Béla Rothenbühler «Polifon Pervers», Der gesunde Menschenversand #SchweizerBuchpreis 24/05

Nicht erstaunlich, dass in der SRF-Bestenliste vom Oktober 2024 vier von fünf Titeln der Liste der Nominierten des Schweizer Buchpreises entsprechen, Platz 2 bis 5. Nicht erstaunlich, dass der fünfte Titel „Polifon Pervers“ von Béla Rothenbühler fehlt. Weil er sich in vielem quer stellt. Weil er sich mit Wonne und Lust zwischen Klischees und Abgründen bewegt. Weil er in Mundart geschrieben ist, rotzfrech und direkt. Und weil er beisst!

Dass die Kulturszene für Menschen ohne direkten Bezug nur schwer durchschaubar ist, kann ich nachvollziehen. So wie jede Szene in sich eine Welt ist, die einem von ausserhalb rätselhaft oder gar undurchschaubar erscheint. Es ist auch keine Neuigkeit, dass es in der Kulturszene Akteurinnen und Akteure gibt, die sich längst vom Prinzip der Wertschöpfung entfernt haben und nur arbeiten und existieren können, weil sie am Tropf der Allgemeinheit, an Segnungen von Fonds und Stiftungen hängen. Das ist auch gut so. Würde Kultur nur nach dem Prinzip von Angebot und Nachfrage funktionieren, müsste Kultur stets gefallen. Sie müsste sich verkaufen. Und in den Geldstömen, die unentwegt fliessen, auch dann wenn es in der Wirtschaft kollektiv unter Finanzknappheit stöhnt und ächzt, scheint Kultur auch ein guter Ort zu sein, um zu kompensieren, auszugleichen, sich einen guten Namen zu schaffen, dem Selbstbild Glanz zu verleihen.

«För alles, wome mues mache, gets Chole, ond alles, wo Schpass macht, esch Läif.»

Béla Rothenbühler hat mit „Polifon Pervers“ einen erstaunlichen Roman aus eben dieser Kulturbubble geschrieben. Die Geschichte einer wilden Truppe, die sich aus dem scheinbaren Nichts konstituiert und zu einem beeindruckenden Konstrukt wächst, dass sich selbst am Leben hält, nicht nur zu einer erfolgreichen Unterhaltungsmaschine wird, sondern auch zu einer wirksamen und gerngesehenen Waschmaschine für Drogengeld und zwilichtige Geschäfte. Die Geschichte eines immer grösser werdenden Unternehmens, dass scheinbar ungehemmt und ungebremmst wuchert, auch wenn jedem der Beteiligten irgendwie bewusst ist, dass dereinst ein Ende mit Schrecken kommen muss.

Béla Rothenbühler «Polifon Pervers», Der gesunde Menschenversand, edition spoken script 50, 2024, 220 Seiten, CHF ca. 27.00, ISBN 978-3-03853-149-4

Sabine und Chantal gründen den Verein „Polifon Pervers“ mit der Absicht, zu einem wichtigen Player in der (alternativen) Unterhaltungsszene zu werden. Sie machen sich zu Produzentinnen und sammeln um sich eine illustre Gruppe mehr oder minder erfolgreicher Kulturschaffender, die im Schweif der grossen Ideen der beiden Frauen ihren Platz finden, nicht zuletzt darum, weil da Sozialversicherungen, Altersvorsorge und ein geregeltes Einkommen winken, woher auch immer. Eines ihrer Rennpferde ist „Käschwöscher“, eine Performanceshow, die sich zum Hype mausert. Aber „Käschwöscher“ ist längst zum Programm des Vereins geworden. „Polifon Pervers“ macht (fast) alles, um zu Geld zu kommen, tatsächliche Kultur, anderes mit frisierten Besucherzahlen, Geldwäscherei mit Drogengeld und Investitionen in den Anbau berauschender Pflanzen. Das Geschäft floriert und alles, was das Kollektiv in die Hand nimmt, scheint sich zu Geld zu verwandeln. Bis man augenreibend feststellen muss, dass im März 2020 die Strassen leergefegt sind, bis eine Lokaljournalistin mit dem windigen Unternehmen einen argen Schiffbruch provoziert, die Pandemie eine der beiden Frauen niederstreckt und die Geschäfte buchstäblich in Rauch aufgehen.

«All die Theater-Arschlöcher send ned nomen aberglöibig, versoffe, verloge, hochschtaplerisch ond chliikriminell, sondern hend ebe au no sone huere Hang zom Pathos.»

Dass Béla Rothenbühler nicht einfach wild fabuliert und selbst aus eben dieser Kulturbabble kommt, dass er im Erzählen weiss, wovon er schreibt, dass ich mir auch als Leser während der Lektüre die Augen reibe, sei es am fundierten Szenewissen, der wilden Story oder der genüsslichen Fabulierlust, macht den Roman zu einer Entdeckungsreise. Auch wenn die Figurenzeichnung darunter leidet. Protagonisten dieses Romans scheinen nicht die Menschen zu sein, von denen der Roman erzählt. Protagonist ist der wilde Tripp durch die Zeit, eine Fregatte wie bei „Fluch der Karibik“ aber auf den unergründlichen Untiefen des Kulturbetriebs. Klar kann man den Roman als grosse Persiflage lesen, als Satire, als verspielte, bitterböse Überzeichnung. Aber in den Szenerien steckt derart viel Echtes, dass man das Buch nicht einfach als literarische Spielerei abtun kann.

Man muss doch einiges an Biss entwickeln, um dranzubleiben. Nicht nur wegen der Mundart. Und ob dieses Buch wie im Reglement zu den «herausragenden Büchern» des Jahres zählt? In Sachen Skurrilität ganz bestimmt.

Béla Rothenbühler, geboren 1990 in Reussbühl, freischaffender Dramaturg, Bühnenautor, Sänger, Ghostwriter, Gitarrist, Fundraiser, Kulturkomissionsmitglied, Songwriter, Lyriker, Produzent sowie ehrenamtlicher Lektor des Deutsch-Lehrmittels einer amishen Gemeinde im Bundesstaat Indiana. Seit 2016 Teil des freien Theaterkollektivs Fetter Vetter & Oma Hommage. Zudem Gitarrist, Sänger und Songwriter der Band Mehltau und Songtexter für Hanreti.

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«Mir fehlt der Mut, das Selbstbewusstsein.» (10) #SchweizerBuchpreis 24/04

Lieber Bär

Hast Du schon einen Blick auf den Deutschen oder den Österreichischen Buchpreis geworfen? Ich schiele jedes Jahr und wundere mich auch jedes Jahr. Vielleicht ist es ein bisschen wie beim Fussball, auch wenn ich mich als Fussballlaie damit wahrscheinlich in Nesseln setze. Aber krankt der immer wieder ins Straucheln kommende Erfolg der Schweizer Nationalelf nicht am Selbstvertrauen, am Selbstverständnis, am bis ins Knochenmark durchgesickerte fehlende Selbstbewusstsein? Ist es die helvetische Zurückhaltung, die bremst, der eingeimpfte Zwang sich anzupassen? Sind wir mit Menschen anderer Sprache zusammen, passen wir uns augenblicklich an. Kein Franzose käme auf die Idee, einem Deutschschweizer „sprachlich“ entgegenzukommen, sind wir doch Bewohner eines mehrsprachigen Landes und machen mit Stolz auch immer wieder darauf aufmerksam.

Was kümmern uns unsere Nachbarn. Warum sollten wir uns mit ihnen vergleichen. Österreich zählt ungefähr gleich viele Einwohner wie die Schweiz. Einsendungen der Verlage an den Österreichischen Buchpreis gab es aber wesentlich mehr als in der Schweiz. Liegt es vielleicht daran, dass sich bereits eine ganze Reihe von Schriftstellerinnen und Schriftsteller weigern, beim Schweizer Buchpreis mitzumachen, es den Verlagen untersagen, ihre Bücher in den Wettbewerb zu stellen? Fehlt es am Mut der Organisation oder der Jury? Béla Rothenbühlers Roman „Polivon Pervers“ ist eine Ausnahme. Oder ist sein Buch bloss die Vertretung all jener, die mit Mut und Risiko der Tradition trotzen?

Zora del Buono «Seinetwegen», C. H. Beck, 2024, 204 Seiten, mit Abbildungen, CHF ca. 29.90, ISBN 978-3-406-82240-7

Deutschland und Österreich leisten sich eine Longlist, Österreich gar eine Shortlist der Debüts. Und die Liste Österreichs ist mutig. Ausgewogen zwischen Traditionellem und Offensivem. Die deutsche Longlist huldigt mehr der Tradition, setzt auf viele grosse Namen, darunter mit Doris Wirth und Zora del Buono gar zwei Schweizerinnen. Erinnern wir uns doch gerne an Melinda Nadj Abonji, die mit ihrem Roman „Tauben fliegen auf“ sowohl den Deutschen wie den Schweizer Buchpreis erhielt. Kann man sich vorstellen, dass eine Deutsche den Schweizer Buchpreis erhalten könnte? Nur mit fünf Nominierten unmöglich. Ein Sakrileg.

Es sind fünf gute Bücher, die für den Schweizer Buchpreis nominiert wurden, lesenswerte Romane. Aber mir fehlt der Mut, das Selbstbewusstsein. Nicht zuletzt der Mut zu Veränderungen und das Selbstbewusstsein auch Bücher mitzunehmen, die den drei anderen Landessprachen zugehören.

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Lieber Gallus

Ich bin nicht einverstanden, dass die Auswahl der Nominierten für den Schweizer Buchpreis 2024 ohne Mut und ohne Selbstvertrauen getroffen wurde. Sind doch junge Autorinnen dabei, ein Début und sogar ein Mundart Autor. Dass zwei davon aus der Nähe von Luzern kommen, freut mich, ist aber nicht ausschlaggebend.

Ein grosses Fragezeichen steht für mich hinter dem Sinn dieser Preise: Helfen sie wirklich zur Verbreitung guter Literatur, zur Auseinandersetzung mit unserer Sprache und dem besseren Verständnis unserer Welt? Was würde ich, was würden die Leserinnen und Leser lesen, wenn es diese Preise nicht gäbe? Sind sie wichtig für die AutorInnen? Geht es «nur» um Verbesserung der Verkaufszahlen? Was ist der Wert einer Longlist, vor allem nach Bekanntgabe der Shortlist?

Da ich keinen Überblick über die deutsche und österreichische Literaturszene habe (wie du), kann ich deren Auswahl nicht beurteilen. Meine Auswahl der Bücher, die ich lesen will, orientiert sich nicht an den Buchpreisen.

Für mich sind das Literaturblatt, Literatursendungen im Radio und Fernsehen sowie die leider nur noch spärlichen Buchbesprechungen in den Zeitungen wichtiger. Literaturfestivals und Lesungen während des Jahres beeinflussen mich mehr als der Buchpreis. Ebenso schätze ich hin und wieder einen Blick zurück in ältere Werke, die noch ungelesen in meinem Büchergestell liegen. Ich bin sicher nicht der Einzige, dem es so geht.

Mariann Bühler «Verschiebung im Gestein», Atlantis, 2025, 208 Seiten, CHF ca. 32.90, ISBN 978-3-7152-5040-3

«Verschiebung im Gestein» von Mariann Bühler, «Brennende Felder» von Reinhard Kaiser-Mühlecker, «Die Kunst, eine schwarze Katze» von André David Winter, «Der Schweizerspiegel» von Meinrad Inglin und «Fast wie ein Bruder» von Alain Claude Sulzer neben «Die Vögel» von Tarjei Vesaas: zu diesen wunderbaren Werken fand ich durch das Literaturblatt, eine Rezension in der Zeitung und durch eine Lesung. Durch Interviews beziehungsweise Begegnung lerne ich die SchriftstellerInnen persönlich kennen und ihre Werke noch besser verstehen.

Für die AutorInnen mag es anders aussehen. Die Verkaufszahlen der nominierten Bücher sind meist besser, sie kommen ins Gespräch und in die Medien. Dagegen bin ich nicht immun, das gebe ich zu. Notwendigerweise gibt es dadurch aber unzählige Meisterwerke, die zwischen Stuhl und Bank fallen.

Dir fehlt Mut zu Veränderungen, fehlt das Mitnehmen von Büchern der anderen Landessprachen. Da würde mich sehr interessieren, welche konkreten Vorschläge du hast, dies zu verbessern.

Herzliche Grüsse

Bär

Martin R. Dean «Tabak und Schokolade», Atlantis #SchweizerBuchpreis 24/03

Martin R. Dean erzählt in seinem autobiographischen Roman „Takab und Schokolade“ von Erkundungen über seine Herkunft, dem Gefühl einer Rastlosigkeit, der Suche nach Zugehörigkeit, Familie und Vergangenheit. Auch ein Roman darüber, was Verleugnung und drohendes Vergessen anrichten kann und nicht zuletzt ein Buch über Verlust.

Wir tragen nicht nur Geschichten mit uns, auch Geschichte. Und mit jedem Sterben, jedem Tod brechen Geschichten und Geschichte weg, sinken ins Vergessen. Es sind nicht nur die eigenen Erlebnisse eines Lebens, die sich ins Bewusstsein eingraben, mit denen man lebt, entscheidet, denen man folgt und von denen man zehrt. In unserem Unterbewusstsein begleitet uns mit Sicherheit Eingeschriebenes aus früheren Generationen, als wäre es ein genetischer Code, der erst dann reaktiviert wird, wenn wir uns mit unserer Geschichte auseinanderzusetzen beginnen.

Der Schriftsteller Martin R. Dean beschäftigt sich nicht erst mit seinem akuellen Buch mit Herkunft, Zuschreibung und Heimat. Seit drei Jahrzehnten kreist der Schriftsteller immer wieder um seine Herkunft, seine Familie aus mehreren Kulturen, einer aus Norddeutschland stammenden Familie seiner schweizer Mutter und eines aus Trinidad stammenden Vaters. Martin R. Dean, aufgewachsen in kleinbürgerlichen Verhältnissen im Kanton Aargau, ist sich seinem Anderssein schon sehr früh bewusst, nicht nur wegen seiner dunkleren Hautfarbe, sondern weil seine Mutter sich nach der Trennung von jenem Vater und eines gescheiterten Traums, in Trinidad heimisch zu werden, nie mehr in jenes Land zurückkehrt. Ein Land, ein Stück Vergangenheit, das die Mutter mehr und mehr aus ihrem Leben verdrängt, nicht zuletzt darum, weil neue Beziehungen der Mutter das Gravitationsfeld der Familie nachhaltig verändern, bis zur totalen Verdrängung.

„Von Raum zu Raum gerate ich immer tiefer in die Geschichte meiner Vorfahren.“

Martin R. Dean «Tabak und Schokolade», Atlantis, 208 Seiten, CHF ca. 32.90, 2024, ISBN 978-3-7152-5039-7

Mit Sterben und Tod seiner Mutter macht sich Martin R. Dean auf auf eine Suche nach der Familie seines leiblichen Vaters. Im Bewusstsein, dass sich hinter den Schwarzweissfotos seiner Mutter, die er aus ihrer Hinterlassenschaft retten konnte, nicht nur ein paar Lebensjahre eines versuchten Familienglücks verbergen, sondern die Geschichte eines ganzen Landes. Es beginnt eine Reise in die Tiefen eines andern Kontinents, ganz anderer Geschichten, einer ganz anderen Geschichte. Jene von Sklaverei, Ausbeutung, Verschleppung, Unmenschlichkeit und Entwurzelung. Jedes Treffen mit Verwandten öffnet neue Türen, Leben, die aus dem Vergessen hervortreten, Leben, die zum eigenen werden. Mit einem Mal offenbart sich ein Wurzelgeflecht, das sich zum Reichtum wandelt. Was ein Leben lang zu einengenden Zuschreibungen und Ausgrenzungen führte, wird durch diese Reise nach Innen und Aussen zu Weite und Perspektive, zu Reichtum und Heimat.

„An den Dingen kleben die Geschichten, und selbst wenn sie nicht mehr in Gebrauch sind, sprechen sie von dem, was sie uns einmal wert waren.“

„Tabak und Schokolade“ ist auch eine Rückeroberung der Mutter, die Suche nach dem verlorenen Paradies, jenen wenigen Jahren unter Palmen, einer Kindheit in der Karibik, die mehr und mehr erlosch. Jene junge Frau, die über dem Ozean ein neues Leben wagte, deren Ehe aber scheiterte und sie mit einem dunkelhäutigen Jungen an der Hand zurück in die Schweiz zwang, starb gleich mehrfach. Damals, als sie einen Traum aufgeben musste, mit der Dominanz eines Stiefvaters und dem Rassendünkel eines späten Lebenspartners.

Den Roman „Takab und Schokolade“ damit aber zu einer reinen Familienerkundung zu machen, wird dem Buch keineswegs gerecht. Sehr schnell wird mir bei der Lektüre bewusst, wie wenig ich über meine eigene Herkunft weiss, wie unbedarft ich mich über all den Schichten meines Seins bewege, wie gedankenlos ich mich in meinen westeuropäischen Privilegien bewege und wie viel Kampf, Leid und Erniedrigung unter den Grundfesten meiner Existenz verborgen sind.

Martin R. Dean wurde 1955 in Menziken, Aargau, als Sohn eines aus Trinidad stammenden Vaters und einer Schweizer Mutter geboren, studierte Germanistik, Ethnologie und Philosophie an der Universität Basel, unterrichtete an der Schule für Gestaltung in Basel und am Gymnasium in Muttenz. Dean ist vielfach ausgezeichneter Buchautor. Zu seinen jüngsten Werken gehören «Meine Väter» (Neuausgabe 2023), «Ein Stück Himmel» (2022), «Warum wir zusammen sind» (2019) und «Verbeugung vor Spiegeln – Über das Eigene und das Fremde» (2015). Martin R. Dean lebt in Basel.

Martin R. Dean «Spiegelungen», Plattform Gegenzauber

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Die Nominierten des Schweizer Buchpreises im Überblick #SchweizerBuchpreis 24/02

Sie sind da. Die Nominierten zum Schweizer Buchpreis 2024. Drei Titel von vielbesprochenen AutorInnen, ein Debüt und ein Mundartroman, der nicht nur formal aus der Reihe tanzt. Eine illustre Mischung. Eine breite Auswahl mit der nötigen Portion Risiko – und vielen Absenzen.

Mariann Bühler «Verschiebung im Gestein», Atlantis
Lange hat draussen das Schild «Bis auf Weiteres geschlossen» gehangen, bis Elisabeth die Ent­scheidung trifft, die Bäckerei weiterzuführen. Sie allein. Jeden Morgen feuert sie an, rührt den Teig, schiebt die Brote in den Ofen – und überrascht das ganze Dorf und sich selbst dazu. In derselben Gegend Alois’ Hof. Ein Hof, seit Generationen in Familienbesitz, Alois wurde nicht gefragt, ob er ihn übernehmen wollte. Er lebt mit dem Hund, überhört die Erwartung, eine Familie zu gründen – aber etwas schnürt sich zu. Vielleicht hat das mit Camenzind zu tun. Unterdessen kehrt eine junge Frau ins Dorf zurück; die drei Stufen zur Bäckerei laufen sich wie von selbst. Bei den Grosseltern holt sie den Schlüssel zum Sommer­haus, es soll verkauft werden. Sie sieht alles wieder, den Bergkamm, das Tal, den Balkon mit der Zugbrücke. Bald, so scheint es ihr, beginnt das Haus mit ihr zu sprechen.
Der Roman verfolgt drei Figuren, die nichts voneinander wissen und doch verbunden sind – durch die Gegend, das Dorf und die drängende Frage, wie es eigentlich weitergehen soll. Hart­näckig haben sich in ihnen weitläufige Spuren von Vergangenem festgesetzt, aber dann gerät doch etwas in Bewegung. In ihrem sprachlich dichten Debüt beobachtet Mariann Bühler, wie Veränderung sich ihren Weg sucht und Ver­schiebungen passieren, die so nie vorgesehen waren, die zuweilen sogar Berge versetzen.

Mariann Bühler, geboren 1982 in der Nähe von Luzern, hat in Basel und Berlin Englische Literatur­ und Sprachwissenschaft, Islamwissenschaft und Gender Studies studiert. Sie lebt als Autorin, Literaturvermittlerin und Veranstalterin in Basel. «Verschiebung im Gestein» ist ihr Romandebüt; für einen Auszug aus dem Manuskript wurde sie mit dem Zentralschweizer Literaturpreis ausgezeichnet.

Zora del Buono «Seinetwegen», C. H. Beck
Zora del Buono war acht Monate alt, als ihr Vater 1963 bei einem Autounfall starb. Der tote Vater war die grosse Leerstelle der Familie. Mutter und Tochter sprachen kaum über ihn. Wenn die Mutter ihn erwähnte, brach die Tochter mit klopfendem Herzen das Gespräch ab. Sie konnte den Schmerz der Mutter nicht ertragen. Jetzt, inzwischen sechzig geworden, fragt sie sich: Was ist aus dem damals erst 28-jährigen E.T. geworden, der den Unfall verursacht hat? Wie hat er die letzten sechzig Jahre gelebt mit dieser Schuld?
«Seinetwegen» ist der Roman einer Recherche: Die Erzählerin macht sich auf die Suche nach E.T., um ihn mit der Geschichte ihrer Familie zu konfrontieren. Ihre Suche führt sie in abgründige Gegenden, in denen sie Antworten findet, die neue Fragen aufwerfen. Was macht es mit ihr, dass sie plötzlich mehr weiss über ihn, den Mann, der ihren Vater totgefahren hat, als über den Vater selbst? Und wie kann man heil werden, wenn eine Leerstelle doch immer bleiben wird?

Auf der Spur des verlorenen Vaters und seines „Töters“– Deutschlandfunk Kultur, 16. Juli 2024 [12:49min.]

Zora del Buono, geboren 1962 in Zürich. Studium der Architektur an der ETH Zürich, fünf Jahre Bauleiterin im Nachwende-Berlin. Gründungsmitglied und Kulturredakteurin der Zeitschrift mare.


Martin R. Dean «Tabak und Schokolade», Atlantis

Nach dem Tod der Mutter findet der Erzähler in einer Schublade ein Album mit Fotos seiner frühen Kindheit, die er auf der Karibikinsel Tri­nidad und Tobago verbracht hat. Als junge Frau hatte sich die Tochter von «Stumpenarbeitern» aus dem Aargau in ein Abenteuer mit einem Tunichtgut der westindischen Oberschicht gestürzt und ein Kind bekommen. Während die übrige Familie bemüht ist, das Gedächtnis an die Jahre der Mutter bei den «Wilden» aus­zulöschen, macht sich der Erzähler auf, diese Geschichte, die auch seine eigene ist, zu retten.
«Tabak und Schokolade» führt in den tropischen Dschungel einer britischen Kronkolonie der fünfziger und sechziger Jahre. Indem der Er­zähler immer weiter zu seinen indischen Vor­fahren, die als Kontraktarbeiter in die Karibik verschifft wurden, vordringt, legt er nicht nur einen Familienstammbaum, sondern auch ein Stück Kolonialgeschichte frei. Dem gegen­über wird die Erinnerung an das Aufwachsen im «Tabakhaus» der Grosseltern im Aargau gestellt und die Annäherung an eine Mutter, die zu Lebzeiten stets unnahbar erschien.

Podcast – Debatte zu dritt» Wir müssen uns den weissen Blick austreiben« Tim Guldimann diskutiert mit dem Schriftsteller Martin R. Dean und der Rassismus- und Genderforscherin Rachel Huber

Martin R. Dean wurde 1955 in Menziken, Aargau, als Sohn eines aus Trinidad stammenden Vaters und einer Schweizer Mutter geboren, studierte Germanistik, Ethnologie und Philosophie an der Universität Basel, unterrichtete an der Schule für Gestaltung in Basel und am Gymnasium in Muttenz. Dean ist vielfach ausgezeichneter Buchautor. 

Béla Rothenbühler «Polifon Pervers», Der gesunde Menschenversand
In einer beschaulichen Kleinstadt in der Schweiz passiert Erstaunliches: Kaum gegründet, mischen Sabine und Chantal mit ihrem Verein «Polifon Pervers» und einer neuen Vision von «Onderhaltig» die Kulturszene auf. Risikofreudig und clever agierend, steigen sie als Theater-Produzentinnen zu nationalen Grössen auf und scharen eine illustre Runde um sich: vom eitlen Regisseur Lüssiän über den versoffenen Ghostwriter Iiv, den Lebemenschen und DJ Milan und die opportunistische Schauspiel-Grösse Schontal bis zu Jule und seinen Hanf-Bauern, die unversehens als Performance-Künstler brillieren. Dem Erfolg ordnet der Verein für Unterhaltung im Laufe der Geschichte alles unter, und so folgen auf erste Unsauberkeiten schon bald alle möglichen Formen des Betrugs.
Béla Rothenbühler führt in seinem zweiten Roman die Tradition des Schelmenromans fort – für einmal mit Hochstaplerinnen und auf Luzernerdeutsch. Sein ironisch-satirisches Gedankenspiel über Kultur, Unterhaltung und Geld ist selbst grosse Unterhaltungs-Kunst.

Béla Rothenbühler, geboren 1990 in Reussbühl, freischaffender Dramaturg, Bühnenautor, Sänger, Ghostwriter, Gitarrist, Songwriter, Lyriker und vieles mehr. Seit 2016 Teil des freien Theaterkollektivs Fetter Vetter & Oma Hommage. Zudem Gitarrist, Sänger und Songwriter der Band Mehltau und Songtexter für Hanreti.

 

Michelle Steinbeck «Favorita», Ullstein
«Es tut mir leid, deine Mutter wurde getötet.» Mit diesen Worten beginnt Filas Odyssee zwischen Lebenden und Toten: Von der Schweiz, in der sie aufgewachsen ist, nach Italien, das ihre Grossmutter als junge Frau verlassen hat und wohin ihre Mutter verschwunden ist. Fila zeichnet die Wege der beiden Frauen nach, begleitet von den Gestalten, denen sie unterwegs begegnet: revolutionäre Amazonen, faschistische Deserteure und der Geist einer jungen Bäuerin mit durchschnittener Kehle. Der Roadtrip auf den Spuren ihrer geheimnisvollen Mutter führt sie zum mutmasslichen Mörder – und mitten ins Herz des Zirkels, der das Land kontrolliert. Fila sitzt in der Falle. Aber sie ist nicht allein.

Michelle Steinbeck, geboren 1990, aufgewachsen in Zürich, schreibt Prosa, Lyrik, und für Theater, Magazine und Zeitungen. Ihr Debütroman «Mein Vater war ein Mann an Land und im Wasser ein Walfisch» war schon nominiert für den Schweizer sowie den Deutschen Buchpreis 2016. Nach längeren Aufenthalten in Rom, Paris, Hamburg lebt sie zurzeit in Basel.

Die öffentliche Preisverleihung findet am Sonntag, 17. November 2024, 11 Uhr im Rahmen des Internationalen Literaturfestivals BuchBasel im Theater Basel statt.
Der Eintritt ist frei. Die Platzanzahl ist beschränkt. Gratis-Tickets können ab dem 1. Oktober 2024 unter www.buchbasel.ch bezogen werden.

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Sparmassnahmen kippen literaturblatt.ch! #SchweizerBuchpreis 24/01

«Besuchen Sie die Literaturblogs unserer Partner und erfahren Sie, welche Bücher und AutorInnen die Szene bewegen», stand bisher auf der Webseite zum Schweizer Buchpreis. Aber was die «Szene» meint, scheint nicht mehr unterstützungswürdig zu sein, als Partner sind wir entlassen.

Schade. Aber „Sparmassnahme“ scheint der Grund zu sein, dass der grösste Buchbranchenverband der Schweiz auf eine Berichterstattung auf der Literaturplattform literaturblatt.ch verzichtet. Die gute Nachricht; Gallus Frei wird auch in Zukunft den Schweizer Buchpreis begleiten – dafür kritischer – und wie vieles in der Szene, unbezahlt, unbezahlbar!

«Wer schreibt, möchte Geschichten weiterreichen, damit jede Leserin, jeder Leser darin die eigenen findet. Damit das gelingt, brauchen wir Menschen wie Gallus Frei: Mit seiner Neugier, seiner Begeisterung, seinem Fachwissen ebnet er den Weg zum Buch und hilft so den Schreibenden und den Lesenden zueinanderzufinden.» Karl Rühmann, 2020 nominiert für den Schweizer Buchpreis

Die Trennung kam unerwartet. literaturblatt.ch war gerne ein ganz kleiner Teil des Unternehmens und verstand sich stets als Stimme von Leserinnen und Lesern. Die Berichterstattung auf literaturblatt.ch soll Auseinandersetzung weit über das Buch hinaus sein. Aber nachdem es in den letzten Jahren für Literatur in den grossen Medien immer weniger Platz gibt, auf Radio SRF wurde mit „52 beste Bücher“ einer der gewichtigsten Literatursendungen gestrichen, in Zeitungen werden sorgfältige Buchbesprechungen immer seltener, das Feuilleton immer schmaler, ist es nicht verwunderlich, wenn es auch für unabhängige Buchpreisbegleitung keinen Platz, kein Budget mehr gibt.

„Ausser Kugler, Schütt, Ebel und Bucheli kommt kaum noch jemand zu Wort, und selbst die NZZ hat durch die Entlassung sämtlicher freier Mitarbeiter 80% der früher publizierten Kritiken gestrichen. In dieser Situation ist eine Aktivität wie die auf literaturblatt.ch, auch wenn die Artikel nicht gedruckt erscheinen, von grosser Wichtigkeit. Nach wie vor braucht die Literatur die Kritik, und es erscheinen immer mehr Bücher, die überhaupt keine kritische Würdigung erfahren, während die wenigen wahrgenommenen so besprochen werden, dass eine einzige Kritik gleichlautend in 24 bzw. 28 Zeitungen erscheint. Ist es ein Verriss, so ist es eine schweizweite Abkanzelung, ist es ein Lob, trifft es vielfach Indiskutables, während die Perlen daneben unbeachtet bleiben. In dieser Situation kann eine Website, die auch dem Übersehenen noch eine Chance gibt oder einer schweizweit verbreiteten Beurteilung eine alternative Meinung gegenüberstellt, nicht hoch genug eingeschätzt werden.“ Charles Linsmayer, Autor und Literaturvermittler

Aber es passt. Nach etwelchen erfolglosen Versuchen, für literaturblatt.ch regelmässige Mitfinanzierung zu organisieren, verkraftet man(n) auch diese Sparmassnahme. Vielleicht auch darum, weil der SBVV sehr gut weiss, wie werbewirksam das Medium literaturblatt.ch ist und sich die Literaturplattform auch ohne finanzierten Auftrag für die Literatur einsetzen wird. Schade darum, weil es die Berichterstattung kostenlos macht, nicht wertlos, aber „gratis“.

„In Zeiten schwindender Buchbesprechungen in den Printmedien sind Internetportale wie literaturblatt.ch wichtige Orientierungshilfen in der Flut der Neuerscheinungen.“ Christian Haller, Träger des Schweizer Buchpreises 2023

Dass ich nicht mehr Teil des Unternehmens «Schweizer Buchpreis» sein soll, schmerzt auch deshalb, weil es 5 Jahre waren, während denen ich auf literaturblatt.ch alles tat, um die Berichterstattung über den Buchpreis möglichst abwechslungsreich und wirksam zu gestalten. Die Berichterstattung sollte ein eigenes Gesicht, ein eigenes Profil bekommen. So bebilderte die junge Illustratorin Lea Le die jeweiligen Berichte, unentgeltlich, einfach nur, weil es eine gute Sache war.

«Die Feuilletons werden dünner. Umso wichtiger ist es, bestehende Perlen im Netz zu stärken – wie zum Beispiel literaturblatt.ch, wo schon seit 2016 eine Rezension die andere über den Computerbildschirm jagt. Mein besonderer Tipp? gegenzauber.literaturblatt.ch – ein Who’s-Who von kurzen, schlagkräftigen Texten von A wie Agnes Siegenthaler bis Z wie Zsuzsanna Gahse.» Simon Froehling, 2022 nominiert für den Schweizer Buchpreis

Damit literaturblatt.ch weiterhin unabhängig über die Literatur im allgemeinen und über den Schweizer Buchpreis im Speziellen berichten kann, möchte ich Sie zu einem Unterstützungsbeitrag aufrufen. Als Gegenleistung nehme ich mit Ihnen direkt Kontakt auf, um Ihnen eine Freude meinerseits zu schenken, sei dies ein Buch, ein Nachtessen, ein Treffen…

„Gallus Freis Begeisterung für Bücher ist im wahrsten Sinne ansteckend.“ Michael Hugentobler, 2021 nominiert für den Schweizer Buchpreis

Kontoangaben: 
Literaturport Amriswil, Gallus Frei-Tomic, Maihaldenstrasse 11, 8580 Amriswil, Raiffeisenbank, Kirchstrasse 13, 8580 Amriswil, CH05 8080 8002 7947 0833 6, ID (BC-Nr.): 80808, SWIFT-BIC: RAIFCH22, Bemerkung: Unterstützer*in

«Der Schweizer Buchpreis und die aufmerksame Anwesenheit von Gallus Frei / literaturblatt.ch gehören für mich zusammen: Seine immer genaue und ausführliche Berichterstattung online hat mich und mein Debüt „Die Nachkommende“ während der Nominierung 2019 begleitet und bleibt in bester Erinnerung.» Ivna Žic, 2019 nominiert für den Schweizer Buchpreis

Illustrationen © leale.ch

Schon jetzt vielen Dank an K. S. und E. J. für die grosszügige Unterstützung!

«Sich lichtende Nebel» von Christian Haller ist Schweizer Buch des Jahres! #SchweizerBuchpreis 23/14

Es war keine Überraschung und ist die richtige Wahl. Als Christian Haller auf die Bühne im Foyer des Stadttheaters Basel auf die Bühne gebeten wurde und sich FotografInnen und erste GratulantInnen positionierten, darunter Ständerätin Eva Herzog, trat ein tief gerührter Mann ins Rampenlicht und dankte für das «Sahnehäubchen» auf einer grossen Arbeit.

Hier wiedergegeben die Laudatio von Michael Luisier, SRF Literaturredaktor und seit diesem Jahr Mitglied der Jury des Schweizer Buchpreises:

Die Geschichte ist bekannt. Ein Mann geht durch Nacht und Nebel. Betritt einen Lichtkreis, verlässt ihn wieder und taucht im nächsten Lichtkreis wieder auf. Ein anderer Mann beobachtet ihn dabei. Und weil der sich gerade mit physikalischen Fragen auseinandersetzt, mit Atommodellen und der Beschaffenheit des Lichts, kommt ihm der Gedanke, respektive die entscheidende Frage in den Sinn: Woher weiss man, dass ein Mensch, der soeben einen Lichtkreis verlassen hat und weitergeht, im nächsten Lichtkreis wieder auftaucht? Und nicht einfach verschwindet?

Christian Haller «Sich lichtende Nebel», Luchterhand, 2023, 128 Seiten, CHF ca. 29.90, ISBN 978-3-630-87733-4

Diese Anekdote erzählt die Geschichte hinter der Entdeckung der Quantenmechanik durch den Physiker Werner Heisenberg. Sie ist der Ausgangspunkt einer Novelle, die sehr bald zu einer ähnlich dringenden Frage führt, nämlich: Wie geht man generell mit Dingen um, die stattfinden, obwohl sie eigentlich nicht stattfinden sollten? Und – hier kommt die Literatur ins Spiel – wie beschreibt man die? 

Wie sagt man Unsagbares? Wie beschreibt man – literarisch – nicht zu Beschreibendes? Das sind die zentralen Fragen des Texts.

Christian Haller, Schriftsteller und selbst Naturwissenschaftler, hat sich dieser literarischsten aller Aufgabe gestellt. Haller hat sich als Literat für die Novelle als Erzählform entschieden, weil es sich dabei grundsätzlich um die Vermittlung einer «sich ereigneten unerhörten Begebenheit» handelt, wie es bei Goethe heisst. 

Der Naturwissenschaftler, der sehr wohl weiss, dass die Naturwissenschaft nicht alles erklären kann, hat sich für ein nicht materielles Phänomen in einer materiellen Welt entschieden. Im Text ist von «Durchbrüchen» die Rede, erlebt durch die zweite Figur dieses Textes, den Beobachteten, dessen Weg genauso beschrieben wird wie der des Beobachters. An diesem zeigt Christian Haller diese «Durchbrüche», die man auch spirituell deuten kann, als Ausdruck von Rausch, als Zustände welcher Art auch immer. Oder vielleicht auch ganz anders, wer weiss. Es selbst sagt es nicht. 

Meisterhaft ist es Christian Haller gelungen, sich dabei aufs Wesentliche zu beschränken: Zwei miteinander verschränkte Geschichten im Wechsel erzählt, wobei nicht ein Wort zu viel ist, nicht ein Moment aus blossem Zufall entstanden scheint. Alles ist so einfach, schön und klar geschaffen, als könnte man Unsagbares tatsächlich nur auf diese Weise sagen. 

Ja. Die Novelle «Sich lichtende Nebel» von Christian Haller ist Klarheit, Schönheit und im besten Sinne auch Einfachheit. Drei Argumente für eine Verleihung des Schweizer Buchpreis 2023. Christian Haller, wir gratulieren Ihnen dazu.

Rezension von «Sich lichtende Nebel» auf literaturblatt.ch

Beitragsbild © Gallus Frei

Lieber Bär, Lieber Gallus #SchweizerBuchpreis 23/13 – die Prognose

«Literatur ist das Andere. Wobei mir wichtig scheint zu ergänzen, … das Andere, ohne das sein zu wollen.» Matthias Zschokke

Lieber Gallus

Dein wunderbares Literaturblatt hat eine Kraft und Ausstrahlung bis zum Pilatus! So hat deine Rezension und dein Interview mit Demian Lienhard über «Mr.Goebbels Jazz Band mich zu einer zweiten Lesung dieses Buchs (vergleiche meine Kritik im letzten Mail) geführt und ich habe nun Zugang zu diesem Werk gefunden und seine Sprachgewalt genossen. Es zeigte mir, wie meine Empfänglichkeit für gute Literatur beeinträchtigt war, einerseits wahrscheinlich durch die unmittelbar vorangehende Lektüre der Heptalogie Jon Fosses, andererseits durch viele unvorhergesehene Unterbrüche beim Lesen. Nun war meine Lektüre ganz anders. Mich beeindruckt, wie Demian Lienhard mit Lust und Können diese ungeheuerliche wahre Geschichte in einen Roman verpackt hat. «Jeder Mensch ist ein Abgrund, es schwindelt einem, wenn man hinabsieht», dieser vorangestellte Satz von Büchner gilt für alle Protagonisten, und auch ich muss mich fragen, wie ich mich in ihrer Situation verhalten hätte. Wie du geschrieben hast: kein Unterhaltungsroman!

Unabhängig davon, wer von den fünf nominierten den Schweizer Buchpreis in Empfang nehmen darf, bin ich allen nominierten AutorInnen für ihre so unterschiedlichen Werke dankbar und kann in der Buchhandlung alle fünf Bücher wärmstens empfehlen.

Noch ein Buchtipp:

Dank eines interessanten Interviews im Feuilleton einer Zeitung wurde ich auf den Roman «Vatermal» von Necati Oeziri aufmerksam. Ehrlich, authentisch und doch mit einer beeindruckenden Leichtigkeit wird die Geschichte eines jungen Mannes mit Migrationshintergrund erzählt, der ohne Vater aufwächst. «Wie sagt man «Papa», ohne dass ein Fragezeichen zu hören ist? Bis ich eine Antwort habe, bleibe ich bei Metin. Also: Wenn du das hier liest, Metin, werde ich wahrscheinlich tot sein.» Arda Kaya liegt schwerkrank auf der Intensivstation, er weiss nicht, ob er überlebt und versucht, über sein Leben dem unbekannten Vater schriftlich zu berichten. Ohne anzuklagen, bereit, vieles zu verzeihen, erfahren wir vom Schicksal einer Migrationsfamilie aus der Türkei, vom Leben des Heranwachsenden auf Plätzen mit Drogen und Gewalt, von der Schwierigkeit, einen Weg mit positiver Perspektive zu finden. «Ich möchte dir für immer die Möglichkeit nehmen, nicht zu wissen, wer ich war. Du sollst erfahren, wie es deiner Familie in Deutschland ging, wie im letzten Sommer meiner Jugend alle meine Freunde verschwunden sind und wie auch ich versuchte, vor mir selbst zu fliehen.» Dieses Buch tut weh, rüttelt auf, gibt mir Einblick in ein Milieu, das wahrzunehmen für unsere Gesellschaft wichtig ist.. «Ich lasse meinen Blick durch die Mensa schweifen und springe von Gesicht zu Gesicht. Ich weiss, irgendwo hier müssen auch die anderen sein. Die, deren Mütter im Krankenhaus putzen. Deren Väter Taxi fahren…Aber sie sind wahrscheinlich wie ich: unsichtbar.»

»Ich bin die, vor der mich meine Mutter gewarnt hat», der Erstling von Demian Lienhard,  ist meine aktuelle Lektüre. Unglaublich originell und kompromisslos geschrieben erlebe ich hautnah Suchen und Scheitern von Alba und ihren Kolleginnen und Kollegen in der Zürcher Drogenszene um 1980. Ich habe kaum je einen authentischeren Einblick in dieses Milieu erhalten. Fragen nach dem Sinn unseres Lebens und Kritik unserer Konsumgesellschaft schwingen mit, literarisch überzeugend verarbeitet. Ich hoffe, dem Autor bald einmal persönlich begegnen zu können.

Herzliche herbstlich-nasse Grüsse aus der Innerschweiz 

Bär

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Lieber Bär

Keine Ahnung, ob Du Dich traust, Deine Favoriten für den Schweizer Buchpreis zu nennen und Deine Wahl gar zu begründen. Du hast alle fünf Romane gelesen. Glücklicherweise besteht eine Jury aus fünf Lese- und Buchbegeisterten, auch wenn diese mit ihrem Fachwissen und Leistungsausweis bei weitem nicht repräsentieren, wer im Buchgeschäft ein Buch kauft.

Die nominierten Bücher sind entsprechen einer gute Auswahl der Jury. Kein Buch, bei dem ich nicht nachvollziehen kann, warum es in der Liste der Nominierten ihren Platz hat.
Wenn ich mich selbst für einen Favoriten aussprechen soll, dann kann ich ein Favorisieren nur aus verschiedenen Perspektiven vornehmen. Und selbstverständlich sind meine Begründungen subjektiv:

Aus der Sicht des Buchhandels: (nur Hardcover!)
1. «Bild ohne Mädchen» von Sarah Elena Müller (Verkaufsrang 14),
2. «Sich lichtende Nebel» von Christian Haller (Verkaufsrang 17),
3. «Mr. Goebbels Jazz Band» von Demian Lienhard (Verkaufsrang 20),
4.
«Der graue Peter» Matthias Zschokke (Verkaufsrang 21),
5. «Glitsch» von Adam Schwarz (Verkaufsrang 23)

Aus der Sicht eines SRF-Votings (16. November):
1. «Mr. Goebbels Jazz Band» von Demian Lienhard 34%,
2. «Bild ohne Mädchen» von Sarah Elena Müller 29%,
3. «Sich lichtende Nebel» von Christian Haller 19%,
4. «Glitsch» von Adam Schwarz 10% und
5. «Der graue Peter» von Matthias Zschokke 8%. 

Ich glaube, dass es Christian Haller mit dem Roman «Sich lichtende Nebel» sein wird. Zum einen überzeugt er gleich vielfach: sprachlich, formal und in der Dichte des Geschriebenen. Zum andern wirken sich die unterschwelligen Themen auf unser Denken und Handeln aus. Christian Hallers Roman nimmt sich unserer Wahrnehmung der Welt an, relativiert, was wir als «Wahrheit» empfinden. Sein Roman provoziert Nachdenken, Auseinandersetzung. Selbst in den Themen, die uns aktuell beschäftigen, sei es die grassierende Gewalt oder das Ausblenden des Unumgänglichen, wenn es um Klimafragen geht – überall sind wir gefangen in der Art, wie wir wahrnehmen, wie wir die Dinge sehen.

Dass «Der graue Peter» von Matthias Zschokke in beiden Listen auf den letzten Plätzen auftaucht, schmerzt mich deshalb, weil das Buch mit Sicherheit thematisch aus der Reihe tanzt, sprachlich aber eine Perle ist.

Dann freue ich mich auf den kommenden Sonntag. Vielleicht sitzen wir doch noch nebeneinander!

Freundschaftlich

Gallus

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Lieber Gallus

Wer bekommt den Schweizer Buchpreis 2023?
Mein Dilemma besteht, da ich zwischen Haller und Zschokke wählen muss. Im Innersten hat mich «Der graue Peter» vielleicht ein My tiefer bewegt, ich finde ihn absolut ebenbürtig in seiner literarischen Qualität. Beide zeigen auf originelle und einzigartige Weise, welches Potential wir Menschen durch Wahrnehmung, Erfahrung und Offensein entwickeln können. Sie regen nachhaltig zum Nachdenken an, Haller analytisch genau, Zschokke poetisch.

Ich schlage vor, dass ausnahmsweise zwei Autoren den Buchpreis teilen, gibt es ja auch im Sport bei gleicher Renn-Zeit.

Zu deiner Einschätzung kann ich weiter nichts anfügen. Sie entspricht meiner ziemlich genau.

In unserer kleinen Buchhandlung hat, wie bereits einmal geschrieben, der Schweizer Buchpreis im Vorlauf keinen wahrnehmbaren Einfluss auf die Verkaufszahlen, Haller hat hier Zschokke aber übertrumpft. So muss ich annehmen, dass «Sich lichtende Nebel» gewinnen wird.

Herzliche Grüsse

Bär

Christian Haller «Sich lichtende Nebel», Luchterhand #SchweizerBuchpreis 23/12

Zu Beginn des Jahres 1925 war der eben habilitierte Werner Heisenberg in seinen Studien zur Quantentheorie kurz vor dem Durchbruch, erst erahnend, was diese in der Wissenschaft anrichten würden. Christian Haller nimmt sich in seiner Novelle „Sich lichtende Nebel“ nicht nur genau jener Zeit an, sondern dem Gefühl damals Weniger, dass unsere Wahrnehmung alles andere als deckungsgleich mit der „Wahrheit“ sein muss.

Erstaunlich genug, dass Christian Haller sich einem physikalischen Thema mit derartiger Leichtigkeit literarisch widmen kann, dass er es schafft, einen solchen Stoff, einen solchen Moment des sich lichtenden Nebel mit der zarten Beschreibung zweier nicht unähnlichen und in ihrer Biografie so unterschiedlichen Protagonisten zu verknüpfen. Selbst wenn ich das, was Heisenberg, von Christian Haller respektvoll „Beobachter“ genannt, damals in seinem Denken entwickelte, nicht wirklich verstehe, erahne ich den Moment des „Sich Lichtens“. Nicht dass es Heisenberg damals wie Schuppen von den Augen fiel – aber die Ahnung, was sein Erkennen für Konsequenzen auslösen würde, muss als Gefühl erschütternd gewesen sein.

Christian Haller «Sich lichtende Nebel», Luchterhand, 2023, 128 Seiten, CHF ca. 29.90, ISBN 978-3-630-87733-4

Christian Haller verwebt die Geschehnisse um den jungen Physiker Heisenberg mit den schwierigen Tagen eines emeritierten Historikers. Helstedt hat sich nach dem Tod seiner Frau zurückgezogen, auch wenn er sich ab und an mit seinem Kollegen Sörensen trifft und in der Suche nach Erkenntnis, reichlich unterstützt durch Wein, Austausch sucht. Eine Suche, die ihm neben seinem Schmerz mehr und mehr die Gewissheit gibt, dass mit dem Nichtmehrdasein nicht zwingend eine Liebe zu Ende sein muss. Heisenberg und Helstedt erahnen, dass es neben der offensichtlichen „Wirklichkeit“ Ebenen geben muss, die sich unserer (meiner) Vorstellung entziehen.

«Seine Schrift auf der weissen Heftseite war wie die Spur im Schnee, die ein Fuchs gezogen hatte.»

Beide, Heisenberg und Helstedt, wagen einen Aufbruch. Heisenberg aus den Fesseln eines vorgegebenen Denkens, Helstedt aus seiner inneren Isolation. „Es kann nur existieren, wofür es Wörter, eine Sprache gibt.» Eine Novelle darüber, wie eine Banalität einer weltbewegenden Idee die Initialzündung gibt. Christian Haller lässt Figuren auftreten, deren Biographien sich durch Handlungen und Ideen ineinander verschränken. Nach zwei Trilogien, die sich mit Hallers eigner Herkunft, seinem Leben auseinandersetzen, sei der Stoff um Heisenberg und seine Quantenphysik wie eine neue, noch unbesetzte Keimzelle, die zum Buch wurde, erklärte Christian Haller an einem Auftritt an den Solothurner Literaturtagen 2023. Eine Novelle, die viel mehr will als das Verbildlichen einer komplexen physikalischen Fragestellung. «Sich lichtende Nebel» ist eine Liebesgeschichte, nicht zuletzt eine zur Liebe des Sehens, des Erkennens.

So schmal das Buch ist, so erkenntnisreich die Ahnungen, die es provozieren kann. „Sich lichtende Nebel“ ist ein starkes Stück Literatur! Ich spüre seine grosse Faszination, die die Sprache selbst für den Autor bedeutet, die Weite an Erkenntnis, die sich offenbart.

Christian Haller hätte es sich leichter machen können. Aber die Tiefen von Einsicht und Erkenntnis sind nicht hell ausgeleuchtet. Nur wer sich darum bemüht, dem lichten sich die Nebel.

Christian Haller, 1943 in Brugg, Schweiz geboren, studierte Biologie und gehörte der Leitung des Gottlieb Duttweiler-Instituts bei Zürich an. Er wurde u. a. 2006 mit dem Aargauer Literaturpreis, ein Jahr später mit dem Schillerpreis und 2015  mit dem Kunstpreis des Kantons Aargau ausgezeichnet. Zuletzt ist von ihm der letzte Teil seiner autobiographischen Trilogie erschienen: «Flussabwärts gegen den Strom». Er lebt als Schriftsteller in Laufenburg.

Webseite des Autors

Illustrationen © leale.ch

Demian Lienhard «Mr. Goebbels Jazz Band», FVA #SchweizerBuchpreis 23/11

Im Nationalsozialismus galt Jazz als entartete Musik, wurde systematisch diffamiert, MusikerInnen verfolgt und drangsaliert. Das gleiche System setzte Jazz aber für propagandistische Zwecke ein. So spielte die Mr. Goebbels Jazz Band bis zum Untergang des NS-Regimes auf dem Propagandasender – eine skurrile, wahre Geschichte!

Nicht dass der Nationalsozialismus die Propaganda erfunden hätte, aber wie niemals zuvor wusste eine politische Bewegung die systematische Manipulation einer ganzen Gesellschaft derart auszunützen wie jene unter dem Hakenkreuz.

Joseph Goebbels, bedingungsloser Wegbegleiter und Wegbereiter Adolf Hitlers, von 1933 bis zum Zusammenbruch des tausendjährigen Reiches im Mai 1945, war Propagandaminister und damit Schlüssel- und Schaltzentrale bis in jede Form der Äusserung, auch in jene der Kultur. Was an Meinungsäusserungen oder Verlautbarungen zu Volk und Elite überspringen sollte, wurde von einem ganzen Apparat geleitet und gelenkt. Und wer nicht in dieses feinmaschige Netzwerk passte oder sich gegen Regeln, Auflagen und Weisungen stemmte, hatte dies leicht mit Lagerhaft, Folter oder dem Tod zu bezahlen. 

Demian Lienhard «Mr. Goebbels Jazzband», FVA, 2023, 320 Seiten, CHF ca. 34.90, ISBN 978-3-627-00306-7

Das Ministerium für Volksaufklärung und Propaganda wusste sehr genau, wie und womit die Massen gefüttert werden mussten, um die Ziele einer totalitären Diktatur verwirklichen zu können. Bis in die Literatur, die Musik und den Rundfunk. In seinem Roman „Mr. Goebbels Jazz Band“ erzählt Demian Lienhard von der Big Band, die im reichsdeutschen Rundfunk mit schmissigen Melodien Nachrichten und politische Statements zu untermalen hatte, in englischer Sprache, dem Geschmack des „Feindes“ angepasst, über den Äther bis in die Stuben jener Länder, die noch nicht zum Deutschen Reich gehörten.
Eine „wahre“ Geschichte, die aufzeigt, wie schizophren totalitäre Regime funktionieren, wenn es darum geht, den Interessen einer Ideologie zu dienen.
Während Abertausende von Juden, Homosexuellen und Andersdenkenden schnurstracks in die Vernichtungszentralen transportiert wurden, spielten in der Mr. Goebbels Jazz Band auch Juden und Homosexuelle, Männer, die sonst niemals die Gräuel dieser Zeit überlebt hätten.

Demian Lienhard wählte für die Geschichte den Roman im Roman, denn der bislang noch unbekannte Schweizer Schriftsteller Fritz Mahler soll den Moderator William Joyce und die Musiker der Band „schriftlich“ begleiten und ihre Geschichte mit einem Roman dokumentieren. In einem tausendjährigen Reich würde es genug Publikum geben, um von der Strahlkraft dieser Truppe zu erzählen.
Aber Fritz Mahlers Aufgabe ist schwierig, denn die Musiker, die genau wissen, wie dünn das Eis ist, auf dem sie spielen, misstrauen dem Schreiberling mehr als deutlich. Mahler ist wie sie geordert, dem Ministerium verpflichtet. Ist Mahler ein Spitzel?

Demian Lienhard beschreibt mit Genuss all jene Mechanismen, die das Konstrukt aufrecht halten, ebenso das Misstrauen und den fortwährenden Kampf um Positionen. Aber die eigentliche Kunst dieses Romans ist weder die Geschichte selbst noch die beschriebene Kulisse. Demian Lienhard versteht es meisterlich, seinen Roman im Sound jener Zeit zu erzählen. Demian Lienhard spielt ein Instrument in den Klängen jener Zeit. Er spielt mit einer Figur, die perfekt auszublenden versteht, was das System mit ihm macht, dass er sich an eine Ideologie verkaufte, zum einen im Glauben, auf dem Rücken dieser aus der Bedeutungslosigkeit gehoben zu werden, blind für das, was wirklich passiert. Der Blick über die eigene Nasenspitze hinaus ist mehr als nur vernebelt.

Demian Lienhards Roman ist ein Sprachkunstwerk, bei dem ich aber nicht sicher bin, ob all die LeserInnen, die nur der Unterhaltung wegen zu einem Buch oder Tablet greifen, nicht enttäuscht darüber sind, das der Schriftsteller allen Verlockungen einer actionangereicherten Erzählweise widerstehen konnte. „Mr. Goebbels Jazzband“ ist eine Spiegelung all jener Geschichten, die bis in die Gegenwart durch Opportunismus den Scheuklappen jene Grösse geben, sich getrost den scheinbar aufrechten Gang zu bewahren.

Interview

Dein Roman ist vordergründig die wahre Geschichte einer Jazzband, die im nationalsozialistischen Machtapparat eine klar definierte Rolle zu spielen hatte, ebenso jene des Moderators am Rundfunkmikrophon und jene des begleitenden Schriftstellers. Ganz offensichtlich ging es dir aber um viel mehr. Zum einen um die Auswirkungen eines grossen Versprechens, um grenzenlosen Opportunismus, der aber auch Leben retten kann zum andern um Musik, auch um den Sound einer Sprache.
Ist es die Nähe zur Musik, die Verwandtschaft von Sprache und Musik, die Dich an den Stoff band?
Mich haben zunächst eher die drei Hauptwidersprüche der Geschichte angezogen. Das NS-Propagandaministerium, das selbst hochstehenden Jazz produzieren lässt, obwohl es selbst täglich zur Ächtung dieser Musik beiträgt. Eine Big Band, die aus Musikern verschiedenster Herkunft zusammengestellt wird, darunter auch Juden und Homosexuelle – also genau jene Minderheiten, die laut NS-Ideologie vernichtet gehören. Und dann ein Radiomoderator, der sich selbst als englischen Nationalisten und Faschisten begreift, aber knapp sechs Jahre für die Nazis und gegen England arbeitet. Diese Bruchlinien haben mich zuerst angezogen, hier habe ich Reibung und Spannung gespürt. Mir ging es also zuerst um die Menschen und das System. Die Tatsache, dass Musik in dieser Geschichte aber eine sehr wichtige Rolle spielt, war dann aber für die Ästhetik des Romans sehr wichtig.

Deine Geschichte spiegelt sich auch in der Gegenwart. Alle und alles ist ständig der Manipulation ausgesetzt. In allen totalitären Staaten prostituiert sich Sprache und Musik – die Kunst. Aber selbst in einer „freien Gesellschaft“ ist niemand gefeit vor den Verlockungen. Ich kann mit dem bisher glücklosen Schriftsteller Fritz Mahler sehr gut mitfühlen. Endlich Aussicht auf Erfolg. Wo kippt Anpassung in kalten Opportunismus?
Ich glaube, dass das die entscheidende Frage des Romans ist, und zwar bei Fritz Mahler genauso wie bei den Musikern. Wenn auch die Motive unterschiedlich sind, arbeiten doch beide für das Fortbestehen eines menschenverachtenden Regimes. Mir war es wichtig, diese Fragen zur Disposition zu stellen; die Beantwortung der Fragen möchte ich jedem Leser selbst überlassen.

eine Werbepostkarte der Ciro Bar an der Rankestrasse 31 in Berlin Charlottenburg, in der die ersten beiden Kapitel des 2. Teils des Romans spielen

Jene Jazzmusiker, die ausserhalb dieser künstlich geschaffenen „Glocke“ niemals so hätten spielen können, hätten wegen ihrer „Zugehörigkeit“ wohl auch nur schwerlich die NS-Zeit überlebt. Ganz am Schluss Deines Romans resümierst Du die Schicksale der an der Geschichte beteiligten ganz kurz. Was entschied darüber, wer bei deinem Roman Gewicht erhalten sollte?
Nicht alle Musiker waren gleich lange dabei, manche stiessen später dazu oder verliessen die Band aus unterschiedlichen Gründen. Zunächst war mir deshalb wichtig, Musiker mit der grössten Kontinuität auszuwählen – meistens waren sie es auch, die die bedeutendste Rolle in der Band spielten. Zweitens wollte ich möglichst unterschiedliche Figuren haben; das fängt bei der Herkunft an und hört beim Instrument, das jemand spielte, auf. Drittens war aber auch die Quellenlage ein entscheidendes Kriterium. Hier war das Gefälle enorm, und im Zweifel habe ich mich für die Musiker entschieden, über die ich am meisten herausfinden konnte.

Besteht nicht die Gefahr, dass bei einer solchen Geschichte die historischen und politischen Hintergründe zur Kulisse werden?
Diese Gefahr besteht auf jeden Fall, und zwar bei jedem historischen Stoff. Mir war es ein grosses Anliegen, nicht einfach einen Marketing-Gag zu schreiben. Da es in dem Roman im engeren Sinn um Kunst und Diktatur geht, wollte ich das auch verhandeln, und zwar nicht nur auf der Handlungsebene, sondern auch auf einer ästhetischen Ebene. Mitunter daher auch die Entscheidung, der Band, die unter Aufsicht eines totalitären Regimes Musik produziert, einen Schriftsteller gegenüberzustellen, der zwar freiwillig, und doch nicht ohne Zwänge und Druck ein Auftragswerk über diese Band schreiben soll.

Dein Roman erzählt zwei Jahrzehnte. Jene beiden Jahrzehnte, die der Beginn von einem Jahrtausend hätten werden sollen, einer Ewigkeit. Wie niemals zuvor in der Geschichte der Zivilisation erfahren wir die Endlichkeit einer Welt, unserer Welt. Inwieweit ist „Mr. Goebbels Jazz Band“ eine Parabel?

„Mr. Goebbels Jazz Band“ zeigt mitunter verschiedene Formen des Opportunismus und seine Folgen. Hier könnte man aus meiner Sicht den Roman auch als Parabel lesen. Der Schriftsteller Fritz Mahler, dem es vor allem um Erfolg geht, legt dabei einen anderen Opportunismus an den Tag als die Musiker, die damit vor allem ihr Leben retten. Und doch steht bei beiden zur Diskussion, inwiefern man sich mit der Arbeit für ein totalitäres Regime mitschuldig macht an dessen Fortbestehen. Es ist unmöglich, diese Fragen abschliessend zu beantworten; mir ging es vor allem darum, sie aufzuwerfen. 

Demian Lienhard, geboren 1987 in Bern. Studium der Klassischen Archäologie, der Latinistik und der Hispanistik in Zürich, Köln und Rom. Sein erster Roman »Ich bin die, vor der mich meine Mutter gewarnt hat« (FVA 2019) stand auf der Shortlist des Klaus-Michael-Kühne-Preises für das beste deutschsprachige Debüt und wurde 2020 mit dem Schweizer Literaturpreis ausgezeichnet. Für seine Recherchen an seinem zweiten Roman »Mr. Goebbels Jazz Band« (FVA 2023) lebte er längere Zeit in Galway, London, Berlin und Bern.

Webseite des Autors

Illustrationen © leafrei.ch

Lieber Bär, lieber Gallus #SchweizerBuchpreis 23/10

Lieber Gallus

Die kriegerische Eskalation im Nahen Osten, die vielen anderen Kriegsherde auf der Welt und der Klimawandel einerseits, der Nobelpreis für Jon Fosse andererseits beschäftigen und verunsichern mich sehr. Einige Kritiker des diesjährigen Nobelpreises für Literatur bemängeln, Fosses Werk treffe den Zeitgeist nicht, beziehe sich nicht auf aktuelle Fragestellungen.
Hat Literatur eine Aufgabe? Hat Literatur einen Zweck? Kann Literatur beispielsweise zum Frieden beitragen?
2020 las ich mit Begeisterung «Apeirogon» von Colum Mc Cann. Was ist der Sinn dieses Buches voller Hoffnung in Anbetracht der heutigen Gewaltorgien um Israel?
Ich bin überzeugt, dass Literatur jenseits vom Weltgeschehen mir eindrückliche, anregende und tröstliche Erfahrungen ermöglicht, zu denen ich sonst nicht Zugang habe. Deren Sinn ist also für mich unbestritten. Fosses Heptalogie bereichert mein Innenleben und hat einen Tiefgang, eine Entschleunigung, die für unsere Welt gerade heute so wichtig sind. In der Musik vergleichbar mit einer Bruckner Sinfonie.
Wie denkst du darüber?

Sonnige Herbstgrüsse

Bär

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Lieber Bär

Kunst hat durchaus eine Aufgabe, auch wenn sich diese im Wandel der Zeit veränderte. Ich glaube, dass die Kunst die Aufgabe hat, Fragen zu stellen, unbescheidene, unbequeme, unverschämte, ungefragte. Fragen, die wir uns vielleicht nicht einmal trauen. Dekoration ist keine Kunst. Nett ist nicht Kunst. Aber sobald etwas es schafft, dass mein Innenleben in Schwingung kommt, in Schwingungen, die mich vielleicht sogar trunken machen, dann kann es Kunst sein.

Ich bin nicht der Meinung, dass Kunst ablenken und schon gar nicht bloss unterhalten soll. Klar kann mich ein Buch von vielem ablenken. Aber ich lese es nicht, um der Ablenkung Willen. Wenn SchriftstellerInnen und DichterInnen nur deshalb schreiben, weil sie mich unterhalten und ablenken wollen, bin ich mehr als skeptisch.

Christian Haller rüttelt an unser Vorstellung von Wahrnehmung, Demian Lienhard zeigt, was Opportunismus verursacht, Adam Schwarz konfrontiert mich mit einer düsteren Ahnung, Matthias Zschokke spielt Musik mit Instrumenten, die aus der Zeit gefallen scheinen und Sarah Elena Müller zieht mich mit einem unangenehmen Szenario in eine Welt, die beinah physischen Schmerz auslöst. Aber es sind bei diesen fünf Büchern weit mehr als die Themen, weit mehr als die Fragen, die gestellt und ausgelöst werden. Es ist die Sprache. Christian Haller schrieb mit: «Wenn in der opaken (undurchsichtigen, lichtundurchlässigen) Stoffmasse nach geduldigem Warten ein Prozess der Auskristallisierung beginnt, der das Was des Stoffes in das Wie der sprachlichen Ausformung transformiert, und zu einer Deckungsgleichheit zwischen Was und Wie führt, entsteht gute Literatur.»

Der Vorwurf der Medien, Jon Fosse treffe den Zeitgeist nicht, beziehe sich nicht auf aktuelle Fragestellungen, ist ein Witz. Soll sich ernsthafter Journalismus mit dem Zeitgeist auseinandersetzen, soll sich das Feuilleton den Aktualitäten zuwenden. Das von der Kunst zu fordern, ist kontraproduktiv und hereinnehmend. Die Kunst muss frei sein. Die Kunst gibt sich ihre Aufgabe selbst! Unbedingt.

Liebe Grüsse

Gallus

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Lieber Gallus

Deine Antwort auf die Frage nach der Aufgabe von Kunst hat mich überzeugt. Fragen zu stellen, auch unbescheidene und unverschämte, ist wichtiger, als einfache Lösungen zu präsentieren. Ein Sprach-Kunstwerk, ein gelungenes Buch zu erschaffen, macht gute Autorinnen und Autoren aus und lässt in Leserinnen und Lesern die unterschiedlichsten Saiten erklingen.

Ich muss weiterhin vom Schweizer Buchpreis abweichen. Meine Seele wurde durch Jon Fosses Heptalogie so stark in Schwingung versetzt, dass ich tatsächlich wort-trunken bin. Im fünften Buch spiegeln sich deine Aussagen über Kunst, wenn Asle in der einsamen kargen Wohnung seinem Hund in die Augen schaut: « so ähneln seine Augen der guten Kunst, denn auch die kann nichts sagen, nicht im eigentlichen Sinne, sie kann nur etwas anderes sagen und muss von dem, was sie eigentlich sagen will, schweigen und so sind Kunst und Glauben und das stumme Begreifen des Hundes ein und dasselbe».  In einem hypnotisierenden Sprachfluss von einzigartiger Schönheit werden unbequeme, das Mensch-Sein ergründende Fragen gestellt. Der Protagonist ist Kunstmaler, seine Gedanken gelten aber auch für die Literatur: «es ist, als ob es irgendwo in mir ein Bild gäbe, mein innerstes Bild, das ich immer und immer wieder hervorzumalen versuche, und je näher ich diesem Bild komme, desto besser wird das Bild, das ich male, aber das innerste Bild ist ja natürlich kein Bild, denn das innerste Bild gibt es nicht, es existiert nur irgendwie, ohne zu existieren, es ist, aber ist nicht»  

Der Leser, die Leserin begibt sich auf die Suche nach dem Sinn unseres Daseins. Hier ist meines Erachtens die Deckungsgleichheit zwischen Was und Wie gelungen und die Sprache in dem Sinn vollendet, wie Christian Haller dir geschrieben hat.

Zurück zum Schweizer Buchpreis muss ich gestehen, dass Demian Lienhards Buch mich nicht begeistert hat. Ich hatte mich auf das Buch gefreut, da ich von «Mr. Goebbels Jazz Band» im 2.Weltkrieg nichts wusste. Irgendwie wurden die Saiten in mir nicht in Schwingung versetzt, ich musste mich durchringen. Die Sprache empfand ich als sperrig und holprig, von den Personen hat mich nur Wilhelm Fröhlich, alias William Joyce gepackt. Die Geschichte dieser Band ist für mich zu farblos, die Ungeheuerlichkeit einer Jazz Band als Propaganda und Ueberlebensmöglichkeit in Einem zu wenig spürbar. Diesem so gut recherchiertem Buch hätte ich etwas mehr Atmosphäre und Musikalität gewünscht.

Vielleicht liegt es daran, dass ich es zwischen zwei Büchern von Fosse gelesen habe?

Trotz meiner Kritik bin ich über die Lektüre von «Mr.Goebbels Jazz Band» froh, da es aufzeigt, was Propaganda mit Menschen machen kann.

Bald wissen wir, wer von den fünf Nominierten den Schweizer Buchpreis erhalten wird. Bis dann freue ich mich auf Lesungen und Begegnungen verschiedenster Art.

Herzliche Grüsse

Bär