Reif Larsen «Die Rettung des Horizonts», S. Fischer

2009 erschien Reif Larsons erster Roman «Die Karte meiner Träume», ein Buch, das mich berührte und das ich bei einer Bücherpräsentation einmal als eines der 10 schönsten Bücher auf eine Liste setzte. Auch wegen der Geschichte, die aus der Sicht eines 12jährigen seine heimliche Reise durch die Staaten erzählt. Aber mit Sicherheit wegen seiner Form; ein übergrosses Buch, voll mit Randnotizen, Skizzen, Plänen und Zeichnungen, die meisten vom Autor selbst gestaltet, ein Buch voller Originalität, formal und inhaltlich.

«Shiranu ga hotoke.»

Nun erschien wieder bei S. Fischer der neue Roman «Die Entdeckung des Horizonts» («I am Radar»): Im Frühling 1975 erblickt Radar Radmanovic in New Jersey das Licht der Welt, auch wenn im Moment seiner Geburt im Spital der Strom ausfällt und alles im Dunkeln vonstatten geht. Es ist stockfinster im Gebärsaal des Spitals. Und als das Licht wieder angeht, liegt da ein Junge mit aubergine-brauner Haut, obwohl seine Eltern weiss sind. Trotz einer naheliegenden Erklärung, ist Radars Mutter überzeugt, ihr Sohn sei das Resultat eines biologischen Irrtums. Sie setzt alles daran, Licht über die dunkle Haut ihres Sohnes zu bringen, allem Widerstand ihres Mannes entgegen. Sie pilgert von u1_978-3-10-002216-5Arzt zu Arzt, eines Tages bis in die norwegische Arktis zu einer illustren Gruppe mysteriöser «wissenschaftlicher» Puppenspieler, die den Eltern Heilung durch ein ganz besonderes Experiment versprechen. Noch mehr verunsichert, aber gleichermassen fasziniert reist die Familie zurück und tatsächlich verändert sich die Hautfarbe des Jungen Radar, wenn auch zu einem hohen Preis. Der sonst schon sonderbare Junge leidet fortan unter epileptischen Anfällen und bleibt künftig mehr als nur empfänglich für alle Arten von elektrischen Schwingungen. Radar wird zu einem Medium, Teil einer ganz speziellen Gruppe von Menschen, die im Laufe von 50 Jahren mehrere grosse Kunstperformances durchführen, in den Ruinen der vom Bosnienkrieg zerschossenen Nationalbibliothek von Sarajevo, im diktaturverseuchten Kambotscha oder im in Anarchie versinkenden Kongo.

«Meine Mutter meint, ich bin ein gutes Buch mit einem schlechten Cover.»

Reif Larsen erzählt die Geschichte von Menschen, die im Laufe ihres Lebens einmal aus den Schienen ihres Lebens herauskatapultiert wurden und nicht mehr in ihr altes Dasein so einfach zurückkehren können. Von Menschen, die durch Geschichte, Schicksal oder Zufall aus aller Sicherheit gerissen werden, ihr Leben, die Umgebung und zu Wahrheiten gewordene Zusammenhänge mit einem Mal auf ganz andere Weise und in ganz anderer Intensität wahrnehmen. «Die Entdeckung des Horizonts» ist eine phantasievolle Reise an die Ränder der Realität. Vielleicht ein Buch, dass so nur von US-Amerikanern geschrieben werden kann, die sich auch sonst in ihrem Selbstbewusstsein weniger um Grenzen kümmern. Ein Buch, das Kategorien sprengt und sich nur schwer einordnen lässt. Wieder ein Buch, das fasziniert, mich in verschiedenste Leben eintauchen lässt, das gerne so tut, als sei der Sonderfall die Normalität. Ein Buch, das einem während des Lesens fast kindlich begeistern lässt, mich mitzieht und teilhaben lässt an der «Entdeckung des Horizonts».

af_larsen_reif__001_web-jpg-55406257Reif Larsen, geboren 1980, lebt im Hudson Valley und in Schottland. Er schreibt, unterrichtet Literatur, dreht Dokumentarfilme in den USA, Großbritannien und in Afrika. Seine Erzählungen und Essays erscheinen u.a. in «The New York Times» und in «The Guardian». Sein erster Roman «Die Karte meiner Träume» (S. Fischer Verlag 2009) wurde ein Weltbestseller und 2013 von Jean-Pierre Jeunet verfilmt.

Das 34. Literaturblatt ist bereit, verschickt zu werden!

Die Schar der Empfängerinnen und Empfänger der Literaturblätter wächst stetig. Was zu Beginn eine Idee war, wächst sich zu einer richtigen Serie aus, zu einer Arbeit, zu etwas Besonderem. Die Blätter brauchen Zeit; Zeit zum Lesen, Auswählen, Zeichnen, Schreiben, Drucken, Einpacken, Adressieren und Verschicken. Dass es immer mehr Menschen gibt, die mich dabei mit Komplimenten, Zuspruch, Ermunterungen und Geld unterstützen, freut mich sehr und macht mich stolz.

So ist literaturblatt.ch nicht einfach nur ein Blog, sondern ein Veranstalter, ein Vernetzer, eine Plattform und eine kleines, eigenwilliges Schreibwerk, das so ganz anders ist, als alles andere, was für das gute Buch wirbt.

Zwei Reaktionen auf das 32. Literaturblatt:

«Lieber Herr Frei-Tomic,
haben Sie vielen Dank für den schönen Beitrag. Überhaupt gefällt mir Ihre Seite sehr gut, wie auch die Literaturblätter; eine wunderbare Idee, finde ich, Büchern derart fein ein kleines Denkmal zu setzen. Ihnen alles Gute, herzlich grüsst
Ursula Fricker»

«Lieber Herr Frei-Tomic,
haben Sie vielen Dank für Ihr genaues Lesen, auf das ich – und jeder, der veröffentlicht, angewiesen bin. Herzliche Grüße,
Reinhard Kaiser-Mühlecker»

Vielen Dank!

In der Rubrik «Literaturblätter Übersicht» sind alle bisher erschienen Literaturblätter sichtbar. Wer das 34. Literaturblatt mit der Post «old school» zugesandt bekommen möchte, kann dieses bestellen über das Kontaktformular der Webseite,

über gallus.frei-tomic@gmx.ch

oder «old school» per Post:
Gallus Frei-Tonic
Literaturport Amriswil
St. Gallenstrasse 21
8580 Amriswil

Urs Richle «Anaconda 0.2», Limmat Verlag

«Language is a virus», ein Zitat von William S. Burroughs, steht dem Roman voraus. Ein vieldeutiges Zitat, eines das genau beschreibt, was mit mir passierte, während ich den neuen Roman «Anaconda 0.2» von Urs Richle las, ein literarisches Abenteuer!

Nichts mehr wünsche ich mir als Leser; Bücher, die mich mitreissen, die mich meiner Kontrolle entziehen, die mich schütteln, die mich treffen. Als ich den Roman «Anaconda 0.2» fertig gelesen aus den Händen gab, blieb ich noch eine Weile bloss sitzen, vielleicht ein bisschen betäubt, vielleicht geschlagen, aber mit Sicherheit beglückt und begeistert.

Leo, knapp über zwanzig, wird bei einer Demonstration gegen die Allmacht der Banken von einem Hartgummigeschoss der Polizei getroffen. Er verletzt sich mehr als unglücklich und schwer, fällt ins Koma und stirbt wenig später im Spital, während seine Familie an seiner Seite in Schockstarre zurückbleibt. Der Roman erzählt aus Sicht des Vaters die verzweifelte Suche nach einem verlorenen Sohn. Leo war nicht lange ausgezogen, damals im Streit, einer Tatsache, die zur Loslösung zu gehören schien. Beim Aufräumen des ehemaligen Kinderzimmers, das Leo nur noch als Flucht- und Rückzugsort diente, findet der Vater eine antike Spieluhr (eine Uhr aus dem 18. Jahrhundert, die «Grande Dame», aus dem Gebeinen der Geliebten des Uhrmachers Jean-Louis Sovary hergestellt, jener Uhr, die schon der Mittelpukt in Urs Richles letzten Roman «Das taube Herz» war). Ein geniales Uhrwerk, das in seinem Innern eine banale Paketbombe versteckt. Wer war sein Sohn? Wer oder was hatte ihn so sehr entfremdet, dass eine stumme Bombe zurückbleibt?

51rw5zm6d7lDas ist aber nur die eine Ebene dieses überaus gelungenen und grossartigen Romans. Leo ist tot, aus einer Familie herausgerissen. So wie sich der Vater in der Vergangenheit des Sohnes verbeisst, will die Mutter ein Gesicht, den Namen des Mörders, den Prozess gegen jenen Mann, der das Hartgummigeschoss abgefeuert hatte. Aus dem Krieg, den der Sohn als Aktivist und Hacker, Demonstrant und Konspirant führte, wird ein Krieg zwischen den Eltern, die in ihrem Schmerz den Weg aus der Trauer in komplett verschiedenen Richtungen suchen. Ein Krieg, der auch die beiden Schwestern Leos einsam werden lässt. Ein Krieg, der unsere Kinder an den irreparablen Zuständen von Umwelt und Gesellschaft zerbrechen lässt.
«Anaconda 0.2» ist aber auch ein Einblick in eine mir fast völlig fremde Welt, obwohl ich mit Computern arbeite, die Vernetzung allgegenwärtig ist und ich mir vieler Gefahren bewusst bin. Urs Richle arbeitet neben seinem Schreiben und der Dozentur am Literaturinstitut in Biel als Medieningenieur an Forschungsprojekten der Universität Genf. Was der Autor an Einblicken in die Welt der Big-Data-Konzerne ausbreitet, ist nicht bloss angelesene Recherche, sondern Insider-Wissen. Wenn Urs Richle sein Personal im Roman über die Möglichkeiten und Bestrebungen dieser in sich geschlossen scheinenden Welt erzählen und fachsimpeln lässt, wird mir schwindlig. Hinter dem schweren Tuch des Wissens öffnet sich nicht nur ein weites Feld, das mir meist verborgen bleibt, sondern auch ein beängstigend tiefer Abgrund.

Er wird einem beinahe schwindlig ob der Dimensionen und Perspektiven, die mit dem Lesen dieses Roman entstehen. Urs Richle gibt Einblicke in eine Welt der Wissensverarbeitung und Wissenskonstruktion durch künstliche Algorithmen, dass mir fahl im Bauch wird. Als würde ich ganz unvermittelt in einen ungeahnten Abgrund blicken. Urs Richles Roman saugt sich fest. Wo ich als Begleiter eines zurückgelassenen Vaters mit den schwarzen Löchern rund um seinen Sohn Zeuge werde, verändert der Autor mit immer neuen Wendungen und Einsichten meinen erstaunten Blick auf eine sich an Dimensionen potenzierendes Geschehen. So sehr, dass ich mir im letzten Teil des Romans zwischendurch die Augen reiben muss ob der Rasanz, mit der mich Urs Richle zum Finale peitscht.

Ein Ereignis!

Ein kurzes Interview:

Kinder werden gross in einer Zeit, die an positiven Perspektiven zu mangeln droht. Müssen wir uns vor unsern Kindern fürchten? Ich glaube nicht, dass wir uns vor unseren Kindern fürchten müssen. Aber wir haben allen Grund uns vor dem zu fürchten, was wir ihnen hinterlassen: eine kanibalistische (Menschen zerstörende) Marktwirtschaft, unkontrollierbare Maschinen, unkontrollierbare genmanipulierte Organismen und Viren, zerstörte Oekosysteme…. die Liste ist lang…

Sie beschreiben in ihrem Roman, was mit einer Familie geschieht, wenn ein Kind stirbt. Der Alptraum aller Eltern. Da ist der Verlust eines Sohnes, das Gefühl, ihn mehrfach verloren zu haben. Sie haben auch Familie. Ist da auch ein Stück ihrer Angst in den Roman eingepackt? Der Verlust eines Kindes ist tatsächlich das Schlimmste was einer Mutter/einem Vater widerfahren kann. Ja, da ist ein bisschen meiner persönlichen Angst dahinter. Auch die Angst, ein Kind so zu verlieren, dass man, wie Sie sagen, Angst vor ihm bekommen müsste (Entwicklung hin zu einem religiösen Fanatiker z.B.).

Es ist nicht der erste Roman, der ihre Faszination für antike Uhrwerke spiegelt. Darum, weil jene Kunstwerke die «Vorgänger» der Computer waren, auch wenn von Kunst bei Computern nicht viel zu spüren ist? Die Spieluhr «La Grande Dame» bildet die Verbindung zum Roman «Das taube Herz». Es handelt sich hier um das Projekt einer Trilogie – Vergangheit-Gegenwart-Zukunft. «Anconda 0.2» ist der zweite Teil. Am 3. schreibe ich zur Zeit.

Nimmt man ihr Schreiben unter Computerfachleuten wahr? Reagieren sie? Die Literaturwelt und die Informatiker-Welt sind zwei recht getrennte Welten. Aber das hat vielleicht auch damit zu tun, dass ich als Informatiker im franzäsischen Sprachraum tätig bin. Kaum jemand hier liest deutsch…. Aber ich achte auch darauf, dass es nicht zu technisch wird. Beim «Tauben Herz» kam ein bisschen der Vorwurf, dass zuviel Mechanik beschrieben wird. Es geht ja um die Figuren, um die Menschen in dem ganzen Spiel, nicht um die technische Umsetzung.

Vielen Dank!

img_0151Urs Richle, 1965 im Toggenburg, einem kleinen Bergtal in der Ostschweiz geboren, unterrichtete ein Jahr lang an der Primarschule in Gais, Kanton Appenzell. Von 1989 bis 1992 lebte er in Berlin, wo er zuerst Soziologie und Philosophie zu studieren begann, danach das Studium jedoch abbrach, um sich ganz dem Schreiben zu widmen. Seit 1993 lebt Urs Richle in Genf. 1996/97 absolvierte er die Ausbildung an der Drehbuchwerkstatt München (Hochschule für Film und Fernsehen München). Von 2002 bis 2006 studierte er an der Ingenieursschule des Kanton Waadt und erlangte 2006 das Diplom „Ingénieur HES en Ingénieurerie des médias, orientation IT“ (Ecole d’ingénieur COMEM+, Lausanne). Diplomarbeit: WikiViz für TECFA, Université de Genève. Seit Mai 2006 arbeteitet Urs Richle als Ingenieur im Rahmen verschiedener Forschungsprojekte an der Universität Genf – und ist weiterhin als freier Autor tätig. Seit Oktober 2007 unterrichtet Urs Richle Literarisches Schreiben am Schweizerischen Literaturinstitut der HKB (Hochschule der Künste Bern).

(Titelbild: Urs Richle)

Webseite des Autors

Hannah Dübgen «Über Land», dtv

«Dein Herz ist dort, deine Füsse sind hier» – dieses Zitat trifft ein wichtiges Thema des Buches: Wo gehört man hin? Wie lebt es sich in der Fremde? Was zieht einen zurück in die Heimat? Und wie geht man mit dieser Situation um?

In Berlin begegnen sich bei einem Beinahe-Unfall zufällig Amal, eine auf Asyl wartendende Archäologie-Studentin aus dem Irak, und Clara, eine junge Ärztin aus Berlin. Diese Begegnung führt in den kommenden Wochen zu schüchternen Treffen, Gesprächen und einer beginnenden Freundschaft. Dem Leser wird das Leben von Amal im Irak sowie ihre Gründe für die Flucht auf eine sachliche, eindrucksvolle und trotzdem tiefgehende Weise nahe gebracht, die jedoch nie anklagend wirkt. Eher würdevoll und doch neutral.
9783423280945Claras Leben zwischen der Berliner Klinik und ihrem Lebensgefährten Tarum, einem Architekten aus Indien, spiegelt die Zerrissenheit der jungen Frau wieder. Sie sucht im Umgang mit ihrem Partner die Balance zwischen Nähe, Distanz und Selbstverwirklichung. Tarum erhält die Chance, nach erfolgreichen Jahren in Deutschland, ein Projekt in der Nähe seiner Heimatstadt in Indien zu betreuen und stellt die Beziehung mit Clara auf die Probe.
Als Amals Grossmutter im Irak stirbt, fährt Clara an ihrer Stelle nach Bagdad und taucht in die bis dahin gehörte Geschichte ein.

Hannah Dübgen versteht es, die Geschichte aus unterschiedlichen Perspektiven zu beschreiben, wodurch man als Leser immer wieder neu gefordert wird. Die Geschichte nimmt ihren Lauf und setzt sich aus der unterschiedlichen Sichtweise immer weiter fort. Die Sprache berührt und saugt einen auf in die Geschichte, die unterschiedlichen Kulturen und Gedanken. Alles ohne Anklage zur Flüchtlingsthematik, sondern mit Achtung und Respekt. Und dem Nachhall zum Nachdenken, zum Überlegen, zum neu sortieren und bewerten.
«Vielleicht soll man den Menschen einfach das Recht auf Ihre Geschichte lassen.»

Ein tolles berührendes Buch mit vielen unterschiedlichen Facetten und einem stimmigen Gesamtbild. Ich freue mich auf weitere Bücher von Hannah Dübgen.

Mirja Grajer, 4.11.2106

 

5474Hannah Dübgen wurde 1977 geboren. Sie studierte Philosophie, Literatur- und Musikwissenschaft in Oxford, Paris und Berlin. Sie arbeitete für Schauspiel und Musiktheater, und schrieb die Libretti mehrerer international erfolgreicher Opern. Ihr Debütroman «Strom», ausgezeichnet mit Preisen der Landeshauptstadt Düsseldorf und des Literaturfestivals von Chambéry, erschien 2013 bei dtv.

Webseite zur Autorin

Quentin Mouron «Notre-Dame-de-la-Merci», Bilger

Auch wenn Quentin Mouron, Jahrgang 89, noch jung ist, ist dieser schmale, beim Zürcher Bilger Verlag herausgekommene Roman, ein Buch von unsäglicher Tiefe, Traurigkeit und reifer Verzweiflung. Eine Tragödie von sheakespearscher Kraft gepaart mit dem schonungslosen Realismus amerikanischer Erzähler, so gar nicht das, was ich unter nabelfixierter Literatur verstehe.

Quentin Mouron weiss, wovon er erzählt, wuchs dort auf, wo der westeuropäische Tourist die Freiheit vermutet, in den Wäldern von Québec, «zwischen Feuer und Kälte». Der junge Autor erzählt die Geschichte aus einer finsteren Gegenwart, in einem Winter, der nicht nur Kulisse des Geschehens ist, denn die Kälte reisst einem Risse in die Haut. Odette liebt Jean. Daniel liebt Odette und Jean liebt nur sich selbst. Drei kaputte Leben im ewigen Strudel einer Sackgasse. Odette verwittwet und gescheitert, geschunden und verletzt, hält sich mit Drogenlieferungen über Wasser. Daniel, im Würgegriff finanzieller Schulden und dem Elend zuhause, hilft Odette als Kurier, weiss, dass es der falsche Weg aus seinem Elend ist, aber der einzige. Und Jean, der die Polizei ruft, nachdem sich sein Vater im Schuppen erhängte. Jean, ein Möchtegerngangster, dessen einzige Regel er selbst ist, jeden instrumentalisieren will, Odette als Frau, Daniel als img_0138Sündenbock. Drei Schicksale, drei brennende Lunten, die sich unaufhaltsam auf das gleiche Pulverfass hinfressen. Drei Leben, die irgendwann aus dem Tritt gerieten, dasjenige von Jean mit aller Absicht, das von Daniel, weil das Leben mit ihm spielt, das von Odette, weil sie gefangen ist. Daniel und Jean, zwei Archetypen von Männern, die unterschiedlicher nicht sein können. Und dazwischen eine Frau, deren Leben sich an ihr selbst rächt, die nicht aus ihrer Haut schlüpfen kann, trotz allem Zorn, aller Wut.

Das ist die Geschichte. Die Geschichte eines Dreiecks. Aber Quentin Mouron erzählt durch den Roman auch von sich selbst, seinem Schreiben, dem Kampf mit sich, mit seiner Gegenwart, mit der Deformation einer ganzen Generation. Quentin Mouron leidet, verzweifelt und macht 95 Seiten lang keinen Hehl daraus. «Notre-Dame-de-la-Merci» erzählt von seiner Verzweiflung, dass gewisse Leben nie und nimmer umzukehren sind, dass Unglück unabwendbar scheint, die Katastrophe nur immer eine Frage der Zeit. Was der Autor an persönlichen Gedanken in den Roman mischt, ohne ihn zu stören, zwang mich öfters zu mehrmaligem Lesen, weil da jemand mit seiner Verzweiflung an der Welt, mit dem Schicksal der Verlorenen hadert, die nicht wie er selbst eine Stimme haben, ihre Ausgeschossenheit von Glück, Wärme und Liebe.

Starke Literatur von einer starken Stimme. Grund genug, dass Mouron Stimme auch in der deutschsprachigen Welt wahrgenommen wird.

img_0139Quentin Mouron, Schriftsteller und Dichter mit schweizerisch-kanadischen Wurzeln wurde 1989 in Lausanne geboren und verbrachte seine Kindheit in Québec.
Er schrieb bisher fünf Romane und avancierte schnell zum Stern am Himmel der jungen Literatur in der Romandie und in Frankreich.

Webseite des Autors 

(Titelbild: Sandra Kottonau)

Literaturvorschläge aus dem Turm

Liebe Bücherfreunde

Zusammen mit Elisabeth Berger stellte ich am Nikolaustag im Tröckneturm St. Gallen lesenswerte Bücher vor. Elisabeth Berger sechs – ich ebenso. Bücher, die man schenken kann. Bücher, die sich  lohnen zu lesen. Bücher, die man vorlesen kann. Bücher für viel mehr als ein paar schöne Stunden.

Falls sie noch ein Weihnachtsgeschenk brauchen, vertrauen sie dieser Liste!

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«Die Annäherung» von Anna Mitgutsch für alle, die sich für das vom letzten Weltkrieg dominierte Geschehen eines Jahrhunderts interessieren, für Familiengeschichte mit viel Unausgesprochenem.

«Wenn du dein Haus verlässt, beginnt das Unglück» von Max Küng für Neugierige, die hinter Fassaden schauen wollen, Witziges mögen.

«Schlaflose Nacht» von Margriet de Moor, für jene, die bereit sind, mit der Erzählerin mitten in der Nacht in der Küche zu stehen, um zuzusehen, was der Suizid des Mannes im Gewächshaus hinter dem Haus anrichtet.

«Das achte Leben – für Brilka» von Nino Haratischwili für fleissige LeserInnen, die sich von 1300 Seiten nicht abschrecken lassen und dafür belohnt werden mit einem georgischen Epos in Breitleinwand über beinahe 100 Jahre – ein fantastisches Buch!

«Cox oder Der Lauf der Zeit» von Christoph Ransmayr für jene, die sich vor einer mächtigen chinesischen Kulisse von einem Meister der Sprache in die Fremde entführen lassen wollen.

«Hier können sie im Kreis gehen» von Frédéric Zwicker, die erfahren wollen, warum sich ein alter Mann hinter einer vorgespielten Demenz im Altersheim verstecken will.

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«Bella Mia» von Donatella di Pietrantonio für jene, die sich in eine der vielen Behelfsunterkünfte nach dem grossen Beben 2009 in Italien versetzen lassen wollen, ins Schicksal dreier Menschen, die sich neu erfinden müssen.

«Nora Webster» von Colm Toibin für jene, die sich literarisch entführen lassen wollen in die irische Provinz der 60er Jahre, an einen Ort, wo der Verlust des Mannes die persönliche Katastrophe der hinterbliebenen Frau vervielfacht.

«Hinter Büschen, an eine Hauswand gelehnt» von Zora del Buono, für jene, die wissen wollen, was eine unmögliche Liebe bewirkt in einem Land, das von den NSA-Enthüllungen gebeutelt ist.

«Der lange Atem» von Nina Jäckle, die sich auch vor dem Trauma eines erlebten Tsunamis in Japan nicht abschrecken lassen, vom Tod in all den entstellten Gesichtern, im Buch von einer eindringlichen Sprache belohnt.

«Der Hut des Präsidenten» von Antoine Laurain, für jene, die wissen wollen, was ein verlorener Hut des ehemaligen französischen Staatspräsidenten François Mitterrand anrichten kann. Heiter!

«Lügen sie, ich werde ihnen glauben» von Anne-Lare Bondouz und Jean-Claude Mourlevat für jene, die sich gerne gut unterhalten lassen von einem E-Mail-Roman voller Witz und Charme.

Zwei Büchermenschen: Gallus Frei-Tomic und Elisabeth Berger

mehr Infos unter lebendiger-advent.ch

Bücher für Weihnachten

Noch ein paar Ideen für eine entspannte Weihnachtszeit? Geschenksideen?Vielleicht sogar ein Buch für NichtleserInnen? Das gibt es! Oder Bücher fürs stille Örtchen? Warum nicht! Oder schmucke Bändchen fürs Nachttischchen? Kurz vorgestellt einige Tipps:

9783869711324Kat Menschik ist eine herausragende Illustratorin. Der Galiani Verlag Berlin hat den Mut, zusammen mit der Illustratorin eine ganze Reihe kleiner, literarischer Schmuckstüche herauszugeben. Bücher, die in allen Belangen überzeugen: inhaltlich, weil von grossen Autoren, optisch, weil in Menschik-Manier illustriert, haptisch, weil hochwertig produziert und buchtechnisch, weil die Bücher mit farbigem Schnitt, tiefgepresstem Umschlag jedes Büchernarrenherz höher schlagen lassen. Wenn Sie also jemandem eine Freude machen wollen, der schon alles gelesen hat, dann sind es diese Perlen. Bücher, die man gar nie ins Bücherragal schieben möchte!
Band 1 sind Franz Kafkas 1919 zum ersten Mal erschienen Erzählungen unter dem Titel «Ein 9783869711423Landarzt». Seltsame Geschichten wie eben jene vom Landarzt, von seltsamen Menschen in seltsamen Situationen. Illustriert von der Künstlerin Kat Menschik verdichten sich Lesegefühle, potenziert sich das schon magische Leseerlebnis Kafkas geheimnisvoller Geschichten.
Band 2 ist William Shakespeares Stück «Romeo und Julia». Wohl jeder kennt die tragische Liebesgeschichte, die 1597 zum ersten Mal zur Aufführung gekommen sein soll. Eine der Urgeschichten aller menschlichen Tragödien. Kat Menschiks Illustrationen sind nicht einfach Bilder zum Theater, sondern Nahaufnahmen, fein, über das Detail hinaus gesehen.
Jedes dieser Schmuckbändchen ist in seiner eigenen Sprache gestaltet, im gleichen Format, mit farbigem Schnitt, «ein Fest für Geist und Sinne». Kat Menschik «Franz Kafka – Ein Landarzt», «William Shakespeare – Romeo und Julia», Galiani

img_0135Ein Buch fürs Klo? Der Autor dieses Buches möge mir verzeihen. Aber jeder Bücherfreund muss auch am stillen Örtchen beweisen, dass man mit Stil, Muse und Kultur jene Zeit versüssen kann, erst recht dann, wenn Sitzungen etwas länger dauern. Stefan Keller, Journalist und Herausgeber, bekannt geworden mit seinem Buch «Grünigers Fall» über die Taten des in Ungnade gefallenen St. Galler Polizeihauptmanns und Flüchtlingsretters, öffnet in seinem neusten Buch «Bildlegenden» sein und fremde Archive. Stefan Keller ist Historiker und sammelt alte Bilder und Dokumente, kauft sie auf Flohmärkten und Brockenhäusern. 66 Bilder, Postkarten und Artefakten, literarisch kurz und knapp kommentiert, Zeitzeugnisse aus Ostschweizer Geschichte und darüber hinaus, nicht bloss erklärt, sondernd feinsinnig einander gegenüber gestellt, manchmal erhellend, manchmal nur angetippt. Viel mehr als ein zufällig arrangiertes Foto- und Kuriositätenalbum. Ein schön gestaltetes Büchlein im Querformat, das man gerne offen liegen lassen möchte. Stefan Keller «Bildlegenden, 66 wahre Geschichten», Rotpunktverlag

img_0136Als ich ein kleiner Junge war, gab es nichts, was mich mehr faszinierte, als Seefahrergeschichten. Abenteuer in den sieben Weltmeeren, Legenden von Piraten und ihren Schätzen, von verlorenen Orten, den Rändern der Zivilisation. Der mare Verlag Hamburg, dessen Bücher alle irgendwie mit Meer oder Wasser zu tun haben, schenkt all jenen, die mit Phantasie entdecken wollen, ein ganz besonderes Buch. Ein Buch zum wegfahren, abtauchen, überfliegen. Dirk Liesemer, Journalist, auch für die Zeitschrift «mare», erfand dreissig imaginäre Inseln und erzählt dazu von ihren wechselvollen Geschichten, Geschichten nicht nur von Inseln, sondern von Menschen, die an diesen Inseln fast allesamt scheitern. «Das Lexikon der Phantominseln» ist ein wunderlicher Reiseführer durch die Welt der Fantasie. Zweifarbig gedruckt, mit Karten, farbigem Schnitt und Lesebändchen lehrt Dirk Liesemer vielleicht nicht so sehr Geographisches, dafür umso mehr über die Abgründe der menschlichen Seele. Dirk Liesemer «Das Lexikon der Phantominseln», mare

img_0078Ich lebe in einer kleinen Stadt in der Ostschweiz. Bis vor hundert Jahren war Amriswil ein Bauerndorf. Mit der Eisenbahn und der Industialisierung wuchs Amriswil schnell. In ihrer Blütezeit bekam man wohl fast alles im Dorf. Es gab kleine Läden, Handwerker, mehrere Metzgereien… Heute stirbt ein Laden nach dem andern. Dafür wuchern an allen Ecken Kebabbuden, Krimskramsläden, noch ein Friseur, Hörgräte… «Handwerkstätte» ist eine Hommage an fast vergessene Berufe; den Rosshaarmatratzenmacher in Niederbipp, den Buchdrucker in Vättis, den Seiler in Winterthur, der Büstenmacherin in Küssnacht am Rigi und die Sackdruckerin in Heimiswil… Portraits mit Bild und Text, mit Adressen und Internetauftritten, ein Nachschlage- und Inspirationsbuch für all jene, die sich nicht begnügen mit Massen- und Stangenware. Eine gelungene Zusammenarbeit zwischen der Zeitschrift «Schweizer Familie» und dem Rotpunkt Verlag! Kathrin Fritz / Maurice K. Grünig «Handwerkstätten», Rotpunktverlag

Pedro Lenz «Di schöni Fanny», Cosmos

Was wie ein Song von Endo Anaconda tönt, ist der neuste Streich des grossen Mannes aus Olten. Ein Buch mit einem ungeheuren Groove, dem Sound der Kleinstadt, aber ohne Mief, dafür mit Leidenschaft für all das, was die Povinz ausmacht und Pedro Lenz seit seinem Bestseller «Dr Goalie bin ich» in Reinkultur verkörpert.

Jackpot ist um die vierzig und heisst eigentlich Franz, Franz Gobeur. Aber er mag es nicht, wenn er Franz gerufen wird und das wissen seine Freunde. Am allerbesten wissen das die alternden Malerfreunde Grunz und Louis. Franz ist Jackpot, am liebsten der Jackpot, auch für die junge Fanny, die Modell steht bei seinem Freund Grunz, die er das erste Mal unter seiner Tür zu dessen Atelier trifft. Eine Frau, die aus einer andern Welt zu sein scheint, die sich auf Leinwand gebannt tief in die Seele des Mannes brennt. Jackpot ist Schriftsteller, auch wenn es mit der Schriftstellerei nur mühsam voran geht. Er lebt vom Wettglück und den Gaben seines Bruders, der in der Industrie das grosse Geld macht. Fanny wirft img_0134Jackpot aus der Bahn. Da helfen die guten Ratschläge seiner Malerfreunde wenig, erst recht nicht, als Jackpot in ihnen Konkurrenten und Nebenbuhler wittert. Und als Fanny dann eines Nachts doch noch Jackpots Wohnungstür von innen abschliesst, glaubt Jackpot an die Erfüllung seiner kühnsten Träume. Aber die schöne Fanny ist und bleibt die, die mir wie Jackpot auf der ersten Seite seines Berichts begegnet; eine Frau, die sich nicht fassen, nicht anbinden lässt.

Aber Pedro Lenz ist Pedro Lenz. Und Pedro Lenz schreibt nicht bloss eine Liebesgeschichte. Was mit Fanny durch das Leben der drei Künstlerfreunde wirbelt, ist ein veritabler Sturm, der sogar ihre Freundschaft bedroht. Aber Jackpot gelingt es, durch diesen Sturm endlich auf Kurs in seiner Schreiberei zu kommen. Pedro Lenz neue Romanfiguren sind im Vergleich zu seinem ersten Roman «Dr Goalie bin ich» keine Verlierertypen. Wohl gibt es sie als Personal um das Dreigestirn herum, wie immer liebevoll gezeichnet. «Di schöni Fanny» ist ein Buch über Freundschaft. Das Buch scheint fast nur in Dialogen erzählt, angereichert mit viel Kaffee, Wein, Bier, manchmal Gebranntem, Kutteln und aufgewärmtem Rindsragout. Pedro Lenz schafft eine ganz spezielle Nähe. Es ist, als ob ich Jackpots Nähe spüre, seine schlacksigen Bewegungen, den Sound seiner Stimme, als würde der Bass in meinem Bauch vibrieren.

Pedro Lenz erzählt auch vom Schreiben, von Kunst, davon, dass Malen und Schreiben Geschwister sind, eine Art des Schauens, der Wahrnehmung. Pedro Lenz sieht nicht nur, was ist, sondern immer auch, was sein könnte. Kunst braucht ein Gegenüber, ein Publikum. Und nicht selten mockiert sich der übers Publikum, der keines hat. Und doch spüre ich in Pedro Lenz Schreiben den latenten Schmerz darüber, dass sich die Welt nicht retten lässt, dass jene Provinz, jenes Olten, das er liebt, das nur noch in Ritzen und Rändern wächst, weit weg ist von High End, Style, Hochglanz und Hochfinanz.

Ein bitterschönes Buch, eine Perle. «Die schöni Fanny» berührt.

Foto von Daniel Rihs
Foto von Daniel Rihs

1965 in Langenthal geboren, Sohn einer Spanierin und eines Direktors einer Porzellanfabrik, schloss Pedro Lenz 1984 die Lehre als Maurer ab und arbeitete auch mehrere Jahre auf dem Bau. Später interssierte er sich für Theologie und studierte einige Semester spanische Literatur an der Universität Bern. Seit 2001 arbeitet er vollzeitlich als Schriftsteller. Lenz schreibt Kolumnen, Gedichte, Theatertexte, Kurzprosa und Romane. Pedro Lenz ist Mitglied des Bühnenprojekts «Hohe Stirnen» und der Spoken-Word-Gruppe «Bern ist überall». 2008 nahm er an den Klagenfurter Literaturtagen teil. Pedro Lenz lebt in Olten.

Webautritt des Autors

(Titelbild: Patricia von Ah, mit freundlicher Genehmigung der Kulturagentur desto-besser)

Jonas Karlsson «Das Zimmer», Luchterhand

in einem meiner Lesezirkel besprochen.

Jonas Karlssons Roman «Das Zimmer», der als neue literarische Stimme Schwedens gepriesen wird, ist ein Kammerstück menschlicher Abgründe, meisterlich inszeniert in den Tiefen eines Grossraumbüros, jenem sensiblen Kosmos, in dem sich Archetypen verschiedenster Färbung unfreiwillig nahe kommen.

Björn tritt eine neue Stelle in einer Behörde an, von Beginn weg möglichst schnell einer jener werdend, auf die es ankommt. Björn richtet sich am Doppeltisch, Hakan gegenüber, ein. Er beobachtet und filtert alles in seiner grandiosen Selbstüberschätzung. Er arbeitet kaum, legt sich allerhöchstens etwas zurecht, hängt seinen Gedanken nach, lauernd. Schnell scheint ihm klar, einer, wenn nicht der Cleverste zu sein, ohne zu merken, wie sehr sich die Stimmung im Grossraumbüro seit seinem Arbeitsbeginn zu seinen Ungunsten verändert. Kein Grund zur Selbstreflexion! Viel mehr Zeichen dafür, wie entschlossen Björn für eine neue Ordnung einstehen muss.

Und dann ist da das Zimmer. Eine Tür zwischen Aufzug und Toilette. Ein kleines Zimmer ohne Fenster, ein Tisch in der Mitte, ein Computer, ein mit Ordnern gefülltes Regal, ohne Staub, alles in Reih und Glied, aufgeräumt, vorbereitet, auf ihn wartend. Björn klinkt sich immer häufiger in dieses Zimmer aus, sein Refugium, holt dort Kraft, findet dort jene Ruhe, die ihm das Grossraumbüro verweigert. Nur ist Björn der einzige, der von diesem Zimmer weiss. Er vermutet ein Geheimnis. Doch als sich die Zeichen im Büro immer unmissverständlicher 042_87460_164198_xxlgegen ihn richten, man ihm zu verstehen gibt, für wie verrückt man ihn hält, jedes Gespräch verstummt, wenn Björn auftaucht, erzählt Björn vom Zimmer, jenem Raum, der immer mehr zu seiner Mitte wird. Aber niemand an seinem Arbeitsort, nicht einmal Margareta, der Björn während einer steifen Weihnachtsfeier im Büro im Zimmer nahe zu kommen glaubt, bestätigt die Existenz dieses Zimmers. Nicht einmal der Tür zwischen Aufzug und Toilette. Man beginnt Björn zu denunzieren, wenn er völlig weggetreten an der Wand zwischen Aufzug und Toilette lehnt. Björn nimmt den Kampf gegen die «Dummheit der Menschen auf, gegen Einfalt, Verleugnung und Inkompetenz». Björn, ein Ungetüm an Selbstbewusstsein und Selbsterhöhung. Er, ein offener, argloser Mann, im Kampf gegen Windmühlen, Er, den man doch ganz offensichtlich systematisch wegmobben will, der doch deutlich sieht, wie ein himmelschreiender Komplott geschmiedet wurde. Erst recht, als er aus dem Zimmer gestärkt Arbeiten abliefert, die bis hinauf in die Etagen der Direktion entzücken.

Grossraumbürowelt als Verkleinerung der Arbeitsgesellschaft. Björn als Archetyp jener «Aufsteiger», die durch Erfolg ihr Wesen als Kotzbrocken zu rechtfertigen wissen, die durch Umkehrung von Tatsachen und Wahrnehmung ihren Blick auf die Welt zur einzigen Wahrheit erklären, mit der Fähigkeit zu akzeptieren, dass der ganze Rest der Welt dem Irrtum verfällt. Einsam, wenn man ständig der Einzige ist, der «in dieser so leicht zu täuschenden Welt die Wahrheit sieht». «Nicht weiter verwunderlich, kreative Menschen sind schon immer auf Widerstand gestossen. Es ist ganz natürlich, dass einfach gestrickte Personen Angst vor Sachkenntnis haben.»

Gibt es dieses Zimmer? Oder ist das Zimmer bloss Björns leere Seele? Jonas Karlssons 170 Seiten starker Roman liest sich leicht und reisst einem mit. Und uns in unserem Lesekreis in eine heftige Diskussion, heftigste Bestätigung und die Überzeugung, ein eindringliches Buch gelesen zu haben!

img_0104Jonas Karlsson, 1971 in Södertälje in der Nähe von Stockholm geboren, ist eine der vielversprechendsten literarischen Stimmen Schwedens. Die New York Times lobte «Das Zimmer» als «meisterhaft», die Financial Times nannte es «brillant». Das Buch brachte Karlsson den internationalen Durchbruch. Der 45-Jährige zählt zu den angesehensten Schauspielern seines Landes und wurde bereits zweimal mit dem schwedischen Filmpreis ausgezeichnet. Karlsson hat bislang drei Kurzgeschichtensammlungen, zwei Romane und ein Theaterstück veröffentlicht.

img_0115Und was lesen wir im Lesezirkel bis im kommenden Januar? Noch beeindruckt von einer Lesung bei der BuchBasel 2016, bei der Michael Kumpfmüller aus seinem Roman «Die Erziehung des Mannes» las und erzählte, lesen wir seinen 2011 erschienen Roman «Die Herrlichkeit des Lebens», über Franz Kafkas letzte grosse Liebe.