabhängig davon, ob es dieses gibt. All dies hat, wie schon erwähnt, rettende Kraft. Und ich habe es nie ganz aufgegeben, Menschen zu treffen. Zu spüren, dass es Menschen gibt, die uns mögen, ist lebenswichtig. Es gibt keine Kunst des Seins ohne Mitsein.

Aerni: Was hat Sie mehr verändert, die zwei Lockdowns, das Leben auf Halbmast oder das Schreiben dieses Textes?

Kunz: Wir stecken ja noch ziemlich in der Krise. Zurzeit sind meine Gedanken gerade dort, wo Menschen ins Elend gestürzt werden; bei den Kindern – es sind weltweit schätzungsweise eine halbe Milliarde, die nicht zur Schule gehen dürfen; bei den Mädchen, die statt sich emanzipieren zu können, ungewollt schwanger werden …

Aerni: Ein gewaltiges Thema, das uns wohl noch lange beschäftigen wird. Währenddessen verbeissen sich viele Flachdenker in festgezurrte Thesen und Weltbilder…

Kunz: Nun, wir denken immer lokal, schauen auf die Entwicklung der Zahlen bei uns, jammern, wenn wir nicht shoppen gehen können und die Bars geschlossen sind. Einzelne verrennen sich da gedanklich, kommen auf abstruse Behauptungen. «Scheinmeinungen» nannte das ein Vorsokratiker. Wir wissen leider nicht genau, welcher Umgang mit der Krise wirklich gut wäre. Und ich verstehe, dass es schwierig ist, Nichtwissen auszuhalten.

Aerni: Zudem wurde auch unsere Endlichkeit wieder mehr ins Bewusstsein gerückt.

Kunz: Sie sagen es. Ich denke über den Tod nach, ohne da sehr weit zu kommen. Und ich bin selbstverständlich besorgt, was die rettenden Massnahmen in unserer Gesellschaft für Schäden hinterlassen werden, ökonomische, soziale, psychische. Und ja, philosophisch stellt sich die Frage der Autonomie durchaus, um nochmals auf diese Frage zurückzukommen. Darf und soll «der Staat», den wir unversehens als strenges Gegenüber wahrnehmen, derart eingreifen in unsere Lebenswirklichkeit?

Aerni: Lassen Sie mich auf die Frage zurückkommen…

Kunz: Was mich verändert habe?

Aerni: Ja genau.

Kunz: Stellen Sie mir die Frage in ein paar Jahren nochmals.

Aerni: Sehr gerne. Das Lesen dieses Textes führte mich bei aller Neugier auf Ihre persönlichen Erlebnisse auch hin zum Mitdenken über Hegel, Adorno usw., aber auch in Phasen der Rat- ja sogar Hilflosigkeit bin ich geraten, bis hin zur Melancholie. Ich denke an Ihr bereits erwähntes Buch «Die stille Erotik der Melancholie». Hand aufs Herz, wie viel Erotik steckt nach diesem Jahr noch in ihr?

Kunz: Wir sind wohl nicht fürs Alleinsein vorgesehen. Etwas drängt zum Leben in einem Stamm, in einer Sippe, einer Gruppe und seit noch nicht langer Zeit zur Dialektik in einer Zweierkiste. Ich halte es aber für eine gute Übung, sich dem Alleinsein auszusetzen. Komme ich in ein weiterführendes Gespräch mit mir? Oder gerate ich in die Seelenwüste der Einsamkeit? In einem meiner Bücher

Aerni: … im «Wider die Selbstvergessenheit» …

Kunz: Genau, da habe ich ja nachgedacht über die sogenannte Individuation, also den Imperativ Werde, der du bist. Werde die, die du bist. Damit ist gemeint, den Weg der Schatten-Erkenntnis und Ichdistanzierung zu gehen, was der Ganzwerdung dient. Wir müssten wieder ernstnehmen, was Seele ist: das Medium, durch das sich etwas zeigt, was nicht meiner Wenigkeit zu verdanken ist. Trotzdem: Nur für den mystischen Menschen ist Einsamsein Eins-Sein. Einsam kann man sich übrigens auch mitten unter Menschen fühlen.

Aerni: Und für mich als Nichtmystiker?

Kunz: Ungewollte soziale Isolation ist keineswegs mehr süsse Melancholie, darauf wollen Sie wohl hinaus, sondern kann krank machen. Sprachlich und gedanklich unsorgfältig hat man uns soziale Distanz empfohlen.

Aerni: Irgendwo karikieren Sie «Freunde», die nur über sich selber reden, aber sich nie nach der Befindlichkeit des Gegenübers erkundigen. Nun, welche Fragen würden Sie den Leserinnen und Lesern dieses Buches gerne stellen wollen?

Kunz: Das will ich so abstrakt gar nicht beantworten. Ich käme gerne ins Gespräch mit einzelnen Lesenden. Und dieses Gespräch würde sich abhängig vom jeweils entstehenden Resonanzraum ganz anders entfalten.

Aerni: Trotzdem…

Kunz: Ja, um Ihrer Frage doch noch gerecht zu werden: Mich würde interessieren, welche Passagen beeindruckt, irritiert, geärgert, zum Staunen bewegt oder zu was auch immer angeregt haben.

Aerni: Danke, Martin Kunz, bleiben wir im Austausch. Über die fragile Freiheit, über das, was wir wollen und können. Unser Leben und unsere Welt befinden sich im Kippzustand, um so wichtiger bleiben das Lächeln und die Gelassenheit als unsere Stützen, und Bücher, wie dieses hier.

Martin Kunz studierte Philosophie, anthropologische Psychologie, Pädagogik und deutsche Literatur in Zürich und Berlin. Ferner studierte er am Konservatorium und an Kunstschulen und liess sich zum analytisch orientierten gestaltenden Psychotherapeuten ausbilden. Er war Professor an der Pädagogischen Hochschule in Zürich. Heute führt er am Rande des Zivilisationslärms ein Atelier für Kunst und Philosophie in Zürich.
Publikationen (Auswahl): «Honig und Quarz. Lyrik und philosophische Zuspitzungen» (2017), «Die stille Erotik der Melancholie» mit Bildern von Jeanine Osborne (2018), «Wider die Selbstvergessenheit»(2020).

Webseite von Martin Kunz

Beitragsbild © Urs Heinz Aerni

Martin Kunz «Die stille Erotik der Melancholie», Bucher

Der Autor und Philosoph Martin Kunz lässt mit sechszehn Gelegenheitstexte zum Innehalten auffordern, sie sollen um Unterbrechen verführen. Zu diesem Buch, das durch die Pandemie-Krise eine neue Qualität erhält, stellt er sich Fragen.

«Ich muss ja nur noch, was ich muss.»
Gastbeitrag von Urs Heinz Aerni

Urs Heinz Aerni: Melancholie ist ein grosses Wort, das jedoch oft missverstanden wird, warum findet dieser Begriff Eingang in den Titel Ihres Buches?

Martin Kunz: Der Vorschlag, die Überschrift des siebten Textes als Buchtitel zu wählen, stammt vom Verleger. Aber ich war sofort einverstanden. Ich will der Melancholie etwas von ihrer Schwärze nehmen. Sie ist das wertvolle Gefühl des Unzulänglichen. Sie steht im Gegensatz zum Affentheater der Eitelkeit. Sie muss nicht in die Resignation führen, sie kann sogar lächeln. Ihr Lächeln wäre dann kein gestelltes, kein nervöses, keines, das die Zähne zeigt. In ihm erschiene ein Ja, das entwaffnet, aber nicht applaudiert. So kann eben auch das Erotische beginnen: als scheues Spiel, dem innewohnt, dass Lachen und Tod Hand in Hand gehen, wie beispielsweise Georges Bataille schön herausgearbeitet hat. Und jetzt sind wir beim Grundton der Betrachtungen in diesem Buch: Es gibt kein Licht ohne Schatten, was nicht zur Schwarzweissmalerei verführen soll, sondern zur Differenzierung der Farbzuschreibungen, zur Nachdenklichkeit. Und diese gehört zur Grundhaltung des Philosophen.

Ihre Reflexionen bewegen sich zwischen Themen gesellschaftlicher Natur und ganz persönlichen Notizen, wie lässt sich auf dieser Gratwanderung, schreiben ohne gleich die Seele ausstülpen zu müssen?

Die meisten dieser Texte sind aus bestimmten Erlebnissen heraus entstanden. Irgendetwas lässt mich nicht mehr los, und so setze ich mich hin, um zu schreiben, um dem vielleicht Zufälligen des Alltags etwas Grundsätzliches abzugewinnen. Ich bin im Spital; bin mit Freunden am Feiern; erhalte eine Nachricht von einem Kritiker meines Denkens; ich sitze am Meer, und es beginnt zu nieseln; eine Klage geht ein wegen des Verhaltens von Studierenden usw. Da kann es geschehen, dass es mich packt, und ich schreibe.

Quasi ein aus der Hüfte geschossener Affekt-Text?

Oder, manchmal entsteht zunächst so etwas wie ein polemischer Kommentar, den lasse ich dann ruhen und setze mich später wieder hin, will über das Glossenhafte hinaus zur wirklichen Erwägung gelangen. Meine Innereien kehre ich nicht nach aussen, aber sie müssen mitbeteiligt sein.

Sie tangieren mit Ihren philosophischen Erwägungen Bereiche wie Religion, Wahrheitssuche, pädagogische Grenzen, Eros, Träume, Sturm und Drang und Respekt. Damit geben Sie zu, dass trotz den immens vielen Tonnen philosophischer Schriften nach wie vor alle Fragen offen sind. Oder nicht?

Warum und wozu noch mehr schreiben? – das frage ich mich manchmal auch. Aber es ist vielleicht die falsche Frage. Schreiben ist wie jede innengeleitete künstlerische Arbeit eine Art Muss. Wenn man Glück hat, interessiert das Hervorgebrachte auch andere. Doch wer nur auf Massenerfolg zielt, ist kein Künstler.

Sagen Sie das mal den Kolleginnen und Kollegen mit Bestsellernauflagen…

«Die stille Erotik der Melancholie», Erwägungenn und Improvisationen, mit Illustrationen von Jeanine Osborne, Bucher Verlag, 2018, 96 Seiten, CHF 22.90, ISBN 978-3-99018-476-9

Natürlich ist gegen Erfolg nichts einzuwenden. Aber zu ihrer Frage zurück: Warum so unterschiedliche Themen? Weil das meinem Selbstverständnis entspricht. Ich sehe mich als vielseitig denkenden Flaneur, als Universaldilettanten auf professionellem Niveau, als jemanden, der kraft seiner Kompetenzen über alles und nichts nachdenken kann. Das ist etwas verspielt gesagt, was Philosophen in einer Welt von Spezialisten wieder sein sollten. Aber selbst eine erhaben gedachte Philosophie ist nochmals aufzubrechen auf eine Weite hin, die sie selber nicht hat. Und dort tummeln sich die Fragen, die wir vielleicht besser umspielen als definitiv beantworten. Platon wird von Aristoteles in Frage gestellt, Aristoteles von Platon. Bedeutende Denkformen fruchtbringend in die Existenz mit hineinnehmen, das wäre ein Philosophieren, das zur Gestaltung des Lebens beiträgt. Und weil dies denkerisch kaum je gelingt, brauchen wir die Kunst. Und wohl auch so etwas wie Religion.

Wie oft kommen Sie sich als Künstler und Philosoph bei der Arbeit in die Quere?

Eine listige Frage. Der Romantiker in mir möchte ja, dass Philosophie, Mythos, Kunst und Logos eins werden. Ich fühle mich Byung-Chul Han verbunden, der kürzlich geäussert hat, dass es der Welt gut täte, reromantisiert zu werden. Der Melancholiker bedauert schmunzelnd, dass dies nicht gelingt. Und der allem Hinterwäldlerischen abholde Spätmoderne sagt Ja, aber zur Welt, wie sie ist.

Und als Musiker…?

Freue ich mich über all das Gelungene in der Musik, die, wo sie ganz bedeutend ist, nie nur bejaht. Als Improvisator versuche ich das auszudrücken, was jetzt gerade zu sagen wäre.

Also mitnichten Konflikte zwischen den unterschiedlichen Schaffensarten?

In Wirklichkeit ist es aber durchaus so, dass sich die Arbeitsformen Denken, Poetisieren, musikalisches Gestalten tatsächlich in die Quere kommen können. Die erste Seminararbeit, die ich damals an der Universität ablieferte, kommentierte mein Professor so: Vielleicht ist es besser, wenn Sie Künstler werden. Ich habe dann zu sortieren gelernt. Aber als ich meine Dissertation schreiben sollte, entstanden wieder zuerst Gedichte. Unterdessen kann ich gut umgehen damit und lasse zu, was sich aufdrängt. Ich muss ja nicht mehr, muss nur noch, was ich muss.

Apropos Kunst, wenn ich ein Gemälde malte mit einem lesenden Menschen, der Ihr Buch in Händen hält, wie müsste dieses aussehen?

Da fällt mir ein Bild ein, das ich als Student liebte: Die Lesende von Jean Jacques Henner, einem während des Fin de siècle beliebten Malers. Das Bild mag künstlerisch problematisch sein, aber ich habe die zum Lesen verführte Daliegende gemocht, eine Nackte, die ihrerseits den Betrachter, scheinbar ohne es zu wollen, noch zu ganz anderem als zum Lesen verführt. Und der Gipfel war, dass, kaum war das Bild aufgehängt, eine Frau in mein Leben trat, die ihr glich und die während einiger Jahre grosse Bedeutung für mich hatte. Orientieren Sie sich also beim Malen des Bildes an einem solchen Ereignis.

Auch für das vorliegende Buch fanden Sie eine Künstlerin, mit der sich schon länger zusammen arbeiten…

Richtig. Nun hat sich ja Jeanine Osborne, eine interdisziplinäre Künstlerin, mit der ich seit rund zwanzig Jahren arbeite, in meine Texte vertieft und eine Fülle von Zeichnungen geschaffen, mit denen sie meine Gedankengänge augenzwinkernd kommentiert. Ich freue mich sehr, dass einige dieser Arbeiten in mein Buch aufgenommen werden konnten. Jeanine Osborne und allen andern, die mich mit ihren Kommentaren zu meinen gedanklichen Streifzügen herausgefordert haben, danke ich herzlich.

Martin Kunz studierte Philosophie, anthropologische Psychologie, Pädagogik und deutsche Literatur in Zürich und Berlin. Weiterhin studierte er am Konservatorium und an Kunstschulen und liessß sich zum analytisch orientierten gestaltenden Psychotherapeuten ausbilden. Bis vor kurzem war er Professor an der Pädagogischen Hochschule in Zürich. Heute führt er am Rande des Zivilisationslärms ein Atelier für Kunst und Philosophie. Von ihm sind u. a. «Honig und Quarz. Lyrik und philosophische Zuspitzungen» (Collection Entrada 2017) und das «Wider der Selbstvergessenheit», Bucher Verlag 2020). 

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