«Jetzt ist alles anders; ich weiss nie, wann sie diese völlig Fremde ist, eine unheimliche Frau, die ich nicht kenne und die mich nicht kennt.»
Nach Jahrzehnten nimmt die Erzählerin den Deckel von einer Kartonkiste mit der Aufschrift «PREMIUM BANANA Chiquita». Eine Kiste voller Erinnerungen an ihre Mutter, eine Kindheit, aus der der Vater früh verschwand und sie sich mit den beiden Brüdern an die Mutter klammerte, die von Ort zu Ort weiterzog, auf der Flucht vor sich selbst. Doch selbst die Brüder schimpften sie «die Nachgeburt». So bleibt die Tochter weggeschlossen, auf Distanz. «Herzvirus» ist die Geschichte einer zerbrechenden Familie, die die Verankerung verliert, der Leidensweg einer Mutter, die vom Herzvirus infiziert ist, die in eine «Ohnmacht fiel, aus der sie nicht mehr zurückkann». «Ich dachte: ein Herzvirus – das passt. Ihr Herz wurde infiziert, langsam vergiftet, paralysiert, es war zu viel für sie hier.» Während die Mutter langsam im Wahn zerfällt, die Kadenz ihrer Einbrüche immer schneller wird, zwingt es die Tochter, eigenen Gesetzmässigkeiten zu gehorchen, der vergifteten Welt ihrer Mutter zu trotzen. Und weil die Familie immer dann weiterzieht, wenn die Mutter erneut zur Flucht ansetzt, ist es die Literatur, das Lesen, Pippi Langstrumpf, Peter Pan oder das Märchen vom Kalif Storch, die der Tochter einen Ersatz für die verlorene Heimat schenkt. Literatur gibt nicht nur Geschichten, sondern Geschichte. Im zweiten Teil des Romans reflektiert die erwachsen gewordene Tochter lange nach dem Sterben der Mutter auch nach sich selbst, was ihr die Kraft gab, damals zu überleben.
«Wenn ich lese, verschliesse ich meine Ohren. Mit einem Satz saugen mich die Erzählungen auf, vieles, was ich im Leben nicht verstehe, erscheint verwandelt in den Büchern wieder, stärker, deutlicher, unvergleichlich wunderbar.»
Bettina Spoerris feinsinniger Roman ist die Hommage an eine verwundete Mutter, ein vorsichtig bebilderter Annäherungsversuch an eine verlorene Vergangenheit. Auch wenn ich als Leser den Schmerz, etwas versäumt zu haben, mithöre, ist es die Liebeserklärung an eine Mutter, die sich manisch-depressiv immer weiter von den Kindern und der Welt entfernt, auch als ein neuer Mann einen Neuanfang verspricht. Bettina Spoerri schildert die Suche einer Tochter nach Geborgenheit und Halt, nach Liebe und Sicherheit, nach Erinnerung, nach Familie.
Bettina Spoerri ist in Basel aufgewachsen, studierte in Zürich, Berlin und Paris, arbeitete nach einem längeren Aufenthalt in Israel als Assistentin am Deutschen Seminar der Universität Zürich. Ihr erster Roman «Konzert für die Unerschrockenen» erschien 2013 bei Braumüller (Wien). Bettina Spoerri arbeitet heute als freie Autorin, Filmkritikerin, Kulturvermittlerin und leitet das Aargauer Literaturhaus.