Sandra Künzi «Die Hülle», Der gesunde Menschenversand – Das Interview mit Beat Mazenauer

Sandra Künzi «Die Hülle», Eine Erzählung, Der gesunde Menschenversand, essais agités, 2021, Taschenbuch, 88 Seiten, CHF 17.00, ISBN 978-3-03853-994-0

Nach einem schönen Wandertag im Spätwinter werden die Erzählerin und ihre Freundin Charlotte von finsteren Gesellen überfallen. Während sie Charlotte kidnappen und in eine Kneipe entführen, flüchtet die Erzählerin und wird vom Gemeindeschreiber persönlich angefahren. Welche Tragweite dieses Erlebnis hat, erfährt die Erzählerin erst später, als Charlotte sie bittet, für sie in eine Rolle zu schlüpfen. Sie soll als Burkaträgerin in einer Talk Show auftreten. Offenkundig spielt sie ihre Rolle bar jeglicher Gottesfurcht derart gut, dass niemand den Betrug erahnt. Sie wird immer wieder in Gesprächsrunden eingeladen, doch irgendeinmal fällt auch ihr die gewünschte Antwort nicht ein.
Sandra Künzis Erzählung verarbeitet auf amüsante, literarische Weise die Diskussion rund um die “Burka-Initiative”, die am 7. März 2021 in der Schweiz zur Abstimmung gelangt.

«Am meisten ärgert mich, dass Burka und Niqab mit Islam gleichgesetzt werden. Das ist Quatsch.»  Sandra Künzi

Interview mit Sandra Künzi von Beat Mazenauer, Germanist und Historiker, Literaturkritiker und freier Autor

Beat Mazenauer: «Die Hülle» hast du vor zwei Jahren geschrieben, lange vor der Burka-Initiative. Weshalb hast du damals dieses Thema aufgenommen?

Sandra Künzi: Die konkrete Idee zu der «Hülle» entstand im Herbst 2017, nachdem am 15. September 2017 die Volksinitiative «Ja zum Verhüllungsverbot» mit 105’553 gültigen Unterschriften eingereicht worden war. Ich fand die damalige Diskussion absurd. Es geht in dieser Diskussion im Grunde gar nicht um die Burka, den Niqab oder den Islam, sondern um unsere Projektionen und Ängste. Der Ganzkörperschleier bietet sich geradezu als Projektionsgefäss an. Man weiss nicht, was unter diesem „ Tuch“ steckt; aber interessanter im Grunde ist, dass man es offenbar auch gar nicht genauer wissen will. Diesen Eindruck hat man in der gesamten Diskussion: Sie wird emotional geführt, dabei rückt in den Hintergrund, worum es eigentlich geht. Die Gleichsetzung von Islam mit einem Verhüllungszwang ist absurd und fremdenfeindlich. Von diesen Ängsten und Projektionen handelt meine Erzählung.

Es geht um die Freiheit, heisst es im Zusammenhang mit der Burka immer wieder, von allen Seiten. Geht es wirklich um die Freiheit, oder ist das bloss vorgeschoben?  

Ja, es ist interessant, dass die Freiheit sowohl von den Befürwortern wie auch den Gegnerinnen der Initiative ins Feld geführt wird. Freiheit bedeutet offenbar für jeden und jede etwas anderes. Beide haben Recht mit den Freiheiten, auf die sie sich berufen: Die Freiheit der Kleiderwahl, wobei eine Burka aus meiner Sicht kein Kleidungsstück ist. Die Freiheit der Religion und ihrer Symbole. Die Freiheit… hmm welche nochmal? Ah, genau, das Egerkinger Komitee erfindet eine neue Freiheit, nämlich jene des „das Gesicht zeigen“. Es gehöre „in aufgeklärten europäischen Staaten wie der Schweiz zu den zentralen, unveräusserlichen Grundwerten des Zusammenlebens, sein Gesicht zu zeigen“. Solche Sätze sind natürlich unglaublich reizvoll für eine Autorin. 

Du verbindest in der Erzählung Mediensatire und Burka-Tragen. Worin liegt für dich der enge Zusammenhang? 

Wir erinnern uns an die fortschreitende Zentralisierung der Medien z.B. im sogenannten TA-Media-Mantel, der seit 2018 die regionalen Redaktionen frisst, was gerade auch für die Kulturberichterstattungen und generell für die Medienvielfalt ein Problem ist. Dieser „Mantel“, also eine Hülle, ist natürlich nicht dasselbe wie die Burka oder der Niqab, aber die Symbole ähneln sich. Inhaltlich passen die Themen zusammen, weil die Medien natürlich der Kampfplatz dieser emotional geführten Abstimmung sind und weil sie manchmal auch mitverantwortlich sind für ins Feld geführte Unsachlichkeiten. Interessant ist auch, dass sich die Medien bemühen, „echte“ NIqabträgerinnen vor die Kameras zu bekommen, aber dennoch immer „nur“ Konvertitinnen finden. Und auch davon eigentlich nur etwa zwei. So sehr wir uns bemühen die Hülle zu heben, es gelingt uns nicht. 

Du gehst am Rande auch auf den Fall des Fake-Journalisten Relotius ein: Ist das für dich ein journalistischer Burkaträger?  

Hmm…. ich möchte die Burka nicht als „Verheimlichungs-Instrument“ verstanden haben. Ich bin keine Islamwissenschaftlerin, ich kenne die genaue Geschichte der Burka oder des Niqab nicht. Aber sicher habe ich die Figur Klaus aus meiner Erzählung an den Fall Claas Relotius angelehnt, weil Relotius verhüllte. Aus dem Abschlussbericht der Aufklärungskommission zum Fall Relotius geht hervor, dass er geschickt vorging. Es war wohl nicht ganz offensichtlich, dass er in seinen „Reportagen“ lügte oder Fakten zurechtbog. Das machte die Geschichten gerade so gut oder vielleicht sogar so „echt“.  Gleichzeitig wollte man ihm schnell glauben und ihn wenig hinterfragt haben. Des Kaisers neue Kleider? Oder Baron von Münchhausen? Es hat nichts mit der Ganzkörperverhüllung zu tun, die Fundamentalisten unter dem Titel Islam für Frauen fordern. Sondern unsere Projektionen in die „Hülle“, die Burka stehen im Zusammenhang mit den Projektionen in die Texte von Relotius. In beiden Fällen glaubt man nur, was man will und man sieht nur, was man glauben will. 

Deine Erzählung «Die Hülle» thematisiert ein aktuelles politisches Thema als Erzählung. Denkst du, dass solche Texte dabei mit helfen können, die politische Diskussion wieder anregender zu gestalten?

Das hoffe ich natürlich. Aber eigentlich müssen wir einfach lernen, wie eine sachliche Debatte geht. Dafür gäbe es auch Kurse, aber wenn Literatur mithelfen kann …

Bist du in der Sache gänzlich entschieden – oder ist das erzählerische Format auch für dich selbst eine Form der differenzierten Auseinandersetzung?

Ich bin gegen die Verhüllung, vor allem weil es meistens die Frauen trifft. Aber ich stimme trotzdem gegen diese Inititative. Man kann gegen die Burka oder den Niqab sein und trotzdem Nein stimmen. Am meisten ärgert mich, dass Burka und Niqab mit Islam gleichgesetzt werden. Das ist Quatsch. Als Muslimin wird man da in eine ganz blöde Ecke gedrängt, die mit der realen Religion vermutlich nicht viel zu tun hat. Und ja, diese Erzählung war auf jeden Fall mein Weg, mich in diesen Ambivalenzen zurecht zu finden. 

Die Reihe «essais agités. Edition zu Fragen der Zeit» pflegt den kritischen Essay. Sie führt aktuelle Diskurse, spürt verborgene Themen auf und setzt überraschende Ideen in die Welt. Sie ist offen für ein bewegliches Nachdenken über Fragen der Zeit. Zugrunde liegt ihr eine eigens für die Reihe entwickelte Schreibsoftware, die Texte mit einem automatisierten Verfahren in Buchform bringt. Diese Software ermöglicht es, die Texte schnell, variabel und in unterschiedlichen Formaten zu präsentieren und sie in der Schweiz zu drucken. Die Reihe «essais agités» wurde von «alit – Verein Literaturstiftung» initiiert und erscheint in Buchform beim Verlag Der gesunde Menschenversand. Sie wird begleitet von einer Chapbook-Serie, die on demand bestellt werden kann.

Sandra Künzi, geboren 1969, Autorin, Musikerin und Juristin. Künzi schreibt für Bühne, Radio, Papier und tritt alleine oder mit ihrem Spokenword-Duo Künzi&Frei auf. Künzi ist Käptn der legendären Autorinnenreihe «Tittanic», deren gleichnamige CD 2009 im Verlag Der gesunde Menschenversand erschien. 2013 veröffentlichte derselbe Verlag ihr Buch «Mikronowellen». Sie ist Mitbegründerin des Berner Lesefestes «Aprillen». Als Präsidentin von t. Theaterschaffende Schweiz und Mitglied der verbandsübergreifenden Taskforce Culture engagiert sie sich für Kulturschaffende und Veranstaltende. Sie lebt in Bern.

Webseite der Autorin

Beitragsbild © Yves Thomi

Literaare – Ein mutiges Festival in Thun

Im Frühling hätte das Festival stattfinden sollen und musste wie so viele andere abgesagt werden. Aber als einziges Schweizer Literatur-Festival, das mir bekannt ist, wagt Literaare in Thun einen Restart. Nur schon deshalb sollte der Mut der VeranstalterInnen belohnt werden, garantieren doch die Vorgaben des BAG maximal möglichen Genuss.

Eröffnet wird das Festival am Freitag, den 25. September von der Grand Dame der Schweizer Literaturszene. Mit Ruth Schweikert, die 2016 sowohl den Schweizer Literaturpreis wie den Solothurner Literaturpreis gewann und schon mit ihrem ersten Roman «Erdnüsse. Totschlagen» mehr als nur auf sich aufmerksam machte, mischt sich eine wichtige Stimme ein – in die Kulturszene genauso wie in die Politik. 2020 veröffentlichte sie zusammen mit Eric Bergkraut einen Film, eine «etwas andere Homestory einer Künstlerfamilie» mit dem Titel «Wir Eltern». Ruth Schweikert bringt ihren Roman «Tage wie Hunde» mit ans Festival, einen Roman, in dem sie sich auf formal experimentellen Wegen sowohl erzählerisch wie essayistisch mit ihrer Krebserkrankung auseinandersetzt. Ein Buch, das weit mehr ist, als eine Nabelschau, viel mehr ein literarisch mutig, wilder Ritt durch die eigene Körperlichkeit.

Am darauffolgenden Samstag und Sonntag geben sich grosse und kleine Namen die Klinke. So liest Christoph Geiser, ein Urgestein in der CH-Literatur aus seinem bei Sezession erschienenen Erzählband «Verfehlte Orte». Christoph Geiser, der seit einem halben Jahrhundert schriftstellerisch wirkt und dafür 2020 endlich mit dem Schweizer Literaturpreis die gebührende Anerkennung erfuhr, ist Erzähl- und Fabulierkünstler. Ein Autor, der sich nur schwer fassen lässt, sich dauernd neu erfindet.

Andere grosse Namen gehören einer ganz jungen Generation. So lesen Simone Lappert aus ihrem Roman «Der Sprung», mit dem sie sich einen Platz in der Shortlist des Schweizer Buchpreises 2019 verschaffte, Laura Vogt aus ihrem Gesellschaftsroman «Was uns betrifft» oder die jungen deutschen Schriftstellerinnen Kirstin Höller (1996), Miku Sophie Kühmel (1992) und Svenja Gräfen (1990), drei junge Stimmen, die mit ihren Themen den Nerv der Gegenwart treffen. Neben noch vielen anderen Stimmen eine Wand aus kraftvollen Erzählerinnen!

Ganz besonders freue ich mich auf das Format «Skriptor», das im Rahmen der Solothurner Literaturtage von AutorInnen entwickelt wurde. Es stellt Fragen, die die schriftstellerische Tätigkeit bestimmen. Am öffentlichen Werkstattgespräch kann sich das Publikum miteinbringen. Ein Format, das zeigt, wie tief die Auseinandersetzungen mit Sprache, Text, Form und Inhalt reichen können. Dabei stellt sich der Schriftsteller Demian Lienhard, der mit seinem Debüt «Ich bin die, vor der mich meine Mutter gewarnt hat» für Furore sorgte, mit einem noch unveröffentlichten Textausschnitt. Es diskutieren 5 SchriftstellerInnen und Mutige aus der Runde der Lauschenden.

Bereits auf literaturblatt.ch besprochen und auf dem Programm des Thuner Literaturfestivals «Literaare»:
«Der Sprung» von Simone Lappert
«Was uns betrifft» von Laura Vogt
«Hier sind Löwen» von Katerina Poladjan
«Andersland» von Regula Portillo

Warum in diesen Zeiten ein Festival besuchen? Wer sich an die Regeln hält, geht kein Risiko ein. Und die Literatur braucht die Begegnung, all die Lesenden, die sich nicht bloss zur Unterhaltung mit Büchern versorgen. Ein solches Festival ist ein Zeichen; ein Zeichen für die Kunst, für all jene, denen seit dem Frühjahr das lebensnotwendige Publikum weggebrochen ist.
Seien Sie dabei!