2016 sorgte Michelle Steinbeck mit ihrem Debüt «Mein Vater war ein Mann an Land und im Wasser ein Walfisch» für Aufregung, kam damit auf die Listen des Deutschen und Schweizer Buchpreises. Nun erscheint bei Volant und Quist ihr erster Lyrikband. Mit Sicherheit auch dies ein Buch, das aufmischen wird!
Vor längerer Zeit hörte ich Michelle Steinbeck an den Lyrikfestival «Neonfische» in Lenzburg aus ihren Gedichten vorlesen.
Deine Gedichte entsprechen gar nicht dem, was Gedichte sehr oft suggerieren, diesen verklärenden, romantisierenden Blick auf die Welt. Du bist erfrischend „hemmungslos“, ungewohnt direkt. Irgendwie ein Kontrast zu deinem Roman „Mein Vater war ein Mann an Land und im Wasser ein Walfisch“, wo die Bilder sehr oft ins Surreale kippen. Willst du “aufmischen»?
Klar, immer aufmischen! Nein im Ernst: Ich habe ein anderes Bild von Lyrik, als du hier beschreibst. Von der zeitgenössischen Szene, aber auch sonst. Was ist denn z.B. mit einer Kaleko? Aber es stimmt: Ich habe mich in diesem Format sehr frei gefühlt.
wie die grossmutter aufblüht
und rosig wird im Angesicht ihres
urenkels der rot und dünn und
ausgeliefert im licht
der wärmelampe seine unanständig
geschwollenen hoden
dem betrachter entgegenstreckt
fotografier ihn von der
anderen Seite sagt die mutter
die aufgeschnittene
von hier aus
lächelt er
Selbst der Verlag Volant & Quist spielt mit dem Entsetzen der Literaturkritikerin Elke Heidenreich auf deinen Roman und setzt den Satz „Wenn das die neue Generation ist, dann Gnade uns Gott“ auf den Buchdeckel deines Gedichtbands. Wie viel Provokation ist Programm?
Was soll daran provokativ sein? Das ist doch eine Traum-Kritik! Um diesen Satz würde ich jede andere Autorin beneiden. Er hat so was altmodisches, klassisches, als würde er auf einem vergilbten Schinken im Bücherbrocki stehen. Das mag ich daran. (Lustigerweise hat der englische Verlag auf die Übersetzung ohne Absprache dasselbe Zitat auf den Umschlag gedruckt.)
Sonntag
sie bringt das baby vorbei
es schreit krebsroter kopf
dann trinkt es – pappsatt
die zunge hängt ihm aus dem mund so satt
er surft im internet nach der fad und
er googelt sich selber und
er pult an seinem fusspilz
ich grüble an meiner hausaufgabe
kann man wissen was andere fühlen?
Mit Jahrgang 1990 bist du ganz bestimmt die neue Generation. Was soll Lyrik in der Gegenwart?
Ach was, es gibt immer Jüngere. Aber das ist auch gar nicht so wichtig. Lyrik ist meiner Meinung nach die freiste Form des Schreibens. Deshalb die interessanteste. Ich glaube, mit Lyrik kann man Dinge ausdrücken, die in einer prosaischen Sprache unmöglich wären.
fotos die mir fehlen
du vor einem blinkenden paniniwagen
kramst im bauchtäschlein nach geld
//
strasse mit bestattungsunternehmen
dazwischen einzig ein frisör
wo eine alte unter der haube vergessen
vergilbte klatschhefte liest
während am boden sich zwei kinder winden
schreiend um einen waschkorb streiten
//
am quai
durch die absperrung aufs schiff zu geistert ein alter
dem scheisse das bein runterläuft und wc papier aus der kurzen
hose flattert
er trägt ein ausgewaschenes t shirt darauf steht
GOOD LOOK
Deine Lyrik ist nicht Naturbetrachtung, kein Absinken in Gefühlswelten. Du konfrontierst mich mit dem Blick einer jungen Frau. Manchmal schmerzt dieser Blick fast, machmal greifst du mit Absicht in „Peinlichkeiten“. Wie entstehen deine Gedichte?
Ich bin ein Stadtkind. Aber Gefühle sind doch jede Menge drin! Und auch ein paar Bäume. Und Peinlichkeiten… Ja? Gut! Mein alter Freund Michael Fehr hat mir mal doziert, ich solle in der Lyrik dahin, wo es wehtut. Wo es unangenehm wird. Das fand ich einen guten Rat, daran habe ich manchmal gedacht. Es gibt ja einen Text im Band, der heisst: «Wie ich Gedichte schreibe». Tatsächlich ist jedes anders entstanden. Es sind ganz alte und ganz neue Texte drin. Ich hab mich durch meine Material-Sammlung gewütet. Es war eine schöne Arbeit.
Michelle Steinbeck, geboren 1990 in Lenzburg, aufgewachsen in Zürich, lebt in Basel. Sie ist leitende Redaktorin der Fabrikzeitung, Kuratorin von Babelsprech.International und Studentin der Philosophie und Soziologie. Sie schreibt Geschichten, Gedichte und Stücke, Kolumnen und Reportagen. Ihr Debütroman «Mein Vater war ein Mann an Land und im Wasser ein Walfisch» erschien 2016 im Lenos Verlag und war nominiert für den Deutschen sowie den Schweizer Buchpreis. Ihre literarischen wie journalistischen Texte werden in verschiedene Sprachen übersetzt.
Beitragsbild © Sandra Kottonau

Während drinnen zwischen den Vitrinen bloss ein paar schwarze Kabel am Boden verraten, dass dort, wo sie enden, hinter weissen Stehlen, vor den Schaufensterscheiben, Autoren lesen, stehen vor dem Warenhaus drei Reihen Metallstühle mit Kunstfellen und ein Lautsprecher im Strom der Menschen. Michelle Steinbeck ist die erste, die liest. Und sie passt. Sie ist hipp mit ihren knallroten Lippen und den schmalen Fesseln unter dem minimalistischen Tischchen. Schaufensterlesungen!


er der Flieger, der Überflieger, der brummende Koloss, der seine Ladung abwirft, begleitet von seiner Frau in weissen Handschuhen. Gomringers Gedichte sind metaphysische Sprach-Strichcodes, deren monolithischer Niederschlag sich manchmal um einen ganzen See verteilt.
Gomringer gibt den Worten durch die Beziehung untereinander Gewicht, durch strenge Anordnung, lässt sie wirken, erst recht, wenn er sie selbst, klein geworden und gebeugt, auf der Bühne vorträgt. Gomringer versteckt sich nicht, in keiner Weise, auch wenn er vor lauter Buchzeichen nach dem richtigen Gedicht in der vorbestimmten Reihenfolge sucht. Er lässt sich Zeit, ein ganzes Leben lang. Aus Baum, Haus, Kind und Hund zeugt Gomringer einen ganzen Kosmos, den Kosmos seiner Kindheit. In der Lesung mit Witz kommentiert und neu kombiniert zeigen Gomringers Gedichte Zeitlosigkeit und Beständigkeit.
und „Moden“ (2017). Während ihrer Lesung in Brugg fallen ihre Haare übers rechte Auge. Mit dem linken zielt sie, treffsicher und routiniert. Sie liebt wie ihr Vater das Konzentrierte, den „Espresso“ der Literatur. Im Geist, ganz und gar nicht im Windschatten ihres Vaters, sehr gut um die Wirkung des Konzentrats wissend, der Heilung, wie in der Medizin.
Nora Gomringer ist genau das, was die Lyrik und damit die Literatur braucht; der lebende Beweis dafür, dass sich Lyrik seit ein paar Jahren mit neuem Selbstbewusstsein aus ihrer immer enger werdenden Nische zu befreien weiss. „Stand up“, „Slam Word“ oder „Poetry Slam“ beweisen, dass sich Lyrik nicht mehr abdrängen lässt in staubige, geriatrische oder schöngeistige Gefässe.
Eugen Gomringer, geb. 1925, ist bolivianisch-schweizerischer Autor und Begründer der Konkreten Poesie. Er war Max Bills Sekretär an der Hochschule für Gestaltung in Ulm, gab die Buchreihe «konkrete poesie – poesia concreta» her aus und war u.a. Professor für Theorie der Ästhetik an der Staatl. Kunstakademie Düsseldorf. 1984 eröffnet er das Kunsthaus Rehau im oberfränkischen Rehau, wo er bis heute lebt.
Mitherausgeberin des Jahrbuchs der Lyrik 2015 (DVA). Neben zahlreichen anderen Auszeichnungen sowie Aufenthaltsstipendien in Venedig, New York, Berlin, Ahrenshoop, Krems und Novosibirsk wurde ihr 2011 der Jacob-Grimm-Preis als Teil des Kulturpreises Deutsche Sprache und 2012 der Joachim-Ringelnatz-Preis für Lyrik zuerkannt. 2015 erhielt sie den Weilheimer Literaturpreis und im Juli den Ingeborg-Bachmann-Preis. Nora Gomringer lebt in Bamberg, wo sie seit 2010 das Internationale Künstlerhaus Villa Concordia leitet.