Wie magisch war „Magischer Realismus“ in Zürich wirklich?

„Zürich liest 2017“
Eine Überfülle an Literatur in Zürich? Spüre ich etwas davon, dass „Zürch liest“, wenn ich aus dem Zug in Zürich steige? Vielleicht müsste ich randalieren, einen Zug per Notbremse zum Halten zwingen, ein Riesenaufgebot an Polizei provozieren, so wie beim Risikofussballspiel zwischen Basel und Zürich. Müsste geschriebene Kunst nicht etwas mehr, als gefällig mit Sprache winken? Wo bleibt die Schärfe, der Mut, der Biss in der Spektakelstadt Zürich?

In einem der Flaggschiffe des Zürcher Literaturfestivals „Zürich liest 2017“, im Literaturhaus Zürich, lasen am Samstag Mariana Leky aus ihrem Bestsellerroman „Was man von hier aus sehen kann“ und Sten Nadolny aus „Das Glück des Zauberers“. Beide wurden sie mit ihren Romanen von ihren jeweiligen Moderationen zum „Magischen Realismus“ gezählt, der Verschmelzung von magischer Realität und realer Wirklichkeit. Aber wie magisch war dieser Abend im Literaturhaus Zürich denn wirklich?

Mariana Lekys Roman ist ein Dorfkosmos rund um Selma, die feststellen muss, dass immer, wenn sie nachts von einem Okapi träumt, jemand im Dorf innert 24 Stunden stirbt. Eine scheinbare Tatsache, die ein ganzes Dorf umtreibt. „Schon einmal ein Okapi gesehen?“, fragte die Auorin. „Irgendwie zusammengesetzte Tiere, irgendwie aus bekannten Einzelteilen zu einem neuen, nicht wirklich passendem, zusammengesetzt.“ Das Okapi ist das „Wappentier“ des Romans. So, wie viele die Menschen im Buch in ihren „Einzelteilen“ nicht wirklich zusammenpassen, sieht das Okapi zusammengesetzt aus. Mariana Leky erzählt langsam und genau, verstärkt durch ihre sprachliche Präzision meinen Blick. Sie versteht es, Menschen darzustellen, die langsam und doch mutig sind, etwas, was im realen Leben nicht zusammenzupassen scheint. Mariana Leky erzählt von Luise und ihrer Wunschgrossmutter Selma. Von Eltern, die nie da sind, wenn sie gebraucht werden und über einen grossen Bogen von der 22 Jahre alt gewordenen Luise, die auf der Suche nach ihrem verloren gegangenen Hund Alaska einen 25jährigen buddhistischen Mönch trifft, der zum Mann ihres Lebens wird, sie, die Verstockte, sie, die für einmal die Initiative ergreift. Nicht wie der Optiker im Dorf, der seine Liebe zu Selma, Luises Grossmutter, über Jahrzehnte in einem Bündel Liebesbriefe mit sich herumträgt.
Ergreifende Literatur, wunderbar leicht erzählt. Ein zartes Buch über die wirklich wichtigen Dinge des Lebens. Nur oberflächlich betrachtet Wohlfühlliteratur. Mariana Leky macht im Kleinen Grosses auf. Es passieren durchaus tragische Dinge, aber ohne dass mit der Axt geschwungen wird. Tragik von Komik flankiert. Nicht dass am Schluss alles gut sein müsste. Aber Mariana Lekys Buch tut gut.

Etwas, was Sten Nadolny so nicht gelingen will. Nadolny erzählt in zwölf langen Briefen, die der grosse Zauberer Pahroc seiner Enkelin Mathilde schreibt, von 111 Jahren eines grossen Zaubererlebens und eines schrecklichen Jahrhunderts. Mag sein, dass das „Zauberthema“ arg strapaziert ist und ich als Nadolny-Leser mit jedem Roman des Autors jene absolute Faszination zurückwünsche, die ich seit drei Jahrzehnten seit seinem unübertroffenenen Buch „Entdeckung der Langsamkeit“ erwarte. Sten Nadolny bemüht sich, paart Witz mit Düsternis, Schrecken mit Komik, Magie mit der Grausamkeit von Krieg, Schmerz und Verzweiflung. Sehe ich den mittlerweile über 75 Jahre alt gewordenen auf der Bühne erzählen und funkeln, nimmt er mich noch immer für sich ein. Selbst das mir fremde Thema, das er zu einer Metapher für intelligente, kreative und bewegliche Menschen gesehen haben will, die permanent in der Gefahr seien, zu einer Minderheit zu werden. Heute erst recht, in einer Zeit von Engstirnigkeit und Borniertheit, wo blanker Hass und dumpfer Nationalismus Politik machen. Dem Roman fehlt die Tiefe, vielen Szenen der Atem. Wenn Sie ihn noch nicht gelesen haben, lesen Sie „Die Entdeckung der Langsamkeit“ – epochal!

Magisch waren die beiden Gäste auf der Bühne, magisch und literarisch aber nur der Roman von Mariana Leky.

Und die Magie einer Stadt, die liest? Zürich liest nicht mehr oder weniger als andere Städte, mit oder ohne Literaturfestival. Zürich liest in geschlossenen Räumen, still für sich, alle jenen Recht gebend, die Literatur Eliten und Abgeschotteten zuordnen. Schade.

John von Düffel «Klassenbuch», Dumont

John von Düffel verwebt in seinem Roman „Klassenbuch“ die neun Leben neun Jugendlicher einer Klasse, nicht aber aus derselben Welt. Obwohl für viele Stunden im gleichen Raum verbindet sie wenig bis nichts. Jede und jeder lebt in seiner mehr oder weniger digitalen Welt. Neun Jugendliche an der Grenze zum Erwachsensein, trotz allem aber weit davon entfernt, weil die Welt der Erwachsenen aus Sicht der Jugendlichen kaum etwas mit der ihren zu tun haben kann.

Selbst im gemeinsamen Klassenzimmer leben und agieren die Jugendlichen nicht mehr im gleichen Raum. Sie sind irgendwo, in allen möglichen oder unmöglichen Räumen, selbst erfundenen Welten, in denen man sich mit selbst kreierten Identitäten bewegen kann. Kann das jemand schreiben, der über 50 ist? Ja, John von Düffel gelingt dies, weil er sich in Innenwelten begibt, weil er als Theaterautor sehr wohl in Rollen schlüpfen kann.

Da ist Henk, der ausbricht aus Mutters Weichspülwolken, nicht nur mit Vorliebe Frauenfussgeruch schnüffelt, sondern auch alles andere, das ihn betäubt. Dessen In-Ear (Kopfhörer) den permanenten Soundtrack zu seinem Leben liefern, ihn wegtragen in eine Welt, in der man mit der Virtualität fremd geht. Henk ist sicher, ein Elf zu sein und irgendwann dann doch noch den männlichen Gang lernen zu können.
Stanko, der überzeugt ist, die Vergangenheit seiner Eltern und seiner Schwester getötet zu haben. Stankos Eltern flohen aus dem Krieg in Bosnien, liessen die Vergangenheit zurück, halsten damit Stanko aber umso mehr auf. „Ich bin nicht geflohen. Aber die Flucht ist in mir.“
Oder Nina, die eigentlich Vanessa heisst, aber Nina sein will, wenigstens im Netz, als Figur in ihrem Blog, als Traumfigur; souverän, frech, sportlich, schön und umschwärmt. Offline wird Vanessa kaum wahrgenommen. Dafür fliegt eine Drohne mit Perma-Photoshop mit ihr, die ihre Speckrollen zu Muskeln formt, Vanessa zu Nina macht.
Oder Annika, die mit ihrem kleinen Bruder Malte all jenen Tieren ein Grab gibt, die an den Rändern der Strasse liegen bleiben. Selbst dann, wenn nicht mehr sicher zu erkennen ist, was es einmal war. Annika gibt den toten Tieren Namen, weil „jedes Tier vollkommen ist, nur der Mensch nicht“.

Es sind neun junge Leben, die wie in einem Episodenfilm an ihren Rändern miteinander verwoben sind. Neun Leben, die in krassem Gegensatz stehen zum Publikum, das anlässlich einer Lesung im schaffhausischen Osterfingen (erzählzeit.com) dem Autor aus Berlin lauschten. Ich sah den Schrecken, das Entsetzen in den Gesichtern des Publikums (50+), weil da eine Welt „zur Sprache kommt“, die mehr als leise Zweifel entstehen lässt. Eine Gegenwart, die verunsichert. Der Vorteil des älteren Publikums ist, dass sie schon etwas waren, bevor es die sozialen Netzwerke gab. Jugendliche fühlen sich genötigt, dauernd dabei, immer online zu sein. Sie stehen unter Dauerstress. 90 % der Jugendlichen Deutschlands behaupten, Zeit wäre ihnen wichtiger als Geld. Die Generation, die John von Düffel im pittoresken Osterfingen zuhörte, hatte in ihrer Jugend unendlich viel Zeit, Langeweile inklusive. Jugendliche heute sind schon mit 16 erschöpft, Burnout gefährdet. In einer Welt der Kommunikation ist die Isolation nicht kleiner geworden, im Gegenteil. Aber wo beginnt die Dämonisierung all dessen, was die Moderne unumgänglich zu machen scheint? Wie weit geht man mit? Wo zieht man seine Grenzen? Wo ist der Rest, der mich mit der Welt der Jugendlichen verbindet? Nur die persönliche Begegnung vermeide Kulturpessimismus, meint John von Düffel.

Der Autor inszeniert neun Welten, keinen repräsentativen Querschnitt durch alle Möglichkeiten. Aber neun Leben, die geprägt sind von Angst, Einsamkeit, Isolation, dem Gefühl unverstanden zu sein bis hin zu maximaler Entfernung von der Wirklichkeit. Neun Leben, kein Laufsteg der Nettigkeiten. Es tut weh, wenn ich lese, wie sehr sich da Menschen verlieren. Mir wird bewusst, wie weit zurück in der Vergangenheit meine Jugend liegt. In meiner Jugend war es bei den Erwachsenen der Kampf gegen die Glotze, obwohl sie jeden Abend davor verbrachten. Bei meinen Kindern war es der Computer, ohne den man sich die Arbeitswelt schon vor 30 Jahren nicht mehr vorstellen konnte. Und heute sind es die Smartphones, die auch von den Erwachsenen wie Gebetsmühlen mitgetragen, zu eigentlichen Lebenshilfen werden.

„Klassenbuch“ liest sich nur schwer als blosse Unterhaltung. Erstaunlich aber ist, dass es John von Düffel schafft, den neun Leben neun verschiedene Stimmlagen zu geben. Der Autor dramatisiert auf neun verschiedenen Tonarten, schmeichelt aber weder mit Inhalt noch mit Sprache, lässt mich mit meiner Sehnsucht nach Harmonie auflaufen.

John von Düffel

John von Düffel, geboren 1966 in Göttingen, Autor und Übersetzer, arbeitet als Dramaturg am Deutschen Theater Berlin und ist Professor für Szenisches Schreiben an der Berliner Universität der Künste. Er ist passionierter Schwimmer und hat dem fliessenden Element mit mehreren Büchern, u. a. mit seinem preisgekrönten Roman „Vom Wasser“ (Mara Cassens-Preis des Literaturhauses Hamburg; Aspekte-Literaturpreis des ZDF etc.), ein literarisches Denkmal gesetzt – zuletzt in dem Band „Wassererzählungen“. John von Düffel ist Koautor des bei Piper erschienenen Buchs von Petra Anwar „Was am Ende wichtig ist“ (als TB unter dem Titel »Geschichten vom Sterben«.).

Titelbild: Sandra Kottonau

Haruki Murakami «Birthday Girl», illustriert von Kat Menschik, Dumont

Eine Sternschnuppe am Himmel und man wünschst sich was, ohne jemandem den Wunsch zu verraten. Haruki Murakamis Erzählung «Birthday Girl» ist eine Sternschnuppe am Himmel der Literatur. Sein Schweif die Illustrationen der Künstlerin Kat Menschik. Ein «Paar», das mich schon mehrfach verzückte.

Eine junge Frau wird zwanzig. Aber weil sie als Kellnerin in einem Hotelrestaurant in Tokio für eine kranke Kollegin einspringen muss, wird der Tag wohl nicht zu dem, was sich die junge Frau erhoffte. Doch weil noch mehr Zufall auch den Vorgesetzten krank werden lässt, einen Mann, der sonst nie krank wird, bekommt die junge Frau jene Aufgabe, die ihr Vorgesetzter jeden Tag Punkt 20 Uhr zu erfüllen hat: das Abendessen auf Zimmer 604 bringen. Dort lebt der Besitzer des Hotels, den sonst niemand zu Gesicht bekommt. Die junge Frau tut, wie ihr befohlen und trifft dort einen gepflegten älteren Herrn, der zu wissen scheint, dass sie 20 wird. Zu ihrer Überraschung ermuntert der Mann sie, einen Wunsch zu fassen, ohne ihn auszusprechen. Er verspreche ihr, ihn zu erfüllen.

Einmal einen Wunsch haben. Märchen sind voll davon. Auch mit Warnungen davor. Jeder weiss, wie in Märchen Wünsche die Betroffenen zerstören können. Warum sind Kinder voll mit Wünschen? Warum scheinen sich Wünsche mit dem Alter zu verflüchtigen? Schenken oder zerstören Wünsch mehr? Sind wir nicht die, die wir sind und Wünsche zweck- und sinnlos?
Grosse Fragen in einem schmalen Band!

Ein Geschenk Haruki Murakamis und Kat Menschiks an mich und all jene, die sich verführen lassen. Das ideale Geschenk für alle zwischen 20 und 100!

Haruki Murakami, 1949 in Kyoto geboren, lebte über längere Zeit in den USA und in Europa und ist der gefeierte und mit höchsten Literaturpreisen ausgezeichnete Autor zahlreicher Romane und Erzählungen. Sein Werk erscheint in deutscher Übersetzung im DuMont Buchverlag.

Kat Menschik, 1968 geboren, lebt als freie Illustratorin in Berlin und im Oderbruch. Ihre Zeichnungen erscheinen regelmäßig in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung. Für DuMont illustrierte sie Haruki Murakamis «Schlaf» (2009) sowie «Die Bäckereiüberfälle» (2012) und Ernst H. Gombrichs «Eine kurze Weltgeschichte für junge Leser» (2011). Der immerwährende Kalender «Das Variable Kalendarium» erschien 2012.

Berni Mayer «Rosalie», Dumont

Frühling 1984 in Praam an der Schwarzen Laaber, irgendwo in Bayern, weit weg vom Rest der Welt. In dem «Arschnest», einem Kaff, in dem alles so tut, als wäre alles immer in Ordnung, selbst als 2000 Kilometer im Osten der Reaktor Nummer 4 des Kernkraftwerks Tschernobyl explodiert und sich in der Folge durch radioaktive Wolken mit Regen ein Fallout über weite Teile Europas verteilt.

Konstantin ist 16, kurz vor dem Abitur, ist gelangweilt und genervt von Schule und Alltag, weit weg von seinen in Pflichten gefesselten Eltern, die im Dorf eines der beiden Gasthäuser führen. Zusammen mit seinen beiden Kumpeln, dem kleinen Bartl, dem einzigen in der Klasse mit Bartwuchs und dem schweigsamen von seinem Zuhause drangsalierten Böhmi, die beide Konstantin nur «den Schwarzen» nennen wegen seiner Kleidung, seinem Zimmer und weil die Farbe zur Stimmung passt, streifen sie durch Praam, auf der Suche nach dem wirklichen Leben.

Bis Rosalie auftaucht, hergezogen aus der Stadt mit ihrem depressiven Vater auf der Flucht vor dem Tod ihrer an Krebs gestorbenen Mutter. Obwohl Rosa erst 14 ist, verkörpert sie all das, was Praam nicht ist. Konstantin und Rosa treffen sich und aus der zuerst heimlichen Liebe wird ein für Konstantin ganz neues Lebensgefühl: Die Zeit hatte keine Zähne mehr, kaute mich nicht mehr klein, sie verging mit der allergrössten Selbstverständlichkeit bis zum nächsten Treffen mit Rosa. So wie sich in allzu naher Ferne Radioaktivität durch eineimg_0138n Knall freisetzt, leuchtet mit einem Mal der Alltag durch die emotionalen Erschütterungen einer ersten, grossen Liebe. Erst recht als sich in der Folge die Ereignisse überschlagen.

Anfang Oktober in der Gegenwart: Nachdem Konstantin ein halbes Leben aus Praam weggetaucht war, kehrt er zur Beerdigung seines Vaters an den Ort seiner Kindheit zurück. Mit der Rückkehr und den noch immer sichtbaren Spuren, glüht auch die Lust auf, etwas von dem zurückzuholen, was im Sommer 1984 verloren ging. Viel mehr als die körperliche Unschuld. Denn auf einem Streifzug damals durch Praam und seine Umgebung, auf der Suche nach einem stillen Örtchen, der mehr ermöglichen sollte als einen Kuss, stiegen Rosa und Konstantin in das unbewohnte und heruntergekommene Wasserschloss. Sie fanden trotz übler Gerüche zueinander, mehr noch, eine Etage über ihrem Liebesnest einen Mann am Gummischlauch. Dieser Tote «saugte die Naturgesetze vorübergehend mit ins Nicht», katapultierte endlich das nach seiner Auflösung schreiende Geheimnis des Ortes an die Oberfläche. Konstantin nahm damals die Fährte auf, angestachelt duch seinen Onkel, der für die Zeitung schrieb, geschupst durch Schwester Lisi und einen Willy-Becher «Schwesternbier», getrieben von der Lust, jene Krusten aufzubrechen, die den trügerischen Frieden des Ortes ausmachen.

Berni Mayers «Southern Gothic» über eine heimliche Liebe und das Geheimnis um verdrängte NS-Verbrechen mitten im Dorf ist mit dem Sound jener Zeit geschrieben. Berni Mayer ist ein Meister der Beschreibung. Manchmal umreisst er Personen mitten im Erzählfluss so messerscharf und glasklar in einem einzigen Abschnitt, dass sie wie grobkörnige Porträts zu Textmarkierungen werden. Er beschreibt den Mief der Neunzigerjahre in der deutschen Provinz genauso gekonnt wie die emotionalen Wetterlagen der Adoleszenz, den langen Regen nach der Reaktorkatastrophe und die Angst vor den Folgen genauso treffend wie die Dialoge zwischen den Protagonisten, zwischen Anpassung und Revolte.

Ein absolut lesenswerter Erstling!

img_0137Berni Mayer, geboren 1974 in Mallersdorf, Bayern, lebt als Journalist, Musiker und Übersetzer in Berlin. Er war Redaktionsleiter bei MTV- und VIVA-Online und hat für das Label Virgin Records gearbeitet. Heute schreibt er u.a. für den Rolling Stone und bloggt auf bernimayer.de über Fussball, Filme und die Räudigkeit der Welt. 2012 bis 2014 erschien seine dreibändige Krimireihe um den arbeitslosen Musikjournalisten und Detektei Erben Max Mandel (Heyne Hardcore). «Rosalie» ist sein literarisches Debüt.

«Rosalie» – warum? 

(Titelbild: Sandra Kottonau)

Delphine de Vigan «Nach einer wahren Geschichte», Dumont

«Schreiben ist eine Waffe, Delphine, eine verdammte Massenvernichtungswaffe. Das Schreiben ist sogar viel stärker als alles, was du dir vorstellen kannst. Das Schreiben ist eine Verteidigungs-, eine Schuss-, eine Schreckschusswaffe, das Schreibens eine Granate, eine Rakete, ein Flammenwerfer, eine Kriegswaffe. Es kann alles zerstören, aber es kann genauso gut alles wieder aufbauen.»

Bis buchstäblich zum allerletzten Wort versetzt mich die Autorin in ihrem neuen Roman in ein überaus gekonnt konstruiertes Verwirrspiel zwischen Realität, oder zumindest als solche empfundene Realität und Fiktion. Wo wird Fiktion zur Realität und wo kippt eingebildete Realität in Fiktion. Kein Wunder setzt die Autorin den Kapiteln Zitate aus Büchern von Stephan King voraus. Mag sein, dass die Autorin von vielerlei immergleichen Diskussionen genug hat, darüber, was sie darf und was nicht, ob das Geschriebene autobiographisch, erlebt, wahr sein muss. Ausgerechnet in einer Zeit, in der man ohne weiteres die Realität ausblenden kann, wo die Grenzen zwischen Realität und Fiktion für gewisse Menschen selbst in der «realen» Welt fliessend geworden sind, denke man nur an «Reality-TV» und «Cyberworld».
Delphine de Vigan erzählt in «Nach einer wahren Geschichte» von sich selbst, von Delphine de Vigan, die in einer Lebens- und Schreibkrise steckt, konstruiert ein literarisches Kippbild, das mich weniger an der Nase herumführt als bewusst macht, wie und was mit scheinbarer Wahrnehmung zu manipulieren ist. Delphin de Vigan schildert Delphine de Vigan, die nach der Veröffentlichung ihres letzten Romans «Das Lächeln meiner Mutter» (tatsächlich 2013 bei Kroemer Knaur erschienen), in dem sie über den Suizid ihrer Mutter schreibt, der sie nicht loslässt, eine Frau kennenlernt. Eine Frau, die von der nicht sicher zufälligen Begegnung zur omnipräsenten Begleitung wird, die sich unerwartet schnell und heftig in das müde Leben der Autorin einschleicht und einnistet. Fasziniert von einer Freundin, die wirklich versteht, alles erspürt, beginnt sich die Autorin, die Protagonistin immer mehr zu verlieren, nicht nur als Person und Individuum, sondern auch als Schriftstellerin. So sehr, dass es ihr irgendwann unmöglich ist, mehr als drei Worte zu einem Satz zusammenzufügen oder eine Datei in ihrem Computer zu öffnen, ohne den Beistand ihrer Freundin. Delphine de Vigan verliert sich. csm_9783832198305_9eda36fc13Und ich als Leser bin mit gebundenen Händen Zeuge eines Zerfalls, eines Abfalls in die Tiefen von Persönlichkeitsverlust, Wahnvorstellung, Paranoia. Was zu Beginn des Buches wie der Bericht über eine «einfache», für die Betroffene aber katastrophale Schreibkrise beginnt, entpuppt sich immer deutlicher als Psychothriller im Kopf des Lesers, den genau jener Zwiespalt zwischen Realität und Fiktion in die Tiefe zieht, der dem Buch das Thema gibt. Schon erstaunlich, welcher Sog sich da entwickelt und wie meisterhaft die Autorin mit mir als Leser spielt, ohne das ich mich «verschaukelt» fühle. Eine raffinierte Berg- und Talfahrt durch die Psyche des Menschen!

vigan_cop_delphine_jouandeauDelphine de Vegan (1966) lebt mit ihren beiden Kindern in Paris. Während sie tagsüber in einem Meinungsforschungsinstitut arbeitete und ihre Mutterrolle erfüllte, schrieb sie spät abends und nachts an ihren ersten Romanen. Seit 2007, nach dem großen Erfolg ihres Romans «No & ich», lebt sie vom Schreiben. In «No & ich» schildert sie das Leben einer jungen Obdachlosen aus Sicht eines hochbegabten dreizehnjährigen Mädchens. Der Roman wurde vielfach ausgezeichnet, in mehr als zwanzig Sprachen übersetzt und verfilmt.

Delphine de Vigan auf Lesereise:
12.9. internationales literaturfestival berlin
13.9. Hartliebs Bücher Wien
14.9. Literaturhaus Köln
15.9. Harbour Front Literaturfestival Hamburg

Ein Rückblick in 3 Teilen: Samstag, Teil 2

Mit Sicherheit lockte das Wetter, aber auch das Programm, dass mit grossen Namen warb. Einer kam nicht, der Norweger Tomas Espedal. «So einen wunderbar unaufgeregten Liebesroman wie Tomas Espedals Wider die Natur hat es noch nie gegeben», meinte Iris Radisch. Dafür verzauberten Judith Kuckart, Urs Jeggi, Adolf Muschg und Feridun Zaimoglu.

Judith Kuckarts aktuelles Buch «Dass man durch Belgien muss auf dem Weg zum Glück» ist weniger ein Roman als ein Netz aus Geschichten, dass sich mit dem Lesen zu einem Ganzen zusammenfügt, vielleicht ein Episodenroman. Das Glück ist gläsern, nicht zu halten, das Buch witzig und luftig geschrieben, nie verkrampft um Literatur bemüht, scheinbar locker erzählt. Die Geschichten sind ganz nah am Leben, an hell ausgeleuchteten Schauplätzen. Beim Schreiben sei ihr stets ein Zitat von Max Frisch vor Augen: «Auf Reisen gleichen wir einem Film, der belichtet wird. Entwickeln wird ihn die Erinnerung.» Silvester verbringt der achtzeh5105dWTh2EL._SX326_BO1,204,203,200_njährige Leonhard allein im Haus seiner Eltern. Am Neujahrsmorgen kommt das Leben dann einfach zu ihm: Eine fremde Frau schläft auf dem Boden in der Diele. In der nächsten Nacht schläft Leonhard mit ihr im Gästezimmer. Emilie und Maria hingegen, beide über siebzig, sind unternehmungslustig, wenn auch den Ereignissen auf ihrer Reise in ein tschechisches Kurhotel nicht mehr ganz gewachsen. War es wirklich ein Klavierlehrer, der sie dorthin fuhr, und hat er tatsächlich betrunken die Nacht im Bett zwischen den alten Damen verbracht?

Am Nachmittag grosse Bühne für einen Grossen der Schweizer Literatur. Im Stadttheater von Solothurn sprach der Schriftsteller Christoph Keller mit dem 85 jährigen Schriftsteller, bildenden Künstler und Soziologen Urs Jaeggi, der in Solothurn aufgewachsen heute in Berlin und Mexiko-Stadt lebt. Die grosse Erwartung im Saal. Schon Minuten vor Beginn des Gesprächs herrschte andächtiges Geflüster. Furios und wild, geschrieben wie von  einem jungen Mann; Erinnerungen, Erfahrungen, Einsichten aus einer aus den Fugen geratenen Welt. Urs Jaeggi kehrt zurück nach Solothurn und erzählt vom Fremdsein. Es sind Versuche, Ordnung in eine «Durcheinandergesellschaft» zu bringen, auch wenn er selbst nicht wenig Freude an der Unordnung zugibt.

Und am Abend im grossen Saal «Autoren im Dialog». Adolf Muschg, auch einer der Grossen der Literatur, traf sich mit Feridun Zaimoglu, dem 52jährigen deutschen Schriftsteller, der ganz klein mit seinen Eltern von der Türkei nach Deutschland kam. Sie sassen sich zum ersten Mal face to face gegenüber, jeder hatte ein Buch des anderen gelesen. Doch der Dialog war nicht wirklich einer, denn Muschg dachte, Zaimoglu hätte sein aktuelles Buch gelesen. Dieser las aber den 2008 erschienenen Roman «Kinderhochzeit». Während die beiden nebeneinander sassen, blieb es ein Nebeneinander, auch wenn man erfuhr, dass beide Autoren ihre Bücher «wie eine alte Haut» ablegen, wenn sie einmal geschrieben sind. Trotzdem blieb ich als Zuhörer beeindruckt, sowohl vom Geist Adolf Muschgs wie auch vom Roman «Siebentürmeviertel» von Feridun Zaimoglu. Wolf weiß nicht, wie ihm geschieht. Nach dem Tod seiner Mutter hat er bei seinem Vater gelebt, muss mit ihm aber nach einer Warnung vor der Gestapo plötzlich Deutschland verlassen. Es ist das Jahr 1939, und Wolf findet sich in Istanbul wieder, in der Familie von Abdullah Bey, eines ehemaligen Arbeitskollegen seines Vaters. Das Siebentürmeviertel ist einer der schillerndsten Stadtteile der Metropole, in der Religionen und Ethnien in einem spannungsreichen Nebeneinander leben. Was als vorübergehende Maßnahme gedacht war, wird zu einer Dauerlösung, und Wolf muss sich zurechtfinden in diesem überwältigenden Kosmos. Er wird von Abdullah Bey an Sohnes statt angenommen, besucht die Schule und erobert sich seine Stellung unter den Jugendlichen des Viertels. Als er langsam zu begreifen beginnt, welche Rolle Abdullah Bey wirklich spielt, gerät er in große Gefahr.

Judith Kuckart «Dass man durch Belgien muss auf dem Weg zum Glück»
Feridun Zaimoglu «Siebentürmeviertel»