Ausnahmezustände. Paris mit seinen Banlieues und Ferymont, ein Fleck Erde im Schweizer Seeland, Orte an denen Gegensätze zusammenprallen, sich so lange aneinander reiben, bis die Hitze in Flammen aufzugehen droht. Wie jedes Jahr lädt das Internationale Literaturfestival Leukerbad zur Literarischen Wanderung ein, stets mit zwei Autorinnen oder Autoren. Heuer mit der vielfach preisgekrönten Anne Weber und der jungen Debütantin Lorena Simmel.
Das Wallis, auch ein Ort der Gegensätze; dort das touristische Gesicht eines Kantons, der mit schwarzen Kampfkühen, dem Matterhorn und Weinbergen wirbt, auf der anderes Seite riesige Industriekomplexe und ewige Baustellen, die sich über Jahrzehnte ins Rhonetal hineinfressen. Aber wer nicht nur in die Literatur eintauchen will, wer während dieser Büchertage auch etwas von der Landschaft, den Traditionen, der Geschichte mitnehmen will, ist am eigentlichen Eröffnungstag des Literaturfestivals mit der Literarischen Wanderung, geführt durch einen Guide des Naturparks Pfyn-Finges, bestens bedient, auch wenn sich die Sonne zurückhaltend zeigt.
Die Schriftstellerinnen Lorena Simmel und Anne Weber beschreiben in ihren Romanen verwundete Landschaften. Verwundungen, die bis in die Seelen der Menschen wirken, ob in einem fiktiven Ort im Berner Seeland, zwischen Bieler-, Murten- und Neuenburgersee oder den Banlieues rund um die Megacity Paris. Ob in den Plastiktunnels der Gemüse- und Beerenproduzenten, in denen Hundertschaften vom dortigen Leben gekappt unter menschenfeindlichen Bedingungen für einen Hungerlohn die Supermärkte der Schweiz bedienen oder in den von Touristen geschmähten Banlieues, wo die im Sommer beginnende Olympiade tiefgreifende Veränderungen in eine Subkultur der Metropole hineinbaut, die das Gefüge in diesen heissen Zonen nicht abkühlen wird, da das Geld meist bloss dorthin fliesst, wo das öffentliche Interesse mit Aufmerksamkeit hingiert.
In Lorena Simmels Roman «Ferymont» weiss die Wahlberlinerin sehr gut, wovon sie erzählt, denn ihr fiktiver Ort Ferymont liegt dort, wo sie aufwuchs. Die Erzählerin in ihrem Debüt freundet sich in den Monaten, in denen sie dort Geld verdienen will und bei einer Tante einquartiert ist, mit Daria an. Daria, eine moldawische Saisonarbeiterin, die mit ihrer ganzen Familie weit weg von ihrem eigentlichen Zuhause ihr Stück Sicherheit gewinnen will. Die Erzählerin, als Seeländerin aufgewachsen, wusste schon als Kind von den fleissigen Händen in den langen Plastikröhren und Feldern in ihrer Heimat. Aber erst durch die eigene Arbeit, im Wechsel von einem Aussen in ein Innen, um als junge Frau Geld für Ausbildung und Leben in Berlin zu verdienen, lernte Lorena Simmel, was es heisst, Teil der «Erntebrigaden» in den künstlich aufgeheizten Subkulturen einer hochgerüsteten Landwirtschaft zu sein. Daria hilft der jungen Frau, manchmal gar zum eigenen Nachteil. Je tiefer die Erzählerin in die begrenzten Lebenswelten der Arbeiterinnen und Arbeiter auf den Feldern sieht, desto grösser wird ihr Befremden darüber, was die Gegensätzlichkeit dieser verschiedenen Welten mit ihr macht. «Ferymont» ist ein starkes Stück engagierter Literatur, das sich mit seiner Gesellschaftskritik nicht zurückhält!
Genauso «Bannmeilen» von Anne Weber! In ihrem «Roman in Streifzügen» macht sich die Erzählerin auf in jenen Teil ihrer Heimatstadt, der bisher ihrer literarischen Aufmerksamkeit entging. Mit einem befreundeten Filmemacher, der auf Recherchegängen für ein Filmprojekt, das sich mit den Auswirkungen der Sommerolympiade auf das filigrane Ungleichgewicht in den Banlieues der französischen Hauptstadt auseinandersetzt, macht sich die Erzählerin auf in eine Welt, die ihr selbst nach 40 Jahren Paris verborgen blieb. Zu zweit besuchen sie die Unorte einer Stadt, die im Bewusstsein der Allgemeinheit als Stadt der Liebe gilt. «Bannmeilen» ist ein Versuch zu verstehen, ein fast reumütiger Versuch, den Menschen dort Aufmerksamkeit zu schenken, die sie/man bisher mit Ignoranz auszublenden verstand. Ein Buch über jene Orte, die sich mehr und mehr den Zugriffen eines Rechtsstaats entziehen, in denen die Gewalt alles frisst und sich Generationen der Hoffnungslosigkeit ergeben. „Bannmeilen“ ist ein Mahnmal, ein mutiges Buch, das einem beschämt zurücklässt.
Aus 14 Nationen reisen Mitwirkende ins Oberwallis und bringen Geschichten und Gedichte in den verregneten Leukerbadner Bergsommer. An drei Tagen wird sich zum 28. Mal alles um die Literatur drehen, auf den Terrassen und Wiesen von Leukerbad, beim Dalaschluchtspaziergang, im «James-Baldwin-Zelt» und natürlich um Mitternacht auf dem Berg. Insgesamt warten zwischen 50 und 60 Veranstaltungen auf das Publikum, bei denen auch 12 aus der Schweiz auftreten werden.
In einer von lauen Winden erwärmten Nacht im Juli – schlaflos stehst Du am Fenster, ein kraftloser Halbmond gießt sein Licht über Deinen mitternachtsblauen Schlafanzug – in einer von lauen Winden erwärmten Nacht im Juli, zwei oder drei Uhr muss es sein, blickst Du, unklare Traumbilder noch im Kopf, über die Dächer Leukerbads, blickst hinauf und hinüber zu den groben, den abschreckend anziehenden Felskaskaden, hältst ein Glas Wasser in der Hand und horchst, schaust horchend in diese einladend milde Nacht hinaus, und beim vierten, fünften Schluck aus dem Wasserglas bemerkst Du es: Es hat sich in Deinen Ohren etwas Entscheidendes verwandelt, etwas Bedeutendes ist in Dir herangereift, Du hörst die Dala rauschen, als sprudle ihr Wasser quellenklar vor Deinen nackten Füssen, und das leicht schmatzende Geräusch, das Du jetzt vernimmst, muss tatsächlich von dem staubgrauen Nachtfalter herrühren, der eben vorhin auf dem Fenstersims gelandet ist und dort nun seine vordersten Beine zum Mund führt und sie reinigt und abermals reinigt mit einer rührenden Geduld.
Es dauert eine Weile, bis Du Dich vom Anblick dieses Falters lösen kannst, und als Du wieder hoch in den Himmel schaust, andächtig auf das konzentriert, was Du zu hören vermagst, so ist Dir gar, als könntest Du nicht nur sehen, sondern auch hören, wie der sanfte Nachtwind zwei filigrane, auf den Horizont zulaufende Kondensstreifen allmählich zusammenschiebt zu einer Sache, welche Wolke genannt zu werden verdient.
Du verstehst nicht zu sagen, ob es sich nicht doch um eine nächtliche Täuschung Deines Wahrnehmens handelt, um einen Traum gar, aber dieser neue, dieser erstaunlich klare Gehörsinn zieht Dich unvermittelt nach draußen, zieht Dich hinaus in die Landschaft, in die Natur hinein, in eine Natur, die jetzt nichts anderes mehr ist als eine mächtige, eine unwiderstehliche Einladung der gesteigerten Akustik.
Ohne auch nur das Geringste mitzunehmen, gehst Du aus der Tür, lässt Deine Wohnung hinter Dir, lächerlich fern ist jetzt alles, was bisher wichtig schien; mit unheimlich wachen Sinnen verlässt Du barfuß das schlafende Dorf.
Talabwärts marschierst Du, der mächtig rauschenden Dala entlang, an Inden vorbei, der Rhone entgegen, und noch ehe Du überlegen kannst, biegst Du kurz vor Leuk ab und gehst den Weg hoch, der hinführt zur Bodensatellitenstation Brentjong.
Bald hast Du sie direkt vor Dir, diese sanften, weißen Riesenmuscheln, diese überdimensionierten Halbkugeln, die hier die sonst unbemerkt verhallenden Signale des Universums einfangen. Sieben, acht, neun Stück müssen es sein, je mehr Du Dich umschaust, desto zahlreicher werden diese weißen Monumente des Horchens.
Es versteht sich, dass die Anlage von einem stacheldrahtgeschmückten Maschendrahtzaun umgeben ist. Aber mit Maschendrahtzäunen verhält es sich nicht anders als mit Damenstrümpfen; früher oder später reißt eine Masche, und lange bleibt es unbemerkt.
Tatsächlich findest Du rasch eine defekte Stelle, wo Du hindurchkriechen kannst. Viel Raum bleibt nicht, Du musst gut aufpassen, dass Dein mitternachtsblauer Schlafanzug sich nicht an einem Drahtende verfängt, und vorsichtig ahnend, dass Dich große akustische Glücksmomente erwarten, betrittst Du den Satellitenstationsboden.
Wie locker im Wald verteilte Pilze stehen diese mächtigen, allesamt in einem unbestechlichen Weiß gehaltenen Konstruktionen auf dem Areal verstreut. Manchmal stehen zwei ganz ähnliche dicht beieinander und horchen in die exakt selbe Richtung, als hätten sie sich verbrüdert und würden sich eine schwierige Aufgabe teilen. Andere behaupten eine spezielle Himmelsrichtung ganz für sich allein, scheinen stolz darauf und wollen mit den anderen, die scheinbar nur zufällig auch noch da sind, möglichst nichts zu schaffen haben. Ein ganz großer Empfänger hat seine Schüssel nicht nach Ost und nicht nach West, hat seine Schüssel in überhaupt keine Himmelsrichtung gereckt; senkrecht hoch gehen seine Fühler, und es sieht überhaupt nicht stolz aus, eher so, als sei er dazu verknurrt worden, das hier spärlich fallende Regenwasser aufzufangen.
Schließlich wählst Du unter jenen, die ihre metallenen Körper nach Südosten ausgerichtet haben, den größten aus. Die Kanten der metallenen Treppe schneiden unsanft in Deine nackten Füße, aber das kümmert Dich nicht, Du steigst empor an nachtkühlem Metall, Hände und Fußballen fühlen ein Summen, eine sanfte, metallene Vibration, es ist die Verbindung von Dir und diesem metallenen Leib, die Dich euphorisiert, und als die Treppe schließlich endet, auf einer engen Metallplattform, befindet sich über Deinem Kopf eine runde Luke, gesichert von einem massiven Griff.
Nichts scheint deutlicher als der Umstand, dass Du zu diesem Griff hinlangen, dass Du die Luke öffnen musst. Die Einsicht, dass Du nun direkt unter dem Trommelfell dieser Anlage stehst, erfüllt Dich mit einer wunderbaren Aufregung, und Du versuchst, Dich zu sammeln, um alle Details dieses Moments zu würdigen.
Unvermittelt streift Dich etwas.
Streift Dich, ehe es Dich trifft: Der Lichtkegel einer Taschenlampe ist es, und gleich darauf trifft Dich auch die grobe Stimme jenes Mannes, der eine Uniform der Firma Securitas trägt, trifft Dich die Stimme jenes Mannes, der viele Meter unter Dir steht und furchtbar schlecht gelaunt scheint und Dir erklärt, es sei der Aufenthalt auf dem Gelände strengstens verboten.
Du weißt nichts zu erwidern, blickst ruhig hinab zu diesem uniformierten Mann, der nun den Kegel seiner Taschenlampe wegnimmt aus Deinem Gesicht, vielleicht sogar aus Höflichkeit, er weiß ja sicher, wie arg das blendet.
Du erwiderst noch immer nichts; auch er scheint nichts mehr sagen zu wollen. Vielleicht hat dieser Mann in seinem Leben schon zu viele Male zu ähnliche Worte wiederholen müssen, vielleicht hat er die Kraft verloren, auch nur einen einzigen schon gesagten Satz nochmals zu sagen, jedenfalls schweigt er, wie auch Du schweigst, und jedenfalls fühlst Du, es verbindet Dich jetzt mit diesem Mann eine wunderbare Stille, ein wunderbar stilles Einverständnis, und als Du sicher bist, dass Dich diese Stille innig verbunden hat mit dem stumm in seiner Uniform verweilenden Mann, räusperst Du Dich leise, um ihn nicht zu erschrecken, dann fragst Du: «Möchten Sie nicht hochsteigen, zusammen mit mir die Luke öffnen und es sich anhören, das liebkosende Flüstern des Universums?»
Urs Mannhart, geboren 1975, lebt als Schriftsteller, Reporter und Landwirt in der Schweiz. Er hat Zivildienst geleistet bei Raubwildbiologen und Drogenkranken, hat ein Studium der Germanistik abgebrochen, ist lange Jahre für die Genossenschaft Velokurier Bern gefahren, war engagiert als Nachtwächter in einem Asylzentrum und absolvierte auf Demeter-Betrieben die Ausbildung zum Bio-Landwirt. Für sein literarisches Werk erhielt er eine Reihe von Preisen, darunter 2017 den Conrad-Ferdinand-Meyer-Preis. Im selben Jahr war er zum Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb eingeladen; sein Text stand auf der Shortlist. Sein neuster Roman «Gschwind oder Das mutmasslich zweckfreie Zirpen der Grillen» erschien 2021 bei Secession. Im Herbst 2022 erscheint bei Matthes & Seitz «Lentille. Aus dem Leben einer Kuh»: «Ein Bericht über die komplexen Beziehungsgeflechte zwischen Menschen und more-than-humans, der zeigt, wie bereichernd es ist, Zeit in der Nähe einer wiederkäuenden Kuh zu verbringen.»
Wie immer beim Literaturfestival Leukerbad beginnt das vielseitige Programm mit einer «Literarischen Wanderung», einer Veranstaltung, die ihre Anfänge länge vor der erfolgreichen Lancierung von «Literarischen Spaziergängen» hatte. Dieses Jahr ging es durch den Pfynwald, einem einzigartigen Naturschutzgebiet, zusammen mit den Schriftstellern Rolf Hermann und Peter Weber.
Dass Literatur in entsprechender Kulisse eine ganz besondere Wirkung erzielt, ist leicht nachvollziehbar. Aber wenn Literatur dort tönt, wo Geräusche, Geschmäcker, das Pfeifen der Vögel, das Rauschen des Rotten, der Rhone mitschwingt, dann wird Literatur, dann wird Sprache zu einem orchestralen Erlebnis, einer eigentlichen Symphonie.
Unter fachkundiger Führung von Armin Christen, einem Guide und Mitarbeiter des Naturparks Pfyn-Finges, wurden 40 Literatur- und Naturbegeisterte durch ein Naturparadies geführt, dass seinesgleichen sucht. Peter Weber und Rolf Hermann, zwei Schriftsteller, die in ihrem Schaffen mit ganz eigenem Instrumentarium arbeiten, lasen in Pausen aus ihren Werken.
Beide Schriftsteller erlaubten literaturblatt.ch Auszüge aus den vorgetragenen Texten wiederzugeben.
aus «Flüchtige Zuhause» (Rotpunkt):
Klingendes Geröll
In meiner Studienzeit wohnte ich in Bern, in einem Quartier unweit der Aare, die, aus südöstlicher Richtung vom Thunersee kommend, ein auf einem Geländesporn errichteten Teil der Altstadt in einer engen Schliefe umfliesst. Wenn sich sommers die Gelegenheit bot, und der Fluss mindestens eine Temperatur von 18 Grad hatte, ging ich in ihm schwimmen. Oft allein.
In Badehosen und T-Shirt, das Badetuch unter den Arm geklemmt, zog ich los. Die Holztür meiner Dachwohnung fiel ins Schloss, und ich stieg die vier Stockwerke hinab, spazierte durch den seltsam echolosen Lärm der Berner Strassen, ging einen mit wildem Gestrüpp bewachsenen Abhang hinunter, querte die Talsohle – an einem ehemaligen Gaswerkareal entlang, den Weg über den löchrigen Asphalt suchend, der von ockergelben Pfützen durchzogen war – und erreichte den Fluss.
Ich erinnere mich, wie ich manchmal minutenlang am Rand eines Fahrradwegs auf die blaugrüne, in Ufernähe vermeintlich träge, in der Flussmitte aber rasant dahingleitende Wasseroberfläche blickend mich plötzlich an das Ufer eines anderen Flusses versetzt sah – an den Fluss meiner Kindheit und Jugend: die Rhone. Sie, die nur ein paar Kilometer Luftlinie von der Quelle der Aare entfernt entspringt und zunächst als Rotten durch den deutschsprachigen Teil des Wallis fliesst. In dem Ort, wo der Rotten zum ersten Mal gestaut und ihm ein Teil seines Wassers entnommen und über einen Kanal einem Aluminiumkonzern zur Stromgewinnung zugeführt wird, wuchs ich auf.
Ich muss zehn Jahre alt gewesen sein, als ich auf dem Nachhauseweg mit meinem Vater die Brücke über dem Staubecken passierte und auf einmal, wie aus den Nichts, ein Helikopter vor der Sommersonne stand und mit dumpfen Schlägen die Luft zerteilte. Aus dem Seitenfenster unseres Subaru sah ich, wie der im tiefen Licht glitzernde Flugkörper einen riesigen, an Metallseilen befestigen Kessel ins Wasser senkte, kurz darauf wieder abhob und einen unseren Blicken verborgenen Zielort anflog.
Zuhause angekommen, erkannten Vater und ich den Grund für die Löscharbeiten: Ein paar Kilometer flussaufwärts stand links eine ganze Bergflanke in Flammen. Wir stiegen rasch aus dem Auto und eilten ins Haus, wo Mutter und meine zwei Brüder bereits auf dem Balkon standen und erstaunt und erschrocken zugleich das unheimliche Spektakel beobachteten. Vater, der durch einen Feldstecher auf die fast bis zum Himmel emporragende, gewaltige Woge aus Feuer spähte, begann das Treiben zu kommentieren, liess uns wissen, wie viele Helikopter am Himmel kreisten, wo genau sich die Feuerwehrkräfte der umliegenden Gemeinden aufhielten und in welchem Gebiet sich die Flammen am unerbittlichsten ausbreiteten. Einmal meinte er sogar, er könne die in alle Richtungen davonstiebenden Tiere erkennen: Füchse, Gämsen, Steinböcke, Hirsche und Rehe. Ein Rehe renne etwa gerade Hals über Kopf hangabwärts, überschlage sich öfters, richte sich aber immer wieder auf und hetze weiter, der Talebene, dem Rotten zu, der ihm, wegen des vom vielen Schmelzwasser bedingten Hochstands, wohl kaum Rettung bieten könne.
Wie lange wir an dem Abend auf dem Balkon standen, weiss ich nicht mehr. Umgehend wurde aber das über mehrere Wochen dahinziehende Beobachten der Löscharbeiten, die im steilen Gelände nur zögerlich zu bewerkstelligen waren, zu einem täglichen Ritual. Während die stets von Neuem auflodernde Glut bis zu zwei Meter tief in den Waldboden hineinkroch, grub sich jene Szene, die Vater durchs Fernglas erblickt hatte, in mich hinein, bis sie des Nachts in meinen Träumen wiederkehrte. Ich stehe am linken Rottenufer und sehe das bellende Reh. Völlig ausser sich galoppiert es am gegenüberliegenden Ufer auf und ab, setzt einen Huf ins Wasser, zieht ihn zurück, fängt erneut zu bellen an. Und hinter ihm brennt es lichterloh. Zwischen uns reisst der Rotten immer ungestümer alles mit, was sich ihm entgegenstellt: Baumstämme, Felsblöcke, Brückenpfeiler. Als die Lage immer aussichtsloser wird, es Feuerfunken zu regnen beginnt und ganze Schilfgürtel in Flammen aufgehen, nimmt das Reh weiten Anlauf, bellt ein letztes, grelles Mal und springt hinaus in die sich türmenden Wogen. Verzweifelt strecke ich beide Arme aus. Doch ein sanddurchsetzter, schlammiger Wall hat das Tier bereits erfasst, zerrt es hinweg und hinab.
Es war das Gekläff eines Hundes, der einem Plastikball nachjagte, das mich jäh aus meinem Tagtraum riss. Einige Sekunden vergingen, bis ich die Aareschwimmer, die in meinem Blickfeld auftauchten und verschwanden, nicht mehr als Schwemmholz oder sonstiges Treibgut wahrnahm. Noch immer leicht entrückt legte ich meine Sachen ab, ging flussaufwärts, wo ich, nur noch in Badehosen, in der Nähe des Tierparks, auf das Geländer einer niedrigen Brücke stieg und mich in die Aare fallen liess.
Ich tauchte ein in das Klirren und Knistern, das Rieseln und Sirren, das Scheppern und Surren und leise Dröhnen, das die von der Fliesskraft des Flusses mittransportierten Steine und Kiesel erzeugten. Mir war, als ob in der Tiefe ein tausendstimmiger, elektrisierender Chor erklänge, der alles, was an Unwägbarem geschah in hellsten Tönen von unmittelbarer Klarheit erlebbar machte.
Seither sind über zwei Jahrzehnte vergangen. Allmählich komme ich mir selber vor wie einer, der klingendes Geröll vor sich herschiebt. Und wenn der Zufall der Beharrlichkeit in die Hand spielt, kommt es auch hier zu Verwerfungen und Aufschichtungen und dazu, dass vielleicht einige Steine aus der Wasseroberfläche ragen und einen imaginären, temporären Fluchtweg bilden, der dem bellenden Reh die Rettung vor dem Inferno ermöglichen könnte.
aus «Tafelrunde. Schriftsteller kochen für ihre Freunde» (Luchterhand )
1
Im Nachbarort wirkte eine Wunderköchin. Eine schlanke, kleine Frau, altledig, ihre Hände waren immer dampffeucht. Wenn Gäste das Restaurant betraten, grüsste sie aus der Tiefe der Küche, sie konnte ihre heissen Pfannen nicht verlassen. Man hatte länger auf das Essen zu warten, die Gäste nahmen dies in Kauf, sie kochte alles frisch und in der Reihenfolge der Bestellungen. Immer war zu riechen, was sie gerade zubereitete – in Schwellen gingen die Gerüche durchs Lokal und boten über die Tische hinweg Gesprächsstoff. Die Köchin stammte aus dem Kanton Schaffhausen, war just neben jenem Ort aufgewachsen, wo die Schweizer Streuwürze hergestellt wird. Der Geruch von Aromat liegt in jener Gegend in der Luft. Die Köchin aber hatte streuwürzlos kochen gelernt, in einem weltbekannten Fischrestaurant am Rhein, wo die hohe Butterkunst zelebriert worden war – bei Fisch, Kartoffeln und Süssspeisen. Basis für diese Kunst war frische Süssbutter gewesen, fürs Braten zu Bratbutter eingekocht, für bestimmte Gerichte aber wieder mit frischer Butter verfeinert, so hatten sich unzählige Buttermischungen ergeben, jede mit eigenem Namen. Endlich wurde der Salat in einer grossen Schüssel aufgetischt. Die Gäste liebten diesen Salat seiner Sauce wegen – deren Geheimnis war der Essig aus Ostschweizer Landweinen, hiess es, Landweine, die nie besonders süss sein konnten. Essig aus Ostschweizer Landweinen erhielt eine besondere herbe Note, Säureschlucht, adstringierend, den Magen öffnend, hinunterzeigend. Im Keller, hiess es, unterhielt die Köchin in einem grossen Glas eine Essigmutter. – Den Kopf auf der Höhe der offenen Durchreiche sah ich eines Mittags, was Erwachsene nicht sehen konnten: dass die Wunderköchin nebst Salz auch Aromat auf die Salatblätter streute, nur sehr wenig und fast reflexartig, eine Prise Heimat, gelbe Streue, Kristalle und Flocken, sie lösten sich auf, verschmolzen auf den Blättern zu unsichtbaren Geschmackströpfchen. Über die Säureschluchten ihres Essigs spannte die Köchin aromatbrave Brücken der Normalität. Das Geheimnis ihrer Kochkunst war, dass sie Tiefe und Mitte kombinierte. Bei der Verabschiedung gab sie mir die Hand. Ich hielt es geheim.
2
Aromat enthält Geschmacksverstärker, Speisesalz, Sellerie, Pilzextrakte. Parmesan enthält natürliche Glutamate, ist somit den Geschmacksverstärkern zuzurechnen. Die Streuwürze der Römer, die sie allen Legionären mitgaben und die sie auf geschmacksarme Speisen in der Fremde gaben, war eine Art Sardellenersatz und enthielt natürliche Glutamate. Sind Geschmacksverstärker im Spiel, sagt mein Nachbar, er ist Hirnforscher, isst man mehr und schneller. Gieriger. Es wird weniger gekaut und schneller geschluckt. Geschlungen. Die Bissen sind grösser und die Pausen zwischen den Bissen kleiner. Botenstoffe im synaptischen Spalt am Ende der elektrischen Übertragung: Bei Glutamat handelt es sich neurologisch betrachtet um ein Rauschgift, sagt der Nachbar, um eine suchterzeugende Aminosäurenverbindung, die über die Schleimhäute ins Blut und von dort direkt in unser Hirn gelangt. Glutamat erzeugt künstlichen Appetit. Knorrli, der lachend rote Suppenteufel mit den dicken Waden, der die Kelle schwingend über die Aromatdose rennt, ist Transmissionar. Er wohnt unter Pilzen.
3
Totentrompeten: Meine Mutter fand diese Gewürzpilze in hoher Zahl, sie konnte sie erahnen, erriechen. Mitglieder des Pilzverreins suchten im Ungefähren oder auf der falschen Talseite. Man erkennt die Totentrompeten auf dem Waldboden kaum – kleine, schwarzbraune Körperchen mit Trompetenöffnungen, wo die Hüte wären. Sie strecken zwischen dunklem Laub, den Erdtürmchen, wie sie die Waldwürmer aufwerfen, allzu ähnlich. Ich wurde ausgeschickt, sie aufzusammeln, der Hund begleitete mich, ich agierte auf Schnauzenhöhe. Feuchte Hänge eines Bachtobels, Äste und Wurzeln, an denen man sich festhalten konnte. Bald roch es nach Erdreich, Schlaf und Mohn. Wenn man eine einzige Totentrompete entdeckt hat, finden sich daneben unzählige andere. Sie stehen geschart, in Heeren. Auf dem Rückweg sammelte ich die zuschauenden Milchlinge ein, Publikumsreizker. Wir brachten leuchtorange und grauschwarze Pilze im selben Korb nach Hause – die Reizker bereitete meine Mutter sofort zu, die Hüte in Eigelb und Mehl gewendet und kurz gebraten. Die Totentrompeten jedoch sind frisch gekocht zu faserig, ihr Geschmacksprinzip verdichtet sich erst, wenn sie austrocknen, sich zusammenziehen. Wir legten sie auf Dörrsiebe, Pilzgeist breitete sich aus. Die kleinen Stücke kamen in grosse Gläser. Ich öffnete diese immer wieder kurz, um meine Nase in den Wald zu stecken. In einer Wildrahmsuace entfalten die wieder eingeweichten Pilze ihr dunkles Aroma. Totentrompeten und Rahm: Angelicum. Das Lied der guten Welt.
…
Rolf Hermann, geboren 1973 in Leuk, studierte Anglistik und Germanistik. Sein Studium verdiente er sich als Schafhirt im Simplongebiet. Rolf Hermann ist Mitglied der Mundart-Combo «Die Gebirgspoeten». Seine Texte wurden ins Arabische, Englische, Französische, Litauische, Polnische, Spanische und Ungarische übersetzt. Heute lebt Rolf Hermann mit seiner Familie in Biel. Er schreibt vor allem Lyrik, Prosa, Hörspiele, Spoken-Word und Theatertexte, oft auch in Mundart.
Der Schriftsteller Peter Weber ist 1968 in Wattwil geboren und dort aufgewachsen, heute lebt er im Toggenburg, in Zürich und zeitweise in Istanbul. Er sucht, wie kaum ein anderer Autor seiner Generation, nach der Musik in der Sprache, nach dem Klang der Wörter und Sätze. Sein Erstling «Der Wettermacher» wurde 1993 als origineller Wurf gefeiert und trug dem Autor mehrere renommierte Literaturpreise ein. Seither gilt Peter Weber als markant eigenständige Stimme in der Schweizer Literatur. Seine Romane ragen durch ihre musikalische und originelle Sprache aus dem Einerlei der Gegenwartsliteratur heraus, wie die FAZ festhält.