Das 45. Literaturblatt hofft auf AbonnementInnen!

Reaktionen auf das 44. Literaturblatt:

«Ich möchte ihnen ein großes Kompliment dafür aussprechen, was Sie da quasi „nebenher“ auf die Beine stellen – ein großartiges und wunderbares Zeugnis für das, was Leidenschaft vermag!“
Christian Torkler, Schriftsteller

«Ich komme gerade zurück aus Hamburg und habe das analoge Literaturblatt im Postfach gefunden. Vielen Dank, Gallus! Das war eine richtige Überraschung. Ich bin sehr froh, dass dir das Buch gefallen hat. Vielen Dank für was du geschrieben hast über ‹Unter den Menschen›. Ich glaube, du hast das Buch nicht nur mit deinem Kopf, auch mit deinem Herzen gelesen. Hartelijke groet uit Amsterdam!»
Mathijs Deen, Schriftsteller

«Es ist sehr schön geworden, ist ein richtiges Objekt.»
Katrin Seddig, Schriftstellerin

«Herzlichen Dank für die treffende Rezension von „Stromland“ im Literaturblatt, ein wirklich sehr besonderes und aussergewöhnliches Format, das ich so noch nicht gesehen habe. Ich hoffe, sie führen es noch lange Zeit weiter!»
Florian Wacker, Schriftsteller

«Wieder liegt so ein wunderschönes Literaturblatt vor mir. Ein jedes ist ein Kunstwerk. Man kann sie nicht nur mit Freude lesen, sondern auch mit Freude anschauen. Danke Gallus. Einfach grossartig.»
Margrit Schriber, Schriftstellerin

Ulrich Woelk «Der Sommer meiner Mutter», C. H. Beck

Im Juli 1969 stecken die Amerikaner ihre Fahne in den staubigen Sand des Mondes. Die ganze Welt schaut zu. In jenem Sommer, «dem Sommer meiner Mutter» wird der Mond für den elfjährigen Tobias zum Sinnbild totaler Veränderung, denn in jener Nacht implodiert sein Weltbild, wird eine grosse Schuld geboren.

Im Sommer 1969 wankt Deutschland in den Nachbeben der Hippiezeit, der sexuellen Befreiung, mehr oder weniger unterschwelliger Rebellion und den Protesten gegen den Vietnamkrieg. In diesem wirren Sommer findet der elfjährige Tobias in seinen neuen Nachbarn und der um ein Jahr älteren Rosa, jene erste Liebe, die sich unweigerlich und unauslöschlich ins Bewusstsein eines jeden brennt.

45 Jahre später ist aus Tobias ein Astrophysiker geworden, der an der Rosetta-Mission auf den Kometen 67P/Tschurjumow-Gerassimenko mitarbeitet. Rosa und er hatten sich im Sommer 1969 gefunden und wieder verloren. So wie eine Sonde und ein Komet. Rosa wurde Schriftstellerin. Und der Zufall wollte es, dass Tobias eines Tages bei einer Lesung während der Frankfurter Buchmesse im Publikum der Schriftstellerin sitzt und schlussendlich mit der Bitte um eine Signatur vor ihr steht.

Tobias wäschst in einem beschaulichen Quartier auf, am Stadtrand von Köln. Sein Vater leitender Angestellter, seine Mutter Hausfrau. Zu Beginn des einen Sommers, als die Jeans in Köln landete, ziehen in das leer gewordene Haus gleich in der Nachbarschaft Herr und Frau Leinhard mit ihrer zwölfjährigen Tochter Rosa ein. Er Professor für Philosophie mit langen Haaren, sie Übersetzerin mit Batikhemd und Jeans. Leinhards sind Kommunisten, glauben an die baldige Befreiung des Kapitalismus und aller anderen Fesseln. Rosa trägt ihren Namen nach der Kämpferin Rosa Luxemburg. Tobias Vater glaubt an die Möglichkeiten der Technik und die Wirksamkeit von E605 im Kampf Läuse und anderes Ungeziefer im Garten. Und Tobias Mutter?

Während Apollo 11 sich anschickt den erdnahen Trabanten für die Menschheit zu annektieren, wird aus der Begegnung von Rosa und Tobias eine junge und unsichere Liebe. Rosa, neu in der Stadt und noch nicht sozialisiert, und der eigenbrötlerische Tobias hören zusammen die Schallplatten der Familie Leinhard; Doors, Bob Dylan, Janis Joplin. Eine ganz andere Welt als das, was in der ZDF-Hitparade über die Mattscheibe flimmert. Rosa wird zum Schlüssel in eine andere, fremde Welt. Auch in die Welt der Liebe, der Berührungen, der Entdeckungen eines Sommers, die seine Welt bisher in seinen Grundfesten erschüttert.

Die beiden Familien freunden sich aller Gegensätze zum Trotz an. Man lädt sich gegenseitig ein, besucht die Kirmes, die Mütter mit den Kindern gar eine Demonstration gegen den Vietnamkrieg. Während sich die Eltern annähern, gibt es genügend Raum für Rosa und Tobias, dem nahe zu kommen, was Erwachsensein bedeutet; «Es» zu tun. Tobias, gleichermassen angezogen wie verunsichert, sieht die Welt mit andern Augen. Auch das fragile (Un-) Gleichgewicht seiner Eltern, die Fassaden der Erwachsenen. Er verliert mehrfach die Unschuld – und auch seine Familie.

«Der Sommer meiner Mutter» beginnt mit einem Paukenschlag – und der ganze Roman bebt weiter im Aneinandereiben von tektonischen Platten. Scheinbar leicht erzählt beschriebt der Roman die harte Landung auf dem Planet Erde, die historische Bruchkante zwischen dem biederen Nachkriegsdeutschland und dem Aufbrechen in neue Welten.

Ein Mailinterview mit Ulrich Woelk:

Ich erinnere mich gut, an die gestatteten und illegalen Stunden vor dem Fernseher, als sich Apollo 11 auf seine Mission zur Eroberung des Mondes machte. Damals war ich sieben. So wie zwei Jahre später die Niederlage von Muhammed Ali gegen Joe Frazier. So wie viele Erzählungen beginnen mit „Damals, als“. „The Eagle has landed“, meldete Armstrong am 20. Juli 1969. Aber in Tobias Familie riss ein unsichtbares Riff ein nicht wieder zu verschliessendes Loch im Rumpf seiner Familie. Trotzdem schildern sie nicht die Geschichte des Opfers. Aber die Geschichte von Schuld. Ist Schuld unheilbar?

Schuld bleibt. Man kann, wenn man schuldig geworden ist, nur auf Vergebung hoffen, denn die Zeit lässt sich nicht zurückdrehen. Was meinen Roman angeht, muss man allerdings hinzufügen, dass sich mein Erzähler schuldig fühlt für etwas, wofür er nicht verantwortlich ist. Er ist ja noch viel zu jung, als die Dinge geschehen, die schließlich so traurig enden. Er ist elf, als sich seine Mutter das Leben nimmt, und dass er in diesem Drama eine so entscheidende Rolle spielt, das ist … ja, was ist es eigentlich? Zufall, Schicksal, ein unglückliches Zusammenspiel verschiedener Umstände? Ich will das gar nicht entscheiden. Als Autor ist es mein Ziel, meine Geschichten zu erzählen, aber nicht zu erklären. Das Leben erklärt uns ja auch nicht, warum dieses oder jenes geschieht. Wir müssen selbst dahinterkommen. 

„Die Menschen sagen nicht immer die Wahrheit“, mahnt Tobias Vater seinen Jungen. Ausgerechnet er, der seinen Jungen immer zur Wahrheit mahnt. „Der Sommer der Mutter“ ist der Roman einer Entzauberung. Ist Schreiben der Kampf um die Rückkehr der Verzauberung?

Nein, das denke ich nicht. Für das Schreiben – mein Schreiben – ist gerade die Erfahrung der Entzauberung fundamental. Aber ich fand es schön, für „Der Sommer meiner Mutter“ in die späten Sechzigerjahre und meine Jugend zurückzukehren. Das war beim Schreiben manchmal eigenartig. Man entwickelt bei einer so intensiven Beschäftigung mit einer Zeit automatisch eine Art von Sehnsucht nach der Vergangenheit, nach der einstigen Kindheit und Jugend. Der Unschuld. Dem Leben ohne Verantwortung. Da denkt man dann schon mal schnell, diese Zeit war unbeschwerter als unsere heutige Welt der Globalisierung mit ihren Flüchtlingsdramen, kulturellen Verwerfungen und terroristischen Bedrohungen. Aber das stimmt nicht. Die Sechziger Jahre waren die Zeit des kalten Krieges und der Angst vor einem neuen heissen oder atomaren Krieg. Damals hat man die politische Lage als genauso undurchschaubar und bedrohlich empfunden wie heute. Und dennoch bildet sich um diese Jahre beim Schreiben manchmal so eine gewisse Patina von temporaler Heimat. Aber wie gesagt: Als Autor weiss ich immer, dass die Rückkehr in dieses „Paradies“ unmöglich ist.

Der Roman beginnt mit dem Satz: „Im Sommer 1969, ein paar Wochen nach der ersten bemannten Mondlandung, nahm sich meine Mutter das Leben.“ Tobias schreibt die Geschichte seiner Mutter mehr als 45 Jahre später, nachdem er seine erste grosse Liebe Anna wiedersieht. Der Roman ist keine Wiedergutmachung. Aber nebst vielen anderen Facetten auch die Geschichte einer Frau, die an der „Wahrheit“ zerbricht, nicht zuletzt an der Schonungslosigkeit ihres einzigen Kindes. Ist dieses Buch auch ein „Grabstein“?

Aber nein, für wen denn? Zunächst einmal: Es ist nicht autobiographisch. Eine Verbindung zu meiner eigenen Mutter ist aber, dass diese viel zu früh gestorben ist. Da war ich noch zu jung, mich zu fragen, wer ist meine Mutter eigentlich? Solche Fragen stellt man sich erst später, aber da lebte meine Mutter nicht mehr. Was ich sicher glaube, ist, dass sie Fähigkeiten und Begabungen hatte, die sie nie verwirklicht hat, und das ist es, was sie mit meiner Romanheldin verbindet. Einmal hat sie Noten aufs Klavier gestellt und angefangen Mozart zu spielen. Da war ich völlig verblüfft, das hatte sie noch nie getan. Ich wusste gar nicht, dass sie das konnte. Wie es aber wirklich in ihr aussah, das kann ich nicht mit Sicherheit sagen. Da kommt dann die Fantasie des Schriftstellers ins Spiel. Als Autor interessieren mich diese Mütter der sechziger Jahre sehr. Sie haben ihre Jugend und Sozialisation in den Fünfzigern erlebt, einer äußerst prüden, konservativen und konfliktscheuen Zeit mit einem ganz engen Rollenverständnis. Für die gesellschaftlichen Veränderungen in den späten sechziger Jahren waren sie im Grunde schon zu alt und zu etabliert. Umso spannender ist es, wie sie damit umgegangen sind. Sie standen ja in einem Konflikt. Es ging bei dem Ruf nach Freiheit ganz zentral auch um die Emanzipation der Frauen, und dem hätten sich diese Mütter und Frauen ja eigentlich sofort anschließen müssen. Das ist aber keineswegs geschehen, weil das ihr bisheriges Leben infrage gestellt hätte. Wie sollten sie sich also verhalten, und was konnten sie wagen?

Liebe als ein Geheimnis mit mehr als sieben Siegeln. Ihr Buch ist vieles, auch eine ganz zarte Liebesgeschichte, bei der sie er meisterlich schaffen, an sprachlichen Untiefen vorbeizusegeln. Wird eine Liebe, wie sie damals sein konnte, heute erst recht entzaubert? 1969 war alles möglich. Heute schlägt die Endlichkeit mit aller Heftigkeit zurück.

Das ist eine sehr schwierige Frage. War denn 1969 in der Liebe wirklich alles möglich? Zum Beispiel erotisch? Die sechziger Jahre waren die Zeit der sogenannten sexuellen Revolution, also dem gesellschaftspolitischen Ruf nach einer freieren Moral. In der Praxis, soviel wissen wir inzwischen, hat das aber meistens nicht besonders gut funktioniert, aber gerade das macht es erzählerisch reizvoll. Der Punkt ist ja: Das, was die sexuelle Befreiung wollte, war grundsätzlich richtig, nur konnten es selbst deren Befürworter damals nicht so ohne weiteres leben. Unsere Einstellung zur Sexualität ist nunmal kein Schalter, den man per Knopfdruck von gehemmt auf frei umstellen kann. Das ist ja viel tiefer in der Persönlichkeit verankert.
So gesehen sind die freiesten Figuren in meinem Roman – und das ja durchaus auch erotisch – die beiden Kinder. Für sie ist die Liebe noch in jeder Hinsicht wirklich geheimnisvoll. Sie nähern sich ihr, ohne zu wissen, wohin sie das führt. Vielleicht setzt Liebe immer ein gewisse Mass an Unwissen voraus – das könnte sein. Und je älter man wird, umso schwieriger wird es, sich darauf einzulassen. Daran hat sich in den vergangenen fünfzig Jahren wohl nicht so viel geändert. Der Unterschied ist aber, dass wir heute sehr frei darin sind, unterschiedliche Erfahrungen zu machen. Das ging in der engen Welt der Sechziger nicht. Und daran scheitert die Mutter des Erzählers.

Ist Schreiben, ein Roman, ein Gedicht nicht der Start einer Sonde in die Unendlichkeit des Seins?

Das auf jeden Fall. Ich habe gerade eine E-Mail aus Australien bekommen. Ein Deutscher hat dort auf einem Markt für gebrauchte Bücher zwischen all den englischen Thriller-Paperbacks ein Exemplar meines Buches „Sternenklar“ entdeckt und gekauft. Wenn Bücher reden könnten, würde es mich wirklich interessieren, wie das dahin gekommen ist. Auf jeden Fall hat es dem Käufer sehr gut gefallen, und er hat mir diese E-Mail geschrieben. Und es muss ja nicht gleich Australien sein. Im Moment bekomme ich viele – zum Glück sehr erfreuliche – Rückmeldungen von Lesern von „Der Sommer meiner Mutter“. Wie weit und wohin die „Sonde“ dieses Romans noch reisen wird, weiß ich nicht. Ich weiss nur, sie ist unterwegs, und das ist ein gutes Gefühl.

Autorenprotrait © Bettina Keller

Ulrich Woelk, geboren 1960, studierte Physik und Philosophie in Tübingen. Sein erster Roman, «Freigang», erschien 1990 und wurde mit dem Aspekte-Literaturpreis ausgezeichnet. Woelk lebt als freier Schriftsteller und Dramatiker in Berlin. Seine Romane und Erzählungen sind unter anderem ins Englische, Französische, Chinesische und Polnische übersetzt.

Buchtrailer

Webseite des Autors

Rezension von «Nacht der Engel» von Ulrich Woelk auf literaturblatt.ch

Beitragsbild © Sandra Kottonau