Urs Richle liest in der Handelsschule KV Aarau… und kein Student hört zu.

Sonntag um 11.

Die Literarische Vereinigung Aarau lädt zum Literaturapéro in der Aula des Pestalozzischulhauses in Aarau ein. Es liest Urs Richle, Schriftsteller, Medieningenieur, Forscher und Dozent am Schweizerischen Literaturinstitut in Biel. Ein gewichtiger Mann, der etwas zu den drängenden Fragen der Gegenwart zu sagen hätte. Aber die Jugend fehlt.

Leo ist Mitte zwanzig und wird bei einer nicht bewilligten Demonstration von einem Hartgummigeschoss derart unglücklich getroffen, dass er an den Folgen der Verletzung stirbt. Eine Demonstration gegen die Allmacht der Banken. Vielleicht ist das in Aarau anders. Vielleicht freut man sich dort derart über das 40-Franken-Willkomensgeschenk der Bank in der Nachbarschaft des Schulhauses, dass man nicht unbedingt einem «Nestbeschmutzer» zuhören will, der sich zu allerhand Gesellschaftlichem kritisch äussert. Vielleicht hat der Student an einem Sonntag einfach nicht die Lust, sich in einen Disput einzumischen, darüber nachzudenken, was mit einer Gesellschaft passiert, die sich dem Diktat der Technik anzuvertrauen droht.

Im Roman «Anaconda 0.2» von Urs Richle findet Leos Vater im verlassenen Zimmer seines Sohnes eine als Spieluhr getarnte Bombe. Während die Mutter am Tod ihres Sohnes zerbricht, stochert der Vater in den Überresten der Existenz seines Sohnes. Was er findet, bringt nur noch mehr Rätsel. Wer war sein Sohn? Wann verloren er und seine Frau ihren Sohn? Wem galt die Bombe im Zimmer des Sohnes?
In den 70er Jahren schrieb der DDR-Schriftsteller Ulrich Plenzdorf den Montageroman «Die Leiden des jungen W.» Ein Roman über einen Vater, der nach seinem «verschwundenen» Sohn sucht, eine schmerzhafte Suche, denn der Sohn ist tot und der Vater interessiert sich zu spät.
«Anaconda 0.2» ist auch eine Vater-Sohn-Geschichte. Und eine Geschichte darüber, was Künstliche Intelligenz und Big-Data-Konzerne mit der Welt anrichten könnten, wenn die Gesellschaft die Augen schliesst und nur das grosse Geld wittert. Ist das der Grund, warum kein Judendlicher, keine Schüler der Handelsschule an der Lesung teilnahmen? Wäre das Buch nicht genau der richtige Aufhänger gewesen für notwendige Diskussionen über die Zukunft der Jugend?
Urs Richle erzählt vom Kampf gegen die Ohnmacht und ist sehr davon überzeugt, dass der Kampf nicht aussichtslos ist. Leo hat die 26 Buchstaben des Alphabets zu seiner Waffe gemacht, einer Waffe gegen die bereitwillige Ergebenheit der Allgemeinheit.
Immer noch zu wenig Gesprächsstoff? Liest man heute keine Bücher mehr, die provozieren sollen?

Urs Richle ist Vater dreier Kinder. Seit 15 Jahren beschäftigt er sich mit Informatik, ursprünglich um dem ökonomischen Druck beim Schreiben zu entfliehen, mit dem Wunsch Drehbücher zu schreiben. Nun hat ihn das Thema so sehr gepackt, dass daraus 3 Romane werden sollen. 2010 erschien «Das taube Herz», die «abenteurliche Geschichte über den Menschheitstraum, eine denkende Maschine zu bauen». Im 18. Jahrhundert waren es die Apparatebauer mit Allmachtsphantasien, heute sind es Genwissenschaftler und Programmierer. Urs Richle bleibt zuversichtlich. Er ist kein Schwarzmaler, kein Pessimist. An diesem Sonntag in Aarau wäre eine heisse Diskussion im Anschluss an die Lesung erfrischend gewesen. Schade.

Urs Richle: «Solange es Leute wie Edward Snowden gibt, sind wir den Maschinen nicht unterlegen. Nur wenn wir uns nicht mehr getrauen, gegen gesetzte Regeln zu verstossen, werden sie überhand nehmen.»

Grossen Dank an die «Literarische» Aarau, die zu dieser Veranstaltung eingeladen hatte.

Webseite des Autors

Bild; Urs Richle

Fee Katrin Kanzler «Sterben lernen», Frankfurter Verlagsanstalt

Fee Katrin Kanzlers Sprache pulsiert, strotzt vor Leben. Ihre Geschichte, ihr Plan des Erzählens, erlaubt Wendungen, die Grenzen überschreiten. Ihre beinahe barocke Erzählfreude, die schon mit dem ersten Satz einen Markstein setzt, bezaubert ungemein, selbst wenn die Geschichte an Düsternis zunimmt.

Henry Jean-Toussaint Einstein (Was für ein Name!) lernt auf einer ausufernden Hochzeit ein Mädchen mit wild abstehenden Dreadlocks kennen und lässt sich von ihrem blauäugigen Blick betören. Joe reisst ihn aus seiner Welt. Einer Welt, mit der er sich eingerichtet hatte. Henry, der einmal die Welt retten wollte, um nun in einer Biolimofirma mit Anzug im eigenen Büro zu sitzen. Er, der trotz aller Sehnsucht nach Liebe den Draht zu seiner Frau und erst recht zu seiner dreizehnjährigen Tochter verloren hat. Die draedlockige Joe ist eine Abgewandte, arbeitet in einer Gärtnerei, wo sie mit Grabpflege auf dem Friedhof ihr Lehrlingsgehalt aufbessert. Joe mag den Friedhof, weil sie allein sein will. Joe schenkt Henry etwas von der Nähe, die er zu all jenen verloren hat, die ihm wichtig sein sollten, eine Nähe, die nicht zurückzugewinnen scheint. Dabei sehnt er sich nach nichts mehr, als sein Kind, seine Julia in die Arme zu schliessen.

Und dann reisst es Henry durch das Horn eines rasenden Stiers aus der Welt der Lebenden. Er schwebt wie ein Geist durch die Welt, ohne sich auf sie einzulassen, gleichsam angeekelt und fasziniert. Henry der Vater über die Welt hinaus. Henry als Formation von fliegenden Spatzen, Henry mit einem Mal ganz nah jenen, zu denen er alle Nähe verloren hat.

Fee Katrin Kanzler erzählt auch von Joe, eigentlich Johanna, einer Fünfzehnjährigen, der das Erwachsenwerden zu langsam dauert, die Gegenwart herausfordert, sich nicht weit von ihren in Pflichten eingespannten Eltern in den Dünen am Meer verliert. In den Armen eines deutschen Schriftstellers, Samuel, dem sie vorgibt siebzehn zu sein, in dessen Bett sie schlüpft und verkündet, die Nacht hier mit ihm zu verbringen.

Mag sein, dass der Erzählstrang in Fee Katrin Kanzlers Roman manchmal arg strapaziert wird. Wer sich aber nicht abwimmeln lässt, sich auf die Eigenarten des Textes einlässt, wird reich belohnt. Zum einen auch von der Geschichte, aber noch viel mehr von der Sprache, der unkonventionellen Art, wie sie erzählt. Fee Katrin Kanzler schreibt Perlenketten. An manchen Abschnitten hängt am Schluss ein dunkel schimmernder Edelstein. Es sind Sätze, die man mitnimmt, mit sich herumträgt, die hängenbleiben und eine ganz andere Halbwertszeit besitzen als das Meer der Sprache sonst. Während des Lesens animiert die Autorin eigene Traumbilder, Gefühle, die sich, zumindest bei mir, sonst nur bei Lyrik einstellen. Ihr Roman ist nicht leicht zu verorten. Während des Lesens brechen Bilder aus dem Text, zwingt mich die Lektüre zu einem Halt, als ob ich Luft holen müsste. Wo andere Bücher Sog und Spannung entwickeln, wehen Fee Katrin Kanzlers Bilder zusätzlich wie Böen durch den Kopf. Sie malt mit Sprache; da ein Fleck, eine Kontur, dort eine Linie, eine Textur. Langsam erschliesst sich das Gesamte, mit lyrisch zarten Farben genauso wie mit harten, schroffen Gegensätzen, Überblendungen arrangierend, von denen ich mich gerne verunsichern lasse.

Eine Entdeckung! LESEN und GENIESSEN!

Ein kurzes Interview:

Beim Lesen Ihres Romans passierte bei mir etwas, was sonst nur beim Lesen von Lyrik oder lyrischen Texten geschieht. Bilder, die kamen, waren ganz stark, farbig, manchmal verzerrt, der Realität enthoben. Und trotzdem «glaubte» ich ihrem Text. Ihre Sprache ist so intensiv, dass ich mir kaum vorstellen kann, dass da jemand schreibt mit einem Glas Wasser nebenbei und sanfter Musik. Wie schaffen Sie es, in ihrem Buch derartige Intensität zu erzeugen?
Tatsächlich meistens ganz schlicht am Schreibtisch mit einem Glas Wasser, Tee oder Kaffee. Manchmal läuft auch wirklich Musik. Sanft ist die allerdings nicht immer. Sprache sehr dicht und bildreich zu weben, auch einem Erzähltext diese musikalisch-lyrische Intensität zu geben, war schon immer mein Ding. Ich feile sehr viel an den Sätzen, justiere, so wie man ein Instrument stimmt. Was dabei vielleicht hilft, ist meine Synästhesie, Wörter sind für mich beinahe wie physische Gegenstände, die Farbe, Klang, Licht, Textur und ähnliche Eigenschaften haben können.

Auf Seite 185 schnüren Sie Ihre Geschichte an einen Fall in einer Ortschaft Markheim, die es nicht gibt, einen Ort, wo sich laut regionaler Presse die Männer mit Stieren anlegen, einer «Torerostadt». Liegt in einer ähnlichen Meldung die Initialgeschichte? Oder was veranlasste Sie, diesen Roman so zu erzählen?
Nein, es gab keine reale Zeitungsnachricht dieser Art. Vielmehr war es die Beziehung zwischen Henry und Joe, aus der sich der Roman entwickelt hat. Der knapp vierzigjährige Verkaufsleiter einer Biolimonadenfirma ist in der Midlife Crisis und trifft das fünfzehnjährige, aufrührerische Gärtnerlehrlingsmädchen. Zwei sehr unterschiedliche Menschen, die allerdings beide im bisherigen Leben enttäuscht wurden, und nun einen Ausbruch hinein in das Leben eines fremden Menschen wagen.

Sie machen es der Leserin oder dem Leser nicht wirklich leicht. Sie springen von Ort zu Ort, von Zeit zu Zeit. Und trotzdem hatte ich nie das Gefühl, etwas zu versäumen, weil immer die Sprache im Vordergrund stand, die Freude darüber, wie da eine junge Autorin fabuliert und zaubert. Hatten Sie einen Plan? Gab es Vorbilder?
Vorbilder kann ich keine nennen. Aber einen Plan hatte ich definitiv. Das ganze Buch ist so aufgebaut, dass langsam und von mehreren Seiten zugleich die Frage gelüftet wird, was zwischen Henry und Joe eigentlich geschehen ist und ob diese beiden Menschen eine Zukunft haben. Stück für Stück lernt der Leser beide Figuren, ihre Lebensumstände, Träume und Probleme kennen und verfolgt, wo ihre Geschichte die beiden hinführt. Das Ganze kulminiert in einer rätselhaften, geradezu überirdischen Erfahrung, die Henry und Joe miteinander verstrickt, und am Ende gibt es eine Auflösung. So viel zur Form. Inhaltlich möchte ich natürlich nicht zu viel verraten.

Fee Katrin Kanzler, 1981 geboren, studierte Philosophie und Anglistik in Tübingen und Stockholm. Sie war Stipendiatin des Klagenfurter Literaturkurses, erhielt den Förderpreis für Literatur der Stadt Ulm und das Jahresstipendium für Literatur vom Land Baden-Württemberg. Sie lebt im Süden Deutschlands. Ihr Romandebüt «Die Schüchternheit der Pflaume» (FVA 2012) wurde für den aspekte-Literaturpreis des ZDF nominiert.

Webseite der Autorin

(Titelbild: Sandra Kottonau)

Navid Kermani «Sozusagen Paris», Hanser

Navid Kermani, deutsch-iranischer Schriftsteller, Publizist und Orientalist, Träger vieler Preise, mit allem Recht den des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels 2015, ist eine Stimme, die sich einmischt. Ob als Berichterstatter aus Krisengebieten, als Begleiter von Flüchtlingen, als Redner oder gar als Kandidat eines hohen politischen Amtes schreibt und spricht er uns ins Gewissen. Umso erstaunlicher sein neuer Roman «Sozusagen Paris».

Ein Autor, eigentlich Navid Kermani, liest in irgendeiner deutschen Stadt aus seinem Buch. Nachdem man ihm freundlich applaudiert hatte und er sich fragt, was aus einem angefangenen Abend in der Provinz werden würde, stehen jene an, die ihr Buch gerne signieren lassen wollen. «Aber nicht für Jutta» schreckt ihn eine Stimme aus seiner Benommenheit. Die Frau, die neben ihm steht, war im Buch das Mädchen Jutta, das Mädchen einer Liebesgeschichte zweier Fünfzehnjähriger, aus der er eben vorgelesen hatte. Nach dreissig Jahren aus der Vergangenheit aufgetaucht, auch wenn sie im wirklichen Leben nicht Jutta heisst. Mehr aus Verlegenheit und Ertapptheit tröstet der Autor die Frau auf später, in ein paar Minuten, obwohl er weiss, dass Veranstalter und hiesige Kulturbeflissene auch noch ein Stück seiner Aufmerksamkeit beanspruchen werden. Später trifft er sie auf der Strasse vor dem Lokal, seine Romanliebe, dreissig Jahre älter. Irgendwann stehen die beiden in ihrem Wohnzimmer, sie mittlerweile Bürgermeisterin, verheiratet mit einem Arzt, Mutter halbwüchsiger Kinder. Man steht vor dem langen Regal mit Büchern, trinkt Wein, öffnet nach Mitternacht noch eine zweite Flasche, während der Ehemann unsichtbar ein Stockwerk höher an Arztrechnungen schreibt. Man trinkt und redet; vom Altern, von der Zeit, davon, dass wir den Dingen wie den Menschen mit inneren Augen begegnen, innerer Wahrnehmung, die sich nicht ans Objektive hält. Von der Liebe und davon, dass der Hass dazugehört, dass im Geliebten alles Heil und alles Übel liegt. Er von seiner Trennung, sie von ihrem Mann, der nach zwanzig Jahren Ehe unweigerlich nicht mehr der ist, den sie einst heiratete. Von den Vorstellungen dessen, was die Zeit bringen wird, im Kleinen auch in dieser Nacht, die sich der Autor in immer anderen Farben ausmalt. Während die Situation im Wohnzimer durch Wein und Rauch immer entrückter wird, die Gespräche immer offensichtlicher am Intimen vorbeischrammen, sitzt der Ehemann nebenan und schreibt Rechnungen.

Navid Kermanis Roman ist nicht die Wiedergabe einer Geschichte, ein nacherzählter Abend, auch nicht die Summe von Erinnerungen. So wie die beiden im Wohnzimmer vor dem Bücherregal stehen, scheint Navid Kermani vor einem imaginären Regal zu stehen. Aber im Vergelich zu den meist hübsch aussehenden Bücherwänden, sprechen die Autoren, mischen sie sich ins Denken des Autors ein, die grossen französischen Namen wie Proust, Flaubert, Balsac oder Standal. Unglaublich, mit welcher Vehemenz sich die Stimmen einmischen. Als wäre es im Kopf des Autors während des Gesprächs dauernd laut, als müsste er sich in einem fort darauf konzentrieren, das Wichtigste herauszufiltern.

«Sozusagen Paris» ist ein ungeheuer gescheites Buch, eine Mischung aus Essay und Roman, viel mehr als gute Unterhaltung. Ein Buch, das es lohnt, in kleinen Häppchen gelesen zu werden. Ein Buch, das anspornt, etwas zu sagen hat. Ein Buch mit Witz, das mit Erzählebenen spielt und in pures Lesevergnügen mündet, wenn Kermani zum wiederholten Mal mit seinem fetten Lektor hadert, dem er während des Abends im Geiste schon mit seinem neuen Roman gegenübersteht, diesem Fleischberg, der allerdings viel mehr als bloss Fettflecken im Manuskript zurücklässt.

Klar, wer die französischen Klassiker kennt, dem mehrt sich das Vergnügen!

Navid Kermani, geboren 1967 in Siegen, lebt in Köln. Für sein literarisches und essayistisches Werk erhielt er unter anderem den Kleist-Preis, den Joseph-Breitbach-Preis und 2015 den Friedenspreis des deutschen Buchhandels. Zuletzt erschienen bei Hanser «Dein Name» (Roman, 2011), «Über den Zufall» (Edition Akzente, 2012), «Große Liebe» (Roman, 2014), «Album» (Das Buch der von Neil Young Getöteten / Vierzig Leben / Du sollst / Kurzmitteilung, 2014) und  «Ayda, Bär und Hase» (2017) ist sein erstes Buch für Kinder

Am 24. Januar liest Navid Kermani im Kaufleuten in Zürich. Moderiert wird der Abend von Martin Ebel, Tages-Anzeiger

Evelina Jecker Lambreva «Nicht mehr», Braumüller

Gertrud hatte es versucht. Doch beim Vorstellungsgespräch hiess es: «Ich bitte sie, wie sie aussehen.» Kilian ordert man auf acht Uhr in den Konferenzsaal zwei, um ihm nach zehn Jahren Arbeit nach fadenscheinigen Sätzen mitzuteilen, innerhalb 30 Minuten sein Büro zu räumen.

Es sind die Schicksale von Gertrud, einer älteren, einsamen Frau. Von Linus und Jasmin, einem Paar, das sich aus den Augen verlor. Und von Nicole und Kilian, sie überforderte Mutter, er tyrannisiert vom infernalen Scheppern Tausender Münzen in seinem Kopf. Evelina Jecker Lambreva erzählt langsam, schildert die Enge, die Unerträglichkeiten, die Geschichten bis tief in die Vergangenheiten dieser Handvoll Personen, dessen Verbindungen sich erst mit Fortdauer des Lesens erschliessen.. Sie alle sind fest eingespannt in die Widrigkeiten des Lebens, die einen traumatisiert von tiefen Verletzungen in ihrer Kindheit, andere aus dem Leben ausgeschlossen, hinauskatapultiert.

Der Roman «Nicht mehr» beginnt mit Gertrud. Gertrud quält sich durch ihren Alltag. Eine bescheidene, ältere Frau, die sich aus lauter Rücksicht entschliesst, sich selbst zu beseitigen. Eine Frau, der man zu verstehen gibt, dass sie nicht mehr ins Räderwerk der Zeit passt. Zurückgeworfen auf sich selbst, enttäuscht, sich selbst zerfleischend, steigt sie eines Morgens in den Müllcontainer vor dem Haus und wartet auf das Geräusch der Müllabfuhr. «Bald würde sie erlöst sein von der unzumutbaren Last ihrer grausamen Tage und der höllischen Qualen ihrer gespenstischen Nächte.» Aber während sie im Gestank des Containers noch einmal mit geschlossenen Augen ihr Leben Revue passieren lässt, landet im gleichen Container ein Paket, das sich bewegt. Ein Paukenschlag? Ein Schlag in den Magen. Eine Frau in der Gesellschaft zu viel, wirft sich weg, um vom Zufall mitten ins Leben zurückgeworfen zu werden.

Ein anderer dicker Faden im Beziehungsgeflecht des Romans ist der junge Kilian. Ein Banker, der in seiner Kindheit hoch sensibel gerne Pianist geworden wäre. Aber Gehorsam und Strenge machten einen Kravattenmann im Glaspalast aus ihm. Einen Mann, der in seiner beruflichen Pflicht alles gibt und dafür in seinem Kopf permanent das Klingeln von abertausend Münzen mit sich herumträgt. Ausgerechnet jetzt, wo massenhaft  Kunden ihre Gelder abziehen, wo der Arbeitgeber Negativschlagzeilen wegen unlauterer Devisengeschäfte macht. Kilian nimmt eine Auszeit, in einer Burnoutklinik für Privilegierte, findet zaghaft zurück zu sich selbst, um dann noch viel tiefer zu stürzen.

So sehr sich «Nicht mehr» gesellschaftskritisch gibt, so sehr ist der Roman ein Buch über Familie. Was macht dieses labile Gefüge zu einer Familie? Warum entspringt dort für den einen Kraft und Halt und wird für andere versteinert zum Klotz, zur lebenslangen Hypothek? Was braucht Familie, um dem Glück wenigstens eine Chance zu geben? Warum schlägt der Wunsch, es einmal besser als die eigenen Eltern zu machen, so leicht in eine falsche Richtung um?

Evelina Jecker Lambrevas zweiter Roman, ein Buch über die Erschöpfungszustände der westlichen Gesellschaft ist spannend und entwickelt einen erstaunlichen Sog. Auch wenn der Roman an Themen zu überfrachtet ist, sich sie Konstruktion zu oft an all zu grosse Zufälle hält, ist der Roman ein grosses Lesevergnügen. Ein Buch mit grossen Fragen, ein Buch über eine Gesellschaft, die sich nach Idylle und Muse sehnt, sich aber hyperaktiv von einem Stress in den nächsten jagt, immer auf der Suche nach dem vermeintlich Besseren.

Evelina Jecker Lambreva, 1963 in Stara Zagora, Bulgarien, geboren, lebt seit 1996 in der Schweiz. Sie arbeitet als nieder­gelassene Psychiaterin und Psycho­therapeutin in Luzern und als Klinische Dozentin an der Universität Zürich. In deutscher Sprache liegen der Gedichtband «Niemandes Spiegel» sowie der Erzählband ­»Unerwartet» vor. Zuletzt erschienen «Vaters Land» (Braumüller, 2014).

Steven Millhauser «Zaubernacht», Septime Verlag

Tagsüber ist es eine gewöhnliche Kleinstadt in Connecticut, aber wenn dann der Vollmond aufgeht und sein bleiches, doch helles Licht verstreut, ändert sich dort vieles.

Allerdings bleibt dabei alles in der Wirklichkeit. Niemand verwandelt sich in einen Werwolf, es gibt auch sonst keinen Horror. Da sind lediglich Menschen, die unter dem Licht des magischen Mondes aus unbestimmter Sehnsucht nicht mehr schlafen können. Eine Bande von Teenagermädchen img_0145zum Beispiel, die in fremde Häuser einbricht und dort die Nachricht hinterlässt: „Wir sind eure Töchter!“. Oder eine junge Frau, die ganz plötzlich ihren idealen Geliebten auf der Kinderschaukel vor ihrem Haus sieht. Oder ein Mann, der seit Jahrzehnten an seinem Opus Magnum schreibt, damit nicht zu Ende kommt und genau in solchen Nächten seiner Qual offenbar wird. Aber auch Schaufensterpuppen werden kurzzeitig lebendig und das nicht mehr gebrauchte Kinderspielzeug, das auf den Dachböden herumliegt, beginnt sich zu regen.
img_0146Steven Millhauser, 1943 geboren und Universitätsprofessor, ist 1997 bekannt geworden, als er für seinen Roman „Martin Dressler. The Tale of an American Dreamer“ den Pulitzerpreis bekam. Hier hat er eine Novelle geschrieben, eine Geschichte, die einen beim Lesen sofort anrührt und unmittelbar verzaubert. Gewandt und schwer romantisch zeichnet er die wunderbarsten Bilder und evoziert jene magische, fast schlafwandlerische Stimmung, in die man beim Lesen nur zu gerne versinkt. An diesem erfreulichen Lektüreerlebnis hat auch die vorzügliche deutsche Übersetzung durch Sabrina Gmeiner ihren Anteil. Schwer beeindruckt denkt man noch lange nach über diese menschlichen Dramen, die sich in dieser Mondnacht abspielen.

Wolfgang Bortlik

in memoriam: Markus Werner «Am Hang»

Am 3. Juli 2016 ist Markus Werner 71 jährig in Schaffhausen gestorben. Ein Grosser in der deutschsprachigen Literatur, ein Stiller in der Literaturszene, mit jedem Buch mehr zum Schwergewicht unter den Schweizer Autoren. Grund genug, sein letztes Buch, sein hintergründigstes Buch wiederzulesen.

Der junge Scheidungsanwalt Clarin reist mit der Absicht ins Tessin, dort in seiner Ferienwohnung die Ruhe zu finden, eine Arbeit für ein Fachmagazin zu schreiben. Ein beschauliches Pfingstwochenende. Am ersten Abend setzt er sich im nahen Hitel zu einem älteren Mann an den Tisch auf der Terrasse. Was sich zwischen Clarin und dem Fremden, der sich als Thomas Loos vorstellt, anbahnt, entwickelt schnell ungeheure Intensität und Dynamik. Auch auf Clarins Seite, der sich vor einem Jahr genau in diesem Hotel von seiner damaligen Freundin Valérie trennte. Eine endgültige Trennung. Auch Loos ist der Getrennte, der Verlassene, der Nachtrauernde. Und Loos erzählt, bestimmt die Richtung, selbst die Tiefe des Gesprächs. Sobald Clarin die Initiative ergeift, steckt Loos die Grenzen. Was als Männergespräch beginnt, wird schon am ersten Abend direkt und greift tief unter die Oberfläche. Loos ist ein Verletzter, ebenfalls von seiner Frau verlassener Mann, aber ganz offensichtlich in ganz anderer Intensität als der jüngere Clarin, der sich gerne von Frauen distanziert, wenn diese ein übermässiges Bedürfnis nach Nähe entwickeln. Das Gespräch bohrt sich in die Tiefe. Was auf den ersten Seiten wie das Protokoll eines Konfrontation erscheint, lässt Markus Werner in seinem letzten Roman zu einem Tauchgang in die Tiefe Thomas Loos werden. Loos ist ein Versehrter, dem die Trennung von seiner Frau den Boden unter den Füssen entzog. Loos, der erzählt, er sei Lehrer für tote Sprachen, ist am Zerbrechen an der Schlechtigkeit der Welt, am Zerfall, nicht nur jener in der Institution Ehe, sondern auch jenem in der Schule, der Moderne, der Gegenwart, der Jugend, der Welt. Clarin ist nach dem ersten Tag vom Gespräch mit seinem neuen «Freund» mehr als erschlagen, weit weg von seiner angestrebten Ruhe, seinen gefassten Plänen, so sehr getrieben von Neugier, Mitleid und einer schwer erklärbaren Faszination, dass er am folgenden Tag erneut zu Loos an den Tisch sitzt. Ein folgenschwerer Entschluss.

Autor: Markus Werner.Foto: Selwyn Hoffmann.Das Foto ist honorarfrei...Selwyn Hoffmann, Pfrundhausgasse 9, CH-8200 Schaffhausen, Tel. 052 625 99 07, srhoffmann@freesurf.ch
Foto: Selwyn Hoffmann.

Markus Werner wurde 1944 in der Schweiz, in Eschlikon im Kanton Thurgau, geboren. Er studierte in Zürich Germanistik, arbeitete bis 1990 als Lehrer und dann als freier Schriftsteller. Seine Bücher wurden in mehrere Sprachen übersetzt und vielfach ausgezeichnet. Er veröffentlichte die Romane «Zündels Abgang», «Froschnacht», «Die kalte Schulter», «Bis bald», «Festland», «Der ägyptische Heinrich» und «Am Hang». Zu seinem Werk erschien der von Martin Ebel herausgegebene Band «Allein das Zögern ist human».

Und der Film?

Sehenswert, auch wenn sich der direkte Vergleich mit der Romanvorlage nicht lohnt. Markus Imboden drehte einen Film. Und ganz offensichtlich reichte ihm die Dramaturgie des Romans nicht. Vielleicht wäre die Reihenfolge, zuerst der Film und dann das Buch, die bessere als so wie die unsere. Auf jeden Fall ein sehenswerter Film, der mit den Charakteren der drei Hauptdarsteller spielt, mit den Rissen, der Distanz, die auch durch Liebe nicht aufzuheben ist, der Verzweiflung, die Liebe nicht fassen zu können.

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Tim Krohn «Herr Brechbühl sucht eine Katze», Galiani

Als mich die Presseabteilung des Galiani Verlags via Mail fragte, ob ich Tim Krohns «Herr Brechbühl» weiterlesen konnte, schrieb ich zurück: «Ich bin an den letzten Seiten – und voller Regungen. Doch genau das, was passieren soll. Ich wanke zwischen heller Begeisterung, grossem Erstaunen, tiefer Bewunderung und leisem Entsetzen.

Begeisterung

Ich mag Menschen mit verrückten Ideen, solche, die mit Begeisterung andere begeistern. Ich mag von einer Idee besselte Menschen, erst recht dann, wenn es keine Verlierer zu geben scheint. Die Idee, eine Romanserie zu schreiben, über 777 menschliche Regungen über mindestens 3000 Seiten, auf 10 Bände angelegt, muss schon sehr begeistern, sowohl für den Autor wie als Lesende, um am Text zu bleiben. Das ist kein Experiment, sondern eine Expedition mit ungewissem Ausgang. Das schafft Tim Krohn nur, wenn die Personen, deren Leben er im ersten Band zu stricken beginnt, mich als Leser berühren, wenn sie mich etwas angehen, wenn ich ihnen nahe komme, wenn ich das Gefühl habe, dass die Welt dort meine Welt ist, in der ich lebe, auch wenn sie mir nicht immer gefällt. Wer im Vorsatz des Buches alle 777 menschlichen Regungen liest und sich vor Augen führt, dass sie alle dem Autor zugetragen wurden und dieser sie zu Überschriften seiner Kapitel machte, darf sich über die Richtung der Geschichte nicht wundern. Diese 777 menschlichen Regungen sind die Welt, oder zumindest ein aufschlussreicher Teil dessen. Ich schrieb Tim Krohn, nachdem ich sein Buch gelesen hatte: «Ein gutes Buch. Ein guter Anfang. Wäre es ein Menü, wärs doch erst der Apéro, ein Versprechen, um die Neugier zu entfachen. Wer schaut im TV Teil 2, wenn Teil 1 kein Versprechen gibt. Und wer liest noch 2500 Seiten, wenn er nicht gepackt ist? Bei Donna Leon ist es Blut, das nach jedem Buch versickert.» «Das sind schöne Zeilen, tausend Dank! Ich bin auch ganz hin und her gerissen von gefühlen wie Dankbarkeit – all den Menschen gegenüber, die, wie du, so und kompliziert und herzlich auf mein Spiel eingegangen sind -, Aufregung, denn die ersten Reaktionen auf das Buch sind so herzlich wie oder noch herzlicher als die auf die einzelnen Geschichten -, und zudem etwas bange, denn wenn auch die ersten 200 geschrieben sind, so liegt – sofern bis zuletzt Menschen mitspielen – noch ein langer Weg vor mir und meiner Familie.»  Hier entsteht mehr als ein Buch, mehr als eine Buchserie. Hier entsteht Begegnung. Was nicht heissen soll, dass in dieser Form des Entstehens das Heil läge. Es ist die Einmaligkeit. Tim Krohn begeistert mich mit und schafft es mit meiner Regung Nr. 149′ dass das Buch, die Serie auch ein bisschen mein Buch, meine Serie ist.

Erstaunen

Wer liest heute noch Bücher mit mehr als 1000 Seiten? Meist nur Fantasy-Freaks und Unerschrockene. Langeweile wird missverstanden. Die Buchserie «Menschliche Regungen» braucht lange Weile. Keine Clips, kein Shot, kein Klick.
Die Italienerin Elena Ferrante siedelt ihren Vierteiler «Meine geniale Freundin» in Neapel an: Mord, Suizid, Gewalt, Schulden, Betrug, drastisch, dramatisch, unglaublich. Tim Krohns Haus steht im Kreis 5 in Zürich. Die Ingredienzien seiner Geschichte sind nicht ungleich, nur die Dosis um einiges geringer, dafür viel näher und weniger unglaublich. Das Einzige, was nach «grosser Kelle» riecht, ist die Absicht, die Geschichte 10 Bände lang werden zu lassen. Und das grosse Erstaunen ist jenes, wenn ich am Ende des ersten Bandes doch das Gefühl habe, ein Buch zu Ende gelesen zu haben. Ich werde nicht stehen gelassen, weil ich 460 Seiten lang bestens unterhalten wurde.

Bewunderung

Ich bewundere den Mut, auch wenn die Finanzierung auf viele Schultern verteilt wurde und man viel versprochen bekommt. Kommissar-Brunetti-Fans, die den 30. Fall eines Kommissars in Venedig lesen, könnten auch ein paar Folgen auslassen oder auch nur ein paar aus der langen Reihe lesen. Aber wer würde mit «Menschliche Regungen Band 5» beginnen, wenn bereits 1500 Seiten «vergangen» sind?
Das braucht auch Mut für einen Verlag wie Galiani in einer Zeit, in der Zahlen drücken und kaum mehr jemand Geld verdient mit Literatur. «Tim Krohn bringt alle Geschichten in einen grossen Zusammenhang und liefert mit den daraus entstehenden Serien-Romanen eine grosse Chronik der Gefühle unseres Zeitalters.»
Bewunderung für die Sprache. Tim Krohns Sprache überzeugt mit Klang, Sound. Das Buch ist voller Poesie, auch wenn einzelne Settings wenig Romantik ausstrahlen. Tim Krohns Sprache ist farbig, nicht bunt, nicht grell. Tim Krohn schreibt in die Tiefe des Menschen, lässt gleichzeitig vieles offen, was auch nötig ist, wenn ich für 3000 Seiten «gebucht» sein soll.

Entsetzen

Während des Lesens befremdete mich die Häufigkeit von Sexszenen. Es wird ganz ordentlich gerammelt, ein Umstand, den ich einem normalen Genossenschaftshaus im Kreis 5 selbst in Zürich in der Intensität nicht zusprach. Wer aber während des Lesens noch einmal einen Blick auf die 777 menschlichen Regungen im Vorsatz des Buches wirft und sich die Mühe machen würde, alle eingesandten Begriffe, die auf den ersten Blick etwas mit Sexualität zu tun haben könnten, zu markieren, wundert sich nicht. Auch das ein Spiegel der Zeit, den Tim Krohn mit seinem Buch nicht korrigieren muss.

Er lohnt sich, das Abenteuer einzugehen. Lesen Sie!

Elisabeth Binder in der Buchhandlung klappentext Weinfelden

Seit ein paar Jahren überrascht und erfreut die Buchhandlungen klappentext in Weinfelden mit einer feinen Buchauswahl, viel Engagement und Fantasie und einem erstaunlichen Buch-Kulturprogramm. Am Mittwoch, 11. Januar, um 19.30 Uhr, liest Elisabeth Binder aus ihrem neusten Buch «Ein kleiner und kleiner werdender Reiter».

Elisabeth Binder ist Gründerin des 2014 erstmals in Erscheinung getretenen amato-Verlag in Unterstammheim im Kanton Thurgau. In ihrem in diesem Verlag erschienen Buch «Ein kleiner und kleiner werdender Reiter» unternimmt die Autorin Spaziergänge, Annäherungen an den Ort ihrer Mutter Kindheit. Ein Dorf an der Thur, das zwischen den Kriegen und danach durch Textilindustrie Bedeutung erlangte und diese in der Gegenwart wieder verlor. img_0210Elisabeth Binder sucht nach dem, was von ihrer Vergangenheit und derer des unscheinbaren Dorfes geblieben ist, nach Bildern aus der Kindheit, Spuren ihrer Familie und all jener Menschen, die damals das Leben des Dorfes ausmachten. Zugegeben, da schwingt manchmal Schmerz und Ernüchterung mit über all das Unwiederbringliche. Trotzdem ist jede Seite von so viel Liebe, Zartheit und Respekt getragen, dass selbst das Kaff, zu dem das Dorf geworden ist, zu einer Perle wird, zu einer ganzen Kette literarisch eingefärbter Perlen, von denen ich mich entzücken liess.

img_0209Elisabeth Binder ist 1951 in Bürglen (Thurgau/Schweiz) geboren. Nach einem Studium der Germanistik und Kunstgeschichte in Zürich war sie Lehrerin, dann Literaturkritikerin beim Feuilleton der «Neuen Zürcher Zeitung». Seit 1994 ist sie freie Schriftstellerin. 2004 erschien bei Klett-Cotta ihr Roman «Sommergeschichte», 2007 «Orfeo» und 2010 «Ein Wintergast». Elisabeth Binder erhielt die Medaille der Schweizer Schiller-Stiftung sowie den Förderpreis zum Mörikepreis.

Webseite der Buchhandlung klappentext

Berni Mayer «Rosalie», Dumont

Frühling 1984 in Praam an der Schwarzen Laaber, irgendwo in Bayern, weit weg vom Rest der Welt. In dem «Arschnest», einem Kaff, in dem alles so tut, als wäre alles immer in Ordnung, selbst als 2000 Kilometer im Osten der Reaktor Nummer 4 des Kernkraftwerks Tschernobyl explodiert und sich in der Folge durch radioaktive Wolken mit Regen ein Fallout über weite Teile Europas verteilt.

Konstantin ist 16, kurz vor dem Abitur, ist gelangweilt und genervt von Schule und Alltag, weit weg von seinen in Pflichten gefesselten Eltern, die im Dorf eines der beiden Gasthäuser führen. Zusammen mit seinen beiden Kumpeln, dem kleinen Bartl, dem einzigen in der Klasse mit Bartwuchs und dem schweigsamen von seinem Zuhause drangsalierten Böhmi, die beide Konstantin nur «den Schwarzen» nennen wegen seiner Kleidung, seinem Zimmer und weil die Farbe zur Stimmung passt, streifen sie durch Praam, auf der Suche nach dem wirklichen Leben.

Bis Rosalie auftaucht, hergezogen aus der Stadt mit ihrem depressiven Vater auf der Flucht vor dem Tod ihrer an Krebs gestorbenen Mutter. Obwohl Rosa erst 14 ist, verkörpert sie all das, was Praam nicht ist. Konstantin und Rosa treffen sich und aus der zuerst heimlichen Liebe wird ein für Konstantin ganz neues Lebensgefühl: Die Zeit hatte keine Zähne mehr, kaute mich nicht mehr klein, sie verging mit der allergrössten Selbstverständlichkeit bis zum nächsten Treffen mit Rosa. So wie sich in allzu naher Ferne Radioaktivität durch eineimg_0138n Knall freisetzt, leuchtet mit einem Mal der Alltag durch die emotionalen Erschütterungen einer ersten, grossen Liebe. Erst recht als sich in der Folge die Ereignisse überschlagen.

Anfang Oktober in der Gegenwart: Nachdem Konstantin ein halbes Leben aus Praam weggetaucht war, kehrt er zur Beerdigung seines Vaters an den Ort seiner Kindheit zurück. Mit der Rückkehr und den noch immer sichtbaren Spuren, glüht auch die Lust auf, etwas von dem zurückzuholen, was im Sommer 1984 verloren ging. Viel mehr als die körperliche Unschuld. Denn auf einem Streifzug damals durch Praam und seine Umgebung, auf der Suche nach einem stillen Örtchen, der mehr ermöglichen sollte als einen Kuss, stiegen Rosa und Konstantin in das unbewohnte und heruntergekommene Wasserschloss. Sie fanden trotz übler Gerüche zueinander, mehr noch, eine Etage über ihrem Liebesnest einen Mann am Gummischlauch. Dieser Tote «saugte die Naturgesetze vorübergehend mit ins Nicht», katapultierte endlich das nach seiner Auflösung schreiende Geheimnis des Ortes an die Oberfläche. Konstantin nahm damals die Fährte auf, angestachelt duch seinen Onkel, der für die Zeitung schrieb, geschupst durch Schwester Lisi und einen Willy-Becher «Schwesternbier», getrieben von der Lust, jene Krusten aufzubrechen, die den trügerischen Frieden des Ortes ausmachen.

Berni Mayers «Southern Gothic» über eine heimliche Liebe und das Geheimnis um verdrängte NS-Verbrechen mitten im Dorf ist mit dem Sound jener Zeit geschrieben. Berni Mayer ist ein Meister der Beschreibung. Manchmal umreisst er Personen mitten im Erzählfluss so messerscharf und glasklar in einem einzigen Abschnitt, dass sie wie grobkörnige Porträts zu Textmarkierungen werden. Er beschreibt den Mief der Neunzigerjahre in der deutschen Provinz genauso gekonnt wie die emotionalen Wetterlagen der Adoleszenz, den langen Regen nach der Reaktorkatastrophe und die Angst vor den Folgen genauso treffend wie die Dialoge zwischen den Protagonisten, zwischen Anpassung und Revolte.

Ein absolut lesenswerter Erstling!

img_0137Berni Mayer, geboren 1974 in Mallersdorf, Bayern, lebt als Journalist, Musiker und Übersetzer in Berlin. Er war Redaktionsleiter bei MTV- und VIVA-Online und hat für das Label Virgin Records gearbeitet. Heute schreibt er u.a. für den Rolling Stone und bloggt auf bernimayer.de über Fussball, Filme und die Räudigkeit der Welt. 2012 bis 2014 erschien seine dreibändige Krimireihe um den arbeitslosen Musikjournalisten und Detektei Erben Max Mandel (Heyne Hardcore). «Rosalie» ist sein literarisches Debüt.

«Rosalie» – warum? 

(Titelbild: Sandra Kottonau)

Capus, Lenz, Hughes, Tschan und mehr im Sturm!

Nach einer langen Saison mit mehr Siegen als Niederlagen – oder umgekehrt – lädt die Schweizer Schriftsteller-Nati zur 2. Schweizer Schriftsteller-Nati-Nacht.
Gegeben wird sie in Olten, am 12.1.2017, Galicia Bar, traditionellerweise in zwei Halbzeiten abgehalten. Gespielt wird im bewährten 4-4-2-System.
Tickets gibt es an der Abendkasse ab 20.00. (Achtung: nur ein Kassahäuschen geöffnet!)

Programm:
Viererkette-Lesung: (Capus, Lenz, Hughes, Tschan u.a.)

Musik: Lukas Rohner

Spieler: Urs Heinz Aerni, Marin Aeschbach, Johanna Aeschbach, Roger Berberat, Peter Bichsel, Fabio Bigi, Wolfgang Bortlik, Arno Camenisch, Pino Dietiker, Philipp do Canto, Bänz Friedli, Andreas Gefe, Lukas Haessig, Lucien Haug, Rolf Hermann, Kaspar Hohler, Sandra Hughes, Michael Hunziker, Beat Jung, Renato Kaiser, Matto Kämpf, Markus Kirchhofer, Thomas Kowa, Lorenz Langenegger, Rolf Lappert, Pedro Lenz, Stefan Lütolf, Patrick Mäder, Helmut Maier, Patric Marino, Jörg Meier, Samuel Messerli, Perikles Monioudis, Andri Perl, Maurizio Pinarello, Marius Daniel Popescu, Daniel Puntas, Markus Ramseier, Lory Röbuck, Patrik Salvolainen, Hansjörg Schertenleib, Bruno Schlatter, Ralf Schlatter, Thomas Schwaller, Giuseppe Sofo, Ernst Solér, Alisha Stoecklin, David Strohm, Franco Supino, Alisho Todisco, Marco Todisco, Vincenzo Todisco, David Tschan, Patrick Tschan,Gabriel Vetter, Matthias von Gunten, Michael von Oursow, Peter Zeindler
Beizer: Alex Capus