Graham Swift «Ein Festtag», dtv

Wo sind die Momente im Leben, die alles ausmachen, alles entscheiden? Welches sind die wirklich wichtigen Geschichten, die man alt und greise vor seinem Tod erzählt oder mit sich ins Sterben nimmt? Jane Fairchild ist über 90, müde vom Rummel und unzähligen Interviews, fast sicher, dass sie als Frau des 19. Jahrhunderts im nahenden Jahrtausend nicht mehr Gast sein wird.

Dreimal geboren. Das erste Mal 1901 als Findelkind vor die Türe eines Waisenhauses gelegt. Zum zweiten Mal am Muttertag, dem 30. März 1924, zwischen zwei Weltkriegen. Und zum dritten Mal, als man ihr eine alte, ausgediente Schreibmaschine schenkt und sie zur Schriftstellerin wird.

Jane erzählt von diesem einen, schicksalshaften Tag, einem Märzsonntag 1924. Damals war sie Dienstmädchen bei den Beechwoods und verliebt in den nach dem 1. Weltkrieg einzig «übriggebliebenen» Spross Paul. Jane erzählt eine Geschichte, die man nicht so einfach und schon gar nicht jedem erzählt. Nicht einmal dem Mann, mit dem sie Jahre später lange verheiratet war, schon gar nicht einem den von ihr geschriebenen Romane und damit all den Leserinnen und Lesern, die sie, wenn auch nicht nacherzählt, an ihrem Leben teilhaben lässt. Damals an jenem 30. März, zwei Wochen bevor ihr Geliebter Paul seine Verlobte Emma standesgemäss heiraten sollte, liegen Jane und Paul dieses eine Mal nackt in Pauls Zimmer, allein in einem grossen Haus, weil sämtliches Personal an diesem Muttertag frei bekommen hatte. Was nach Zufälligkeit aussieht, ist der Moment der zweiten Geburt. Damals, Paul war schon weggefahren, schwebt Jane immer noch nackt durch das grosse Haus ihres Geliebten. Während Paul bei einem Selbstunfall in seinem Auto verbrennt, wandelt sie wie Gott sie erschuf durch die Zimmer des riesigen Hauses, in die Bibliothek, über Treppen, in die Küche. Als würde sie eine noch fremde Welt in Besitz nehmen, flügge werden, ein Leben als Waise und Dienstbotin abstossen. Aber dieser eine Tag brennt sich ein, in alles, was an den folgenden Tagen im Leben Janes und im Leben der Schriftstellerin entscheidend sein wird. Dieser eine Tag wird alles Tun und Schreiben durchtränken, unauslöschlich. Nicht bloss diese wenigen unvergesslichen intimen Stunden im lichtdurchfluteten Zimmer ihres Geliebten, sondern ein ganzes Leben, hinauskatapultiert in die Tragödie, nackt, während die Uhren auch nach der Katastrophe weitertickten.

Der schmale Roman des Engländers Graham Swift leuchtet in das Geheimnis einer alten Frau, einer Schriftstellerin, die genau weiss, dass es Brüche sind, die einen aufbrechen lassen. Graham Swift schildert aber nicht nur die leidenschaftliche Liebesgeschichte einer 23jährigen Dienstmagd. Graham Swift erzählt von den Initialzündungen des Schreibens, dem Finden einer eigenen Sprache, der Entdeckung der eigenen Kreativität. Ein Abenteuer, das 1924 nicht der Normalfall einer Frau in Europa war. «Ein Festtag» ist ein Roman über das Schreiben, das Erzählen. Ganz am Schluss seines Romans schreibt Graham Swift: «Es ging darum, dem, was das Leben ausmachte, treu zu sein, zu versuchen, genau das einzufangen, was Lebendigsein bedeutet, obwohl das nie gelang. Es ging darum, eine Sprache zu finden. Und es ging darum … der Tatsache treu zu sein, dass viele Dinge im Leben, oh, so viele mehr als wir uns vorstellen, nie erklärt werden können.»

«Ein Festtag» von Graham Swift ist eine Perle.

Graham Swift, geboren am 4. Mai 1949 in London, arbeitete nach dem Studium in Cambridge und York zunächst als Lehrer. Seit seinem Roman «Waterland», der mit Jeremy Irons verfilmt wurde, zählt er zu den Stars der britischen Gegenwartsliteratur. «Letzte Runde» wurde 1996 mit dem Man Booker-Prize ausgezeichnet und, hochkarätig besetzt, von Fred Schepisi verfilmt. Swift favorisiert unzuverlässige Erzähler, die den Funktionen der Erinnerung und der Verknüpfung persönlicher Erinnerung mit zeit- und weltgeschichtlichen Ereignissen auf den Grund gehen – das Ergebnis sind psychologisch Glanzstücke von äußerster Raffinesse.

Bild: Sandra Kottonau

Haruki Murakami «Birthday Girl», illustriert von Kat Menschik, Dumont

Eine Sternschnuppe am Himmel und man wünschst sich was, ohne jemandem den Wunsch zu verraten. Haruki Murakamis Erzählung «Birthday Girl» ist eine Sternschnuppe am Himmel der Literatur. Sein Schweif die Illustrationen der Künstlerin Kat Menschik. Ein «Paar», das mich schon mehrfach verzückte.

Eine junge Frau wird zwanzig. Aber weil sie als Kellnerin in einem Hotelrestaurant in Tokio für eine kranke Kollegin einspringen muss, wird der Tag wohl nicht zu dem, was sich die junge Frau erhoffte. Doch weil noch mehr Zufall auch den Vorgesetzten krank werden lässt, einen Mann, der sonst nie krank wird, bekommt die junge Frau jene Aufgabe, die ihr Vorgesetzter jeden Tag Punkt 20 Uhr zu erfüllen hat: das Abendessen auf Zimmer 604 bringen. Dort lebt der Besitzer des Hotels, den sonst niemand zu Gesicht bekommt. Die junge Frau tut, wie ihr befohlen und trifft dort einen gepflegten älteren Herrn, der zu wissen scheint, dass sie 20 wird. Zu ihrer Überraschung ermuntert der Mann sie, einen Wunsch zu fassen, ohne ihn auszusprechen. Er verspreche ihr, ihn zu erfüllen.

Einmal einen Wunsch haben. Märchen sind voll davon. Auch mit Warnungen davor. Jeder weiss, wie in Märchen Wünsche die Betroffenen zerstören können. Warum sind Kinder voll mit Wünschen? Warum scheinen sich Wünsche mit dem Alter zu verflüchtigen? Schenken oder zerstören Wünsch mehr? Sind wir nicht die, die wir sind und Wünsche zweck- und sinnlos?
Grosse Fragen in einem schmalen Band!

Ein Geschenk Haruki Murakamis und Kat Menschiks an mich und all jene, die sich verführen lassen. Das ideale Geschenk für alle zwischen 20 und 100!

Haruki Murakami, 1949 in Kyoto geboren, lebte über längere Zeit in den USA und in Europa und ist der gefeierte und mit höchsten Literaturpreisen ausgezeichnete Autor zahlreicher Romane und Erzählungen. Sein Werk erscheint in deutscher Übersetzung im DuMont Buchverlag.

Kat Menschik, 1968 geboren, lebt als freie Illustratorin in Berlin und im Oderbruch. Ihre Zeichnungen erscheinen regelmäßig in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung. Für DuMont illustrierte sie Haruki Murakamis «Schlaf» (2009) sowie «Die Bäckereiüberfälle» (2012) und Ernst H. Gombrichs «Eine kurze Weltgeschichte für junge Leser» (2011). Der immerwährende Kalender «Das Variable Kalendarium» erschien 2012.

Anne Weber «Kirio», S. Fischer

Anne Weber fragt: «Wie kommt es, dass Literatur so sehr vom Bösen fasziniert ist? Wäre das Gute nicht viel rätselhafter? Gibt es für das Gute ebenso einleuchtende Erklärungen wie für das Böse; fehlende Liebe, Verletzungen und Enttäuschungen aller Art?» «Kirio», der dem neuen Roman der Schriftstellerin seinen Namen gibt, ist ein Mensch ohne Arg.

Was macht den Durchschnittsmenschen aus? Die massvolle Ansammlung aller möglichen Eigenschaften? Dass es Menschen gibt, die über besondere, nicht immer gute Eigenschaften verfügen, beweisen die Medien erschreckend. «Kirio» ist die Geschichte eines jungen Menschen, dem gewisse «Fähigkeiten» und Eigenschaften wie Machtstreben, Gier, Härte und Erfolgsstreben gänzlich fehlen. Der Urtypus Antiheld, dem alles fehlt, was den Menschen sonst antreibt, vielleicht sogar die Liebe. Kirio, der im Irrenhaus landet nach einem angeblich missglückten Kidnapping des französischen Präsidenten.

Erzählt wird die Geschichte von einer geheimnisvollen Stimme aus dem Äther, einer allgegenwärtigen, die sich selbst zu wundern scheint, dass die Spezies Mensch ein so rares Exemplar hervorbringen kann, eine Figur, die an den heiligen Franziskus erinnert, der mit Tieren sprach.
Kirios Leben verläuft schon im Bauch seiner Mutter nach anderen Regeln. Kirios Geburt wird von einer Stimme am Telefon angekündigt. Es wird eine ausnehmend leichte Geburt, eher Rückenwind verursachend. Die Geburt selbst vollzieht sich im Auto in einem Strassentunnel unter dem Druck der Berge über ihnen. Mit drei Jahren kann Kirio lesen und schreiben und mit sieben soll er in die Klavierklasse am Konservatorium angemeldet werden. Aber Kirio will lieber Flöte spielen, nach seiner Pfeife tanzen. Und noch zwei ganz spezielle Eigenschaften Kirios; er kümmert sich nicht um das Urteil anderer und ist nicht an Konventionen interessiert. Was Kirio jedoch am meisten auszeichnet, ist seine Fähigkeit «Wunder» auszulösen, ohne dass er es selbst bemerken würde. Er verhindert schon als kleines Kind einen Mord durch einen Schrei. Grosse und kleine Wirkungen, ohne dass Kirio sich dessen bewusst wäre. Und wenn er dann später in der Schule als Störefried gilt, dann nicht beabsichtigt oder aus Böswilligkeit, sondern nur schon deshalb, weil er sich im Handstand oder das Rad schlagend fortbewegt, selbst im Klassenzimmer. Sein wirkliches Gesicht aber zeigt Kirio, wenn man ihm begegnet, wenn Menschen nach einer Begegnung merken, wie ihnen unwillkürlich das Herz aufging. Kirio hört zu, allem und jedem, auch einem Tier oder einem Stein, ohne Misstrauen, ohne Hintergedanken, ohne Absicht.
Mit sechzehn haut er ab, geht weg, um irgendwann und irgendwo stehen zu bleiben. Menschen begegnen ihm, berichten von ihm, wundern sich, lieben ihn, ohne ihn zu verstehen, aber mit dem Gefühl, erkannt worden zu sein. «Durch Kirio erhielt die Menschheit Botschaft vom Mars oder von noch weiter weg, von der Herkules-Zwerggalaxie vielleicht, oder von der Kleinen Magellan’schen Wolke: aus einer unbekannten Welt.»

Obwohl in diese Welt geboren, ist Kirio nie wirklich Teil von ihr. Anne Weber interessiert sich für die Wellen, die dieses Leben verursacht, den Schweif, den es hinter sich herzieht. Der Roman klärt nicht auf, bringt mich als Leser kaum in die Nähe Kirios. Kirio bleibt unfassbar, ein Rätsel, unerklärbar für alle, die ihm begegnen auf seiner Odyssee durch eine immer neue Welt. Vielleicht ist Kirio ein Gegenentwurf zum modernen Menschen und der Roman eine Versuchsanordnung mit der Frage, was geschehen würde, wenn jemend ohne Arg nur nach seiner eigenen «Flöte» tanzt. Mit Sicherheit hatte Kirio laut einem Interview ein reales Vorbild, einen Menschen in der Umgebung der Autorin, der ihr ein Rätsel blieb.

Anne Weber interessiert sich für das, was den Menschen ausmachen würde, aber immer mehr zu verschwinden droht. Schon in ihrem vorletzten Roman «Tal der Herrlichkeiten» war es eine Liebesgeschichte der besonderen Art; die Liebesgeschichte zweier Verlorener, zweier verletzter Seelen, die sich treffen und wieder verlieren. So wie sich das Leben Kirios verliert. Anne Weber schreibt anders. So wie sich die Liebenden in «Tal der Herrlichkeiten» oder Kirio nicht um Konventionen scheren, so scheint sich ihr Erzählen nicht an Konventionen zu halten. «Kirio» scheint unbekümmert erzählt, vielleicht weil die Autorin selbst etwas von Kirios kindlich scheinenden Wesenszügen hinüberretten konnte. Kirio ist kein Heiliger, aber ein Mensch ohne Masken. Vielleicht zeichnet Anne Weber jenen Rest, der vom Paradies in den Menschen übrig geblieben ist. «Qui rit» heisst «der lacht», «Kyrios» «das Göttliche, Übermenschliche».

Anne Weber macht Lesen zum Abenteuer.

Anne Weber, geboren 1964 in Offenbach, lebt als Autorin und Übersetzerin in Paris. Zuletzt erschienen bei S. Fischer «Kirio», «Ahnen», «Tal der Herrlichkeiten», «August» und «Luft und Liebe». Ihr Werk wurde unter anderem mit dem Heimito-von-Doderer-Preis, dem 3sat-Preis, dem Kranichsteiner Literturpreis und dem Johann-Heinrich-Voß-Preis ausgezeichnet. Ihre Bücher schreibt Anne Weber auf Deutsch und Französisch.

Ein Interview mit Anna Weber über ihren Roman «Kirio» auf der Verlagswebseite

Titelbild: Sandra Kottonau

Drei Tipps aus dem Koffer!

Nach drei Tagen literarischem Dauerfeuer bleibt die Frage, was geblieben ist, was bleiben wird, was überrascht hat und Lust auf mehr machte. Man spürte das Bemühen der Festivalleitung, frischen Wind und frisches Blut zuzulassen, die Bühnen aufzutun, sich selbst und den Besuchern zu beweisen, dass der Literaturbetrieb kein in sich geschlossener Club ist.

Auch wenn Terézia Mora, die Preisträgerin des diesjährigen Solothurner Literaturpreises und «herausragende Autorin des 21. Jahrhunderts» bei einem Gespräch meinte, Literaturtage wie diese seien schon eine schweizer Spezialität. Nur schon wegen seiner Grösse und der schieren Masse an Schreibenden sei in Deutschland eine vergleichbare Veranstaltung unmöglich. So sind die Solothurner Literaturtage alles; ein «Familientreffen», bei dem man höflich beiseite rückt, wenn sich Peter Bichsel an den langen Tisch vor dem Restaurant Kreuz setzt, grosse Bühne, wenn Autoren wie Terézia Mora, Alex Capus oder Franzobel lesen oder Bühne für fast alle, die sich trauen, auch wenn dann kaum jemand zuhört.

In meinem Koffer, den ich voller wieder mit nach Hause trug, sind drei Überraschungen, drei Bücher, die ich noch nicht gelesen habe, die mich aber nach Lesungen und Gesprächen nicht nur neugierig machen, von denen ich jetzt schon weiss, dass sie mich überzeugen werden.

«Seit ich fort bin» von Henriette Vásárhelyi   Mirjam packt ihre Koffer. Sie reist zur Hochzeit ihres Bruders, zurück in ihre Heimatstadt. Mit im Gepäck fahren viele Erinnerungen, Erinnerungen an Verlorenes, Erinnerungen, die Mirjam nicht loslassen. Erinnerungen an eine Freundin, die sie verlor, Erinnerungen an eine Heimat, ein Land, das es so nicht mehr gibt. «Der Schmerz ist nicht der, dass es gute und schlechte Erinnerungen gibt, sondern dass man sie nicht wirklich teilen kann.» Ein Roman über eine Freundschaft, die Spuren in Tagebüchern zurückliess, über zwei Menschen, die sich im Sumpf der Erinnerungen verloren, obwohl sie sich zu retten versuchten. Ungeheuer stark in ihrer Sprache! Mehr als der Beweis dafür, dass der Platz auf der Shortlist des Schweizer Buchpreises mit ihrem Debütroman «immeer» kein Zufall war. Beide Romane sind im Dörlemann Verlag Zürich erschienen, dem «Verlag des Jahres 2017»

«Tram 83» von Fiston Mwanza Mujila   Der Autor ist 1981 in Kongo geboren und lebt seit 2009 in Graz, wo er afrikanische Literatur an der Universität unterrichtet. Fiston Mwanza Mujila nennt seinen ersten Roman «ein Buch über die Liebe und die Einsamkeit». Eine heruntergekommene afrikanische Grossstadt, in der jeder nur das eine Ziel hat; möglichst schnell viel Geld machen, egal wie. «Tram 83» ist der einzige Nachtclub in der Stadt, die Bühne seiner Geschichte. Ein Schmelztiegel, eine Hölle, ein Pulverfass, ein Nabelloch, wo sich zwischen Verlierern und Gewinnern, Profiteuren und Prostituierten, Ex-Kindersoldaten und Studenten zwei ungleiche Freunde wiedertreffen; Lucien, der Schriftsteller und Requiem, der Gauner. Auf der Bühne des Solothurner Stadttheaters spielte, sprach, schrie, lachte und sang der Autor seinen Text. So ganz anders als die teils steifen Wasserglaslesungen, die sich zur Pflichtübung reduzierten. Fiston Mwanza Mujila lebte seinen Text, machte sich zum Instrument, stülpte sein Inneres nach Aussen, an diesem Nachmittag nur duch ein Saxophon besänftigt.

«Das Floss der Medusa» von Franzobel   8. Juli 1816: Vor der afrikanischen Westküste werden 15 von ursprünglich 147 Menschen, die nach einer Schiffskatastrophe auf einem 20 Meter langen Floss überlebten in ein rettendes Schiff geborgen. Nach zwei grauenhafte Wochen, langes, unsägliches Leiden und Sterben. Franzobel selbst ist eine Landratte, nicht nur weil Österreich an kein Meer mehr grenzt, aber fasziniert vom Schrecken und Ekel, von Extremsituationen, wenn Grenzen gezogen werden, Gruppen sich gegenseitig bedrohen und über sich herfallen, wenn hinter Fassaden der Moral, die Situation zu kippen beginnt. Fast unglaublich ist die Tatsache, dass der Stoff auf den Schriftsteller Franzobel zu warten schien und verstörend, weil nichts am Schrecken der Geschichte erfunden werden muss, denn alles ist durch zwei Überlebende der Schiffskatastrophe historisch verbürgt. Gewartet hat der Stoff, weil der Schrecken und die Brutalität der Geschehnisse nur durch die Überzeichnung ins Groteske zu ertragen sind. Etwas, das Franzobel als Fähigkeit auf den Leib geschnitten ist.
Der Skandal ist nicht, dass die Überlebenden aus purer Verzweiflung auf dem Floss das Fleisch der Leichen assen, sondern, dass schon nach 50 Stunden genau jene Moral unterging, die die europäischen Siedler nach Afrika bringen sollten. Wer überlebt ein solches Drama? Welcher Typ Mensch? Ist es der Charakter oder schlicht die Aufgabe eines Menschen, so wie auf dem zurückgebliebenen Wrack des Schiffes, auf dem drei Matrosen überlebten, zwei dem Wahnsinn verfielen und der dritte bei Sinnen blieb, weil er die Verrückten an den Masten band und es sich zur Aufgabe machte, sie nicht sterben zu lassen.
Franzobel fabuliert lustvoll, virtuos und üppig, sich an den Szenen erlabend, stets mit dem Blick des Betrachters aus dem 21. Jahrhundert. Franzobel suhlt sich in Gerüchen, dem Gestank auf dem Schiff, den Leiden der Passagiere. Zugedröhnt von Wohlleiblichkeit wühlt Franzobel in der menschlichen Hinfälligkeit. Ekel, Schreck und Katastrophe sind nur durch Humor zu ertragen. «Humor ist die einzige wahre Religion der Ungläubigen.»
Man kann Franzobels «Das Floss der Medusa» als Abenteuer- oder Katastrophenroman lesen. Genauso gut aber auch als Allegorie auf unsere Zeit. Ein pralles Buch, vielleicht Franzobels Opus magnum.

Titelfoto: „Dokumente“ ©️ Philipp Frei

Literatur in Solothurn, Literaturn auf Solotour

Zum 39. Mal treffen sich Schreibende und Lesende an der Aare zu den Solothurner Literaturtagen. «Die Nabelschau» der aktuellen CH-Literatur. Wer nicht eingeladen ist, tut sich schwer. Und wer eingeladen ist, hofft, dass nun endlich geschieht, worauf man so lange schon wartet.

Die aktuellen Grossen sind da; Urs Faes mit seinem Fahrtenbuch einer Krankheit «Halt auf Verlangen», Lukas Bärfuss mit seinem Roman «Hagard», Jonas Lüscher mit dem Roman eines Verlierers «Kraft», die Westschweizerin Pascal Kramer, die man mit ihrem Preis feiert, Tim Krohn mit dem ersten Band seines Riesenprojekts «Menschliche Regungen» und andere mehr.

Die Perlen, deren Glanz man noch entdecken muss, sind andere. Vielleicht nicht einmal jene, die man nach Solothurn eingeladen hatte. Letztlich bleibt es eine Auswahl, die dort an der Aare liest, diskutiert und debattiert. Ich sprach schon mit Schriftstellerinnen und Schriftstellern, die sich verschmäht fühlen, missachtet, zu weit weg, die sich mockieren, auch gerne Erklärungen liefern, warum einmal mehr diese und jene Gegend untervertreten ist.

Doch es gibt nur eine Person, die wieder an den Literaturtagen fehlt – fast jedes Mal – der man mit Sicherheit zu wenig Beachtung schenkt, die es verdient hätte, dass man ihr hofieren würde. An zwei Ausgaben der Solothurner Literaturtage lud man sie ein. Dann war das Unternehmen wohl zu teuer, zu gefährlich, zu unkontrollierbar. Die Leserin und den Leser. Klar doch, die Besucher strömen zu Tausenden. An einem Sommersonnenwochenende wie diesem sowieso. Aber sie zahlen und bleiben draussen. Ein bisschen wie im Zoo. Als Besucher begegnet man den Schreibenden, staunt, wie klein, rund, alt und schüchtern sie sein können. Aber alle bleiben auf ihrer Seite. Die Lesenden da, die Schreibenden dort.

Zweimal fand die Festivalorganisation den Mut, Lesende und Schreibende auf der Bühne zusammenzubringen. Da sassen dann Lesezirkel und Leserunde mit Aurorin oder Autor hinter Mikrofonen und es knisterte. Ich erinnere mich gut an die Runde um die italienische Schriftstellerin Michela Murgia, die noch lange in der Gasse zusammen an einem Tisch sass und fortsetzte, was im Palais Besenval vor Publikum seinen Anfang nahm. Es war ein Happening, eine echte Begegnung mit purer Freude und Begeisterung.

Was ist die Literatur ohne jene, die die Bücher lesen? Ohne jene, die andern von ihrer Lektüre vorschwärmen und die Begeisterung so weitertragen? Ohne jene, die Literatur zu einem wichtigen Teil ihres Lebens machen, einen unverzichtbaren Teil, der aber meist in aller Stille zelebriert wird, nie auf der Bühne, nie auf Anerkennung wartend? Ohne jene, die zuhause ihre Bibliothek wie einen heiligen Ort betreten, denen Bücher zu freundschaftlichen Begleitern werden? Wenn Literatur nicht bloss ein Geschäft, Kommerz sein soll, wenn man Literatur als Begegnung verstehen will, als Stimme, Sound, Heimat  und Zuhause, dann hätte wohl kaum eine Kunstrichtung wie sie so sehr die Chance und Möglichkeit «Produzent» und «Konsument» zusammenzubringen. Und Literaturtage wären so ein Ort, an dem es mehr als bloss Applaus und die nette Geste des Signierens gäbe.

Ich freue mich trotzdem und danke der Festivalorganisation für all die dargebotenen Leckerbissen!

39. Solothurner Literaturtage: Manchmal heiss, manchmal lau

Freitag, erster Tag an den Solothurner Literaturtagen. Die Menschen strömen in Säle und Räume, obwohl draussen die Sonne scheint. Auch wenn dem Literaturfestival kein Thema voransteht, versucht man sich angestrengt, den drängenden Fragen der Zeit Raum zu geben; die aktuelle Flüchtlingskrise, wie viel Optimismus die Gegenwart erlaubt und was Fake-News, Populismus und Nationalismus mit der Welt anrichten.

Kathy Zarnegin, die mit ihrem ersten Roman «Chaya» die Geschichte eines jungen Mädchens erzählt, das Teheran verlässt, um in Zürich Schriftstellerin zu werden, sitzt zwischen Ilija Trojanow, dem engagierten Schriftsteller, Verleger und Sachbuchautor und Jonas Lüscher, der nicht erst mit seinem zweiten Roman «Kraft» in aller Munde ist. Ein Gespräch wie ein Paukenschlag zu Beginn der Literaturtage. Ein Gespräch, das klar macht, wie schmerzhaft die Position der Schreibenden sein kann, allein zwischen Geschehen, Fiktion und dem leeren Blatt Papier. Ilija Trojanow nimmt kein Blatt vor den Mund, gibt sich bissig und unnachgiebig, ist überzeugt davon, dass die meisten Politiker von den wahren Problemen der Menschheit ablenken, dass wir in einer Dauerhysterie leben, angestachelt von Politikern und Demagogen, die Ängste schüren. Ausgerechnet in Europa, einer Weltgegend, die sich wie keine andere in nie dagewesener Sicherheit und unanständigem Reichtum abschottet. Trojanow ist klar und unmissverständlich, versteckt sich nicht hinter Begriffen und geschliffenen Sätzen. Er sprudelt, ohne Gespenster an die Wand zu malen. In seinem Buch «Nach der Flucht» erzählt er aus der Perspektive eines ewig Flüchtenden. «Der Flüchtling ist meist ein Objekt. Ein Problem, das gelöst werden muss. Eine Zahl. Ein Kostenpunkt. Ein Punkt. Nie ein Komma. Weil er nicht mehr wegzudenken ist, muss er ein Ding bleiben. Es gibt ein Leben nach der Flucht. Doch die Flucht wirkt fort, ein Leben lang.»

Ebenso eindringlich und beeindruckend der Autritt von Dina Sikirić mit ihrem Debütroman «Was den Fluss bewegt». Dina Sikirić kam zusammen mit ihrer Mutter als kleines Kind von Zagreb nach Basel. In ihrem Roman schreibt sie aus der Sicht eines fünfjährigen Mädchens, äusserst behutsam. Sie schreibt vom schmerzhaften Pendeln zwischen Heimat und Aufenthaltsland. Sie zeichnet Träume und Gefühle, die Welt eines Kindes, das es schafft, sich nicht zu verlieren. Die Geschichte eines Kindes, dem das Fremdsein mehrfach auferlegt wird und aus dem Kampf dagegen, der Sehensucht nach Nähe und Freundschaft einen Lebensmut entwickelt, den ich bis tief im Schreiben der Autorin spüre. Der Saal war so voll, dass man Besucher wegschicken musste.

Dass es aber auch schwierig sein kann, fast unmöglich, bewies ein Gespräch zwischen Jonas Lüscher, der jungen deutschen Schriftstellerin Olga Grjasnowa, die mit ihrem Buch «Gott ist nicht schüchtern» das Schicksal zweier Flüchtenden aus Syrien erzählt, dem Journalisten und Korrespondenten Peter Voegeli und dem Literaturredaktor Hans Ulrich Probst. Das Thema eigentlich wäre spannend gewesen: «Die Macht der Geschichten». Aber ganz offensichtlich liess sich das Gespräch nicht in jene Bahnen lenken, die das Publikum 75 Minuten in den Bann hätte ziehen können. Ein Gespräch, das übel dümpelte, bei dem niemand das Steuer herumzureissen wagte, dafür bis zur Unerträglichkeit in Banalitäten waberte. Ein voller Landhaussaal wartete auf engagierte Statements, darüber, was sich jeder Schreibende erhofft, mit Sicherheit die drei Autoren auf der Bühne, die von ihren Geschichten leben, auch von der Macht ihrer eigenen Geschichte.

Mein ganz persönlicher Favorit des ersten Tages ist Martina Clavadetscher mit ihrem ersten Roman «Knochenlieder», eben besprochen auf literaturblatt.ch. Martina Clavadetscher ist eine Entdeckung, ihr Roman ein sprachliches Kunstwerk, ihr Auftritt erfrischend.

Buchhandlung des Jahres 2017: Buchhandlung zur Rose, St. Gallen

Die Buchhandlung zur Rose, einen Steinwurf von der Klosterkirche St. Gallen entfernt, ist Buchhandlung des Jahres 2017, ein mit 5000 Franken dotierter Preis des Schweizer Buchhändler- und Verleger-Verbandes SBVV.

Genau das, was es braucht, um ins Bewusstsein zurückzurufen, wie viel Herzblut, Engagement und Leidenschaft es braucht, einen unabhängigen Buchladen zu führen, über so viele Jahre bestehen zu bleiben, Kundinnen und Kunden mit Qualität, Fachwissen und Geheimtipps weg vom Mainstream zu überzeugen. Sich dabei stets treu zu bleiben und nicht zu einem der bunten Gemischtwarenläden zu mutieren, der neben Olivenöl, Taschen und unsäglich vielen Nippes und Unnützlichkeiten auch noch Bücher verkauft. Leonie Schwendimann erzählte, dass da durchaus einmal die Idee da war, in einem der hinteren Räume ein Café einzurichten. Aber warum ein Café, wenn man in Hörweite einen Kaffee an der Sonne trinken kann? Warum Kaffeetassen abräumen, Gläser trocken reiben und Tische abwischen, wenn dabei Bedienungs- und Beratungszeit an Buchinteressierten verloren geht? Es reicht, wenn das die übermächtige, grosse Schwester tut, die sich in fastnichts mehr vom grossen Eventkaufhaus unterscheidet. Wenn in der Kleinstadt eine Buchhandlung Kaffee und Kuchen anbietet und das Sitzen und Verweilen möglichst genussvoll gestalten will, verstehe ich das gut. In kleinen Orten ist die einzige Buchhandlung am Platz viel mehr als eine Buchhandlung, sondern sehr oft der einzige Ort, wo der Konsum nicht im Vordergrund steht, sondern die Begegnungen. Mich ärgert in «Buchhandlungen» nichts mehr als Personal, das selbst nicht liest, ein Sortiment, das alles abzudecken versucht und ganze Wände am Eingang, die bloss den Bestsellern huldigen, die eigentlich keine Werbung mehr brauchen. Auf den Fenstersimsen der Buchhandlung zur Rose stehen all die kleinen Perlen, die in den Bestsellerlisten verloren gehen, von Verlagen, die nicht mit der grossen Kelle anrühren können, von Autorinnen und Autoren, die mich mich mit Sprachkrunst betören, nicht mit dick aufgetragenen Stories aus Welten, die die Realität vorgaukeln.

Ich gratuliere von ganzem Herzen und wünsche der Buchhandlung zur Rose mit ihrem Team einen langen Atem. Dort fühle ich mich zuhause!

Begründung der Jury:
„Bei knapp 75 000 Einwohnern gibt es sieben Buchhandlungen: Das macht St. Gallen zu einer der Städte mit der höchsten Buchhandelsdichte in der Schweiz. Und dennoch heben wir eine heraus; nach der Nomination in der ersten Runde «Buchhandlung des Jahres» nun zum zweiten Mal: Die Buchhandlung zur Rose, 2005 von Leonie Schwendimann als Quartierbuchhandlung gegründet. Nicht nur der schöne Ort selbst in der Gallusstrasse überzeugt: Im kleinen Hauptraum wird eine feine Auswahl aus dem allgemeinen Sortiment präsentiert – ansprechend aber unaufgeregt, vielleicht mit einer solitären Vase als Dekoration. Einen ganz besonderen Charme haben der kleine Nebenraum, der für die Kinder- und Jugendbücher reserviert ist, und natürlich der «Cave Littéraire», wo regelmässig Lesungen, Buchpräsentationen und Konzerte organisiert werden. Leonie Schwendimann und ihr Team überzeugen bei allem was sie tun mit ihrem Engagement, ihrem Charme und Charisma. Die Kunden kommen gerne in den Laden (auch die Vertreter) und es gibt beste Beziehungen zu allen St. Galler Institutionen und Bibliotheken. In über zehn Jahren ist die «Buchhandlung zur Rose» so zu einer richtigen Institution in der Ostschweizer Hochschulstadt geworden.“

Leonie Schwendimann, Günderin und Geschäftsführerin, Alexandra Elias-Zurflüh, Isabell Husistein

Konrad Pauli «Verweilskizze»

Verweilskizze

Auch das gehört dazu: Die Kübelpalmen vor dem Ticino gaukeln Südliches vor. Nicht dass man immerfort daran hinge. Es sind die Klischees, die, ohne mein Dazutun, ihre Macht ausüben. Kein Zwang freilich, vielmehr ein Spiel, immer Erinnerungen der Ferne hervorlockend. Genauigkeit ist nicht zwingend. Es ist mehr ein entspanntes Umherstreifen und Zulassen. Greift nun ein kühler Wind über meinen Rücken in die Palmenblätter, ist’s plötzlich auch ein Nördliches. Die Jacke, die man soeben aufgeknöpft hat, wird wieder enggezogen. Harmloses erhält bestimmend Gewicht. So ist das Verweilen gesättigt von Aufmerksamkeit und Gegenwart. Weder geschieht Besonderes noch langweilen die Auftritte der Passanten. Wie Statisten stehen die Wartenden an der Tramstation. Vergeblich zähmen junge Frauen ihr langes Haar im Wind, aber die Geste ist voller Anmut. Ein Kleinkind stolpert über den Gehsteigrand. Die Mama ist froh, dass sie nicht allzu sehr trösten muss. Am Ende der Strassenflucht wachsen weisse Wolken in die Höhe: Vorboten des Sommerlichen. Ein Bus wartet, die Anschrift verlangt: Nicht einsteigen. Soldaten eilen urlaubsfroh zur Station. Der Wind flaut ab, sofort übernimmt die Wärme das Szepter: Die Jacke wird wieder aufgeknöpft. Erwartungen sind stillgelegt; es genügt, wenn gleichwelche Forderungen wieder aufleben. Die Zeit steht still – und eilt doch davon.

Konrad Pauli, 1944 in Aarberg in der Schweiz geboren, arbeitete nach der Ausbildung zum Lehrer wiederholt in Zeitungsredaktionen. Der Autor lebt in Bern und veröffentlichte bislang neun Bücher. Zuletzt erschienen „Ein Heldenleben“, „Seit jeher unterwegs“, „Marcos Blicke in Seeland“ und „Weitergehen“.

Titelbild: Sandra Kottonau

Wolfgang Bortlik «Blutrhein», Krimilesung in Winterthur

Donnerstagabend, kein Regen, die Gassen der Winterthurer Altstadt sind voll mit Menschen und Ständen. Und trotzdem bleibt das Grüppchen Neugieriger in der Buchhandlung «Buch am Platz» mehr als überschaubar. Dabei liest Wolfgang Bortlik aus seinem neuen Kriminalroman «Blutrhein». Ein Krimi, der mehr ist als ein dünnes Geschichtchen mit viel Brutalität und Effekt.

Es ist Wolfgang Bortliks 7. Roman, sein 2. Krimi, nachdem er 2015 beim Gmeiner-Verlag bereits mit «Spätfolgen» einen Krimi mit dem Discountdetektiven Melchior Fischer veröffentlicht hatte. Melchior Fischer, in seiner Freizeit leidenschaftlicher Fussballer, verdient seinen Lebensunterhalt als Verkäufer in einer wenig frequentierten Architektur-Buchhandlung in der Basler Innenstadt und Aufträgen und Zuwendungen eines schrulligen Professors, der Fischer mit der Organisation einer neuen Partei beordern will, die endlich mit dem Filz in der Stadt am Rheinknie aufräumen will.
Da geschehen Morde in der Stadt. Während die Basler Highsociety im

Schauspielhaus der griechischen Tragödie huldigt, wird vor dem Gebäude, zwischen den rostroten Stahlplatten Richard Serras der beliebte sozialdemokratische Regierungsrat Burckardt erstochen. Es ist der erste von drei Toten, aber jener, dessen Akte bei Kriminalkommissar Gsöllpointner den Namen «Blutrhein» bekommt. Gsöllpointner, ein eingewanderter Münchner, wird Ermittler in dem dubiosen Fall, bei dem schon das Motiv zu fehlen scheint. Und weil Fischer und Gsöllpointner in der selben Kickermannschaft spielen, ergibt eines das andere. Erst recht, nachdem klar wird, das die ersten beiden Opfer und Fischer einst in ihrer wilden Jugend miteinander zu tun hatten.

Wolfgang Bortlik liebt seine Figuren. Und ein Krimi lässt den Autor in ganz spezieller Art auf die Protagonisten einwirken. Der Krimi ist voller Nebenschauplätze, die fast alle in Basel spielen. Voller Seitenhiebe Richtung Basler Aristrokratie und Grosschemie, wohl wissend dass es in Basel zwei heilige Kühe gibt; die Basler Fasnacht und den FC Basel. So ist Fussball ein Thema, die angeschlagene Gesundheit Fischers, das bourgoise Basel, Geld und Kultur, die Chemie, die sich in Basel einiges erlauben kann, weil es sich Stadt und Kanton mit der gewichtigen Industrie nicht verscherzen dürfen, Kultur- und Politfilz, Musik und die etablierte Literatur, geschlipstes Kader und wenig dezent parfümierte Sekretärinnen. Wolfgang Bortlik, der lange in einer Band Musik machte, singt auch während seiner Lesungen – und tut das so gut, dass er Zwischenapplaus verdient hätte. Was Wolfgang Bortliks Kriminalroman lesenswert macht, ist der bitterböse Witz, die Lust an der Sprache und die Tatsache, dass sich Wolfgang Bortlik nicht allzu ernst nimmt.

Der Abend mit Wolfgang Bortlik war die erste Lesung seit dem Führungswechsel in der Buchhandlung Buch am Platz. Seit über 30 Jahren steht die Buchhandlung in Winterthur, mitten in der Altstadt, für ein ausgewähltes Sortiment, grosses Engagement und eine persönliche Beratung. In den Statuten der Genossenschaftsbuchhandlung wurde 1983 festgehalten, dass Zweck des Ladens «die Verbreitung gesellschaftskritischer Literatur» ist. «Wir möchten Bücher in unseren Gestellen stehen haben, die Horizonte erweitern, zum Denken anregen und Vergnügen bereiten. Wir wählen sorgfältig aus und versuchen, soviel wie möglich selber zu lesen.»

Wolfgang Bortlik, geboren 1952 in München, lebt mit Unterbrechungen seit 1965 in der Schweiz, aktuell in Riehen bei Basel. Er hat bereits sechs Romane, einen Gedichtband und mehrere Sachbücher veröffentlicht, außerdem ist er als Rezensent und Sportdichter für die NZZ am Sonntag tätig. Seine Liebe zum Buch zeigt sich auch durch sein Engagement bei der Riehener Literaturinitiative Arena, wo er dem Vorstand angehört. »Blutrhein« ist sein zweiter Krimi im Gmeiner-Verlag.

Webseite der Buchhandlung

Webseite des Autors

Titelfoto: Sandra Kottonau

Lydia Daher «Kleine Satelliten», Maro Verlag

Am Dienstag, den 23. Mai, liest die Lyrikerin Lydia Daher um 19 Uhr in der Hauptpost St. Gallen im Raum für Literatur aus ihrem experimentellen Lyrikband «Kleine Satelliten». Eine Veranstaltung mit einer Künstlerin, der es zu gönnen wäre, wenn mehr als eine Hand voll Interessierter lauschen, schauen und entdecken würden.

 

Lydia Daher wagte ein ganz besonderes Experiment. Als sie sich vor einigen Jahren als Lyrikerin für Comics zu interessieren begann, stiess sie im Internet auf den Comickünstler Warren Craghead III. Sie las ein Buch, in dem Craghead Gedichtzeilen von Guillaume Appolinaire zeichnerisch umsetzte. Eine Form des Ausdrucks, die sie begeisterte. Sie nahm im Netz Kontakt mit dem amerikanischen Zeichner auf, schilderte ihr Kollaborationsprojekt und gewann das Interesse des Zeichners. Sie begann mit Schreiben. So schickten sich Lyrikerin und Zeichner Text und Bild via Mail hin und her, ohne sich je von Angesicht zu Angesicht zu treffen.

Entstanden sind spezielle Texte kombiniert mit eigenwilligen Zeichnungen. Worte und Sätze, die sich mit Strich und Figur zu einem Ganzen fügen. Texte, die sich nicht auf den ersten Blick entschlüsseln. Bilder, die erst durch den Text an Deutlichkeit gewinnen. Wort und Text, die untrennbar mit der Illustration zusammenhängen. Es sind filigrane Kompositionen, die zum Verweilen einladen, die einem zum Verweilen zwingen, die neugierig machen. Kompositionen, an denen ich hängen bleibe, im ersten Moment leicht und luftig, je länger, desto mehr an Schwere und Tiefe gewinnend.

Ich konnte Lydia Dahers Buch «Kleine Satelliten» nicht lesen wie sonst ein Buch. Es sind Miniaturen, die sich zu einem Ganzen fügen. Miniaturen, die kreisen, immer wieder, wie Satelliten, die ich vor mir ausbreiten musste, damit sie sich entfalten konnten. Ein ganz besonderes, ein gelungenes Experiment!

Die Performance vom 23. Mai 2017 in St. Gallen mit Bild und Ton wird auch deutsch vorgetragen. Seien Sie mutig und besuchen Sie die Veranstaltung!

Lydia Daher, geboren 1980 in Berlin, aufgewachsen in Köln, lebt in Berlin. Sie ist Lyrikerin und Musikerin und arbeitet allein oder gemeinsam mit anderen nationalen und internationalen Künstlern auch im Bereich der bildenden Kunst und des Hörspiels (z.B. BR Hörspiel und Medienkunst). Zudem ist sie regelmässig Kuratorin für spartenübergreifende Kulturveranstaltungen.