Alexandra von Arx «Das mit uns», Zytglogge

Die einen tun alles, um einmal aus der Masse der Anonymität aufzutauchen, vergessen alle Scham, um ein Stück Berühmtheit zu gewinnen, koste es, was es wolle. Andere leben ein Leben lang in den Mühlen der Pflichterfüllung und Selbstvergessenheit, um resümierend festzustellen, dass da nichts geblieben ist.

Iris ist seit kurzem pensioniert und hat genügend Zeit zu resümieren, auf das Vergangene zurückzuschauen. Iris ist nicht unzufrieden mit ihrem Leben, war eingebettet in einen Beruf, eine Aufgabe, auch wenn das mit der Liebe, mit einer Familie nicht reichte. Sie geniesst den Ruhestand, weil er ihr endlich die Möglichkeit gibt auszubrechen, zaghaft andere Wege zu gehen. Gleichzeitig merkt sie, dass der leichte Weg, Kontakte zu knüpfen mit dem Ausscheiden aus einem Arbeitsprozess, einem Arbeitsumfeld schwieriger geworden ist. Eine Zeit der Neuorientierung.

Bei einem spontanen Besuch der örtlichen Buchhandlung findet sie im Regal der einheimischen AutorInnen ein Buch mit dem Titel „Auf Umwegen zum Erfolg“ von Silvan J. Mueller. Wäre der Name des Autors nicht gewesen, hätte der Titel sie nicht zum Kauf animiert. Aber Silvan J. Mueller. Sie hatte den Mann gekannt. Er war über viele Jahre ihr Geliebter gewesen. Er, verheiratet, Vater einer Familie, mitterweile ein alter Mann, über achtzig, weit weg von ihrer Gegenwart. Trotzdem war er damals ihre Hoffnung, eine Tür, ein Versprechen, dem er aber eines Tages mit einem Brief ein Ende setzte, er habe sich „das mit uns“ lange überlegt und sei zum Schluss gekommen, die Beziehung habe keine Zukunft.

Iris trägt das Buch mit nach Hause, obwohl sie schon in der Buchhandlung am liebsten zu lesen begonnen hätte. Silvan, damals noch Silvan Müller, war ihr Liebesglück, ein grosses Stück ihres Lebens. Trotzdem blieb sie der Seitensprung, die zweite Wahl, jenes Glück, das man einfach abstreifen konnte. Gleichzeitig weiss Iris, dass vieles in Silvans Leben nicht so gelaufen wäre, wie es lief, wäre sie nicht Teil seines Lebens gewesen. Umso schockierender die Feststellung, dass sie mit keinem Wort in der Biographie dieses Mannes vorkommt, nicht einmal die Auswirkungen ihrer Liebe. Iris muss feststellen, dass sie eine Leerstelle ist, jemand, auf den man ganz leicht verzichten kann, der es nicht wert ist, erwähnt zu werden, nicht einmal verschlüsselt.

Alexandra von Arx «Das mit uns», Zytglogge, 2025, 152 Seiten, CHF ca. 28.00, ISBN 978-3-7296-5181-4

Mit einem Mal wird Iris in die Vergangenheit zurückkatapultiert, in ein grosses Stück Leben, das sie längst abgeschlossen und verdaut glaubte. So nichtig ihre Rolle im niedergeschriebenen Leben ihrer einstmaligen grossen Liebe, so gross der Schmerz darüber, dass sie scheinbar spurlos an jenem Leben vorbeigegangen ist, obwohl sie weiss, dass dem nicht so ist.
Sie liest das Buch ein zweites Mal mit der Absicht, das Geschriebene zu korrigieren, zu ergänzen, bis mehr und mehr klar wird, dass Iris es bei den schriftlichen Korrekturen nicht sein lassen kann. Aber nicht nur mit den Korrekturen in diesem Buch, in der Sicht auf die Vergangenheit. Auch Korrekturen in ihrem Leben jetzt. Einst hatte sie den Wunsch zu studieren, stand „Studium“ ganz oben auf ihrer Prioritätenliste. Aber das Leben korrigierte diese Liste, schob ihre Wünsche immer weiter nach hinten.

Mit einem Mal beginnt sich Iris Fragen zu stellen, die sie sich nie zu stellen traute oder sie ihr schon vor der Antwort irrelevant schienen. Fragen, die mit einem Mal ihr Selbstverständnios erschüttern. Silvan pulverisierte Pläne. Und irgendwann schien sie bloss noch zu funktionieren, erst recht, als sich Silvan “für die Familie“, gegen sie entschied.

Wir alle frisieren unsere Vergangenheit, korrigieren und beschönigen, dramatisieren und verharmlosen. Jede Sicht auf die Vergangenheit ist eine Zensur. Das eine wird zum Leuchten gebracht, anderes deckt man mit einer schweren, lichtundurchlässigen Decke zu. Iris macht die Missachtung, das Leugnen des einen zum Motor ihrer selbst. Iris blättert in ihrem eigenen Leben zurück und macht das Erinnern zu einer Selbstvergewisserung.

Alexandra von Arx beschreibt sechs Tage. Eine Woche des Um- und Aufbruchs. Eine Neuschöpfungsgeschichte. Alexandra von Arx ist eine Meisterin der feinen Töne, «Das mit uns“ die Kampfschrift einer Auferstehung.

Interview

Ein erstaunliches Buch, nur schon die Ausgangslage. War es doch über Jahrhunderte klar, dass die Frau kaum je aus dem Schatten des Gatten, geschweige denn eine Schattenfrau aus jenem des Geliebten heraustreten konnte. Wie bist du zum Stoff, zur Idee gekommen?
Die Idee entstand beim Lektorieren einer Biografie. Darin ging es um zwei Brüder, die vor allem von ihrem beruflichen Werdegang erzählten. Frauen kamen praktisch nicht vor, auch die Ehefrauen kaum. Das beschäftigte mich sehr. Ich stellte mir die Empörung von Frauen vor, die in einer Männerbiografie eine wichtige Rolle zu spielen glauben, aber letztlich kaum Erwähnung finden. Diese Empörung wollte ich literarisch verarbeiten. Mit der Wahl einer Protagonistin, die in einer Biografie aus naheliegenden Gründen nicht erwähnt werden kann, trieb ich die Thematik auf die Spitze.

Iris ist pensioniert, im Unruhestand. Wie so viele, die in einen Alltag eingespannt sind, die erste richtige Chance der Besinnung, der Neuorientierung. Das Buch, das sie zuerst in eine tiefe Krise stürzen lässt, wird zu einem Türöffner. Viel mehr als eine Kreuzfahrt in der Karibik oder ein Survivalkurs in den Wäldern des Mittellandes. Ent-Täuschung wörtlich genommen?
Die Autobiografie von Silvan hat tatsächlich eine gewisse Kraft. Sie wirft Iris zurück in die Vergangenheit, an einen wunden Punkt in ihrer eigenen Biografie. Vielleicht ist der Ruhestand der richtige Moment, um sich mit einem Thema auseinanderzusetzen, das man im Berufsalltag erfolgreich verdrängt hatte. Dazu braucht es weder eine Kreuzfahrt noch einen Survivalkurs. Bücher sind kraftvoll genug.

Silvan ist über 80 und schreibt ein Buch über sein Leben, zumindest über den Teil, den er als sein Leben sehen will. Ist das nicht ein ganz natürlicher Vorgang? Beschönigen nicht alle ihre Vergangenheit, permanent, selbst dann, wenn wir vorgeben, ehrlich zu sein?
Der Rückblick auf das eigene Leben ist nie objektiv, sondern sagt viel darüber aus, wie wir uns wahrnehmen oder wie wir wahrgenommen werden möchten. Die Auswahl der Ereignisse, die man erwähnt, und die Art, wie sie miteinander verknüpft werden, enthalten eine Wertung. Diese muss nicht unbedingt beschönigend sein.

Iris versucht zuerst die Geschichte, das Buch zu korrigieren, ihre Sicht zu rechtfertigen. Aber das Buch ist geschrieben, die Markierung gesetzt. Ist dein Buch die Geschichte einer Emanzipation, nicht zuletzt die Aufforderung zur Emanzipation, unabhängig vom Geschlecht?
Iris tritt aus der jahrzehntelangen Unsichtbarkeit heraus. Das ist ein grosser Schritt. Ob er als Emanzipation zu bezeichnen ist, weiss ich nicht.

„Alles ist eine Frage der Perspektive“, könnte man lakonisch kommentieren. Silvans Wahrheit ist nicht jene von Iris. Wir leben unter dem Zwang, stets alles in Schubladen zu ordnen. In gut und böse, in richtig und falsch, wahr und verdreht. Iris wird erst frei, als sie den Zwang ablegen kann und ihren Blick in eine offene Perspektive richten kann. Ist Schreiben nicht genau diese Befreiung?
Beim Schreiben kann ich in die Rolle einer anderen Person schlüpfen und dadurch die Perspektive wechseln. Das fasziniert mich. In der Konstellation von «Das mit uns» wäre vielleicht auch die Figur von Verena interessant. Denkbar ist, dass sie im bisherigen Narrativ unterschätzt wurde.

Alexandra von Arx, geboren 1972 in Olten, ist Juristin, Übersetzerin und internationale Wahlbeobachterin. Sie wurde mit zwei Förderpreisen für Literatur und mehreren Aufenthaltsstipendien ausgezeichnet. Ihre beiden ersten Romane sind 2020 und 2021 im Knapp Verlag erschienen, ihre Aufzeichnungen als Hüttenmitarbeiterin 2020 im orte Verlag.

«Ein Hauch Pink», Rezension mit Interview

«Im Dorthier», Gasttext auf der Plattform Gegenzauber

Webseite der Autorin

Beitragsbild © Alexandra von Arx

Alexandra von Arx «Im Dorthier», Plattform Gegenzauber

Eine Auslandschweizerin hat nie frei. In ihrem Kopf vergleicht sie dauernd das Ausland mit der Schweiz. Und die Schweiz mit dem Ausland. Egal, wo sie unterwegs ist, ob in der Schweiz oder im Ausland, immer ist dieser eine Satz mit dabei: Wenn ich hier bin, ist daheim dort und wenn ich dort bin, ist daheim hier. Vor wenigen Tagen war dieser Satz noch in Paris, nun reist er mit mir durch die Schweiz.

Wenn ich hier bin, ist daheim dort und wenn ich dort bin, ist daheim hier.

«Du bist ja nirgends mehr daheim!», bemerkte vor einiger Zeit meine Tante. «Ich bin eben an zwei Orten daheim!», entgegnete ich, etwas vorschnell. Und kam dann ins Grübeln. An zwei Orten daheim fühlt sich vermutlich anders an. Dann würde sich mir das eine Daheim nicht immer entziehen, wenn ich mich ihm nähere und das andere in die Ferne rückt. Aber eigentlich bezog sich die Bemerkung meiner Tante auf den Umstand, dass sich zwischen das Hier und das Dort, zwischen die Schweiz und Frankreich, hin und wieder Arbeitsaufenthalte in Osteuropa schieben. Damals kam ich gerade von einem zweimonatigen Einsatz in Moldawien zurück. Werde ich in Osteuropa gefragt, wo ich daheim bin, dann lautet meine Antwort spontan Paris. Aber nie, wirklich nie, ohne zu präzisieren, dass das richtige Daheim in der Schweiz ist. Daheim A und Daheim B. Das ergibt zwei Daheims. Habe ich ja gesagt.

Meine Berner Freundin redet anders als ich. Sie sagt zum Beispiel «dörthie», dorthier also. «Am Mänti fahre mer of Adubode, dörthie het’s im Momänt aber o no ke Schnee», sagt sie öppe. Oder: «Ke Ahnig, was dörthie los esch.»

Ich habe mich immer lustig gemacht über das Wort «dörthie», denn entweder ist man hier oder dort, dort oder hier. Dorthier war für mich ein Unwort, ein unentschiedenes Wischiwaschi, das weder hier noch dort sein will, sich nicht festlegen mag.

Jetzt klingt das Wort ganz anders. Es ist ein eigentliches Zauberwort. Denn es vereint das Dort mit dem Hier. Dorthier. Ich kann hier sein und gleichzeitig dort. Dorthier. Ich bin nicht mehr hin- und hergerissen zwischen Heimat und Gastland. Dorthier. Das ist, kurz gesagt, der Idealzustand einer Auslandschweizerin. In Gedanken zügle ich meine beiden Daheims ins Dorthier, lasse sie zu einem verschmelzen, und sage in der Sprache meiner Freundin, dass «e dörthie dehei be».

Alexandra von Arx „Ein Hauch Pink“, Knapp Verlag, 2020, 152 Seiten, CHF 29.00, ISBN 978-3-906311-67-8

Alexandra von Arx, geboren 1972 in Olten, lebte acht Jahre in Paris, wo der vorliegende Text entstanden ist. Mitten im Lockdown erschien ihr Romandebüt «Ein Hauch Pink», gefolgt von «Hundsteinhüttenbuchrandnotizen».

Rezension mit Interview über «Ein Hauch Pink» auf literaturblatt.ch

Rezension von «Hundsteinhüttenbuchrandnotizen» auf literaturblatt.ch

www.alexandravonarx.ch

Alexandra von Arx «Hundsteinhüttenbuchrandnotizen», orte

Ein Büchlein im Taschenformat. Ein Büchlein, das in möglichst viele Taschen gehört, weil Alexandra von Arx alle StädterInnen und HeimwehberglerInnen mitnehmen kann. Ein paar Wochen, einen Sommer hinauf in die Hundsteinhütte zwischen Säntis und Hohem Kasten. Ein literarisches Kleinod, auch wenn der Einband kuhfladenbraun ist. 

Man fährt mit dem Postauto bis zum appenzellischen Brülisau, dem letzten Dorf unter dem Hohen Kasten, einem der beiden markanten Berggipfel in den ostschweizer Voralpen. Von dort steigt man zu Fuss vorbei am Sämtisersee zweieinhalb Stunden bis zur Hundsteinhütte hinauf, einer SAC-Hütte (Schweizer Alpen-Club), hoch über dem Fälensee, dem vielleicht mythischsten der drei Alpsteinseen.

Dorthin lockte es die Schriftstellerin Alexandra von Arx, als sie noch als Wahlbeobachterin im ukrainischen Kiew arbeitete. Ein Inserat, das eine „flinke, belastbare und teamfähige“ Mitarbeiterin suchte. Von Kiew in den Alpstein, von einer Dreimillionenmetropole ins Appenzeller Hinterland, hinter sieben Berge, von politischer Aktualität in eine Realität gewordene Idylle. Und wenn eine Beobachterin, die ihr Tun gleich mehrfach zum Beruf macht, dies unternimmt, dann mit Stift und Leerbuch. Vielleicht nicht mit ausgesprochener, aber mit unterschwelliger, letztlich nicht zu verleugnender Absicht.

Die Hütte liegt auf 1554 m und bietet über vierzig Schlafplätze. Als Hütte wohlverstanden nicht in Doppel- und Einzelzimmern mit Sprudelbad und Regendusche, sondern verteilt in drei „Massenschläge“. Der Hüttenwart kocht und backt, die Mann- und Frauschaft schenkt aus, serviert, putzt, räumt auf, holt Nachschub aus dem Tal. Viele Hände für müde und hungrige WandererInnen. Da wird die Verteilung der 44 Schlafplätze schon zu einem kniffligen Tetrispuzzle, kombiniert mit vegetarischen, veganen oder fleischessenden Besuchern, Angemeldeten, Nichterschienenen in Stosszeiten zu wahren Herkulessaufgaben

Alexandra von Arx «Hundsteinhüttenbuchrandnotizen», orte, 2020, 128 Seiten, CHF 28.90, ISBN 978-3-85830-274-8

Die „Hundsteinhüttenbuchrandnotizen“ sind aber viel mehr als das Konzentrat eines Tagbuchs, eines Skizzenbuchs für literarische Szenen. Alexandra von Arx hält sich mit aller Absicht ganz im Hintergrund. Wenn es um sie als Person geht, dann stets witzig, würzig und mit Selbstironie. Das zeigt sich, wenn sie sich als Oltnerin vom appenzeller Dialekt umgarnen lässt, einem Dialekt, der selbst in dem kleinräumigen Kanton nicht immer aus allen Winkeln gleich tönt und klingt.

Erzielen beim Fussballmatch zwischen Heiden und Gais beide Mannschaften ein Tor, so tönt dies etwa so: „Heede – Gees, ees – ees“

Es sind nicht nur die Feinheiten der Sprache, denen die Autorin nachspürt, denn in diesen Feinheiten liegt auch das Wesen eines Menschen. Landschaft, Geschichte, Tradition wirken hinein in eine Sprache. Und vielleicht prallen die Gegensätze nirgends intensiver und gleichzeitig schöpferischer aneinander als im Appenzellerland. Mag sein, dass die Landschaft etwas von der Sehnsucht nach Idylle stillt. Mag sein, dass das Appenzellerland wie keine andere Gegend die Idylle zu einem erfolgreichen Geschäftsmodell machen konnte. Alexandra von Arx malt diese Idylle nicht aus, betreibt keine naive Brauchtumskunst. Sie taucht ein in ein Leben, das abseits ist von all dem, was die meisten von uns kennen. Ein Leben, dass die Hüttenidylle erst möglich macht, ein Leben im Schweiss ihres Angesichts, ein Leben zwischen Kuhfladen und Facebookpost.

Warum ein solches Buch lesen? Weil Alexandra von Arx mich mitnimmt an einen wunderschönen Ort. Ich spüre die Majestätik des Alpsteins. Weil sich Alexandra von Arx nicht produziert, sondern mit viel Liebe und Empathie schildert, was hängen bleibt. Weil sie der Bissigkeit und Entblössung widersteht. Und weil alles in franzhohlerischen Witz getaucht ist, der sich nie auf Kosten anderer in Szene setzt.

Wer das Büchlein auf dem Nachhauseweg von der Arbeit aus seiner Tasche oder Jacke zieht, um ein paar Seiten zu lesen, bei dem fängt der Feierabend früher an – mit Sicherheit!

Alexandra von Arx ist 1972 in Olten geboren und aufgewachsen. Nach Abschluss ihres Studiums der Rechtswissenschaften spezialisierte sie sich auf Menschenrechtsfragen und wurde 2011 in den Schweizerischen Expertenpool für zivile Friedensförderung aufgenommen. Seither ist sie als internationale Wahlbeobachterin tätig. Seit sie 2016 einen Schreibwettbewerb der LiteraTour Stadt Olten gewonnen hat und mit dem Text «OlteNetlO» auf dem Schweizer Schriftstellerweg vertreten ist, widmet sie sich intensiv dem Schreiben. Der Kanton Solothurn hat sie 2018 mit dem Förderpreis für Literatur ausgezeichnet.

Webseite der Autorin

Webseite der Hundsteinhütte

Rezension von «Ein Hauch Pink» mit Interview auf literaturblatt.ch

Beitragsbilder © Peter Ehrbar, Hüttenwart Hundsteinhütte

Alexandra von Arx «Ein Hauch Pink», Knapp

Bei den einen geschieht es mit vierzig, bei andern mit fünfzig. Den einen reicht ein Auslöser, die andern schubst das Schicksal an den Rand. Dann sind es Fragen: War es das? Hätte es anders werden können? Will ich weitermachen wie bisher? Was zwingt mich? War es das? War es das? War es das?

Markus ist 54, hat sich in seiner Familie, seiner Arbeit eingerichtet, auch mit seinen zwei Kindern. Bis ihn eine neue Angestellte im Betrieb an Olivia erinnert. Jenes Mädchen, das er mit 15 zu lieben begann, das ihn gleichermassen faszinierte wie erschreckte, das sich in der Zeit, als sie zaghafte Küsse tauschten, eher von ihm weg bewegte, als auf ihn zu. Schwarze Fingernägel, zerrissene und mit Sicherheitsnadeln zusammengehaltene Kleider, farbiges, gestärktes und wild geschnittenes Haar und laute Musik, wenn sich Markus zu ausgemachten Zeiten aber nie, wenn die Eltern zuhause waren, sich zu ihr ins Zimmer wagen durfte, zu den krassen Fratzen auf den Langspielplatten und der ebenso krassen Musik, die zur Geistervertreibung gereicht hätte – Punk.

Es war auf dem Heimweg, seine Frau hatte ihn gebeten, noch etwas einzukaufen, mit einem Mal weg von seinen immer gleichen Trampelpfaden, als er vor dem Laden stand. Lipstick, dem Laden, den es schon damals gab, mit allem im Schaufenster, was einem die Eltern verboten hätten, mit Ramones, Sex Pistols und The Clash. Dort inszenierte Markus sein erstes Treffen mit der Neuen in der Klasse, dem Mädchen, das nicht nur anders aussah als alle andern. Olivia wohnte in einem Mehrfamilienhaus am Stadtrand. Neben dem Klingelschild, ein Blümchen, das sie gezeichnet hatte, ein Blümchen, das sich wie alles immer weiter von Olivia entfernte.

Olivia wurde im Ort, in der Schule, in Markus Leben die Verkörperung von Rebellion. Und nicht weniger, als sie, nachdem sie immer wieder einmal nicht zum Unterricht erschienen war, ganz von der Bildfläche verschwand. Kommentarlos. Endgültig. Nie mehr wiederkam. Markus zögerte zu lange, auch deshalb, weil Olivias Verschwinden mit Erleichterung quittiert wurde. Er begann zu studieren, lernte Lisa kennen, fuhr mit ihr auf Weltreise und kehrte mit einer schwangeren Verlobten nach Hause.

Alexandra von Arx «Ein Hauch Pink», Knapp Verlag, 2020, 152 Seiten, CHF 29.00, ISBN 978-3-906311-67-8

Und jetzt, fast vier Jahrzehnte später, die Kinder in die Ferne ausgeflogen und nur noch am Bildschirm mit von der Partie, im Geschäft dort, wo es wahrscheinlich nicht weitergehen würde, so wie in der Ehe mit Lisa, dem fixen Wochenplan, den immer gleichen Ferien in der Toscana bei Freunden, die keine sind, taucht mit der Neuen in der Firma Olivia wieder auf. Und mit ihr all die Fragen. Die Frage, warum sie damals verschwunden war. Die Frage, warum sein Leben verschwunden war. Der Hauch Pink in Olivias Haaren war auch mit dem Hauch Pink in ihrer Wohnung nicht zu kompensieren.

Es sind die Fragen, die nicht in Ruhe lassen, die sich ungefragt und immer wieder in den Vordergrund drängen, für andere nur in leeren Blicken sichtbar. Markus taumelt, erfindet Antworten und verweigert Fragen. An einem Klassentreffen aber schiebt ihm eine ehemalige Klassenkameradin, nachdem er sich möglichst beiläufig nach Informationen zu Olivia durchgefragt hatte, eine Visitenkarte zu mit dem Versprechen, mehr zu wissen.

Alexandra von Arx versteht es erstaunlich gut, in die Rolle des Verlorenen zu schlüpfen. Ihre Erzählweise orientiert sich nicht am Spektakel, nicht einmal an den Rätseln der erzählten Geschichte, sondern an den inneren Konflikten eines Gestrauchelten. Den Konflikten, die Markus nicht aus der Bahn werfen, aber sein Inneres erschüttern. Wie kann es geschehen, dass man der ist, der man ist? So weit weg von dem, was er einst in der Verkörperung Olivias zum Massstab machte? Warum hat er die Suche aufgegeben? In der Jugend im Innern ein Punk, jetzt durch und durch Versicherer?

Manchmal sind es profane Wiederholungen. Fragen, die wie ein Stakkato hämmern. Auslassungen, die mehr erzählen als das Geschilderte. Alexandra von Arx ist ein eindringlicher Roman gelungen, dem ich es gegönnt hätte, wenn sein Kleid, sein Outfit dem Buch die Ehre erwiesen hätte.

Interview mit Alexandra von Arx

Markus ist im Stillstand angekommen, im genauen Gegenteil dessen, was man mit 15 anstrebt, als Punk oder nicht. Aber selbst die Krise bleibt verhalten, schlägt keine grossen Wellen, zumindest kaum solche, die aussen sichtbar werden. Was hielt sie zurück, ihren Protagonisten nicht noch viel mehr entgleiten zu lassen?
Mich interessieren die Anfänge von Krisen, die kleinen Risse, die sich plötzlich auftun und die sich genauso rasch wieder schliessen können. Ich betone: können. Aus den Rissen können natürlich auch Brüche werden, aber darauf wollte ich den Fokus nicht setzen. Ob und wie stark Markus weiter entgleitet, lasse ich deshalb bewusst offen.

Sie wählten einen männlichen Protagonisten, zehn Jahre älter als sie. Gab das die nötige Distanz, um beim Erzählen die Souveränität zu behalten?
Diese Überlegung hat bei der Wahl des Protagonisten keine Rolle gespielt. Aber es ist sicher so, dass ich ein anderes Leben führe als Markus, insofern war zu viel Nähe nie ein Thema. Ob ich die Geschichte dadurch besser erzählen konnte, weiss ich nicht.

Markus weiss wenig über die Vergangenheit seiner Frau Lisa und Lisa hat er nie etwas erzählt von Olivia. Wahrscheinlich blieb noch viel, viel mehr unerzählt. Und trotzdem sind sie seit drei Jahrzehnten ein Paar, leben noch immer zusammen, wahrscheinlich auch weiterhin, sind Familie, gehören irgendwie zusammen, auch wenn der Urlaub zum ersten Mal getrennt stattfindet. Warum deckt die Gegenwart die Vergangenheit einfach zu, obwohl Markus die Kraft des Vergangenen drängend spürt?
Ich glaube, das hat mit dem Blick zu tun, der sich bei Markus verändert. Als er und Lisa ein Paar wurden, machten sie Zukunftspläne und gründeten eine Familie. Ihr Blick war nach vorne gerichtet, die Vergangenheit unwichtig. Jetzt sind die Kinder ausgezogen und er schaut auf sein Leben zurück. «War es das?», ist eine Frage, die ihn umtreibt. In dieser Phase nistet sich die Erinnerung an Olivia hartnäckig ein. Dass die Vergangenheit sich so aufdrängt, ist neu für Markus und führt zum Anfang einer Krise oder ist Ausdruck dieser Krise.

Was war die Uridee zu ihrem Roman? Die Initialzündung?
Da war einmal ein Mittfünfziger, der eine pinkfarbene Jacke trug und vor einer Immobilienagentur stand… Ich habe ihn im Rahmen einer Schreibübung ein paar Minuten lang beobachtet und in der Folge als Romanfigur im Kopf weiterentwickelt.

Sie sind Wahlbeobachterin, eine Frau mit grossem politischen Bewusstsein. Und doch spielt sich ihr Roman fast nur im Innenleben eines in die Jahre gekommenen Mannes ab. Das scheinen Gegensätze zu sein. Oder nicht?
Nicht unbedingt. Als Wahlbeobachterin habe ich viel mit Menschen zu tun. Bei Gesprächen achte ich auf Details, auch auf non-verbale Kommunikation. Das Innenleben meiner Gegenüber interessiert mich eigentlich immer, egal, ob ich mit einer jungen Aktivistin über die bevorstehenden Wahlen rede oder auf der Strasse einen Mittfünfziger beobachte.

Alexandra von Arx ist 1972 in Olten geboren und aufgewachsen. Nach Abschluss ihres Studiums der Rechtswissenschaften spezialisierte sie sich auf Menschenrechtsfragen und wurde 2011 in den Schweizerischen Expertenpool für zivile Friedensförderung aufgenommen. Seither ist sie als internationale Wahlbeobachterin tätig. Seit sie 2016 einen Schreibwettbewerb der LiteraTour Stadt Olten gewonnen hat und mit dem Text «OlteNetlO» auf dem Schweizer Schriftstellerweg vertreten ist, widmet sie sich intensiv dem Schreiben. Der Kanton Solothurn hat sie 2018 mit dem Förderpreis für Literatur ausgezeichnet.