1999 bekam Judith Hermann den Bremer Förderpreis für ihr erstes Buch, den Erzählband „Sommerhaus später“. Ein vielversprechender Start in ein Schriftstellerinnenleben, dass mit seinem siebten Buch „Wir hätten uns alles gesagt“ längst sämtliche Versprechungen eingelöst hat; bei Leserinnen und Lesern, bei Buchhänderinnen – und mit Sicherheit auch bei ihrem Verlag.
4 Bände mit Erzählungen, 2 Romane und nun als siebtem, keineswegs verflixtem, ein Buch, das untertitelt ist mit „Vom Schweigen und und Verschweigen im Schreiben, Frankfurter Poetikvorlesungen“. Ein Buch weit weg von blosser Erklärung oder kühler Vorlesung, ungeheuer intim und grundehrlich. Aber auch verunsichernd und überraschend, nicht zuletzt mit Sätzen wie:
«Schreiben imitiert Leben, Verschwinden der Dinge, beständiges Zurückbleiben, unscharf werden, Erlöschen der Bilder.»
Judith Hermann, längst tief im Bewusstsein einer grossen Schar von Lesenden, als Grosse verankert, eine Autorin, die sich selbst noch immer nur schwer als Schriftstellerin bezeichnet, der ein Journalistikdozent einst nur mangelndes Schreibtalent attestierte, schreibt sich die Herzen der Leserinnen. Das bewies der volle Saal im Kunstmuseum St. Gallen!
Judith Hermann schreibt um ihre Person, ein Umstand, der in ihrem neusten Buch mehr als deutlich wird und ihre vorangegangenen Bücher noch einmal in ein ganz anderes Licht taucht. Eigentlich genau das, was unter dem Begriff „autofiktionales Schreiben“ in den letzten Jahren zu einer literarischen Welle wurde. Eine Welle, auf der Judith Hermann nicht reitet, aber eine, die sie mit auslöste. Judith Hermann umkreist Menschen, die ihr nahestehen, um festzustellen, dass jene nicht die sind, von denen man glaubt, sie zu kennen. So wie sie die Annäherung an ihre Prozesse des Schreibens nicht als eigentliche Annäherung versteht, sondern als wachsendes Bewusstsein nicht zu überwindender Distanz. «Ein allmählich dämmerndes Bewusstsein dafür, dass du selbstverständlich doch allein auf der Welt bist.»
Wer mit sieben Büchern, mehr Preise als Veröffentlichungen sein eigen nennt, scheint nicht nur bei Leserinnen und Lesern etwas ganz Spezielles auszulösen. Mit Sicherheit das Gefühl, dass das, was Judith Hermann schreibt, uns etwas angeht. Judith Hermann schiebt mich als Leser in Entscheidungssituationen, beschäftigt sich in ihren Büchern mit ihrem, meinem Bewusstsein, ihrem Zustand im Schreiben, weil Schreiben eine Form der Auseinandersetzung mit Bewusstsein ist.
Judith Hermanns Bücher, am meisten wohl ihr neustes „Wir hätten uns alles gesagt“, verunsichern und zwingen mich, der Lektüre mit einem Bleistift hinter dem Ohr zu folgen. „Geschichten schreiben heisst misstrauisch sein. Lesen heisst, sich darauf einzulassen.“
Rezension von «Wir hätten uns alles gesagt» auf literaturblatt.ch
Beitragsbilder © Gallus Frei-Tomic