Die Nominierten des Schweizer Buchpreises im Überblick #SchweizerBuchpreis 24/02

Sie sind da. Die Nominierten zum Schweizer Buchpreis 2024. Drei Titel von vielbesprochenen AutorInnen, ein Debüt und ein Mundartroman, der nicht nur formal aus der Reihe tanzt. Eine illustre Mischung. Eine breite Auswahl mit der nötigen Portion Risiko – und vielen Absenzen.

Mariann Bühler «Verschiebung im Gestein», Atlantis
Lange hat draussen das Schild «Bis auf Weiteres geschlossen» gehangen, bis Elisabeth die Ent­scheidung trifft, die Bäckerei weiterzuführen. Sie allein. Jeden Morgen feuert sie an, rührt den Teig, schiebt die Brote in den Ofen – und überrascht das ganze Dorf und sich selbst dazu. In derselben Gegend Alois’ Hof. Ein Hof, seit Generationen in Familienbesitz, Alois wurde nicht gefragt, ob er ihn übernehmen wollte. Er lebt mit dem Hund, überhört die Erwartung, eine Familie zu gründen – aber etwas schnürt sich zu. Vielleicht hat das mit Camenzind zu tun. Unterdessen kehrt eine junge Frau ins Dorf zurück; die drei Stufen zur Bäckerei laufen sich wie von selbst. Bei den Grosseltern holt sie den Schlüssel zum Sommer­haus, es soll verkauft werden. Sie sieht alles wieder, den Bergkamm, das Tal, den Balkon mit der Zugbrücke. Bald, so scheint es ihr, beginnt das Haus mit ihr zu sprechen.
Der Roman verfolgt drei Figuren, die nichts voneinander wissen und doch verbunden sind – durch die Gegend, das Dorf und die drängende Frage, wie es eigentlich weitergehen soll. Hart­näckig haben sich in ihnen weitläufige Spuren von Vergangenem festgesetzt, aber dann gerät doch etwas in Bewegung. In ihrem sprachlich dichten Debüt beobachtet Mariann Bühler, wie Veränderung sich ihren Weg sucht und Ver­schiebungen passieren, die so nie vorgesehen waren, die zuweilen sogar Berge versetzen.

Mariann Bühler, geboren 1982 in der Nähe von Luzern, hat in Basel und Berlin Englische Literatur­ und Sprachwissenschaft, Islamwissenschaft und Gender Studies studiert. Sie lebt als Autorin, Literaturvermittlerin und Veranstalterin in Basel. «Verschiebung im Gestein» ist ihr Romandebüt; für einen Auszug aus dem Manuskript wurde sie mit dem Zentralschweizer Literaturpreis ausgezeichnet.

Zora del Buono «Seinetwegen», C. H. Beck
Zora del Buono war acht Monate alt, als ihr Vater 1963 bei einem Autounfall starb. Der tote Vater war die grosse Leerstelle der Familie. Mutter und Tochter sprachen kaum über ihn. Wenn die Mutter ihn erwähnte, brach die Tochter mit klopfendem Herzen das Gespräch ab. Sie konnte den Schmerz der Mutter nicht ertragen. Jetzt, inzwischen sechzig geworden, fragt sie sich: Was ist aus dem damals erst 28-jährigen E.T. geworden, der den Unfall verursacht hat? Wie hat er die letzten sechzig Jahre gelebt mit dieser Schuld?
«Seinetwegen» ist der Roman einer Recherche: Die Erzählerin macht sich auf die Suche nach E.T., um ihn mit der Geschichte ihrer Familie zu konfrontieren. Ihre Suche führt sie in abgründige Gegenden, in denen sie Antworten findet, die neue Fragen aufwerfen. Was macht es mit ihr, dass sie plötzlich mehr weiss über ihn, den Mann, der ihren Vater totgefahren hat, als über den Vater selbst? Und wie kann man heil werden, wenn eine Leerstelle doch immer bleiben wird?

Auf der Spur des verlorenen Vaters und seines „Töters“– Deutschlandfunk Kultur, 16. Juli 2024 [12:49min.]

Zora del Buono, geboren 1962 in Zürich. Studium der Architektur an der ETH Zürich, fünf Jahre Bauleiterin im Nachwende-Berlin. Gründungsmitglied und Kulturredakteurin der Zeitschrift mare.


Martin R. Dean «Tabak und Schokolade», Atlantis

Nach dem Tod der Mutter findet der Erzähler in einer Schublade ein Album mit Fotos seiner frühen Kindheit, die er auf der Karibikinsel Tri­nidad und Tobago verbracht hat. Als junge Frau hatte sich die Tochter von «Stumpenarbeitern» aus dem Aargau in ein Abenteuer mit einem Tunichtgut der westindischen Oberschicht gestürzt und ein Kind bekommen. Während die übrige Familie bemüht ist, das Gedächtnis an die Jahre der Mutter bei den «Wilden» aus­zulöschen, macht sich der Erzähler auf, diese Geschichte, die auch seine eigene ist, zu retten.
«Tabak und Schokolade» führt in den tropischen Dschungel einer britischen Kronkolonie der fünfziger und sechziger Jahre. Indem der Er­zähler immer weiter zu seinen indischen Vor­fahren, die als Kontraktarbeiter in die Karibik verschifft wurden, vordringt, legt er nicht nur einen Familienstammbaum, sondern auch ein Stück Kolonialgeschichte frei. Dem gegen­über wird die Erinnerung an das Aufwachsen im «Tabakhaus» der Grosseltern im Aargau gestellt und die Annäherung an eine Mutter, die zu Lebzeiten stets unnahbar erschien.

Podcast – Debatte zu dritt» Wir müssen uns den weissen Blick austreiben« Tim Guldimann diskutiert mit dem Schriftsteller Martin R. Dean und der Rassismus- und Genderforscherin Rachel Huber

Martin R. Dean wurde 1955 in Menziken, Aargau, als Sohn eines aus Trinidad stammenden Vaters und einer Schweizer Mutter geboren, studierte Germanistik, Ethnologie und Philosophie an der Universität Basel, unterrichtete an der Schule für Gestaltung in Basel und am Gymnasium in Muttenz. Dean ist vielfach ausgezeichneter Buchautor. 

Béla Rothenbühler «Polifon Pervers», Der gesunde Menschenversand
In einer beschaulichen Kleinstadt in der Schweiz passiert Erstaunliches: Kaum gegründet, mischen Sabine und Chantal mit ihrem Verein «Polifon Pervers» und einer neuen Vision von «Onderhaltig» die Kulturszene auf. Risikofreudig und clever agierend, steigen sie als Theater-Produzentinnen zu nationalen Grössen auf und scharen eine illustre Runde um sich: vom eitlen Regisseur Lüssiän über den versoffenen Ghostwriter Iiv, den Lebemenschen und DJ Milan und die opportunistische Schauspiel-Grösse Schontal bis zu Jule und seinen Hanf-Bauern, die unversehens als Performance-Künstler brillieren. Dem Erfolg ordnet der Verein für Unterhaltung im Laufe der Geschichte alles unter, und so folgen auf erste Unsauberkeiten schon bald alle möglichen Formen des Betrugs.
Béla Rothenbühler führt in seinem zweiten Roman die Tradition des Schelmenromans fort – für einmal mit Hochstaplerinnen und auf Luzernerdeutsch. Sein ironisch-satirisches Gedankenspiel über Kultur, Unterhaltung und Geld ist selbst grosse Unterhaltungs-Kunst.

Béla Rothenbühler, geboren 1990 in Reussbühl, freischaffender Dramaturg, Bühnenautor, Sänger, Ghostwriter, Gitarrist, Songwriter, Lyriker und vieles mehr. Seit 2016 Teil des freien Theaterkollektivs Fetter Vetter & Oma Hommage. Zudem Gitarrist, Sänger und Songwriter der Band Mehltau und Songtexter für Hanreti.

 

Michelle Steinbeck «Favorita», Ullstein
«Es tut mir leid, deine Mutter wurde getötet.» Mit diesen Worten beginnt Filas Odyssee zwischen Lebenden und Toten: Von der Schweiz, in der sie aufgewachsen ist, nach Italien, das ihre Grossmutter als junge Frau verlassen hat und wohin ihre Mutter verschwunden ist. Fila zeichnet die Wege der beiden Frauen nach, begleitet von den Gestalten, denen sie unterwegs begegnet: revolutionäre Amazonen, faschistische Deserteure und der Geist einer jungen Bäuerin mit durchschnittener Kehle. Der Roadtrip auf den Spuren ihrer geheimnisvollen Mutter führt sie zum mutmasslichen Mörder – und mitten ins Herz des Zirkels, der das Land kontrolliert. Fila sitzt in der Falle. Aber sie ist nicht allein.

Michelle Steinbeck, geboren 1990, aufgewachsen in Zürich, schreibt Prosa, Lyrik, und für Theater, Magazine und Zeitungen. Ihr Debütroman «Mein Vater war ein Mann an Land und im Wasser ein Walfisch» war schon nominiert für den Schweizer sowie den Deutschen Buchpreis 2016. Nach längeren Aufenthalten in Rom, Paris, Hamburg lebt sie zurzeit in Basel.

Die öffentliche Preisverleihung findet am Sonntag, 17. November 2024, 11 Uhr im Rahmen des Internationalen Literaturfestivals BuchBasel im Theater Basel statt.
Der Eintritt ist frei. Die Platzanzahl ist beschränkt. Gratis-Tickets können ab dem 1. Oktober 2024 unter www.buchbasel.ch bezogen werden.

Illustrationen © leale.ch

Sparmassnahmen kippen literaturblatt.ch! #SchweizerBuchpreis 24/01

«Besuchen Sie die Literaturblogs unserer Partner und erfahren Sie, welche Bücher und AutorInnen die Szene bewegen», stand bisher auf der Webseite zum Schweizer Buchpreis. Aber was die «Szene» meint, scheint nicht mehr unterstützungswürdig zu sein, als Partner sind wir entlassen.

Schade. Aber „Sparmassnahme“ scheint der Grund zu sein, dass der grösste Buchbranchenverband der Schweiz auf eine Berichterstattung auf der Literaturplattform literaturblatt.ch verzichtet. Die gute Nachricht; Gallus Frei wird auch in Zukunft den Schweizer Buchpreis begleiten – dafür kritischer – und wie vieles in der Szene, unbezahlt, unbezahlbar!

«Wer schreibt, möchte Geschichten weiterreichen, damit jede Leserin, jeder Leser darin die eigenen findet. Damit das gelingt, brauchen wir Menschen wie Gallus Frei: Mit seiner Neugier, seiner Begeisterung, seinem Fachwissen ebnet er den Weg zum Buch und hilft so den Schreibenden und den Lesenden zueinanderzufinden.» Karl Rühmann, 2020 nominiert für den Schweizer Buchpreis

Die Trennung kam unerwartet. literaturblatt.ch war gerne ein ganz kleiner Teil des Unternehmens und verstand sich stets als Stimme von Leserinnen und Lesern. Die Berichterstattung auf literaturblatt.ch soll Auseinandersetzung weit über das Buch hinaus sein. Aber nachdem es in den letzten Jahren für Literatur in den grossen Medien immer weniger Platz gibt, auf Radio SRF wurde mit „52 beste Bücher“ einer der gewichtigsten Literatursendungen gestrichen, in Zeitungen werden sorgfältige Buchbesprechungen immer seltener, das Feuilleton immer schmaler, ist es nicht verwunderlich, wenn es auch für unabhängige Buchpreisbegleitung keinen Platz, kein Budget mehr gibt.

„Ausser Kugler, Schütt, Ebel und Bucheli kommt kaum noch jemand zu Wort, und selbst die NZZ hat durch die Entlassung sämtlicher freier Mitarbeiter 80% der früher publizierten Kritiken gestrichen. In dieser Situation ist eine Aktivität wie die auf literaturblatt.ch, auch wenn die Artikel nicht gedruckt erscheinen, von grosser Wichtigkeit. Nach wie vor braucht die Literatur die Kritik, und es erscheinen immer mehr Bücher, die überhaupt keine kritische Würdigung erfahren, während die wenigen wahrgenommenen so besprochen werden, dass eine einzige Kritik gleichlautend in 24 bzw. 28 Zeitungen erscheint. Ist es ein Verriss, so ist es eine schweizweite Abkanzelung, ist es ein Lob, trifft es vielfach Indiskutables, während die Perlen daneben unbeachtet bleiben. In dieser Situation kann eine Website, die auch dem Übersehenen noch eine Chance gibt oder einer schweizweit verbreiteten Beurteilung eine alternative Meinung gegenüberstellt, nicht hoch genug eingeschätzt werden.“ Charles Linsmayer, Autor und Literaturvermittler

Aber es passt. Nach etwelchen erfolglosen Versuchen, für literaturblatt.ch regelmässige Mitfinanzierung zu organisieren, verkraftet man(n) auch diese Sparmassnahme. Vielleicht auch darum, weil der SBVV sehr gut weiss, wie werbewirksam das Medium literaturblatt.ch ist und sich die Literaturplattform auch ohne finanzierten Auftrag für die Literatur einsetzen wird. Schade darum, weil es die Berichterstattung kostenlos macht, nicht wertlos, aber „gratis“.

„In Zeiten schwindender Buchbesprechungen in den Printmedien sind Internetportale wie literaturblatt.ch wichtige Orientierungshilfen in der Flut der Neuerscheinungen.“ Christian Haller, Träger des Schweizer Buchpreises 2023

Dass ich nicht mehr Teil des Unternehmens «Schweizer Buchpreis» sein soll, schmerzt auch deshalb, weil es 5 Jahre waren, während denen ich auf literaturblatt.ch alles tat, um die Berichterstattung über den Buchpreis möglichst abwechslungsreich und wirksam zu gestalten. Die Berichterstattung sollte ein eigenes Gesicht, ein eigenes Profil bekommen. So bebilderte die junge Illustratorin Lea Le die jeweiligen Berichte, unentgeltlich, einfach nur, weil es eine gute Sache war.

«Die Feuilletons werden dünner. Umso wichtiger ist es, bestehende Perlen im Netz zu stärken – wie zum Beispiel literaturblatt.ch, wo schon seit 2016 eine Rezension die andere über den Computerbildschirm jagt. Mein besonderer Tipp? gegenzauber.literaturblatt.ch – ein Who’s-Who von kurzen, schlagkräftigen Texten von A wie Agnes Siegenthaler bis Z wie Zsuzsanna Gahse.» Simon Froehling, 2022 nominiert für den Schweizer Buchpreis

Damit literaturblatt.ch weiterhin unabhängig über die Literatur im allgemeinen und über den Schweizer Buchpreis im Speziellen berichten kann, möchte ich Sie zu einem Unterstützungsbeitrag aufrufen. Als Gegenleistung nehme ich mit Ihnen direkt Kontakt auf, um Ihnen eine Freude meinerseits zu schenken, sei dies ein Buch, ein Nachtessen, ein Treffen…

„Gallus Freis Begeisterung für Bücher ist im wahrsten Sinne ansteckend.“ Michael Hugentobler, 2021 nominiert für den Schweizer Buchpreis

Kontoangaben: 
Literaturport Amriswil, Gallus Frei-Tomic, Maihaldenstrasse 11, 8580 Amriswil, Raiffeisenbank, Kirchstrasse 13, 8580 Amriswil, CH05 8080 8002 7947 0833 6, ID (BC-Nr.): 80808, SWIFT-BIC: RAIFCH22, Bemerkung: Unterstützer*in

«Der Schweizer Buchpreis und die aufmerksame Anwesenheit von Gallus Frei / literaturblatt.ch gehören für mich zusammen: Seine immer genaue und ausführliche Berichterstattung online hat mich und mein Debüt „Die Nachkommende“ während der Nominierung 2019 begleitet und bleibt in bester Erinnerung.» Ivna Žic, 2019 nominiert für den Schweizer Buchpreis

Illustrationen © leale.ch

Schon jetzt vielen Dank an K. S. und E. J. für die grosszügige Unterstützung!

«Sich lichtende Nebel» von Christian Haller ist Schweizer Buch des Jahres! #SchweizerBuchpreis 23/14

Es war keine Überraschung und ist die richtige Wahl. Als Christian Haller auf die Bühne im Foyer des Stadttheaters Basel auf die Bühne gebeten wurde und sich FotografInnen und erste GratulantInnen positionierten, darunter Ständerätin Eva Herzog, trat ein tief gerührter Mann ins Rampenlicht und dankte für das «Sahnehäubchen» auf einer grossen Arbeit.

Hier wiedergegeben die Laudatio von Michael Luisier, SRF Literaturredaktor und seit diesem Jahr Mitglied der Jury des Schweizer Buchpreises:

Die Geschichte ist bekannt. Ein Mann geht durch Nacht und Nebel. Betritt einen Lichtkreis, verlässt ihn wieder und taucht im nächsten Lichtkreis wieder auf. Ein anderer Mann beobachtet ihn dabei. Und weil der sich gerade mit physikalischen Fragen auseinandersetzt, mit Atommodellen und der Beschaffenheit des Lichts, kommt ihm der Gedanke, respektive die entscheidende Frage in den Sinn: Woher weiss man, dass ein Mensch, der soeben einen Lichtkreis verlassen hat und weitergeht, im nächsten Lichtkreis wieder auftaucht? Und nicht einfach verschwindet?

Christian Haller «Sich lichtende Nebel», Luchterhand, 2023, 128 Seiten, CHF ca. 29.90, ISBN 978-3-630-87733-4

Diese Anekdote erzählt die Geschichte hinter der Entdeckung der Quantenmechanik durch den Physiker Werner Heisenberg. Sie ist der Ausgangspunkt einer Novelle, die sehr bald zu einer ähnlich dringenden Frage führt, nämlich: Wie geht man generell mit Dingen um, die stattfinden, obwohl sie eigentlich nicht stattfinden sollten? Und – hier kommt die Literatur ins Spiel – wie beschreibt man die? 

Wie sagt man Unsagbares? Wie beschreibt man – literarisch – nicht zu Beschreibendes? Das sind die zentralen Fragen des Texts.

Christian Haller, Schriftsteller und selbst Naturwissenschaftler, hat sich dieser literarischsten aller Aufgabe gestellt. Haller hat sich als Literat für die Novelle als Erzählform entschieden, weil es sich dabei grundsätzlich um die Vermittlung einer «sich ereigneten unerhörten Begebenheit» handelt, wie es bei Goethe heisst. 

Der Naturwissenschaftler, der sehr wohl weiss, dass die Naturwissenschaft nicht alles erklären kann, hat sich für ein nicht materielles Phänomen in einer materiellen Welt entschieden. Im Text ist von «Durchbrüchen» die Rede, erlebt durch die zweite Figur dieses Textes, den Beobachteten, dessen Weg genauso beschrieben wird wie der des Beobachters. An diesem zeigt Christian Haller diese «Durchbrüche», die man auch spirituell deuten kann, als Ausdruck von Rausch, als Zustände welcher Art auch immer. Oder vielleicht auch ganz anders, wer weiss. Es selbst sagt es nicht. 

Meisterhaft ist es Christian Haller gelungen, sich dabei aufs Wesentliche zu beschränken: Zwei miteinander verschränkte Geschichten im Wechsel erzählt, wobei nicht ein Wort zu viel ist, nicht ein Moment aus blossem Zufall entstanden scheint. Alles ist so einfach, schön und klar geschaffen, als könnte man Unsagbares tatsächlich nur auf diese Weise sagen. 

Ja. Die Novelle «Sich lichtende Nebel» von Christian Haller ist Klarheit, Schönheit und im besten Sinne auch Einfachheit. Drei Argumente für eine Verleihung des Schweizer Buchpreis 2023. Christian Haller, wir gratulieren Ihnen dazu.

Rezension von «Sich lichtende Nebel» auf literaturblatt.ch

Beitragsbild © Gallus Frei

Lieber Bär, Lieber Gallus #SchweizerBuchpreis 23/13 – die Prognose

«Literatur ist das Andere. Wobei mir wichtig scheint zu ergänzen, … das Andere, ohne das sein zu wollen.» Matthias Zschokke

Lieber Gallus

Dein wunderbares Literaturblatt hat eine Kraft und Ausstrahlung bis zum Pilatus! So hat deine Rezension und dein Interview mit Demian Lienhard über «Mr.Goebbels Jazz Band mich zu einer zweiten Lesung dieses Buchs (vergleiche meine Kritik im letzten Mail) geführt und ich habe nun Zugang zu diesem Werk gefunden und seine Sprachgewalt genossen. Es zeigte mir, wie meine Empfänglichkeit für gute Literatur beeinträchtigt war, einerseits wahrscheinlich durch die unmittelbar vorangehende Lektüre der Heptalogie Jon Fosses, andererseits durch viele unvorhergesehene Unterbrüche beim Lesen. Nun war meine Lektüre ganz anders. Mich beeindruckt, wie Demian Lienhard mit Lust und Können diese ungeheuerliche wahre Geschichte in einen Roman verpackt hat. «Jeder Mensch ist ein Abgrund, es schwindelt einem, wenn man hinabsieht», dieser vorangestellte Satz von Büchner gilt für alle Protagonisten, und auch ich muss mich fragen, wie ich mich in ihrer Situation verhalten hätte. Wie du geschrieben hast: kein Unterhaltungsroman!

Unabhängig davon, wer von den fünf nominierten den Schweizer Buchpreis in Empfang nehmen darf, bin ich allen nominierten AutorInnen für ihre so unterschiedlichen Werke dankbar und kann in der Buchhandlung alle fünf Bücher wärmstens empfehlen.

Noch ein Buchtipp:

Dank eines interessanten Interviews im Feuilleton einer Zeitung wurde ich auf den Roman «Vatermal» von Necati Oeziri aufmerksam. Ehrlich, authentisch und doch mit einer beeindruckenden Leichtigkeit wird die Geschichte eines jungen Mannes mit Migrationshintergrund erzählt, der ohne Vater aufwächst. «Wie sagt man «Papa», ohne dass ein Fragezeichen zu hören ist? Bis ich eine Antwort habe, bleibe ich bei Metin. Also: Wenn du das hier liest, Metin, werde ich wahrscheinlich tot sein.» Arda Kaya liegt schwerkrank auf der Intensivstation, er weiss nicht, ob er überlebt und versucht, über sein Leben dem unbekannten Vater schriftlich zu berichten. Ohne anzuklagen, bereit, vieles zu verzeihen, erfahren wir vom Schicksal einer Migrationsfamilie aus der Türkei, vom Leben des Heranwachsenden auf Plätzen mit Drogen und Gewalt, von der Schwierigkeit, einen Weg mit positiver Perspektive zu finden. «Ich möchte dir für immer die Möglichkeit nehmen, nicht zu wissen, wer ich war. Du sollst erfahren, wie es deiner Familie in Deutschland ging, wie im letzten Sommer meiner Jugend alle meine Freunde verschwunden sind und wie auch ich versuchte, vor mir selbst zu fliehen.» Dieses Buch tut weh, rüttelt auf, gibt mir Einblick in ein Milieu, das wahrzunehmen für unsere Gesellschaft wichtig ist.. «Ich lasse meinen Blick durch die Mensa schweifen und springe von Gesicht zu Gesicht. Ich weiss, irgendwo hier müssen auch die anderen sein. Die, deren Mütter im Krankenhaus putzen. Deren Väter Taxi fahren…Aber sie sind wahrscheinlich wie ich: unsichtbar.»

»Ich bin die, vor der mich meine Mutter gewarnt hat», der Erstling von Demian Lienhard,  ist meine aktuelle Lektüre. Unglaublich originell und kompromisslos geschrieben erlebe ich hautnah Suchen und Scheitern von Alba und ihren Kolleginnen und Kollegen in der Zürcher Drogenszene um 1980. Ich habe kaum je einen authentischeren Einblick in dieses Milieu erhalten. Fragen nach dem Sinn unseres Lebens und Kritik unserer Konsumgesellschaft schwingen mit, literarisch überzeugend verarbeitet. Ich hoffe, dem Autor bald einmal persönlich begegnen zu können.

Herzliche herbstlich-nasse Grüsse aus der Innerschweiz 

Bär

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Lieber Bär

Keine Ahnung, ob Du Dich traust, Deine Favoriten für den Schweizer Buchpreis zu nennen und Deine Wahl gar zu begründen. Du hast alle fünf Romane gelesen. Glücklicherweise besteht eine Jury aus fünf Lese- und Buchbegeisterten, auch wenn diese mit ihrem Fachwissen und Leistungsausweis bei weitem nicht repräsentieren, wer im Buchgeschäft ein Buch kauft.

Die nominierten Bücher sind entsprechen einer gute Auswahl der Jury. Kein Buch, bei dem ich nicht nachvollziehen kann, warum es in der Liste der Nominierten ihren Platz hat.
Wenn ich mich selbst für einen Favoriten aussprechen soll, dann kann ich ein Favorisieren nur aus verschiedenen Perspektiven vornehmen. Und selbstverständlich sind meine Begründungen subjektiv:

Aus der Sicht des Buchhandels: (nur Hardcover!)
1. «Bild ohne Mädchen» von Sarah Elena Müller (Verkaufsrang 14),
2. «Sich lichtende Nebel» von Christian Haller (Verkaufsrang 17),
3. «Mr. Goebbels Jazz Band» von Demian Lienhard (Verkaufsrang 20),
4.
«Der graue Peter» Matthias Zschokke (Verkaufsrang 21),
5. «Glitsch» von Adam Schwarz (Verkaufsrang 23)

Aus der Sicht eines SRF-Votings (16. November):
1. «Mr. Goebbels Jazz Band» von Demian Lienhard 34%,
2. «Bild ohne Mädchen» von Sarah Elena Müller 29%,
3. «Sich lichtende Nebel» von Christian Haller 19%,
4. «Glitsch» von Adam Schwarz 10% und
5. «Der graue Peter» von Matthias Zschokke 8%. 

Ich glaube, dass es Christian Haller mit dem Roman «Sich lichtende Nebel» sein wird. Zum einen überzeugt er gleich vielfach: sprachlich, formal und in der Dichte des Geschriebenen. Zum andern wirken sich die unterschwelligen Themen auf unser Denken und Handeln aus. Christian Hallers Roman nimmt sich unserer Wahrnehmung der Welt an, relativiert, was wir als «Wahrheit» empfinden. Sein Roman provoziert Nachdenken, Auseinandersetzung. Selbst in den Themen, die uns aktuell beschäftigen, sei es die grassierende Gewalt oder das Ausblenden des Unumgänglichen, wenn es um Klimafragen geht – überall sind wir gefangen in der Art, wie wir wahrnehmen, wie wir die Dinge sehen.

Dass «Der graue Peter» von Matthias Zschokke in beiden Listen auf den letzten Plätzen auftaucht, schmerzt mich deshalb, weil das Buch mit Sicherheit thematisch aus der Reihe tanzt, sprachlich aber eine Perle ist.

Dann freue ich mich auf den kommenden Sonntag. Vielleicht sitzen wir doch noch nebeneinander!

Freundschaftlich

Gallus

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Lieber Gallus

Wer bekommt den Schweizer Buchpreis 2023?
Mein Dilemma besteht, da ich zwischen Haller und Zschokke wählen muss. Im Innersten hat mich «Der graue Peter» vielleicht ein My tiefer bewegt, ich finde ihn absolut ebenbürtig in seiner literarischen Qualität. Beide zeigen auf originelle und einzigartige Weise, welches Potential wir Menschen durch Wahrnehmung, Erfahrung und Offensein entwickeln können. Sie regen nachhaltig zum Nachdenken an, Haller analytisch genau, Zschokke poetisch.

Ich schlage vor, dass ausnahmsweise zwei Autoren den Buchpreis teilen, gibt es ja auch im Sport bei gleicher Renn-Zeit.

Zu deiner Einschätzung kann ich weiter nichts anfügen. Sie entspricht meiner ziemlich genau.

In unserer kleinen Buchhandlung hat, wie bereits einmal geschrieben, der Schweizer Buchpreis im Vorlauf keinen wahrnehmbaren Einfluss auf die Verkaufszahlen, Haller hat hier Zschokke aber übertrumpft. So muss ich annehmen, dass «Sich lichtende Nebel» gewinnen wird.

Herzliche Grüsse

Bär

Christian Haller «Sich lichtende Nebel», Luchterhand #SchweizerBuchpreis 23/12

Zu Beginn des Jahres 1925 war der eben habilitierte Werner Heisenberg in seinen Studien zur Quantentheorie kurz vor dem Durchbruch, erst erahnend, was diese in der Wissenschaft anrichten würden. Christian Haller nimmt sich in seiner Novelle „Sich lichtende Nebel“ nicht nur genau jener Zeit an, sondern dem Gefühl damals Weniger, dass unsere Wahrnehmung alles andere als deckungsgleich mit der „Wahrheit“ sein muss.

Erstaunlich genug, dass Christian Haller sich einem physikalischen Thema mit derartiger Leichtigkeit literarisch widmen kann, dass er es schafft, einen solchen Stoff, einen solchen Moment des sich lichtenden Nebel mit der zarten Beschreibung zweier nicht unähnlichen und in ihrer Biografie so unterschiedlichen Protagonisten zu verknüpfen. Selbst wenn ich das, was Heisenberg, von Christian Haller respektvoll „Beobachter“ genannt, damals in seinem Denken entwickelte, nicht wirklich verstehe, erahne ich den Moment des „Sich Lichtens“. Nicht dass es Heisenberg damals wie Schuppen von den Augen fiel – aber die Ahnung, was sein Erkennen für Konsequenzen auslösen würde, muss als Gefühl erschütternd gewesen sein.

Christian Haller «Sich lichtende Nebel», Luchterhand, 2023, 128 Seiten, CHF ca. 29.90, ISBN 978-3-630-87733-4

Christian Haller verwebt die Geschehnisse um den jungen Physiker Heisenberg mit den schwierigen Tagen eines emeritierten Historikers. Helstedt hat sich nach dem Tod seiner Frau zurückgezogen, auch wenn er sich ab und an mit seinem Kollegen Sörensen trifft und in der Suche nach Erkenntnis, reichlich unterstützt durch Wein, Austausch sucht. Eine Suche, die ihm neben seinem Schmerz mehr und mehr die Gewissheit gibt, dass mit dem Nichtmehrdasein nicht zwingend eine Liebe zu Ende sein muss. Heisenberg und Helstedt erahnen, dass es neben der offensichtlichen „Wirklichkeit“ Ebenen geben muss, die sich unserer (meiner) Vorstellung entziehen.

«Seine Schrift auf der weissen Heftseite war wie die Spur im Schnee, die ein Fuchs gezogen hatte.»

Beide, Heisenberg und Helstedt, wagen einen Aufbruch. Heisenberg aus den Fesseln eines vorgegebenen Denkens, Helstedt aus seiner inneren Isolation. „Es kann nur existieren, wofür es Wörter, eine Sprache gibt.» Eine Novelle darüber, wie eine Banalität einer weltbewegenden Idee die Initialzündung gibt. Christian Haller lässt Figuren auftreten, deren Biographien sich durch Handlungen und Ideen ineinander verschränken. Nach zwei Trilogien, die sich mit Hallers eigner Herkunft, seinem Leben auseinandersetzen, sei der Stoff um Heisenberg und seine Quantenphysik wie eine neue, noch unbesetzte Keimzelle, die zum Buch wurde, erklärte Christian Haller an einem Auftritt an den Solothurner Literaturtagen 2023. Eine Novelle, die viel mehr will als das Verbildlichen einer komplexen physikalischen Fragestellung. «Sich lichtende Nebel» ist eine Liebesgeschichte, nicht zuletzt eine zur Liebe des Sehens, des Erkennens.

So schmal das Buch ist, so erkenntnisreich die Ahnungen, die es provozieren kann. „Sich lichtende Nebel“ ist ein starkes Stück Literatur! Ich spüre seine grosse Faszination, die die Sprache selbst für den Autor bedeutet, die Weite an Erkenntnis, die sich offenbart.

Christian Haller hätte es sich leichter machen können. Aber die Tiefen von Einsicht und Erkenntnis sind nicht hell ausgeleuchtet. Nur wer sich darum bemüht, dem lichten sich die Nebel.

Christian Haller, 1943 in Brugg, Schweiz geboren, studierte Biologie und gehörte der Leitung des Gottlieb Duttweiler-Instituts bei Zürich an. Er wurde u. a. 2006 mit dem Aargauer Literaturpreis, ein Jahr später mit dem Schillerpreis und 2015  mit dem Kunstpreis des Kantons Aargau ausgezeichnet. Zuletzt ist von ihm der letzte Teil seiner autobiographischen Trilogie erschienen: «Flussabwärts gegen den Strom». Er lebt als Schriftsteller in Laufenburg.

Webseite des Autors

Illustrationen © leale.ch

Demian Lienhard «Mr. Goebbels Jazz Band», FVA #SchweizerBuchpreis 23/11

Im Nationalsozialismus galt Jazz als entartete Musik, wurde systematisch diffamiert, MusikerInnen verfolgt und drangsaliert. Das gleiche System setzte Jazz aber für propagandistische Zwecke ein. So spielte die Mr. Goebbels Jazz Band bis zum Untergang des NS-Regimes auf dem Propagandasender – eine skurrile, wahre Geschichte!

Nicht dass der Nationalsozialismus die Propaganda erfunden hätte, aber wie niemals zuvor wusste eine politische Bewegung die systematische Manipulation einer ganzen Gesellschaft derart auszunützen wie jene unter dem Hakenkreuz.

Joseph Goebbels, bedingungsloser Wegbegleiter und Wegbereiter Adolf Hitlers, von 1933 bis zum Zusammenbruch des tausendjährigen Reiches im Mai 1945, war Propagandaminister und damit Schlüssel- und Schaltzentrale bis in jede Form der Äusserung, auch in jene der Kultur. Was an Meinungsäusserungen oder Verlautbarungen zu Volk und Elite überspringen sollte, wurde von einem ganzen Apparat geleitet und gelenkt. Und wer nicht in dieses feinmaschige Netzwerk passte oder sich gegen Regeln, Auflagen und Weisungen stemmte, hatte dies leicht mit Lagerhaft, Folter oder dem Tod zu bezahlen. 

Demian Lienhard «Mr. Goebbels Jazzband», FVA, 2023, 320 Seiten, CHF ca. 34.90, ISBN 978-3-627-00306-7

Das Ministerium für Volksaufklärung und Propaganda wusste sehr genau, wie und womit die Massen gefüttert werden mussten, um die Ziele einer totalitären Diktatur verwirklichen zu können. Bis in die Literatur, die Musik und den Rundfunk. In seinem Roman „Mr. Goebbels Jazz Band“ erzählt Demian Lienhard von der Big Band, die im reichsdeutschen Rundfunk mit schmissigen Melodien Nachrichten und politische Statements zu untermalen hatte, in englischer Sprache, dem Geschmack des „Feindes“ angepasst, über den Äther bis in die Stuben jener Länder, die noch nicht zum Deutschen Reich gehörten.
Eine „wahre“ Geschichte, die aufzeigt, wie schizophren totalitäre Regime funktionieren, wenn es darum geht, den Interessen einer Ideologie zu dienen.
Während Abertausende von Juden, Homosexuellen und Andersdenkenden schnurstracks in die Vernichtungszentralen transportiert wurden, spielten in der Mr. Goebbels Jazz Band auch Juden und Homosexuelle, Männer, die sonst niemals die Gräuel dieser Zeit überlebt hätten.

Demian Lienhard wählte für die Geschichte den Roman im Roman, denn der bislang noch unbekannte Schweizer Schriftsteller Fritz Mahler soll den Moderator William Joyce und die Musiker der Band „schriftlich“ begleiten und ihre Geschichte mit einem Roman dokumentieren. In einem tausendjährigen Reich würde es genug Publikum geben, um von der Strahlkraft dieser Truppe zu erzählen.
Aber Fritz Mahlers Aufgabe ist schwierig, denn die Musiker, die genau wissen, wie dünn das Eis ist, auf dem sie spielen, misstrauen dem Schreiberling mehr als deutlich. Mahler ist wie sie geordert, dem Ministerium verpflichtet. Ist Mahler ein Spitzel?

Demian Lienhard beschreibt mit Genuss all jene Mechanismen, die das Konstrukt aufrecht halten, ebenso das Misstrauen und den fortwährenden Kampf um Positionen. Aber die eigentliche Kunst dieses Romans ist weder die Geschichte selbst noch die beschriebene Kulisse. Demian Lienhard versteht es meisterlich, seinen Roman im Sound jener Zeit zu erzählen. Demian Lienhard spielt ein Instrument in den Klängen jener Zeit. Er spielt mit einer Figur, die perfekt auszublenden versteht, was das System mit ihm macht, dass er sich an eine Ideologie verkaufte, zum einen im Glauben, auf dem Rücken dieser aus der Bedeutungslosigkeit gehoben zu werden, blind für das, was wirklich passiert. Der Blick über die eigene Nasenspitze hinaus ist mehr als nur vernebelt.

Demian Lienhards Roman ist ein Sprachkunstwerk, bei dem ich aber nicht sicher bin, ob all die LeserInnen, die nur der Unterhaltung wegen zu einem Buch oder Tablet greifen, nicht enttäuscht darüber sind, das der Schriftsteller allen Verlockungen einer actionangereicherten Erzählweise widerstehen konnte. „Mr. Goebbels Jazzband“ ist eine Spiegelung all jener Geschichten, die bis in die Gegenwart durch Opportunismus den Scheuklappen jene Grösse geben, sich getrost den scheinbar aufrechten Gang zu bewahren.

Interview

Dein Roman ist vordergründig die wahre Geschichte einer Jazzband, die im nationalsozialistischen Machtapparat eine klar definierte Rolle zu spielen hatte, ebenso jene des Moderators am Rundfunkmikrophon und jene des begleitenden Schriftstellers. Ganz offensichtlich ging es dir aber um viel mehr. Zum einen um die Auswirkungen eines grossen Versprechens, um grenzenlosen Opportunismus, der aber auch Leben retten kann zum andern um Musik, auch um den Sound einer Sprache.
Ist es die Nähe zur Musik, die Verwandtschaft von Sprache und Musik, die Dich an den Stoff band?
Mich haben zunächst eher die drei Hauptwidersprüche der Geschichte angezogen. Das NS-Propagandaministerium, das selbst hochstehenden Jazz produzieren lässt, obwohl es selbst täglich zur Ächtung dieser Musik beiträgt. Eine Big Band, die aus Musikern verschiedenster Herkunft zusammengestellt wird, darunter auch Juden und Homosexuelle – also genau jene Minderheiten, die laut NS-Ideologie vernichtet gehören. Und dann ein Radiomoderator, der sich selbst als englischen Nationalisten und Faschisten begreift, aber knapp sechs Jahre für die Nazis und gegen England arbeitet. Diese Bruchlinien haben mich zuerst angezogen, hier habe ich Reibung und Spannung gespürt. Mir ging es also zuerst um die Menschen und das System. Die Tatsache, dass Musik in dieser Geschichte aber eine sehr wichtige Rolle spielt, war dann aber für die Ästhetik des Romans sehr wichtig.

Deine Geschichte spiegelt sich auch in der Gegenwart. Alle und alles ist ständig der Manipulation ausgesetzt. In allen totalitären Staaten prostituiert sich Sprache und Musik – die Kunst. Aber selbst in einer „freien Gesellschaft“ ist niemand gefeit vor den Verlockungen. Ich kann mit dem bisher glücklosen Schriftsteller Fritz Mahler sehr gut mitfühlen. Endlich Aussicht auf Erfolg. Wo kippt Anpassung in kalten Opportunismus?
Ich glaube, dass das die entscheidende Frage des Romans ist, und zwar bei Fritz Mahler genauso wie bei den Musikern. Wenn auch die Motive unterschiedlich sind, arbeiten doch beide für das Fortbestehen eines menschenverachtenden Regimes. Mir war es wichtig, diese Fragen zur Disposition zu stellen; die Beantwortung der Fragen möchte ich jedem Leser selbst überlassen.

eine Werbepostkarte der Ciro Bar an der Rankestrasse 31 in Berlin Charlottenburg, in der die ersten beiden Kapitel des 2. Teils des Romans spielen

Jene Jazzmusiker, die ausserhalb dieser künstlich geschaffenen „Glocke“ niemals so hätten spielen können, hätten wegen ihrer „Zugehörigkeit“ wohl auch nur schwerlich die NS-Zeit überlebt. Ganz am Schluss Deines Romans resümierst Du die Schicksale der an der Geschichte beteiligten ganz kurz. Was entschied darüber, wer bei deinem Roman Gewicht erhalten sollte?
Nicht alle Musiker waren gleich lange dabei, manche stiessen später dazu oder verliessen die Band aus unterschiedlichen Gründen. Zunächst war mir deshalb wichtig, Musiker mit der grössten Kontinuität auszuwählen – meistens waren sie es auch, die die bedeutendste Rolle in der Band spielten. Zweitens wollte ich möglichst unterschiedliche Figuren haben; das fängt bei der Herkunft an und hört beim Instrument, das jemand spielte, auf. Drittens war aber auch die Quellenlage ein entscheidendes Kriterium. Hier war das Gefälle enorm, und im Zweifel habe ich mich für die Musiker entschieden, über die ich am meisten herausfinden konnte.

Besteht nicht die Gefahr, dass bei einer solchen Geschichte die historischen und politischen Hintergründe zur Kulisse werden?
Diese Gefahr besteht auf jeden Fall, und zwar bei jedem historischen Stoff. Mir war es ein grosses Anliegen, nicht einfach einen Marketing-Gag zu schreiben. Da es in dem Roman im engeren Sinn um Kunst und Diktatur geht, wollte ich das auch verhandeln, und zwar nicht nur auf der Handlungsebene, sondern auch auf einer ästhetischen Ebene. Mitunter daher auch die Entscheidung, der Band, die unter Aufsicht eines totalitären Regimes Musik produziert, einen Schriftsteller gegenüberzustellen, der zwar freiwillig, und doch nicht ohne Zwänge und Druck ein Auftragswerk über diese Band schreiben soll.

Dein Roman erzählt zwei Jahrzehnte. Jene beiden Jahrzehnte, die der Beginn von einem Jahrtausend hätten werden sollen, einer Ewigkeit. Wie niemals zuvor in der Geschichte der Zivilisation erfahren wir die Endlichkeit einer Welt, unserer Welt. Inwieweit ist „Mr. Goebbels Jazz Band“ eine Parabel?

„Mr. Goebbels Jazz Band“ zeigt mitunter verschiedene Formen des Opportunismus und seine Folgen. Hier könnte man aus meiner Sicht den Roman auch als Parabel lesen. Der Schriftsteller Fritz Mahler, dem es vor allem um Erfolg geht, legt dabei einen anderen Opportunismus an den Tag als die Musiker, die damit vor allem ihr Leben retten. Und doch steht bei beiden zur Diskussion, inwiefern man sich mit der Arbeit für ein totalitäres Regime mitschuldig macht an dessen Fortbestehen. Es ist unmöglich, diese Fragen abschliessend zu beantworten; mir ging es vor allem darum, sie aufzuwerfen. 

Demian Lienhard, geboren 1987 in Bern. Studium der Klassischen Archäologie, der Latinistik und der Hispanistik in Zürich, Köln und Rom. Sein erster Roman »Ich bin die, vor der mich meine Mutter gewarnt hat« (FVA 2019) stand auf der Shortlist des Klaus-Michael-Kühne-Preises für das beste deutschsprachige Debüt und wurde 2020 mit dem Schweizer Literaturpreis ausgezeichnet. Für seine Recherchen an seinem zweiten Roman »Mr. Goebbels Jazz Band« (FVA 2023) lebte er längere Zeit in Galway, London, Berlin und Bern.

Webseite des Autors

Illustrationen © leafrei.ch

Lieber Bär, lieber Gallus #SchweizerBuchpreis 23/10

Lieber Gallus

Die kriegerische Eskalation im Nahen Osten, die vielen anderen Kriegsherde auf der Welt und der Klimawandel einerseits, der Nobelpreis für Jon Fosse andererseits beschäftigen und verunsichern mich sehr. Einige Kritiker des diesjährigen Nobelpreises für Literatur bemängeln, Fosses Werk treffe den Zeitgeist nicht, beziehe sich nicht auf aktuelle Fragestellungen.
Hat Literatur eine Aufgabe? Hat Literatur einen Zweck? Kann Literatur beispielsweise zum Frieden beitragen?
2020 las ich mit Begeisterung «Apeirogon» von Colum Mc Cann. Was ist der Sinn dieses Buches voller Hoffnung in Anbetracht der heutigen Gewaltorgien um Israel?
Ich bin überzeugt, dass Literatur jenseits vom Weltgeschehen mir eindrückliche, anregende und tröstliche Erfahrungen ermöglicht, zu denen ich sonst nicht Zugang habe. Deren Sinn ist also für mich unbestritten. Fosses Heptalogie bereichert mein Innenleben und hat einen Tiefgang, eine Entschleunigung, die für unsere Welt gerade heute so wichtig sind. In der Musik vergleichbar mit einer Bruckner Sinfonie.
Wie denkst du darüber?

Sonnige Herbstgrüsse

Bär

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Lieber Bär

Kunst hat durchaus eine Aufgabe, auch wenn sich diese im Wandel der Zeit veränderte. Ich glaube, dass die Kunst die Aufgabe hat, Fragen zu stellen, unbescheidene, unbequeme, unverschämte, ungefragte. Fragen, die wir uns vielleicht nicht einmal trauen. Dekoration ist keine Kunst. Nett ist nicht Kunst. Aber sobald etwas es schafft, dass mein Innenleben in Schwingung kommt, in Schwingungen, die mich vielleicht sogar trunken machen, dann kann es Kunst sein.

Ich bin nicht der Meinung, dass Kunst ablenken und schon gar nicht bloss unterhalten soll. Klar kann mich ein Buch von vielem ablenken. Aber ich lese es nicht, um der Ablenkung Willen. Wenn SchriftstellerInnen und DichterInnen nur deshalb schreiben, weil sie mich unterhalten und ablenken wollen, bin ich mehr als skeptisch.

Christian Haller rüttelt an unser Vorstellung von Wahrnehmung, Demian Lienhard zeigt, was Opportunismus verursacht, Adam Schwarz konfrontiert mich mit einer düsteren Ahnung, Matthias Zschokke spielt Musik mit Instrumenten, die aus der Zeit gefallen scheinen und Sarah Elena Müller zieht mich mit einem unangenehmen Szenario in eine Welt, die beinah physischen Schmerz auslöst. Aber es sind bei diesen fünf Büchern weit mehr als die Themen, weit mehr als die Fragen, die gestellt und ausgelöst werden. Es ist die Sprache. Christian Haller schrieb mit: «Wenn in der opaken (undurchsichtigen, lichtundurchlässigen) Stoffmasse nach geduldigem Warten ein Prozess der Auskristallisierung beginnt, der das Was des Stoffes in das Wie der sprachlichen Ausformung transformiert, und zu einer Deckungsgleichheit zwischen Was und Wie führt, entsteht gute Literatur.»

Der Vorwurf der Medien, Jon Fosse treffe den Zeitgeist nicht, beziehe sich nicht auf aktuelle Fragestellungen, ist ein Witz. Soll sich ernsthafter Journalismus mit dem Zeitgeist auseinandersetzen, soll sich das Feuilleton den Aktualitäten zuwenden. Das von der Kunst zu fordern, ist kontraproduktiv und hereinnehmend. Die Kunst muss frei sein. Die Kunst gibt sich ihre Aufgabe selbst! Unbedingt.

Liebe Grüsse

Gallus

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Lieber Gallus

Deine Antwort auf die Frage nach der Aufgabe von Kunst hat mich überzeugt. Fragen zu stellen, auch unbescheidene und unverschämte, ist wichtiger, als einfache Lösungen zu präsentieren. Ein Sprach-Kunstwerk, ein gelungenes Buch zu erschaffen, macht gute Autorinnen und Autoren aus und lässt in Leserinnen und Lesern die unterschiedlichsten Saiten erklingen.

Ich muss weiterhin vom Schweizer Buchpreis abweichen. Meine Seele wurde durch Jon Fosses Heptalogie so stark in Schwingung versetzt, dass ich tatsächlich wort-trunken bin. Im fünften Buch spiegeln sich deine Aussagen über Kunst, wenn Asle in der einsamen kargen Wohnung seinem Hund in die Augen schaut: « so ähneln seine Augen der guten Kunst, denn auch die kann nichts sagen, nicht im eigentlichen Sinne, sie kann nur etwas anderes sagen und muss von dem, was sie eigentlich sagen will, schweigen und so sind Kunst und Glauben und das stumme Begreifen des Hundes ein und dasselbe».  In einem hypnotisierenden Sprachfluss von einzigartiger Schönheit werden unbequeme, das Mensch-Sein ergründende Fragen gestellt. Der Protagonist ist Kunstmaler, seine Gedanken gelten aber auch für die Literatur: «es ist, als ob es irgendwo in mir ein Bild gäbe, mein innerstes Bild, das ich immer und immer wieder hervorzumalen versuche, und je näher ich diesem Bild komme, desto besser wird das Bild, das ich male, aber das innerste Bild ist ja natürlich kein Bild, denn das innerste Bild gibt es nicht, es existiert nur irgendwie, ohne zu existieren, es ist, aber ist nicht»  

Der Leser, die Leserin begibt sich auf die Suche nach dem Sinn unseres Daseins. Hier ist meines Erachtens die Deckungsgleichheit zwischen Was und Wie gelungen und die Sprache in dem Sinn vollendet, wie Christian Haller dir geschrieben hat.

Zurück zum Schweizer Buchpreis muss ich gestehen, dass Demian Lienhards Buch mich nicht begeistert hat. Ich hatte mich auf das Buch gefreut, da ich von «Mr. Goebbels Jazz Band» im 2.Weltkrieg nichts wusste. Irgendwie wurden die Saiten in mir nicht in Schwingung versetzt, ich musste mich durchringen. Die Sprache empfand ich als sperrig und holprig, von den Personen hat mich nur Wilhelm Fröhlich, alias William Joyce gepackt. Die Geschichte dieser Band ist für mich zu farblos, die Ungeheuerlichkeit einer Jazz Band als Propaganda und Ueberlebensmöglichkeit in Einem zu wenig spürbar. Diesem so gut recherchiertem Buch hätte ich etwas mehr Atmosphäre und Musikalität gewünscht.

Vielleicht liegt es daran, dass ich es zwischen zwei Büchern von Fosse gelesen habe?

Trotz meiner Kritik bin ich über die Lektüre von «Mr.Goebbels Jazz Band» froh, da es aufzeigt, was Propaganda mit Menschen machen kann.

Bald wissen wir, wer von den fünf Nominierten den Schweizer Buchpreis erhalten wird. Bis dann freue ich mich auf Lesungen und Begegnungen verschiedenster Art.

Herzliche Grüsse

Bär

Sarah Elena Müller «Bild ohne Mädchen», Limmat #SchweizerBuchpreis 23/09

Sarah Elena Müllers Debütroman „Bild ohne Mädchen“ scheint LeserInnen genauso zu verunsichern wie die Literaturkritik, in der über das Unausgesprochene im Roman eifrigst geschrieben wird, über Pädophilie, Kindsmissbrauch. Nicht dass das Thema nicht wichtig wäre. Aber der Roman der jungen Autorin ist weit mehr als die Auseinandersetzung mit einem Tabuthema, das sonst eigentlich eher sprach- und fassungslos macht.

Sarah Elena Müllers Roman ist schwere Kost. Zum einen, weil er von mir einiges abverlangt, weil die Autorin der Kontur ihrer Figuren, dem Geschehen ganz langsam von einem traumhaft nebulösen Aussen gegen ein traumatisches Innen folgt, zum andern, weil es der Autorin nicht darum geht, dort den Täter als lüsternes Monster und hier das Mädchen als hilfloses Opfer zu zeichnen. Sarah Elena Müller geht es um die Zwischenräume. Zum einen um die fluide Welt eines Mädchens, das sich selbst überlassen ist, zum andern um die kaputte Welt eines Mannes, der die Bodenhaftung gänzlich verloren hat im Gravitationsfeld abgefahrener Gedankenwelten und den Untiefen seiner verlorenen Seele. Die Autorin schafft es, das Unsägliche zu beschreiben, die Verlorenheit einer Gesellschaft, die sich aus wahrhaften Beziehungen verabschiedet hat, in der die Zentrifugalkraft der Individualisierung aus dem Einzelnen einen einsamen Komet macht. Sie beschreibt Bilder aus den Grenzregionen zwischen Realität und Traum, zwischen den Feinheiten von Empfindungen und düsterem Alp.

Sarah Elena Müller «Bild ohne Mädchen»; Limmat, 2023, 208 Seiten, CHF ca. 30.00, ISBN 978-3-03926-051-5

Ein Bergdorf irgendwo. Der Grossvater des Mädchens ist gestorben, die Grossmutter die einzige, die dem Mädchen ein Gesicht zeigt. Die Mutter, eine verstiegene Bildhauerin, der Vater Biologe und Umweltaktivist, beide auf ihre Art nie da, selbst dann, wenn sie das Wort an das Mädchen richten. Das Mädchen bleibt mit sich allein. Allein mit einem Engel, allein mit ihrem Nachbarn, einem schrulligen Medienmann, einem ehemaligen Professor aus Berlin, mit Bildschirmen, Computern und allem möglichen Filmequiment, bei dem sie tun darf, was ihr zuhause verwehrt bleibt, zum Beispiel Bildschirmkonsum. Ege gibt ihr die Aufmerksamkeit, die ihr zuhause fehlt. Dort spielt sich Welt ab, hat selbst der Engel, den das Kind begleitet, eine Stimme. Das Mädchen hat keinen Namen, ganz im Gegenteil zu Ege und seiner Partnerin Gisela, die eigentlich genau spürt, was in den Kellerzimmern ihres Hauses geschieht, aber die Bilder von sich wegwischt.
Selbst das Bettnässen des Kindes, die schulischen Schwierigkeiten, das Fehlen von Freunden, das Schwänzen – nichts alarmiert die so sehr mit sich selbst beschäftigten Eltern, dass irgendetwas sie zum Handeln zwingen würde. Das Mädchen, mit seinem einzigen ernsthaften Gegenüber, dem Engel, mit dem sie Zwiegespräche führt, ist sich selbst überlassen. Was zu Beginn des Romans wie eine Welt in leicht zunehmender Schieflage erscheint, wird mit der Dauer des Romans immer mehr zu einer dunklen Fahrt in die Untiefen menschlichen Verlorenseins. Die Kapitel, überschrieben mit „das Kind – das Mädchen – die Tochter – die junge Frau“ begleiten ein Leben, in dem ein Trauma zum Koloss wird. Eine Erfahrung, die die Autorin in umfangereichen Recherchen mit dem Schreiben dieses Romans nachempfinden wollte. Es geht der Autorin weder um Schuldzuweisung noch um Verurteilung. Wir leben in einer Welt, in der man die Nähe zueinander verloren hat, in der Wegschauen zur Überlebensstrategie wurde. Alle in Sarah Elena Müllers Roman sind Verlorene – und vielleicht ist das das letztlich Schwere an diesem Roman; dass mich Sarah Elena Müller nicht in eine wiedergefundene Ordnung entlässt – ganz im Gegenteil.

Der eigentliche Protagonist dieses Buches ist der Sound, die Sprache. „Bild ohne Mädchen“ ist ein tiefer schwarzer Brunnenschacht, an dessen Rand man in die Tiefe lauscht und weiss, dass da unten seltsam dunkle Gesänge tönen.

Als einzige Frau unter den Nominierten des Schweizer Buchpreises ist «Bild ohne Mädchen» alles andere als ein Aussenseiter. Vielleicht repräsentiert Sarah Elena Müller unter den fünf Nominierten «das Experimentelle», zusammen mit «Der graue Peter» von Matthias Zschokke die Phalanx der Mutigen!

Sarah Elena Müller, geboren 1990, arbeitet multimedial in Literatur, Musik, Virtual Reality, Hörspiel und Theater. Sie tritt im Mundart Pop Duo «Cruise Ship Misery» als Ghostwriterin und Musikerin auf und leitet das Virtual Reality Projekt «Meine Sprache und ich» – eine Annäherung an Ilse Aichingers Sprachkritik. 2019 erschien ihr Szenenband «Culturestress – Endziit isch immer scho inbegriffe» beim Verlag Der gesunde Menschenversand. 2015 erschien die Erzählung «Fucking God» beim Verlag Büro für Problem. Als Mitbegründerin des Kollektivs RAUF ­engagiert sie sich für die Anliegen feministischer Autor*innen in der Schweiz. Sarah Elena Müller war 2023 Stipendiatin und Gast im Literaturhaus Thurgau.

Webseite der Autorin

Illustrationen © leale.ch

 

Interview mir Sieglinde Geisel, Jurymitglied #SchweizerBuchpreis 23/08

Liebe Sieglinde, du sitzt das dritte Jahr in der Jury des Schweizer Buchpreises, bist in diesem Gremium „Dienstälteste“. Ehre und Last zugleich? 

Weder noch. Ich bin ein ganz normales Jury-Mitglied. Allerdings möglicherweise mit einem Erfahrungsvorsprung: Ich weiß, wie unterschiedlich die Diskussionen, die „Chemie“ in der Jury jedes Jahr war. Es fasziniert mich jedes Mal aufs Neue, wie anders wir lesen – bei aller professionellen Leseerfahrung. Die Jurysitzungen sind eine unvergleichliche Gelegenheit, das eigene Urteil zu hinterfragen. Das hat zur Folge, dass ich mir als Leserin je länger, je weniger über den Weg traue. Eine Erfahrung, die sich mit jeder Jurysitzung erneuert.

Fast hundert Titel wurden eingereicht. Wie gross ist dein tatsächliches Lesepensum für den Buchpreis? Wählt man da die Bücher aus, die man schon gelesen hat? Oder musst du gar Bücher ein zweites Mal lesen, weil dich deine JurykollegInnen dazu nötigen? 

Wir teilen die Bücher so auf, dass jedes Buch von mindestens zwei Jurymitgliedern gelesen wird. Was von der Qualität her überzeugt, müssen dann alle lesen. Ich habe gar nicht gezählt, wie viele Bücher ich letztlich gelesen habe, es werden so um die fünfzig gewesen sein. Manches habe ich tatsächlich ein zweites Mal gelesen, um meinen Eindruck zu überprüfen. Die zweite Lektüre ist der Lackmus-Test: Entweder ich kenne schon alles und entdecke nichts Neues (das kann auch bei sehr komplex gebauten Romanen der Fall sein), oder ich sehe neue Dimensionen, erkenne interessante Widersprüche in den Charakteren, verborgene Handlungslinien oder sprachliche Eigenheiten, die mir bei der ersten Lektüre nicht aufgefallen waren. Sei es, weil ich nicht „wach“ genug war (gerade, wenn man so viele Bücher liest, ist man nicht immer gleich aufnahmefähig), sei es, weil das Werk eine Tiefe hat, die sich beim ersten Lesen nicht voll erschliesst.

Liest du ein Buch aus dieser Auswahl anders als jene Bücher, die du sonst als Buchkritikerin liest? 

Beim Jurylesen geht es darum, möglichst wenig Zeit mit jenen Büchern zu verbringen, die von der Qualität her nicht in Frage kommen. Wenn ein Buch mich in der ersten Hälfte nicht überzeugt, kommt es für den Preis nicht mehr in Frage, auch wenn es sich in der zweiten Hälfte berappelt. 
Wenn ich dagegen als Kritikerin lese, kosten mich oft gerade jene Bücher viel Zeit, die mir nicht gefallen, denn wenn ich einen Verriss schreibe, muss ich meine Kritik transparent begründen, und das bedeutet auch, dass ich meine Kriterien wieder neu reflektiere. Beim Rezensieren befinde ich mich oft im Feld des „Einerseits-Andererseits“, da muss ich auch Büchern gerecht werden, die für einen Preis nicht in Frage kämen.

Der Schweizer Buchpreis will den präsentierten Büchern „grösstmögliche Aufmerksamkeit in der Öffentlichkeit bieten“. Schielt man dann in den Schlund des öffentlichen Geschmacks? 

Laut Reglement wird der Schweizer Buchpreis für „das beste erzählerische oder essayistische deutschsprachige Werk“ vergeben. Die „grösstmögliche Aufmerksamkeit“ ist kein Kriterium für die Auswahl der Werke. In den drei Jahren, in denen ich dabei war, ging es in den Diskussionen nie um die öffentliche Aufmerksamkeit, sondern nur um die literarischen Kriterien, nach denen wir die eingereichten Werke beurteilten.
Deswegen stand die Jury paradoxerweise auch in der Kritik: Vor allem bei den Shortlists der letzten beiden Jahre wurde bemängelt, dass sich zu wenige bereits bekannte Werke darauf befanden. Letztes Jahr erhielt mit Kim de l’Horizons „Blutbuch“ sogar ein Debüt den Preis. Doch das hat m. E. mit der Innovationskraft der Schweizer Literaturszene zu tun. Bei mehr als der Hälfte der eingereichten Werke hatte ich den Namen der Autor:innen noch nie gehört, und das ist dann ein abenteuerliches Lesen mit vielen Entdeckungen. Manchmal raubt es mir den Atem, wenn ein Buch etwas macht, was ich noch nirgends gelesen habe.

Wie muss man sich das Auswahlverfahren innerhalb der Jury vorstellen? Müssen die fünf Bücher, die auf die Shortlist des Schweizer Buchpreises einstimmig in die letzte Runde geschickt werden? Wie heftig können solche Diskussionen werden?

Solche Diskussionen sind immer heftig, das ist die Essenz der Jury-Arbeit. Jeder Kopf liest anders, und jedem von uns hat schon das Herz geblutet, weil man für ein Buch, für das man brannte, keine Mehrheit erreichen konnte – weil die anderen es eben anders gelesen hatten. Auch das Gegenteil passiert: Man lehnt einen Roman ab, den die Mehrheit grossartig findet. Gerade nach meiner Erfahrung der drei Jahre bin ich überzeugt, dass die Shortlist bei einer anders zusammengesetzten Jury anders aussehen würde; es gibt kaum je „Selbstläufer“, die zwangsläufig auf die Shortlist kommen.

Wirst du anders wahrgenommen, seit du in der Jury mitarbeitest? Telefoniert und schreibt man dir, um dich über die wahren Perlen in Kenntnis zu setzen?

Nein. Ich denke, da liegt die Hemmschwelle bei den Verlagen hoch, und das weiss ich sehr zu schätzen. Vielleicht liegt es auch daran, dass ich in Berlin lebe und wenige persönliche Verbindungen zur Schweizer Verlagswelt habe. 

In der Vergangenheit stand der Schweizer Buchpreis schon mehrfach und immer wieder in der Kritik. Wie weit muss ein Jurymitglied konflikt- und kritikresistent sein? 

Ich darf mich als Jurymitglied nicht vorauseilend von einer möglichen Kritik beeinflussen lassen. Wenn ich die eingereichten Bücher lese, dann gibt es in diesem Moment nur mich und das Buch. Julian Schütt hatte angesichts der vielen Debüts auf den früheren Shortlists zu bedenken gegeben, dass der Schweizer Buchpreis kein Entdeckerpreis werden dürfe, sondern auch den Glamour der bekannten Namen brauche. Das mag ein berechtigter Einwand sein, doch steht er in einem Konflikt zum Reglement: Wenn die Bücher, die wir nach unserer Auseinandersetzung als die besten identifiziert haben, von unbekannten Autor:innen stammen, dürfen wir hier keine Kompromisse machen. Jurys können auch ein Korrektiv der Literaturkritik sein – gerade, weil wir Diskussionen führen und uns mit der Lesart der anderen auseinandersetzen. Als Kritikerin bin ich ja mit meinem Kopf weitgehend allein, da gibt es auch die Gefahr, dass man sich verrennt. Deshalb gibt es ja die vielen Hypes.

Es gibt etliche AutorInnen, die sich mittlerweile dem Schweizer Buchpreis verweigern. Die Gründe dafür sind vielfältig. Ein Kritikpunkt, der immer und immer wieder auftaucht, ist der, Bücher könne man nicht in eine Wettbewerbskonkurrenz schicken. Bücher würden nicht taugen, sie aneinander zu messen. Dieses Argument blitzt nur beim Schweizer Buchpreis auf. Aber im Gegensatz zu allen anderen Preisen ist hier die Auswahl der letzten im Scheinwerferlicht. Ist das gut so, wenn 4 MitkonkurrentInnen an der Preisverleihung in einer Mischung aus Enttäuschung und Verlegenheit artig mitklatschen?

Das ist eine schwierige Frage. Wenn es um die ganz grosse Kunst geht, ist der Wettbewerbsgedanke in der Tat nicht angemessen: Es hat keinen Sinn zu fragen, ob Kafka besser sei als Beckett. Wenn es jedoch darum geht, die sehr guten von den mittelmässigen Werken zu unterscheiden, kann man sehr wohl einen Wettbewerb durchführen. In diesem Sinn ist Literaturkritik ja immer ein inoffizieller Wettbewerb.
Alain Claude Sulzer war zwei Mal mit einem Roman auf der Shortlist und bekam dann jeweils den Preis nicht, und er hat letztes Jahr in einem Artikel in der NZZ am Sonntag freimütig bekannt, dass er sich diese „Demütigung“ kein drittes Mal antun wolle; deshalb macht er nicht mehr mit beim Buchpreis. Gerade für arrivierte Autor:innen kann es schwierig sein, wenn sie sich die Shortlist mit Debütant:innen teilen müssen, mit dem Risiko, dass der Preis an jemanden geht, der oder die im Literaturbetrieb noch keinen Status hat. Auch der Deutsche Buchpreis sieht sich mit diesem Problem konfrontiert: So soll der Erscheinungstermin des neuen Romans von Daniel Kehlmann vom Verlag bewusst so angesetzt worden sein, dass das Buch nicht für den Preis eingereicht werden konnte. Aber das ist nun mal the name of the game: Selbst wenn alle nominierten Bücher den Preis verdient hätten, kann nur ein Roman gewinnen. 
Auch das ist übrigens eine Erfahrung, die ich als Jurymitglied gemacht habe: Es ist überhaupt nicht ausgemacht, welches der fünf Bücher am Ende das Rennen macht. Wir lesen die Titel auf der Shortlist noch ein zweites Mal, oft mit überraschenden Ergebnissen. Auch diesmal bin ich gespannt auf unsere Diskussionen.

Gibt es festgelegte Kriterien? Orientiert sich die Jury an aktuellen Themen, Diskussionen, Strömungen?

Kriterien für Literatur kann man kaum festlegen. Das ist auch das Spannende an den Diskussionen: Wir bringen alle unsere eigenen Kriterien mit. Für mich sind Innovation, Kreativität, Risikobereitschaft ein wichtiges Kriterium: Macht jemand etwas mit der deutschen Sprache, was noch niemand vor ihm oder ihm gemacht hat? „Make it new!“, so definierte Ezra Pound einmal die Aufgabe der Autor:innen. Im Weiteren geht es um die Plausibilität von Figuren und Handlungen. Doch dann gibt es Werke, die meine „willing suspension of disbelief“ strapazieren – und die das auf so zwingende Weise tun, dass ich nicht widerstehen kann. 
Kriterien gibt es am ehesten für rein handwerkliches Können: Funktionieren Perspektivwechsel? Sind die Dialoge lebendig? Finden sich Klischees, Stilblüten, etc.? Doch dann gibt es wieder Romane, die alles richtig machen, zugleich jedoch so öde sind, dass ihnen jede Relevanz abgeht. Auch wenn ein Roman von brennend wichtigen Dingen handelt, dies jedoch auf literarisch unbedarfte Weise tut, kommt er für den Schweizer Buchpreis nicht in Frage. Denn eine Geschichte ist nur so gut, wie sie erzählt wird. 
Ich wurde letztes Jahr mehrfach mit dem Verdacht konfrontiert, dass wir Kim de l‘Horizons „Blutbuch“ wegen seiner Thematik ausgezeichnet hätten und dem Modetrend des Non-Binären aufgesessen seien. Doch dieser Vorwurf kam ausschliesslich von Leuten, die das Buch nicht gelesen hatten. In den Jurydiskussionen ging es nur um die literarischen Qualitäten: den Wagemut, den Erfindungsreichtum, den sprachlichen Drive. Das kann man auch in der Laudatio auf der Website des Schweizer Buchpreises nachlesen.

Noch ein Buch ausserhalb jeder Konkurrenz, das du empfehlen willst? 

Ich empfehle die grosse Schweizer Autorin Eleonore Frey, die mit 84 Jahren immer noch ein Geheimtipp ist. Es kommt fast nie vor, dass eine Literaturwissenschaftlerin auch Prosa schreibt: Eleonore Frey war bis 1997 Titularprofessorin am Deutschen Seminar in Zürich, ich habe bei ihr studiert. Sie erschafft Literatur mit dem Wissen darüber, wie Literatur gemacht ist – und doch ist in ihren Romanen und Erzählungen nichts „gemacht“. Ihre Texte sind verspielt, hellwach, und sprachlich sind sie so kühn wie sorgfältig. Mit jedem Werk überrascht mich Eleonore Frey aufs Neue.

Sieglinde Geisel, geboren 1965 in Rüti/ZH (Schweiz), lebt in Berlin seit 1999 freie Journalistin, regelmässige Mitarbeit bei Deutschlandfunk Kultur, SRF2 („Literatur im Gespräch“), bei der Republik u.a., 2016: Gründung des Online-Literaturmagazins tell, Schreibcoach. Jurymitglied 2021, 2022, 2023.

Beitragsbild © Lena Mucha

Lieber Bär, lieber Gallus #SchweizerBuchpreis 23/07

Lieber Bär

Vor ein paar Tagen bekam ich eine Mail von einem Stammgast im Literaturhaus Thurgau, „meinem Literaturhaus“. Vorauszuschicken ist, dass ich nur ganz selten schriftliche Reaktionen auf die von mir organisierten Lesungen erhalte. Unter den seltenen finden sich von grossem Zuspruch bis direkter, unverblümter Kritik alles. Das riskiere ich gerne, zumal ich nicht nur die grossen Namen einlade. Aber die Mail letzthin beschäftige mich doch etwas mehr: „Der Stoff … eine super Idee, geradezu kafkaesk, aber die Sprache sehr enttäuschend, auf Niveau Trivialliteratur, also wenig kunstvoll, wenig originell, wenig geistreich. Ist das wirklich gute (hohe) Literatur? Ich habe meine Zweifel.“

Bei den fünf Nominierten bin ich mir sicher, dass sie viel mehr sind als trivial. Auch wenn dahingestellt ist, dass „trivial“ ein schlechter Stempel sein muss. Was macht „hohe“ Literatur aus? Gibt es Anhaltspunkte, woran man gute Literatur erkennt? Ich habe alle Nominierten um ein kurzes Statement gefragt, was für sie „gute Literatur“ ist. Sarah Elena Müller, die Autorin von „Bild ohne Mädchen“, schrieb: „Gute Literatur ist für mich erweiterte Erfahrung, und Erfahrung ist dann wertvoll, wenn sie über das Gute und Schlechte hinausweist, in einen Raum führt, wo Sicherheit nicht durch Kategorien, sondern durch Verschränkung hergestellt wird.“ Ein erstaunliches Statement schon deshalb, weil es weit über formale und sprachliche Massstäbe hinausweist und bewusst macht, wieviel mehr Literatur sein kann und muss, als blosse Unterhaltung.

Sarah Elena Müllers Roman macht ihr Statement mehr als deutlich. Ich mag an diesem Buch die Provokation, sei sie thematisch, inhlatlich oder sprachlich. Der Text knirscht zwischen den Zähnen und will alles andere als flutschen. Aber natürlich gibt es viele Leserinnen und Leser, die sich mit ihrer Lektüre nicht in unsicheres Terrain wagen wollen. Ich erinnere mich an einen Freund, der meinte, er hätte in seiner Freizeit keine Lust, sich mit „fremden“ Problemen herumzuschlagen.

Liebe Grüsse und knirschende Lektüre!

Gallus

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Lieber Gallus

Apropos «Knirschen» in der Literatur: Dank deinem Besuch in unserer Buchhandlung letzte Woche war und bin ich gerade in grossartiger, sinnlicher und nicht knirschender Literatur unterwegs. 

Dein Tipp Maja Haderlap! Nach eurem Verlassen des Bücherladens hatte ich etwas Zeit und begann «Nachtfrauen» zu lesen, war sofort mit der Protagonistin Mira in Kärnten unterwegs und wurde durch eintretende Kunden arg aufgeschreckt!
Was für eindringliche wortgewaltige Sätze! Diese Literatur macht süchtig! Gut, dass die Autorin nicht jedes Jahr ein Buch schreibt!

«Sie war auf einmal voll Schlaf, in dem verschwommen ihre Kindheit lag, verstellt von den Jahren, die sich dazwischen geschoben hatten. Mira war es, als glitte sie in einen Traum, den sie stets von neuem träumte, in der Hoffnung, dass er endlich aufhörte…. So schnell konnte sie gar nicht denken, wie sie von den Gerüchen und Schattierungen der Kindheitsgegend erfasst und mitgerissen wurde.»

Diese Sätze knirschen nicht, sie duften!

Was zeichnet gute Literatur aus? fragst du. Wie Sarah Müller dir geantwortet hat, geniesse auch ich es, beim Lesen in einen unbekannten Raum, in eine unbegrenzte Zeit geführt zu werden, wo mir Gewagtes, Unerwartetes, Einzigartiges, Schockierendes oder auch Trauriges begegnen. So entstehen eindrückliche Bilder in mir, anstelle von Farben mit Worten gemalt, menschliches Sein in seinen bunten Facetten.

Für mich darf es «Knirschen», wenn es zum Inhalt passt. Ich liebe besonders  sinnliche, duftende, winddurchwehte Texte, Spiegelungen in Raum und Zeit.

Beispiele sind:
«Die Welt, die es noch nicht gibt und die, die in der von Danijel erzählten Geschichte vor unseren Augen entstehen wird, ist von einer Stille vom Himmel zur Erde durchdrungen. In diese Welt kommt eine Geschichte, die auf so festen Fundamenten wie der Erinnerung und der Phantasie eines Kindes beruht.» («Als die Welt entstand» von Drago Jancar)

Und:
«Als der Morgen über der Stadt erwachte, erwachte er tief in den Häusern, und nichts drang bislang heraus auf die Gassen und Plätze. Der Zug stürmte aus der Nacht herbei, und stürzte sich in den entstehenden Tag, rasch wird er den Mittag umfahren und sich in den Nachmittag neigen. Die Strecke zog sich teuflisch hin.» («Die Verweigerung der Wehmut» von Florjan Lipus)

Sprachlich und inhaltlich unterschiedlich ist das für mich Literatur von starker Ausdruckskraft und eigenständigem Charakter. Dies macht meines Erachtens ihre hohe Qualität aus. Sofort entsteht ein unvergleichlicher Raum, eine packende Atmosphäre.
Dies setzt voraus, dass ich ein Buch nicht nur zur Entspannung lese, sondern mich offen auf die Reise zum Kern des Werkes aufmache.

Seit ich als Hausarzt pensioniert bin, kann ich neben der aktuellen Belletristik  auch von mir noch nicht gelesene Klassiker wie «Der grüne Heinrich» (Gottfried Keller) oder «Der Jüngling» (Dostojewskij), um nur zwei Beispiele zu nennen besser geniessen, da ich auch tags lesen kann. 

Nun sind wir vom Schweizer Buchpreis abgekommen, der Auftritt von Demian Lienhards «Mr.Goebbels Jazz Band» muss noch etwas warten, ich bin sehr gespannt, ob dieses Buch fetzt und grooved! 

Ich freue mich auf unsere baldige Begegnung, wo Lyrik uns möglicherweise verwirren und anregen wird!

Herzliche Grüsse

Bär