literaturblatt.ch fragt Sandra Hughes über ihren Krimi «Tessiner Verwicklungen»

Der Kampa Verlag mausert sich! Nicht nur als der Verlag mit der Nobelpreisträgerin Olga Tokarcuk, der mit einem exquisiten und feinst edierten Belletristikprogramm, sondern neben den Maigret-Romanen aus dem unendlich scheinenden Georges-Simenon-Reservoir mit einem Krimireigen, der es in sich hat.

Neben Louise Penny, Hansjörg Schertenleib, Gian Maria Calonder alias Tim Krohn und andern, schreibt auch Sandra Hughes Krimis im Gewand des Kampa Verlags. Krimis rund um das Ermittlerduo Emma Tschopp und Commissario Bianchi.

Interview mit Sandra Hughes:

Eine junge Frau, von der alle sagen, sie hätte keine Feinde, alle hätten sie gemocht, ist das Opfer oder zumindest eines deiner Opfer in deinem ersten Krimi. Was stand beim Schreiben am Beginn; das Verbrechen oder eine andere Szenerie?
Zu Beginn standen die Pastafabrik und die Familie, die sie in dritter Generation betreibt. Gegen aussen viel Tradition, gemeinsames Einstehen für Qualität. Aber was verbirgt sich dahinter? Hinter Fassade, Fleiss und demonstriertem Familiensinn? Da fantasiere ich, da kommt sofort Lust auf, dahinter zu schauen. 

Eine junge Frau wird erschlagen. Sie liegt mit blau gewordener Haut tot im Kühlraum einer kleinen Pastafabrik, einer Pastamanufaktur. Warum müssen Menschen sterben, damit daraus ein Krimi wird? Welche Seite des Menschen wird mit Krimis bedient? Wie schwer fiel es dir, die junge Frau sterben zu lassen.
Es fiel mir leicht, sie sterben zu lassen. Das hängt bestimmt damit zusammen, dass ich keinen Bezug zur Figur der jungen Frau habe. Dafür kenne ich sie zu wenig. Ich setze sie ganz strategisch als Opfer ein. Gerade weil sie jung, unschuldig und nett ist, zeigt sie umso brutaler auf, worauf mein Interesse sich richtet: Was muss geschehen sein, dass ein Mensch einen anderen Menschen umbringt? Einen solch netten Menschen? Wie verletzt, versehrt, ohnmächtig muss jemand sein, wie krass eine Konstellation?

Stefanie Schwendener, die junge Frau im Kühlraum, ist nicht das einzige Opfer in deinem Roman, nicht einmal die einzige Tote. Da ist die Familie Savelli, eine alt eingesessene Familie, die die Pastamanufaktur betreibt. Ein alt und schrullig gewordener Patron, sein Schwiegersohn, der die Firma leitet, seine Frau, die Tochter des Patrons und ihre zwei Brüder. Ein Ensemble, das du wie in einem alten Agathe Christie Krimi sich versammeln lässt, jeder mit Gründen genug, ein Verbrechen zu begehen. Wie weit holt man sich als Krimiautorin Bilder aus eigener Krimilektüre?
Ich bin mit der Krimilektüre in die Lehre bei anderen Autorinnen und Autoren gegangen. Sie hat mir ein Feld von Möglichkeiten eröffnet. Beim eigenen Konzipieren bin ich inspiriert gewesen vom Vorgehen, einen Erzählstrang von ganz weit – von Ort und Zeit her – einzubringen, der vermeintlich nichts mit der Klärung des Verbrechens zu tun hat, sich dann aber zunehmend mit dem aktuellen Geschehen verflechtet. 

Ein weiteres Opfer kommt aus einem Kinderheim, das von „Barmherzigen Schwestern“ geführt wird. Du nennst dieses Kinderheim „Ballenmoos“. Du fiktionalisierst es, entlehnst den Skandal aus der Realität, wo es doch auch in der Schweiz religiös geführte Kinderheime gab, in denen regelrechte Gräueltaten begangen wurden. Braucht es diesen Schritt des Fiktionalisierens? War da auch die Lust, in eine Eiterbeule zu stechen?
Fiktionalisieren ist für mich zwingend, ich bin Romanautorin und nicht Journalistin. Das gibt mir die Freiheit, die mir beim Schreiben so gefällt. Ich darf fantasieren, muss nicht investigativ aufdecken. Insofern: Nein, keine Lust, in eine Eiterbeule zu stechen. Aber weil mich diese Missbräuche in den Kinderheimen so beschäftigten, nachdem ich via Internetrecherchen zufällig auf deren Aufarbeitung kam, haben sie jetzt eine Rolle im Roman bekommen. Auch hier die Frage, die mich umtreibt: Was muss geschehen sein, dass ein Mensch – im Fall hier eine Ordensschwester – ein Kind quält? 

Du hast beim Limmat Verlag die Romane „Lee Gustavo“ und „Maus im Kopf“ herausgegeben. Beim Dörlemann Verlag die Liebesgeschichte „Zimmer 307“ und den Roman „Fallen“, der sich schon ganz nahe am Typ Krimi einreihen lässt. War dein Weg zum Krimi für dich absehbar?
Nein. Es ist das Konzept der Rache, das mich im Schreiben immer schon beschäftigt. Rache kommt in allen bisherigen Romanen vor. Auf je eigene Weise, aber nirgendwo im Sinn von «Whodunit». Das wurde nun erst im «richtigen» Krimi wichtig und forderte mich zu einem ganz anderen Vorgehen beim Schreiben heraus, nämlich die Geschichte vom Ende her zu konzipieren. 

Emma Tschopp, deine Ermittlerin. Kannst du etwas darüber erzählen, wie du auf diese Person gekommen bist, wie du sie gebaut hast?
Ich wollte eine Baselbieter Polizistin, eine starke, lebenserfahrene Frau. Das war mein Grundanliegen. In allem anderen laufe ich Emma Tschopp hinterher: Wenn sie ermittelt, aufbraust, sinniert, stolpert, fröhlich ist. Ich mag sie sehr gern, es macht mir Freude, ihr schreibend zu folgen.  

Wenn Emma Tschopp auch für künftige Krimis eine gute Figur machen soll, muss man sie so konstruieren, dass sie als Person gleichzeitig nahe kommt und doch ein weites Feld bietet, sie nach und nach auszuleuchten. Wir Leser erfahren zwar einiges, auch dass man sie schätzt als Kriminologin, dass sie durchaus attraktiv sein muss, denn der Tessiner Commissario Bianchi verhält sich dementsprechend. Muss von der Hauptperson, von Emma Tschopp bei dir alles schon ausgeleuchtet sein oder sind da auch für dich noch geschlossene Türen?
Auf jeden Fall geschlossene Türen. Einen Menschen kennenzulernen scheint mir ein Prozess zu sein, der immer weitergeht. 

Fast am Schluss des Romans lässt du die Vermittlerin Emma Tschopp sagen: „Mein ganzes Arbeitsleben lang kämpfe ich schon für die Gerechtigkeit. Aber es gibt keine.“ Kannst du diesen Satz erläutern?
Emmas Erfahrung seit Kind: Die Menschen sind ungerecht, unser System ist es auch. Warum wurde ihr rothaariger Schulkollege verspottet und ausgeschlossen? Hat sich bei den Spöttern irgendetwas verändert, weil Emma sich für ihren Kollegen eingesetzt hatte? Nein. Bringt Emmas und Marcos Aufklärung des Mordes mehr Licht ins Leben der Eltern, die ihre Tochter verloren haben? Nicht wirklich. Im Gegenteil: Sie zieht noch einen Menschen mit in den Abgrund, wobei da nicht mehr verraten sein soll. Trotzdem macht Emma immer weiter, sie kann nicht anders. Dafür bewundere ich sie. 

Der Fabrikant Savelli gibt Hartweizengries und Wasser in einen grossen Behälter und vermengt beides zu einem zähen Brei, der Teig, der dann zu Teigwaren verarbeitet wird. Was braucht es für einen guten Krimi? Reicht ein guter Plot und viel Wasser?
Die Sprache ist wichtig, im Kriminalroman genauso wie in meinen bisherigen Romanen. Bei allem Bemühen um Glaubwürdigkeit von Geschichte und Figuren, um Aufrechterhaltung der Spannung, um gut dosierte Hinweisbrocken, die ich einstreue, ist die Sprache zentral: Sie muss aus den Figuren herauskommen, ihnen und deren Geschichte angemessen sein. Das bedeutet viel Arbeit und damit viel Zeit, die ich dafür aufwende. 

Der Krimi, dein Roman, entschlüsselt sich wie jeder Krimi erst auf den letzten Seiten. Liest man deinen Krimi zum zweiten Mal, zeigt es sich, dass du gut dosiert ganz viele Hinweise in deinen Krimi einstreutest, die bei einer erneuten Lektüre glasklar werden, bei einer ersten Lektüre rätselhaft, fast kryptisch bleiben. Ein Kapitel auf Seite 82 besteht aus bloss sieben Wörtern, drei Sätzen. Ich habe deinen Krimi zweimal gelesen. Was aber wohl nicht die Regel ist, weil ja dann der Plot bekannt ist, das Rätsel gelöst. Da entgeht einem doch einiges?
Zuerst: Es freut mich sehr, dass du meinen Krimi zweimal gelesen hast, die Hinweise als gut dosiert einschätzt. Diese Hinweise haben mir nämlich viel abverlangt. Ja, bei «normaler» Lektüre, das heisst einmaligem Lesen, entgeht einem einiges. Aber das ist egal. Was gibt es für mich als Autorin Schöneres, als wenn die Leserinnen und Leser voll in die Geschichte eintauchen? Sie im besten Fall verschlingen, angetrieben durch Neugier, Lust, dem Rätsel auf die Spur zu kommen?

Sandra Hughes «Tessiner Verwicklungen», Kampa Krimi, 2020, 224 Seiten, CHF 21.90, ISBN 978-3-311-12013-1

Sandra Hughes, geboren 1966, wuchs in Luzern auf und lebt mit ihrer Familie in Allschwil bei Basel. Mit der Polizistin Emma Tschopp teilt sie die Vorliebe für Bistecca (saignant) und Blauschimmelkäse. Bisher schrieb sie Romane für Erwachsene und eine Geschichte für Kinder.