Jürg Beeler «Möglicher Anfang eines Romans», Plattform Gegenzauber

1

Nun ist es still geworden um mich, endgültig still, und ich weiß nicht, ob ich diese Stille mag, ob ich für sie geschaffen bin.
Vielleicht bin ich bald einer wie mein Vater. In den letzten Jahren seines Lebens trug er immer dasselbe Sakko, das ihm zu groß war. Jedes Jahr wurde es größer, jedes Jahr sah er darin noch verlorener aus. Bald kannst du darin zelten, sagte ich ihm.

 

2

Mein Vater saß in den Drei Mönchen vor seinem Glas, als wir uns zum letzten Mal sahen. Schnee fiel hier noch nie, sagte er, und das Licht ist dasselbe wie in der Stadt, nur fällt es anders, stiller.

Mein Vater konnte nur mit Mühe lesen, mit dem Alphabet stand er auf Kriegsfuß, wie er mit vielen Dingen im Leben auf Kriegsfuß stand.
Wenn ich mit dem Schulbus an der Tankstelle vorbeikam, winkte mein Vater im blauen Overall. Im Sommer saß er auf einem Klappsessel im Schatten, wartete auf Kunden und hätte gerne den neuesten Lancia oder Alfa Romeo gefahren, doch er bediente lediglich die Zapfsäule und fuhr mit dem Schwamm über die Frontscheibe, wenn ein Kunde es verlangte. Nachher hätte man auch bei klarem Himmel nur Nebel gesehen.

Sobald mein Vater nach Hause kam, stellte meine Mutter das Radio lauter. Es gefiel ihr nicht, dass sie ausgerechnet mit diesem Mann verheiratet war. Einem Mann, der eines Tages in dem Hotel abgestiegen war, in dem sie arbeitete. Es regnete nicht, der Himmel war von urlaubsmäßigem Blau, doch die Gassen der Stadt waren überflutet. Nichts zu machen, er konnte das Hotel nicht verlassen, und die Frau, die am Empfang saß, war zu hübsch, um sich darüber zu beschweren. Zwei Wochen später als vorgesehen kehrte er aus dem Urlaub zurück, eine Ungeheuerlichkeit, die ihn seine dritte Stelle kostete. Doch er war noch jung, zwanzig erst, und machte sich keine Sorgen.

 

3

Meine Mutter kam aus Venedig. Genauer aus Mestre, aber sie sagte immer Venedig. Das ist nicht dasselbe, Venedig und Mestre sind durch einen Damm voneinander getrennt, korrigierte sie mein Vater, um sie zu ärgern, doch meine Mutter ignorierte diesen Damm, wie sie im Leben überhaupt Dämme und Grenzen nicht mochte.
Ich war fünf oder sechs Jahre alt, als wir aus der Stadt ins Dorf zogen. Die Wäsche meiner Mutter trocknete im Freien, und man sah, was sie unter den Röcken trug: verschiedene Farben, leuchtende Farben, und das sorgte für Unruhe im Dorf.

Nie lud ich Kameraden nach Hause ein. Meine Mutter wunderte sich, dass ich nicht Fußball spielte wie andere Jungs. Lass ihn doch, sagte Onkel Karl. Hauptsache, er wird größer.
Für Onkel Karl, der nie Fußball gespielt hatte, war Größerwerden schon viel, mehr konnte man von einem Kind nicht verlangen.
Der Fußball ist eine vollkommen nutzlose Erfindung, doch ich lag gerne auf einem verlassenen Fußballplatz und betrachtete den Himmel. Kaum fixierte ich eine Wolke, erschrak sie und veränderte sich unter meinem Blick, dehnte sich aus, ballte oder teilte sich, ich betrachtete den Himmel, und irgendwann zogen immer Wolken auf.
Der Junge zieht das Unglück an, behauptete meine Mutter. Dasselbe soll auch Fernando Pessoas Mutter von ihrem Sohn gesagt haben, aber das wußte ich damals noch nicht.

Wenigstens einmal im Leben eine Haremsdame sein, notierte dieser große portugiesische Dichter gleich zwei Mal in seinem Buch der Unruhe. Pessoa war ein scheuer Mensch, darum träumte er sich in einen Harem hinein. In seiner Phantasie war er der Scheich, den die Haremsdamen liebten wie eine Mutter ihr Kind, zugleich war er die Haremsdame, die leidet. Er wollte beides sein, Mann und Frau, er wollte als Mann in sich selbst eindringen, in sich als Frau. Er war zu delikat gebaut, zu melancholisch und luzide, um dem Terror eines Ehelebens etwas abgewinnen zu können.
Was ist ein Harem, fragte ich als kleiner Junge Onkel Karl. In einem Harem gehören alle Frauen dir, und das macht das Leben weniger kompliziert.

Onkel Karl war der Jüngste von Vaters Brüdern. In den Augen seiner Frau brauchte er für alles zu lange. Warum muss immer alles so schnell gehen, beschwerte er sich, rückte vor dem Spiegel seine Weste zurecht, zupfte an seinem Schnauzbart und lächelte, als wäre er sehr eingenommen von der Begegnung mit seinem Doppel.
Mach schon, wir kommen zu spät!
Wenn man sich Zeit lässt, ist man überall rechtzeitig, antwortete Onkel Karl und holte zu einer weitschweifigen Erklärung aus, um die Geduld seiner Frau noch ein wenig zu strapazieren.
Bevor ich das Haus verlasse, will ich überprüfen, ob ich wirklich mit meinem Spiegelbild identisch bin. Wäre das nicht der Fall, hätte ich dauernd Meinungsverschiedenheiten mit mir, ich läge mit mir im Streit, und das brächte niemandem Glück. Man sollte keine Freunde besuchen, wenn man nicht im Einklang mit sich selbst ist. Aber heute bringt ja keiner mehr die Geduld auf, solche Dinge zu überprüfen, als wäre völlig egal, wer wir sind.

 

4

Mein Vater saß in seinen letzten Jahren fast täglich in den Drei Mönchen. Ich habe ihn in diesen Jahren nie mehr lachen gehört, aber er lächelte, wenn ich kam.
Warum sagte er, Schnee fiel hier noch nie? In der Ferne sah man die Voralpen, Schnee fiel im Dorf fast jeden Winter. Ich fragte nicht nach, mein Vater war keiner, der sich die Dinge erklärte.
Noch abwesender als sonst schien er, als hätte er sich von dieser Welt bereits verabschiedet. Doch das wurde mir erst in der Erinnerung deutlich, denn die späteren Ereignisse ließen mich unser Treffen anders sehen.
Ich werde die Wohnung verkaufen, sagte er. Ich will noch einmal verreisen, diesmal endgültig. Ich will mein Leben nicht in diesem Nest beenden.
Ich nickte, seit Jahren schon redete er davon, dass er seine Frau, meine Mutter, noch einmal sehen wolle, ich nahm seine Worte nicht sehr ernst. Warum sollte er, der im Leben nie etwas angepackt hatte, sich ausgerechnet jetzt aufraffen?
Ich ahnte nicht, dass es unsere letzte Begegnung sein würde. Mein Vater musste schon länger in den Drei Mönchen auf mich gewartet haben, sein Weinglas war fast leer.
Du weißt es wohl noch nicht, sagte er. Karl ist gestorben.
Onkel Karl?
Im vergangenen Sommer.

Mit einer Trompete flog ich am nächsten Morgen nach Lissabon zurück. Mit Onkel Karls Trompete. Mein Vater hatte sie mit in die Drei Mönche genommen. Sie gehört dir. Karl hat dich immer besonders gemocht.

 

5

Onkel Karl war Trompeter im Orchester des Opernhauses gewesen, der einzige Stadtmensch unter meinen zahlreichen Onkeln. Trotzdem war er häufig bei uns auf dem Land.
Wenn Onkel Karl uns besuchte, war meine Mutter glücklich und nachsichtig mit meinem Vater und mir. Onkel Karl war ein schwerer Mann, doch in seiner Nähe fühlte ich mich leicht. Gespannt beobachtete ich, wie sich Onkel Karl auf einen der morschen Gartenstühle setzte, aber Onkel Karl zauberte, der Stuhl krachte unter ihm nicht zusammen.
Eines Tages nahm mich Onkel Karl mit in die Stadt, wir besuchten den Zoo. Die Flamingos standen auf einem Bein, reglos, den Kopf im Gefieder. Noch nie hatte ich einbeinige Vögel gesehen, doch Onkel Karl schüttelte den Kopf. Sie haben zwei Beine wie alle Vögel, erklärte er.
Was macht das andere Bein, fragte ich.
Es schläft.
Wacht es nie auf?
Doch. Wenn es aufwacht, geht das andere Bein schlafen. Die Beine wechseln einander ab.
Träumt das Bein, wenn es schläft?
Natürlich träumt es. Und wenn es aufwacht, erzählt es dem Flamingo seine Träume, und darum wird es dem Flamingo nie langweilig.

Jürg Beeler anlässlich einer Lesung aus «Die Zartheit der Stühle» auf Schloss Mörsburg

Jürg Beeler, geboren 1957 in Zürich, studierte Germanistik in Genf, Tübingen und Zürich. Arbeitete als Deutsch- und Fremdsprachenlehrer und als Reisejournalist. Lebt in Südfrankreich und Zürich. Für seine literarische Tätigkeit wurde er verschiedentlich ausgezeichnet. Publikationen (Auswahl): «Die Liebe, sagte Stradivari» (2002), «Das Gewicht einer Nacht» (2004), «Solo für eine Kellnerin» (2008), «Der Mann, der Balzacs Romane schrieb» (2014), «Die Zartheit der Stühle» (2022)

Beitragsbild © Barbara Dietl

Hans Gysi «Paul geht fort» (Auszug), Plattform Gegenzauber

1

Paul war in einem Alter, wo die Schönheit keine so grosse Rolle mehr spielte und die Erfahrungen einen langsam dahin brachten, die noch verbleibende Zeit zu geniessen oder mindestens ohne grossen Druck zu verbringen. Was wollte man noch erreichen? Welche Stadt noch besuchen? Welche Pläne noch zur Ausführung bringen? So ungefähr lauteten die Fragen, die Paul an sich selbst richtete. Dennoch beschäftigte ihn sein Alter so sehr, dass er, wenn er nachts erwachte, manchmal die Jahre nachrechnete und es nicht recht fassen konnte, dass er nun schon an der Schwelle seines letzten Lebensabschnitts stand. Um besser zu begreifen, was die Zahlen bedeuteten, machte er es sich zur Gewohnheit, die Jahre in seiner Vorstellung wie eine Landschaft aus Kurven und Hyperbeln neben sich auf der Fläche seines Bettes auszulegen und sie gewissermassen von der Seite zu betrachten. Vielleicht war seine Seele irgendwo dort im Gelände unterwegs. Er stellte sich vor, dass die Episoden sei- nes Lebens kleine Täler bildeten, Mulden und Diagramme, die eine fremde und schöne Landschaft beschrieben, welche er einst bewohnt haben mochte. Dadurch gewann sein Leben etwas Fassbares und zugleich etwas Künstliches, sodass er bald nicht mehr wusste, ob er in seinen eigenen Erinnerungen kramte oder in einem fremden Buche las.

2

Paul hatte Kathrin. Kathrin hatte Paul. Sie war freundlich und klug. Und sie hatte noch viele andere Qualitäten, von denen Paul kaum sprach. Sie war etwas bekümmert wegen Pauls Gesundheit. Paul war ihr nicht gleichgültig, das spürte er immer häufiger. Manchmal lachte sie ansteckend und hell. Dann wieder war sie ganz still in sich gekehrt. Die Gefühle bestimmten ihre Befindlichkeit. Auch Paul war ein Gefühls- mensch, gelegentlich ganz nah am Wasser gebaut. Er passierte ihm, dass er weinend im dunklen Kino sass, sich seiner Tränen leicht schämend. So fuhren ihre Gefühle Achterbahn: sie an der steilsten Stelle und er in gemächlicher Ebene oder umgekehrt. Mit den Gefühlen kam die Ungleichzeitigkeit, und sie wurde ein ständiger Begleiter. Kathrin hatte den Eindruck, dass Paul sich zu viel auflud. »Und man weiss«, sagte sie, »dass dieses Alter gefährlich ist: Die Kräfte lassen nach und die Anforderungen steigen!« Paul versuchte, eins nach dem andern anzupacken, vorsätzlich ruhig und nüchtern, doch im Grunde wusste er, dass sie recht hatte. Er konnte sich ein Leben ohne Kathrin nicht vorstellen. In den langen Jahren war sie zu einem Teil von Pauls Da- sein geworden, körperhaft. Ob sie sich nach einer eventuellen Wiedergeburt nochmals zusammentäten, darüber hatte sich Paul keine Gedanken gemacht. Er glaubte nicht an die Wiedergeburt in diesem Sinne. Kathrin hatte viele Vorzüge, das wusste Paul. Zum Beispiel konnte man ihr kaum etwas vormachen, ausser man überraschte sie wie ein lahmer Zauberer mit einer vergessenen Taube aus dem Zylinder. Dass sie vergesslich war, schätzte Paul besonders. Er hatte es nötig.

3

Bevor Paul zur Arbeit ging, prüfte er mit einem schnellen Blick seine Silhouette im Spiegel und dachte an manch eine seiner Gesten, die eine ungeschickte bis fahrige Form annahmen. Manchmal fluchte er leise über ein Missgeschick oder einen Fehlgriff. Da fiel ihm ein Behälter aus der Hand und zu Boden, dort trat sein Fuss nicht mehr sicher auf, was ihn leicht schwanken liess. Das Schwanken konnte er mit et- was Glück in ein sportliches Wippen verwandeln. Vielleicht, dachte er bei sich, war der kritische Punkt überschritten, wo mit täglichem Training und grosser Disziplin etwas auszurichten war. Absurd. Paul war noch nicht so weit, wusste aber, dass man die eigene Unfähigkeit verdrängte und über grösser werdende Defizite hinwegsah, solange man sie kompensieren oder mit Aktivitäten überdecken konnte. Wie ein Feldforscher, der sich für seltene Käfer interessiert und sie auf Nadeln aufspiesst, so fühlte sich Paul, wenn er an sich selbst Ticks und Gewohnheiten beobachtete: Das waren ähnliche Nadelstiche, die ihn unbeweglich zu machen drohten. Häufiger erinnerte ihn sein fahriges Grinsen, eine schiefe Kaubewegung oder ein Kratzen am Kopf und eine selbstvergessene, unbewegte Miene an Bildeinstellungen, die er von seinen älter werdenden Eltern gespeichert hatte. Es graute ihn vor einem Alter, wo ihm Nasenpopel am Hemd kleben würden oder Sabber aus dem Mund rinnen in Selbstvergessenheit und aus Unachtsamkeit. Seine eigene Schusseligkeit nahm zu, da half nichts. Vielleicht sollte er einen Hut tragen, dachte Paul etwas hilflos.

4

Paul hatte Arbeit, er war Lehrer. Zu einem Satz von vierzig Prozent war er eingestellt. Daneben arbeitete er frei fürs Theater. Als Teilzeitlehrer hatte er grosse Träume, weil er viel Zeit mit ihnen verbringen konnte. Er liebte es, in der Stunde Schiefertafeln vollzuschreiben. Wichtige Eckdaten und Zahlen konnte man darauf wieder finden. Paul dachte: Der Unterrichtende hat ein Gedächtnis, aus dem zieht er das Nötigste ans Trockene, wie ein Fischer die Netze einholt. Was beim Fischer die Netze, sind bei ihm die Kreidestifte und der grüngraue Belag der Wandtafeln. Die Tafeln kann er aufklappen, aber er hat kein Recht, alle Tafeln zu füllen, auch das Stehenlassen von Textpartien ist nur in Ausnahmefällen erlaubt. Denn ein Teilzeitlehrer ist Gast in den bereitgestellten Zimmern. Was Paul schrieb, verbündete sich am Schluss der Stunde mit dem Wasser des Tafelschwamms und rann davon. Die Quintessenz seiner Lektionen versammelte sich im Schwamm und am untern Rand der Tafel in trüben Pfützen. Das war das Sichtbare des Bleibenden und gleichzeitig ein schönes Bild für die Vergeblichkeit, das Verschwinden der Erkenntnis. In leichter Melancholie betrachtete er das weisslich-graue Wasser und dachte: Die Schule ist eine Attrappe, die sich in der Weltgeschichte verliert.

Hans Gysi «Paul geht fort», edition 8, 2022,
128 Seiten, CHF 21.00,
ISBN 978-3-85990-454-5

Der Protagonist dieser melancholisch-witzigen Prosaminiaturen ist ein Mensch mit ambivalentem Innenleben, das vielen bekannt vorkommen könnte. Paul ist Lehrer, unterrichtet routiniert seine Klassen und ist in einem Alter, «wo die Schönheit keine so grosse Rolle mehr spielt». Er beobachtet gerne Menschen, die ›Comédie humaine‹ regt ihn zu Betrachtungen an, er schreibt Bücher und hat auch etwas Erfolg damit. Kurz: Er scheint im Leben angekommen zu sein, hat sich eingerichtet.
Da ist aber auch ein Zaudern, ein Zweifeln, eine innere Unruhe, die ihn den Boden unter den Füssen verlieren lässt. Gefangen im «Dickicht der Pflichten», «festgezurrt von Vorbild und Gewohnheit», sucht Paul nach Auswegen aus seinem Alltag, misst sich an seinen Träumen – und bricht auf.
Hans Gysis Texte bestechen durch den nachdenklichen Grundton mit stets präsentem Humor, die fein gezeichneten Beobachtungen und die überraschenden Wendungen, die in einem Finale voll tiefsinnigem Nonsens gipfeln.

Hans Gysi ist 1953 in Arosa geboren und aufgewachsen. Schulen und Ausbildung hat er in Arosa, Schiers gemacht und studiert an der Uni Zürich gemacht. 1976 Sek.-Lehrer Phil I. Von 1982-85 Schauspielakademie Zürich. Seit 1985 zwei Jahre als Schauspieler tätig beim Kitz und später freischaffend als Schauspieler, Regisseur, Theaterpädagoge und Autor mit verschiedenen Theatergruppen Viele Inszenierungen vom Frühlingserwachen bis zur Kleinbürgerhochzeit, u.a. auch mit Andreas Schertenleib «Ich habe eine grosse Sache im Grind», ein Glauserabend. Hat den Förderpreis des Kantons Thurgau erhalten, einen Werkpreis der PRO HELVETIA und einen Förderpreis des Kuratoriums Aargau. Den Rilkepreiserhielt er für das Buch «pocket songs» im Verlag edition 8. Weitere Lyrikbände bei edition 8: «Zettel und Litaneien», «Ein Tag mit Chili Geschmack», lebt in Kreuzlingen Thurgau.

Frédéric Zwicker «Songtexte», Plattform Gegenzauber

Ich möchte eine Ente sein

Was willst du werden, wenn du mal gross bist?
Und was soll nachher aus dir werden
Was willst du werden, wenn du mal tot bist
Weisst du, wir müssen alle sterben

Zum Glück gibt es die Buddhisten
Dank denen sind wir bald wieder hier
Man kann so ein Menschendasein schon mal fristen
Lieber wär ich ein anderes Tier

Schwimmen, tauchen, fliegen und ein Haus am See
Ich möchte eine Ente sein
Entenfrauen lieben, bis ich untergeh
Ich möchte eine Ente sein

Hast du schon mal einem Stockentenweibchen so richtig tief in ihre Augen geschaut
Kannst du mir sagen, du hättest da deinen Gefühlen und Augen zu glauben getraut
Bei Entenschnäbeln und Entenbrüsten ist es im Nu um mich gescheh’n
Sowas Erotisches habe ich im ganzen Menschen und Tierreich noch nicht geseh’n

Schwimmen, tauchen, fliegen und ein Haus am See
Ich möchte eine Ente sein
Entenfrauen lieben bis ich untergeh
Ich möchte eine Ente sein

 

Hey Mond

Hey Mond – Hey Mond

Hey Mond, mach doch nicht so ein Gesicht
Da heulen ja die Wölfe, wenn sie dich sehen
Die Kinder geh’n ins Bett
Wo sie schreien oder sich schlafend stell’n

Langeweile ist manchmal sicher ein Grund
Dass Mensch sich schwertut

Als Mond ist man mal Sichel, mal rund
Kein Grund für Schwermu
Denk mal an die USA,
Kriege, Aids, Malaria

Auf dem Mond gibt’s sowas nicht
Auf dem Mond gibt’s sowas nicht
Auf dem Mond gibt’s sowas nicht
Auf dem Mond gibt’s sowas nicht

Ich säh dich gern bei Tag, doch du tanzt in der Nacht
Du hast deine ganz eigene Anziehungskraft
Warum du dein Licht unter den Scheffel stellst, weiss ich nicht
Wer von innen strahlt, glänzt im besten Licht
Wer von innen strahlt, glänzt im besten Licht

Kommende Auftritte:

Samstag, 21. Mai, Hekto Super Schaufenster-Session II, Esperanto Store, Tiefenaustrasse 2, Rapperswil SG

Donnerstag, 26. Mai, Insel Lützelau

Freitag, 10. Juni, Restaurant Bären, Marktgasse 9, Rapperswil SG

Samstag, 2. juli, Zeughausfest, Schönbodenstrasse 1, Rapperswil-Jona

Freitag, 2. September, Lottis Festival, Villa Grünfels und ZAK Jona SG

leafrei.com / Literaturhaus Thurgau

Frédéric Zwicker, geb. 1983 in Lausanne, aufgewachsen in Rapperswil-Jona am Zürichsee, wo er heute wieder lebt. Er studierte Germanistik, Geschichte und Philosophie. 2006 gründete er die Band ‹Knuts Koffer›. Aktuell tourt er neben seinem Schreiben als Leadsänger von ‹Hekto Super›. Seit 2008 ist er Kolumnist bei der ‹Linthzeitung› und der ‹Südostschweiz Glarus›. Er arbeitete u.a. als Werbetexter, Journalist, Reisejournalist in Ostafrika, Musiklehrer, Slam-Poet, Pointenschreiber für die Satiresendung Giacobbo/Müller, Drehbuchautor. Sein Romandebüt «Hier können Sie im Kreis gehen» erschien 2016 bei Nagel & Kimche, sein aktueller «Radost» 2020 bei Zytglogge.

Nora Schramm «Die Geige verstecken» (Auszug), Plattform Gegenzauber

Zum wiederholten Mal hat das Literaturfestival Literaare Thun den länderübergreifenden Wettbewerb für Lyrik und Spoken Word TEXTSTREICH ausgeschrieben. Dieses Jahr in Kooperation mit dem Literaturmagazin Manuskripte aus Graz und dem Haus für Poesie in Berlin. 

«Die Geige verstecken» (Auszug) ist nicht der Wettbewerbstext, der exklusiv in der Literaturmagazin Manuskripte erscheint, aber ein freundlicherweise an literaturblatt.ch freigegebener Text:

 

«Die Geige verstecken» (Auszug)

Mein Gott, jetzt sitzt du da mit deiner Geige in der U-Bahn und hast fünfzigtausend weniger und dafür eine Angst

Jetzt hast du wirklich fünfzigtausend ausgegeben

Na und, sagst du dir

Na und

Fünfzig tausend für eine Geige

Fünf zig tausend für ein Stück Holz, das innen hohl ist

Das kann man doch keinem erklären

Deinen alten Freunden kannst du das nicht erklären

Neue hast du nicht

Du könntest sagen, das sei eine Geldanlage

Sicherer als Gold

Wovon kann man das schon behaupten, sicherer zu sein als Gold

Von dir nicht, du bist eine unsichere Anlage

Du schwankst

Die Pumps sind zu hoch

Du bist echt ein hoher Stapel

Du hast ein neues Kleid, du zupfst daran

Du weißt jetzt, dass es nicht zu deinem Mantel passt, weil du jetzt weißt, dass es verschiedene Schwarztöne gibt

Der Mantel ist tiefschwarz und das Kleid hat einen Lila-Blau-Schimmer

In den Kleidergeschäften werden dir jetzt Beratungen angeboten und du sagst nicht nein

Das hat doch nichts mehr mit Musik zu tun

Da hat dich doch was verlassen

Da hast du doch was übersehen, irgendwas nicht bemerkt

Jetzt fängst du schon wieder an, die Geige zu verstecken

Weil du dir eine für fünfzigtausend kaufen musstest und den Leuten nicht traust, weil du es ja weißt

Du weißt ja, wie sich der Neid anfühlt

Hungrig, geil, mit zu viel Spucke im Mund und einem steifen Nacken vom vielen Glotzen

Der Neid macht, dass du jemand sein willst, den du hasst

Oder dass du hasst, wer du sein willst

Jetzt hast du schon wieder die Angst auf dir sitzen

Du wirst geritten von der Angst

Die hockt dir auf den Schultern und peitscht dir den Hintern und trifft genau die Ritze

Du schmeißt die Angst nie ab, du machst andere Sachen

Du versteckst die Geige unterm Mantel

Du wirst jetzt immer einen Mantel tragen müssen, auch im Sommer

Du bist jetzt eine Angestellte und hast immer einen Mantel an

Das ist doch jetzt das

Das

Hier, das Ding

Wenn du die Angst abschmeißt, wie willst du dir dann beweisen, dass du jetzt eine von denen bist, die was zu verlieren haben, irgendein Ding

Du sagst jetzt Dienst zur Probe und Doppeldienst zum Konzert

Sicher und sicherer sind für dich blickdichte Adjektive geworden

Sie haben sich in deinen Wortschatz geschlichen und vor die Substantive gesetzt und du siehst die Substantive gar nicht mehr hinter ihnen

Du sagst, du hast es jetzt geschafft und hoffst, dass du bald auch mit dem Sprechen aufhören kannst, mit dir selber in der U-Bahn

Dass du einfach mal ein Buch lesen kannst und dabei einschlafen und dass dich ein Fremder weckt an der Endstation und dass ihr zusammen zurück fahrt und euch vorlest und dabei einschlaft, bis euch jemand an der Endstation weckt, ein Fremder, der euch auf dem Weg zurück was vorliest, bis ihr alle drei einschlaft und an der anderen Endstation geweckt werdet von einer Fremden, die liest und liest mit einer weichen Stimme und dann schläft, genau wie ihr und wenn ihr an der Endstation seid, weckt euch einer so sanft, dass ihr fast nicht aufgewacht wärt und setzt sich dazu und liest was vor und ihr habt alle die Köpfe auf fremden Schultern, und Hände voneinander im Schoß und schlaft vorsichtig zwischen euren Atemstößen und dann wird dem Vorleser der Kopf schwer und irgendwann kommt ihr wieder an, an der ersten Endstation und da ist alles schon wie immer geworden, es steigt eine ein und weckt euch, ganz schüchtern sieht sie aus und riecht gut und sie liest vor auf dem Rückweg, der gar kein Rückweg mehr ist und

Dass du einfach wieder runter fährst mit dem Aufzug

Das wäre doch kein

Naja das

Das wäre doch kein Ding

Du verdienst jetzt Geld mit Musik, sagst du dir selber ins Ohr

Fünfzigtausend für dein Arbeitsgerät

Andere haben Dienstwagen oder Dienstwaffen, sagst du dir

Du machst jetzt Online-Banking ohne Angst, ganz lässig bankst du hin und her

Das hat dir keiner geglaubt, du selber nicht, dass du einmal grüne Scheine aus dem Automaten ziehst, als wären es Fahrscheine für den Nahverkehr

Dass du mal den Nahverkehr bezahlst, das hätte keiner gedacht

Dafür hast du die Siedlung belogen

Hast gesagt, dass du schon verabredet bist, mit Leuten, die es gar nicht gibt, deinem Vater zum Beispiel

Denen hättest du das nicht erklären können, dass du eine Jugend lang Geige übst

Dafür bist du jeden Tag nach der Schule zu deiner Geigenlehrerin gefahren, zur Frau Zacharias

Die hat dich ins Gästezimmer gelassen und dir ihre Geige geliehen

Dass du üben kannst, ohne, dass es einer merkt

Dass du keine eigene Geige brauchst

Deine Mutter hätte das Geld irgendwie zusammengekratzt für eine schlechte Geige, aber die hättest du dann mit dir herumtragen müssen, das wäre ein Beweis gewesen, gegen den du nicht angekommen wärst

Dafür hast du dir den Bauchnabel piercen lassen, dass keiner merkt, dass du eigentlich eine mit einem heilen Bauchnabel bist, dass sie dir nicht auflauern, dass sie dich nicht abziehen

Dafür bist du aus der Siedlung raus, wo deine Mutter die Spritzen von deinem Bruder weggeräumt hat mit Handschuhen an und alles im Waschbecken verbrannt, die Handschuhe und die Spritzen

Obwohl man Plastik nicht verbrennen darf

Dafür bist du in eine andere Stadt mit einem historischen Stadtkern gezogen und ins Ausland und dann wieder zurück

Dafür hast du vier Jahre in einer Übezelle gehockt

Dafür wurde ein ganzer Keller ausgebaut, lauter Zellen, in die man die Musik mit den Studenten sperrt

Dass du den Nahverkehr bezahlst, wo sowieso nie kontrolliert wird, weil die Leute sich selber kontrollieren

Du warst mit der Musik eingesperrt, als wäre euer Aufzug stecken geblieben

Ihr wolltet zusammen hoch fahren, oder vielleicht war es Zufall

Vielleicht habt ihr euch doch erst so richtig im Aufzug kennengelernt, als du schon die Knöpfe gedrückt hattest nach oben

Die Musik hat dich so zart angeschaut, dass du ihr nichts abgeschlagen hast

Die wollte immer alles von dir, du musstest deine Tasche ausleeren und aus deinen Schulaufsätzen vorlesen

Die Musik hat dir versprochen, dass sie etwas hat, was du willst, aber sie hat nie gesagt, was das sein soll

Du hast der Musik alles geglaubt

Die hatte manchmal eine Zartheit

Um die hast du sie beneidet, weil du damals schon gewusst hast, dass du dir diesen Zartheitsluxus nicht leisten kannst

Die hat gestrahlt und du nicht, die hat dich bestrahlt bis du ganz warm geworden bist und irgendwie

Transparent

Irgendwie zart

Zartsein war ja immer so eine Idee von dir, die perverseste, die du je hattest

Von acht bis achtzehn Uhr, sechs Tage die Woche warst du in der Übezelle

Hast geübt, zärter zu werden, dass man dich nicht raus hört, aus der Musik, weil es größenwahnsinnig wäre, zu glauben, du hättest Mozart was hinzuzufügen

An dem anderen Tag hast du dich nutzlos gefühlt und bemerkt, dass man sonntags nicht einkaufen kann

An dem anderen Tag bist du vorm Netto gestanden und die automatische Glastür hat sich nicht auseinandergeschoben, du bist näher ran, wieder weg, die blieb zu

Da ist dir alles wieder eingefallen

Dass du eine feste Stelle im Orchester brauchst, die Öffnungszeiten, dass du dünn geworden bist, dass die Nadeln übrig bleiben, wenn man die Spritzen verbrennt, solche Sachen

Jetzt steigst du aus der Bahn und lässt dein Spiegelbild an der Scheibe sitzen, es ist so transparent wie du gern wärst, es ist das Bahngleis mit den ganzen Leuten, den Bänken, den Fliesen hinter deinem Gesicht

Auf dem Gleis krabbelt einer auf allen Vieren zwischen den Beinen der Leute

Einer der alles verloren hat, sein Alter, seinen Ausweis mit seinem Namen drauf, seinen Geruch, die Angst

Nur die kleinen dichten Locken hat er behalten

Es ist dein Bruder

Du weißt nicht, ob er dich erkennt, deine Locken hast du geflochten und eine Mütze drüber gezogen

Er schaut auch gar nicht her

Er war ja immer in Zuständen, die letzten Jahre, die ihr zusammen gewohnt habt, immer in Zuständen, solche, in denen er selber gar nicht mehr existiert hat, er ist verschwunden hinter seinen Zuständen, er war nichts anderes mehr als Zittern oder Krampf oder Kotze oder auf dem Rücken liegendes Lachen, das gegen die Decke knallt

Vor den Weihnachtsferien hatte dir die Frau Zacharias mal die Geige aufgedrängt, du solltest sie mitnehmen, dass du weiter üben kannst

Das hättest du ihr nicht erklären können, dass das nicht ging

Du hast überlegt, ob du die Geige auf dem Weg einfach stehen lässt und sagst, du hättest sie verloren

Aber in der Stadt warst du so stolz, eine mit dir rum zu tragen, dass du es nicht übers Herz gebracht hast

Du hast sie immer weiter mitgenommen

Als du von der Bahn in den Bus umgestiegen bist, hast du im Supermarkt eine große Tüte gekauft, mit einem Zipper, in der man Tiefgekühltes transportiert, hast die Geige aus dem Kasten genommen und den auf dem Supermarktparkplatz stehen lassen, hast die Jacke ausgezogen und die Geige darin eingewickelt und alles zusammen in die Tiefkühltüte gesteckt, die nicht mehr zuging

Dann bist du erst in den Bus eingestiegen, wo du angefangen hast, Leute zu kennen und hast dich unterhalten

Gefroren hast du, aber das Zittern hast du dir nicht erlaubt, bis du in der Wohnung warst

Dein Bruder hat nicht gefroren, der lag in seinem Zimmer mitten in seinem Zustand und hat gelacht und auf den Boden eingeschlagen

Und du hast im Zimmer nebenan die Geige festgehalten, die Stimme von der Frau Zacharias im Ohr, du sollst nicht so krampfen, nicht so klammern, beim Spielen, obwohl du noch nicht einmal gespielt hast, nur die Geige festgehalten

Und in denselben Ferien gab es den Tag, an dem es im Zimmer deines Bruders stiller war als sonst, als du dachtest, heute musst du dich nicht schämen, die Musik zu dir nach Hause einzuladen und hast dich nicht zurückgehalten, hast gespielt, ohne Angst, dass die Siedlung dich entlarvt, dir die Geige wegnimmt, hast bemerkt, dass das eine Amputation wäre, eine sehr schwierige Operation, die kaum einer kann und das hat dich beruhigt, man hat ja auch nicht ständig Angst, dass einem die Beine abgenommen werden und die Musik hat zu allem ja gesagt, hat dir alles erlaubt, du bist schier abgehoben vor Glück, bist schier Luft geworden und die Musik hat dich umarmt mit ihren Flügelchen, die Musik kann nämlich Luft umarmen, da warst du umarmt und trotzdem frei und hast gewusst, das kann dir sonst keiner geben, da hast du gewusst, dass du jetzt etwas weißt und als es dunkel war, bist du ins Wohnzimmer und da lag deine Mutter auf der Couch und dein Bruder war kein Zustand, sondern dein Bruder, und er hat ihr Isabel Allende vorgelesen und du warst sauer auf die Musik, dass sie dich so lange in deinem Zimmer in ihren Flügelchen festgehalten hat, dass du nicht mit deiner Mutter auf der Couch eingeschlafen bist unter dem fransigen Stehlampenlicht und dein Bruder hat gesagt, aus dir wird mal was, aus dir wird mal eine Musikerin, und er hat so gestrahlt dabei, da bist du der Musik hinterher, in den Aufzug eingestiegen

Nora Schramm (1993) studiert Theorien und Praktiken professionellen Schreibens in Köln. 2021 war sie Stipendiatin des 1:1 Mentoringprogramms am Literaturbüro NRW. Ihre Texte wurden in diversen Zeitschriften veröffentlicht, ihr Hörspiel FRIEDEN UND RUHE auf dem Theaterfestival «Poligonale» als szenische Lesung gezeigt.

Literaare Literaturfestival Thun

Beitragsbild © Siggi Herbst

Anna Jagdmann «Itzhoe», Plattform Gegenzauber

Zum wiederholten Mal hat das Literaturfestival Literaare Thun den länderübergreifenden Wettbewerb für Lyrik und Spoken Word TEXTSTREICH ausgeschrieben. Dieses Jahr in Kooperation mit dem Literaturmagazin Manuskripte aus Graz und dem Haus für Poesie in Berlin. 

«Itzhoe» ist nicht der Wettbewerbstext, der exklusiv in der Literaturmagazin Manuskripte erscheint, aber ein freundlicherweise an literaturblatt.ch freigegebener Text, der auch auf ihrer Webseite gelesen werden kann.

Jugend

Ich zockele zum Schwimmbad.
Die Sonne prickelt wie die Brausetabletten,
die meine Zunge bunt färben.
Dann blenden Wolken den Nachmittag ab.
Selbst die Wespen summen leiser.
Am Preisplakat pappen mit Paprikapulver panierte Pommes.


Langeweile

Center-Nachmittag.
Grässliche Blusen,
groß oder klein gemustert.
Kauf niemals sowas!
Und auch keine Übertöpfe,
Fototassen, Kaffeemaschinen, Motivkissen, Duschhauben, Wasserverdunster, Gesichtsbürsten, Toilettensteine.


Nachts

Die Taschenlampe wandert über die Landkarte.
Der Strahl bleibt bei Libyen hängen.
Rosa Pünktchen bedeuten den Sand.
Ich rolle mich ein wie ein Fennek.
Später treibt mich nächtlicher Durst in die Küche.
Vielleicht ist das Glas aus Wüstensand gemacht.

Anna Jagdmann, Geburt im Jahr des Eisvogels, Kindheit in einer deutschen Kleinstadt nördlich der Elbe, Geistes- und sozialwissenschaftliches Studium in Berlin, diverse Aufenthalte in Lateinamerika. Promotion an der FU mit einer Arbeit über Nation Building und Geografie in Kolumbien, seitdem Tätigkeit als Übersetzerin, Schreiberin und Papierwerkerin.

Literaare 2022 Thun

Webseite der Autorin

Theres Roth-Hunkeler «Luftwurzeln», Plattform Gegenzauber

Die Zeit verdunstet. In den Parks sprechen Alte mit winterharten Vögeln und üben bereits die Litanei der Namen für den nahenden Frühling. Viele Freunde sind verschwunden in den letzten zwei Jahren. Himmelwärts, vermutlich, aber ohne Sang und ohne Klang. Die Begabten unter den Zurückgebliebenen, schüchterner denn je, skizzieren ein neues Heimweh und kaufen Postkarten: Meer und Himmel, abstrahiert in Strichen. Oder eine Carte Blanche, von ihnen dann beidseitig beschrieben: Lebst du noch? 
Die, die noch können, stolpern ungelenk über den Friedhof. Auf den Gräbern gutmütige Blumen wie Druckfehler im Gras. Viel Wind wühlt in fast tauben Ohren, fährt unter die Kleider der Schmächtigen und beinahe fällt sie der Föhn. Die Jahre mussten wir an der Grenze lassen, sagen die Toten.

In der Altersresidenz tobt das Heimspiel. Leib gegen Leben. Die Partie endet unentschieden. Es sind ja bloss Wörter, beschwichtigt Eine ihr einsilbiges Herz. Dieweil ihre Zimmernachbarin täglich Eigenschaften abgibt, eine nach der andern. Eine der Fröhlichen der zweiten Etage streicht unentwegt Teppichfransen glatt und stellt ein paar verpixelte Fotos nach. Flausen im Kopf, ausschliesslich. Ich muss hier schliessen, schreibt Einer im Einzelzimmer. Seinem Sohn. Schicke liebe Grüsse an dich und deinen Anhang. Dann ertränkt er seine Orchideen auf dem Fensterbrett, pünktlich wie jeden Tag. Um fünfzehn Uhr kommt die Pflegerin. Sie bringt Tee. Einen Lappen hat sie stets dabei. Für alle Fälle. Das sei doch keine Zuversicht, diese täglichen Überschwemmungen, stellt sie fest. Der Alte nickt. Stimmt, sagt er, und wir wissen wenig über Pflanzen. Stimmt auch, sagt die Pflegerin, vermutlich sind sie in einem der weichsten Momente entstanden.

Eine Glückliche lebt noch daheim. Ist bei sich. Dein Reich komme. Morgens, mittags und abends. Die Spitex. Die Augen wollen nicht mehr recht. Die Beine geben nur noch Kurzstreckentickets aus. Der Rest sei eine Sache des Willens. Und der Vorfreude auf den Frühling. Auf die Gartenarbeiten. Auf die Luft. Sie ist bald hundert Jahre alt. Sie macht täglich ein paar Übungen. Knie hochziehen, auf Zehenspitzen gehen, auf einem Bein stehen und dabei kurz die Augen schliessen. Nicht stolpern. Nicht fallen. Das sei im Alter das Wichtigste, sagt sie. Standfest sein. Im Gleichgewicht bleiben. Haltung bewahren. Ab und zu strauchle sie über die eigenen Regeln. Ich habe genascht. Der Herrgott werde ihr die lässliche Sünde nachsehen. Und, sie sei ready, im Fall. Jederzeit abholbereit. Dein Reich komme. Wobei, die Tulpen und die Narzissen in ihrem Garten würde sie doch gerne noch einmal sehen. Wenn sie es recht bedenke, seien Blumen schon immer ihre grösste Freude gewesen. Die Anemonen, die Osterglocken, der Sommerflor erst, die wilden Rosen, Astern und Dahlien im Herbst, und Erika und Christrosen schliesslich zu Allerheiligen auf dem Friedhof. Wo sie lieber nicht hin wolle. Sie wünsche, dass sich ihr letztes Bett im Garten befinde. Sorgst du dafür?

Und dann noch die uneinigen Paare. Einer von beiden ist aus dem Leim gegangen. Hat sich einen schlurfenden Gang angewöhnt. Kommt nicht mehr aus Morgenmantel und Pantoffeln raus, nicht mehr hoch aus dem Lehnstuhl. Zeitung und TV. Zwei, drei Gläser Rotwein, Weissbrot, Käse und Trockenfleisch. Dem andern ist das zu zäh. Nun beissen sie sich aneinander die Zähne aus. Getreulich.

Theres Roth-Hunkeler, geboren 1953 in Hochdorf Luzern, lebt heute in Baar bei Zug und oft in Berlin. Schreiben, Lesen und Literaturvermittlung sind ihre Schwerpunkte, die auch ihre langjährige Lehrtätigkeit an Kunsthochschulen prägten. Die Autorin hat neben Erzählungen und journalistischen Texten fünf Romane publiziert, zuletzt «Allein oder mit andern» (2019) und das Text-Bild-Werk «Lange Jahre» (2020) mit Bildern der Malerin Annelis Gerber-Halter.
Zu «Geisterfahrten» (2021): «Die Autorin versteht es meisterhaft, uns sowohl das unmittelbare Geschehen der Gegenwart vor Augen zu führen wie dieses mit vergangenen und nachwirkenden Hintergründen so zu verbinden, dass die verschiedenen Zeitebenen fliessend ineinander übergehen. So gelingt ihr ein psychologischer Familienroman, der auf kunstvolle Weise die faktische Realität der Vergangenheit mit dem Realismus einer fiktiven Gegenwart verbindet.» Daniel Rothenbühler

Webseite der Autorin

Beitragsbild © Ayse Yavas

Klaus Merz aus «firma»

Wir führen
nur sporadisch Buch.
Es geht um die Denk-
würdigkeiten.

 

20. Juli 1968

Fast dämmert es schon unter den hohen Bäumen der Badeanstalt, die ihre Kronen mit den nahen Friedhofsbäumen verschränken. Seit je schwebt leichter Karbolineumgeruch, vermischt mit einem Hauch von Urin, über den grünen Wassern. Frau Droz macht Kasse und räumt das Leckereienkabäuschen auf, sie will heim, läutet mit ihren Schlüsseln. Während der junge Heilsarmeeoffizier zu einem letzten Überschlag vom Einmeterbrett ansetzt, greifen wir entschlossen nach den Kugelschreibern und setzen unsere Signaturen unter den Mietvertrag des Gebäudes, der schon seit dem Morgen in doppelter Ausführung vor uns auf den Badetüchern liegt: Die Firma steht.

 

7. August 1969

Kurz vor Feierabend versetzt Alexander, unser kaufmännischer Lehrling, die junge Belegschaft in Unruhe: Es gebe kein richtiges Leben im falschen, habe er über Mittag in einem Nachruf gelesen. Und er fragt grübelnd nach, ob es das „richtige“ Leben vielleicht gar nicht gebe. Da unser Dasein schon von Grund auf „falsch“ angelegt sei: sodass es eigentlich nur das falsche im falschen geben könne. Was ja dann aber, minus mal minus ergibt plus, durchwegs wieder zum „richtigen“ führen müsse. Unsere Belegschaft atmet auf, hörbar.

 

2. September 1971

Im Frühjahr entsteht neben dem florierenden Betrieb eine Minigolfanlage, achtzehn Bahnen, was bei den Angestellten natürlich stets für unliebsame Ablenkung sorgt und auch wochentags „viele Sportbegeisterte samt Familie ans Schlageisen ruft“, wie der Berichterstatter des Tagblattes elegant festzuhalten weiß. – Am Samstag, es nieselt, ziehen wir das Milchglas hoch, bis über den Scheitelbereich.

 

16. Mai 1972

Wir werden durchleuchtet. Der Wagen der Frauenliga fährt vor – Schirmbild – und macht uns alle ein wenig krank. Zuerst sind die Männer an der Reihe, sie machen sich schon im Freien oben frei. Einatmen. Still- halten. Ausatmen. „Aufatmen“, sagen die Raucher und langen noch schnell nach einem Sargnagel, bevor sie wieder an die Arbeit gehen. „Nach dem Durchleuchten der Damen riecht es jeweils weniger streng im Wagen als bei den Herren, Angstschweiss halt“, sagt der Fahrer, er raucht eine mit. „Die strahlende Röntgenschwester hat uns ja alles ganz leicht gemacht“, sagen wir, versenken die Kippen im  Abwasserschacht.

 

19. Januar 1973

Irina, die wir kurz nach dem Scheitern des Prager Frühlings bei uns aufgenommen und dann gern in der Firma behalten haben, trägt ein Medaillon um den Hals. Wer sich denn unter dem feinen Golddeckel verstecke, wollen wir immer wieder von ihr wissen. Sie widersetzt sich den Neckereien konsequent, „zieht den Eisernen Vorhang zu“, sagt Graber und erschrickt, als Irina ihm ihr Kleinod vor die Nase hält: Es ist ein Bildchen des jungen Jan Palach, der sich aus Protest gegen den sowjetischen Einmarsch auf dem Wenzelsplatz selbst angezündet hat. Vier Jahre zuvor, auf den Tag genau.

 

19. April 1975

Wäre der Geschlechtsverkehr nicht offensichtlich in geschäftseigenen Räumen vollzogen worden, wir hätten darüber hinwegsehen können: Die beiden Beteiligten zeigen ihre erhitzten Gesichter, dahinter unscharf das Firmenlogo. (Vom Fotografen, der das Bild kurz nach Neujahr ans Schwarze Brett gepinnt hat, keine Spur.) Wir haben Stellung beziehen müssen und halten fest: Es ist Liebe. Unterm Reisregen der gesamten Belegschaft verlässt das Hochzeitspaar kurz vor Mittag guter Hoffnung die Kirche.

 

2. April 1978

In unserem Firmenkeller wird getrommelt und geschwitzt. Mittwochnachmittags ist schulfrei, Kambers Sohn hat sich mit drei Freunden und ihrem Schwermetall zwischen den Kartoffelhorden eingerichtet. Von fern nur erahnen wir Obergeschossigen, was es heisst, wenn einem Hören und Sehen vergehen soll. „Gezinst“ wird auf den 1. Januar, ein Gratiskonzert für die Belegschaft, so steht’s im „Vertrag“. Noch wissen wir nicht, ob wir uns darauf freuen oder davor fürchten sollen.

 

7. Februar 1980

Hutlose Lieferanten werden nicht empfangen! Das Emailschild dräut über dem Geschäftseingang unseres einzigen Untermieters, dem permanent klammen Hutfabrikanten mit seinen sieben Kindern. Aus Solidarität zu ihm und seiner kleinen Belegschaft, der zarten Modistin aus Graz, entschliessen wir uns, über der Tür des eigenen Betriebes eine entsprechende Warntafel anzubringen: Herzlose Lieferanten werden nicht empfangen. Der Nachbar dankt es uns mit einem Allwetterhut.

 

7. Januar 1981

Mit ihrem nigelnagelneuen Schweizer Pass in der Jackentasche hat unsere lebensfrohe Irina ihre erste, lang ersehnte Reise in die einstige Heimat angetreten. Anfangs Woche ist sie wieder aus Pilsen zurückgekehrt. Sie habe ihr Geburtshaus betreten, sei vorgegangen bis zum Wohnzimmer: „Auf der Ofenbank sitzt Grossvater, Onkel Pepin auf der Couch, Grossmutter hantiert wie immer in der Küche.“ Beim Erzählen steigen Irina Tränen in die Augen: „Aber ich“, sagt sie, „bin eine andere geworden. Eine Fremde.“

 

11. Juni 1981

„Zweierlei Blunzen. Und dann geschnetzeltes Herz, hat unser neuer Kunde beim Mittagessen im Salzamt in Auftrag gegeben, während mir in meiner kulinarischen Unentschlossenheit nur das Schnitzel (aber was für eines!) in den Sinn gekommen ist.“ – Fast habe er sich vor dem Schlachtverständigen ein wenig geschämt. Überhaupt sei es einer seiner anregendsten Kundenbesuche seit Jahren gewesen, berichtet Karl, der langjährige Aussendienstmitarbeiter, bevor er uns die Bestellliste der Wiener Firma, korrekt wie immer, durchfaxt.

Klaus Merz, geboren 1945 in Aarau, lebt in Unterkulm/Schweiz. Zahlreiche Auszeichnungen, u.a. Hermann-Hesse-Literaturpreis 1997, Gottfried-Keller-Preis 2004, Aargauer Kulturpreis 2005, Werkpreis der schweizerischen Schillerstiftung 2005, Basler Lyrikpreis und Friedrich-Hölderlin-Preis (beide 2012) sowie zuletzt Rainer-Malkowski-Preis (2016) und Christine-Lavant-Preis (2018). Seit Herbst 2011 erscheint bei Haymon die Werkausgabe Klaus Merz in mehreren Bänden. 2020 ist mit der Erzählung «Im Schläfengebiet» ein Sonderdruck in bibliophilem Gewand und mit einem Begleitwort von Beatrice von Matt erschienen.

Beitragsbild © Fotowerk Aichner

Max Annas „Local Train“, Plattform Gegenzauber

Neukölln
»Dahinten.« Kareem zeigte durch die Blätter vor ihren Augen. »Die S-Bahn …« Sein Körper spannte sich.
Vom Bahnhof Hermannstraße kommend, tauchten die Scheinwerfer auf, noch fern. Der surrende Ton, den die Bahn mit sich brachte, erreichte die Ohren etwas später.
»Hmhm …« Issam steckte die Hände in die Hosentaschen. Schwieg. Rührte sich nicht.
»Jetzt ist es sowieso zu spät.« Kareem entspannte sich wieder.
»Wir müssen darüber reden, wie wir das genau machen«, sagte Issam.
Die Scheinwerfer waren fast auf ihrer Höhe, zogen unter der Brücke vorbei. Kareem und Issam schauten dem Vorortzug hinterher. Durch das Blätterwerk vor ihren Augen und über das Grün auf der Böschung am Gleis flackerten die Lichter vorbei.
»Was gibt es da zu reden? Ist doch alles gesagt.«
»Na ja … Ob wir erst losgehen, wenn die Lichter zu sehen sind. Zum Beispiel.«
Jetzt sagte Kareem keinen Ton.
»Oder ob wir rennen. Ich meine … Wir wollen ja nicht, dass es so lange dauert, weil wir wollen ja auch nicht, dass uns jemand sieht und so. Oder ob wir …«
»Da …« Kareem zeigte in Richtung Tempelhof, wohin die erste S-Bahn verschwunden war. Scheinwerferflackern, das Surren. Auch von dort kam eine S-Bahn. »Aber wir wollten ja die von der anderen Seite nehmen.«
»Hmhm …« Issam drückte mit einer Hand ein paar Zweige neben seinem Kopf zur Seite. »… also ob wir am Geländer warten. Wie oft kommen die um diese Uhrzeit? Und wie lange noch?«
»Woher soll ich das wissen? Immer noch ganz schön oft. Und am Geländer zu warten ist zu gefährlich. Was, wenn die Bahn dann einfach nicht kommt? Wir können da ja nicht so rumstehen. Dahinten …« Kareem zeigte nach Norden. »Da sind Leute.«
»Kommen die hier vorbei? Aber irgendwann fahren die auch nicht mehr. Die Leute …«
»Sieht so aus. Ja … irgendwann ist Schluss mit den Bahnen.«
»Was machen wir?«
»Einfach leise sein. Aber es ist Freitag …« Kareem redete jetzt tonlos. »Da fahren die doch die Nacht durch.«
»Nnnnnnnnnn …« Hinter ihnen im Gebüsch war ein Rascheln zu hören. »Nnnnnnnnn …«, machte es wieder.
Kareem drehte sich um und trat dem Bündel fest in die Seite. »Ng …«, machte es und hörte auf, sich zu regen.
Kareem bückte sich und überprüfte den Knebel im Mund. Seine Fußballshorts saßen bombenfest zwischen den Zähnen. Er stand wieder auf und trat noch einmal zu.
»Die Schnürsenkel halten?«, fragte Issam leise.
»Bombenfest.« Kareem hob einen Daumen, checkte trotzdem noch einmal Hände und Füße.
Die Leute waren nähergekommen. Ihre Stimmen waren deutlich vernehmbar. Kareem erkannte drei Gestalten. Drei Männer. Leicht schwankend.
»Alles piccobello sonst …«, sagte einer.
»Die Strände?« Der zweite.
Der dritte lag einige Meter zurück und blickte sich um. Suchte einen Platz im Gebüsch. Kareem tippte Issam an. Legte den Finger auf die Lippen.
»Alles in Antalya. Leute nett und höflich. Strände sauber und nicht zu voll. Und kein Mensch redet über Politik.«
»Komm schon«, sagte der zweite und drehte sich dabei um. Der dritte beschleunigte seine Schritte.
Von Osten, von der Hermannstraße, kam die nächste S-Bahn gefahren. »Zu spät«, sagte Kareem. »Guck mal. Wenn die abfährt in der Hermannstraße, das kann man ja hören. Dann gehen wir los.«
»Hmhm …« Issam drehte sich um und blickte zu dem Bündel hinab.
»Wir können es nicht austesten. Gibt keinen Probedurchgang. Bahn fährt los. Wir starten und ziehen das durch.«
»Doch. Wir können das schon einmal durchgehen. Wenn wir hören, dass die Bahn abfährt, gehen wir zum Geländer. Dann sehen wir ja, ob das mit der Zeit hinhaut. Das sind … guck … 40 Meter?«
Kareem sagte nichts.
»Der hier kann ja nicht weg. Oder?«
»Du willst gar nicht mehr.«
»Doch … Aber … Ich meine … Washington kommt jetzt bald aus dem Krankenhaus.«
Kareem schüttelte den Kopf. »Er war eine ganze Woche im Koma.«
»Ja, aber jetzt ist er bald wieder bei uns.«
»Er wird die nächsten Monate mit Schienen an den Beinen rumlaufen. Nix Fußball und so.«
»Die Ärzte haben gesagt …«
»Mann, der Typ hat Washington fast umgebracht. Hast du das vergessen?« »Nein, natürlich nicht.«
»Wir haben nicht mal gewusst, ob er das überleben wird. Am Anfang haben sie gesagt, das wird nix mehr.«
»Ja …« Issam war ganz leise geworden.
»Gleich, da, die nächste Bahn. Komm …« Kareem bückte sich und fasste die Füße des Bündels.
Als sich Issam nicht rührte, erhob er sich wieder. Die Bahn näherte sich und fuhr vorüber.
»Guck mal«, sagte Issam.
»Was?«
»Da …«
»Der Hund? Der ist gleich wieder weg.« »Das ist kein Hund.«
Kareem sah genauer hin. Vier Beine, nicht so lang, dichtes Fell, braun oder rot, spitze kleine Ohren, der Schwanz buschig. Er hatte das Tier gar nicht kommen sehen. Es guckte die eine Straße entlang, dann über die Brücke.
»Ein Fuchs«, sagte Issam. »Hab ich auf YouTube gesehen.« »Was guckst du denn auf YouTube?«
»So was eben … Alles Mögliche.«
Ein Motor wurde in der Nähe gestartet. Viel zu viel Schwung beim ersten Kontakt mit dem Gaspedal.
»Wenn sie krank sind, greifen sie sogar Menschen an«, sagte Issam. »Haben sie da gesagt. Echt interessant.«
Der Fuchs drehte den Kopf ein paar Mal und verschwand dann Richtung Tempelhofer Feld. Ohne Eile.
Kareem beobachtete die Kreuzung aus dem Gebüsch heraus. Der Motor lief weiter, ohne dass der Wagen bewegt wurde. Noch keine Scheinwerfer zu sehen.
Das Tempelhofer Feld und Grün und Laubenwirtschaft im Rücken. Wohnhäuser auf der anderen Seite, zu viele Balkone für seinen Geschmack. Die kleine Brücke über die S-Bahn-Trasse ein Teil der T-Kreuzung. Bis zum Geländer auf der Brücke 50 Meter. Vielleicht sogar nur 40, da konnte Issam Recht haben. Jetzt wurden die Scheinwerfer angestellt. Das Geräusch des Motors wurde höher. Der Wagen kam um die Ecke gerollt. Die Scheinwerfer blendeten ihn für einen Moment. Er war froh, dass sie beide dunkle Klamotten trugen.
Als der Wagen gerade um die Ecke in der Emser Straße verschwunden war, tauchte genau dort eine Figur auf, die Kareem zu erkennen glaubte. Der Typ orientierte sich kurz, checkte den Grünstreifen, in dem sie sich verborgen hielten. Er sah dann auf sein Telefon und kam zielstrebig auf sie zu.
Nach dem Fußballspiel hatte sich Emeka geduscht und zurechtgemacht. Er war es tatsächlich. Als er vor dem Gebüsch stand, in dem sie sich verborgen hatten, guckte er noch einmal aufs Telefon. »Hey«, rief er.
Kareem packte ihn und zog ihn ins Versteck. »Was ist los?«, fragte er.
»GPS«, sagte Emeka. »Ganz einfach.« Er klopfte Issam auf die Schulter.
»Ja, ist ja gut …«, sagte Issam. »Ich hab ihm ein Foto geschickt.«
»Ein Foto?«
»Hier.« Emeka reichte Kareem das Telefon. Auf dem Foto war das Bündel zu sehen. Gefesselt und mit dem Knebel im Mund. Erstaunlich, wie gut diese Fotos heute waren, dachte Kareem. Die gelbe Borussia-Dortmund-Hose war selbst im Dunkeln gut zu sehen. Sie quoll aus dem Mund von dem Arschloch raus.
»Krass«, sagte Emeka und betrachtete das echte Bündel. Den geschorenen Schädel. Die isolierten Koteletten, gerade noch im Widerschein der Straßenlaternen zu sehen. »Wo habt ihr den her?«
»Auf dem Heimweg.« Kareem. »Wir wollten eigentlich Richtung Hermannstraße. Dann haben wir ihn gesehen.«
»Er hat uns gesehen und ist auf die andere Straßenseite.« Issam.
»Nein. Er hat uns nicht gesehen. Wir sind ihm einfach nach.«
»Und dann waren wir auf einmal hinter ihm.« »Genau hier.«
»Und dann hab ich ihn ins Gebüsch gezogen.« »Ich eher …«
»Also … wir haben das zusammen gemacht.«
»Aber wer ist das?« Emeka hatte den Blick bislang nicht von dem Bündel gelassen.
»Das ist der, der Washington fast umgelegt hat«, sagte Kareem.
»Scheiße.« Emeka sah jetzt hoch. »Der ist das?«
»Hmhm …« Issam. »So sieht’s aus.«
»Jou …« Emeka holte aus und trat dem Bündel in die Seite. Hinter der gelben Hose war ein Röcheln zu hören. Emeka trat noch einmal zu. Das Röcheln wurde schwächer.
»Und jetzt?«, fragte Emeka.
Eine S-Bahn fuhr vorbei. Kareem blickte sich um und sah den Lichtern hinterher.
Emeka sagte zuerst keinen Ton. Und blies dann langsam Luft durch die Lippen. »Okay«, meinte er.
»Und jetzt, wo wir zu dritt sind, geht das viel besser. Passt auf, da kommen schon wieder Leute.«
Eine Gruppe junger Frauen näherte sich. Die letzte von ihnen, die den anderen mit etwas Abstand folgte, blieb genau auf der Höhe ihres Verstecks stehen und nahm einen langen Schluck aus einer Sektpulle. Die drei anderen waren schon ein paar Meter weiter und blieben stehen. Eine von ihnen kam zurück und nahm die Flasche in die Hand. Sie sagte irgendetwas auf Spanisch, schnell und rau, bevor sie die Flasche an den Hals setzte. Dann noch etwas. Kareem verstand nicht ganz, worum es ging. Irgendwas mit einem Job. Dann trank sie noch einen Schluck, gab die Flasche zurück und ging wieder zu den anderen. Die Nachzüglerin folgte ihr langsam. Schweigend zogen die Frauen von dannen. Zwei S-Bahnen begegneten sich unter der Brücke, als die Frauen noch zu sehen waren. In Kareems Hose brummte das Telefon, dass er dem Bündel abgenommen hatte.
»Einer nimmt die Füße.« Kareem stellte sich so, dass er die aneinander gefesselten Hände des Bündels greifen konnte. »Ich glaube, ich höre die S-Bahn schon. Kommt!«
»Da ist einer.« Emeka stand halb auf dem Gehweg und lugte zur Seite. Auf der Brücke war ein Mann stehen geblieben. Er trug eine viel zu weite graue Jacke. Kareem zog Emeka ins Gebüsch zurück. Der Mann machte ein paar Schritte, blieb stehen, blickte hoch und zur Seite. Kam wieder näher.
»Was macht der da?«, fragte Issam.
»Pssst!« Kareem legte den Finger auf die Lippen. »Nnnnnnnnnnnn …«, kam es vom Boden.
Kareem trat dem Bündel in die Seite.
»Krrr …«, machte es von unten.
Der Mann hatte die Brücke mittlerweile überquert und schaute ins erste Auto, das gegenüber dem Grünstreifen geparkt war. Ein Kombi. Checkte den nächsten Wagen, einen Golf. Sah in den daneben. Bückte sich. Ging weiter. Neben einem kleinen Sportwagen ging er in die Hocke. Im Licht einer Straßenlaterne konnte Kareem sehen, dass seine Hose einen Riss im Schritt hatte. Die Schuhe fielen beinah auseinander. Der Mann stand auf und blickte sich wieder um. Dann holte er aus und hieb mit dem Ellbogen gegen das Fenster der Fahrertür.
Nichts passierte.
Er holte etwas weiter aus und versuchte es noch einmal. Jetzt zerbrach die Scheibe.
»Scheiße!«, sagte Emeka.
Kareem wartete auf den Alarm. Aber der kam nicht.
Der Mann griff ins Auto hinein. Steckte, was er rausholte, schnell in die Jacke und ging davon. Er sah sich nicht noch einmal um.
»Wow«, sagte Issam. »Das macht der aber nicht zum ersten Mal.«
»Kann man von so was leben?«, fragte Emeka.
Eine S-Bahn passierte die Brücke von Tempelhof kommend. Eine andere gleich darauf von der Hermannstraße aus.
»Was ist jetzt?«, fragte Kareem und bückte sich.
Issam und Emeka standen neben dem Bündel.
»Okay, na gut, ich nehme die Füße«, sagte Issam.
»Ich glaub’s nicht.« Kareem stand wieder auf.
»Was?« Issam stand sofort neben ihm. »Wer ist das denn?«, fragte er, als er den Blick justiert hatte. Eine Frau kam zielgenau auf das Gebüsch zu. Sie stützte sich auf einen Gehstock. Die Schritte waren unterschiedlich lang.
»Auntie Mo«, sagte Kareem. »Hast du ihr auch das Foto geschickt?«
»Ich kenne die gar nicht.« Issam.
»Ich hab’s ihr gezeigt.« Emeka.
»Scheiße. Die hat uns gerade noch gefehlt.« Kareem drehte sich ab und starrte auf das Bündel.
Der Stock klackerte deutlich, als sich Auntie Mo näherte. Sie stand schon vor dem Gebüsch. »Wo ist er?«, fragte sie, ohne sich Mühe zu geben, ihre Stimme zu senken.
»Schsch …« Kareem blickte auf das Haus gegenüber, als die Frau durch das Gesträuch brach.
»Ist er das?«, fragte sie in derselben Lautstärke. Dann spuckte sie auf ihn. Sie holte mit dem Stock aus, überlegte es sich aber anderes, bevor er auf dem Bündel niederging.
Kareem atmete aus. »Lass uns bitte leise sein, Auntie.« »Sie ist die Tante von Washington«, sagte Emeka zu Issam. »I am not«, sagte Auntie Mo, immer noch in voller Lautstärke. »I happen to know him from Lagos.«
»Okay.« Kareem legte Auntie Mo die freie Hand auf die Schulter. »Keine Tante. Aber wir müssen leise sein.«
Ein stotternder Motor kam langsam näher. Zu niedriger Gang, Aussetzer, wieder der Motor, erneut ein Aussetzer. In dem alten Toyota waren die Scheiben herabgelassen. Kareem machte ein leises »Sssss!« Sofort waren alle ganz ruhig.
Vier junge Männer saßen in dem Wagen. Glotzten in die Gegend. Einer war eine Glatze, die anderen sahen aus wie alle. Der Wagen war hellgrün, hatte aber rostbraune Türen. Das Dach war eingedellt. Ganz kurz stockte der Motor wieder, als der Wagen den Busch passierte. Der Fahrer blickte in den Fußraum unter sich und gab dem Gaspedal unter vollem Körpereinsatz ein paar Tritte. Der Motor hustete und fing sich dann wieder. Die vier fuhren schweigend um die Ecke.
Eine S-Bahn kam von der Hermannstraße angefahren. Dann eine aus der anderen Richtung. Kareem sah sich um. Die anderen machten keine Anstalten, ihm zu helfen. Issam schaute auf die Straße. Emeka war mit sich selbst beschäftigt. Auntie Mo blickte nach unten. Sie schüttelte den Kopf. Der Arm mit dem Stock zuckte.
»Wir können das jetzt ganz schnell machen«, sagte Kareem. »Zu viert geht das ganz einfach.«
Emeka bückte sich, Issam drehte sich zu dem Bündel. »Ich kann das nicht«, sagte Auntie Mo. »Mein Bein.«
Laufende Schritte, die näherkamen.
»Nnnnnnnnnnn …«, kam es vom Boden. Die vier Stehenden wandten sich der Straße zu.
»Nnnnnnnnnnn …«
Die Schritte waren jetzt deutlicher hören. Schnell und leicht. Keine Sneakers.
Eine S-Bahn übertönte die Laufgeräusche. Als die S-Bahn verklungen war, tauchte die Gestalt aus der Emser Straße kommend auf.
»Fuck me«, sagte Kareem. »Wo kommt die denn jetzt her?«
»Tanja.« Emeka schien weniger überrascht. »Das Foto?«, fragte Kareem.
»Ja … Sie auch.«
»Wo seid ihr?«, rief Tanja.
»Komm.« Emeka hielt eine Hand aus dem Gebüsch heraus. Tanja sprang durch die Lücke, die er mit dem Arm schuf.
»Die sind hinter mir her.« Tanja war außer Atem. »Wer?«
»So … Rechte … Nazis …« Tanja atmete aus. »Ein ganzer Wagen voll.«
»Mist«, sagte Issam.
»Haben angehalten. Und … Kacke geredet. Das war voll unangenehm.«
Kareem wollte wissen, was sie gesagt hatten, wollte aber nicht fragen.
»Das ist er?« Tanja hatte wieder Luft und zeigte nach unten.
»Hmhm«, sagte Kareem. »Die Narbe.«
Sie bückte sich und verteilte eine Reihe von Backpfeifen. »Hnnn …«, kam es vom Bündel.
Tanja schlug weiter, bis sie erneut außer Atem war. »Hnnn … hnnn … hnnn…«
»Komm«, sagte Emeka und nahm Tanja in den Arm.
»Reicht.«
»Und die Nazis?«
»Sind mir nicht hinterher.«
Der stotternde Motor war fern wieder zu hören. Kam näher. Jetzt war auch Rockmusik im Spiel. Sie wurde gleichzeitig mit den Motorgeräuschen lauter.
»Arschlöcher.« Kareem wartete darauf, dass der Wagen auftauchte. »Wir könnten einfach rausgehen und sie alle zusammenschlagen.«
»Bist du bescheuert?« Tanja war jetzt ganz laut. »Die sind bestimmt bewaffnet.«
Der Wagen tauchte wieder auf. Er kam aus der Emser Straße und blieb vor dem Gebüsch stehen, in dem sie verborgen waren. Der Fahrer stellte die Musik aus und öffnete die Tür. Er stieg aus und schaute die Straße erst in die eine, dann in die andere Richtungen hinunter. »Die muss doch irgendwo sein«, sagte er.
»Oder sie wohnt hier«, rief jemand aus dem Auto.
»Komm.« Noch eine andere Stimme. »Wir haben zu tun. Wir suchen doch den Björn.«
Der Fahrer setzte sich in den Wagen, stellte die Musik wieder an. Es war fürchterlicher Krach. Neben sich hörte Kareem jemanden kichern.
Hinter einem Balkon auf der gegenüberliegenden Straßenseite ging das Licht an. Zweiter Stock. Ein großer Mann trat heraus und sah auf die Straße. Er stellte sich an die Brüstung und zündete sich eine Zigarette an. Die vier Män- ner fuhren davon. Der auf dem Balkon beugte sich so über die Brüstung, dass er dem Auto nachsehen konnte.
»Ganz leise jetzt«, sagte Issam.
»Hnnnnnnnn!«, machte das Bündel. Kareem trat nach hinten aus.
In der gleichen Etage ging ein weiteres Licht an. Ein anderer Mann kam heraus. Auch er zündete sich eine Zigarette an. Die beiden Männer blickten sich nicht an. Kein Wort fiel zwischen ihnen. Als der erste zu Ende geraucht hatte, schnippte er die Kippe nach unten und zog sich zurück. Der andere tat es ihm kurz darauf gleich und verschwand auch.
Emeka hielt Tanja immer noch im Arm, als sich Kareem umdrehte. Er sah, wie sie sich befreite und mit dem Absatz genau in die Mitte des Bündels trat.
»Iiiiiirrr …«, kam es hinter der Borussia-Hose hervor. »Iiiiiirrr …«
Er wusste, dass der Verschnürte ein Nazi war, aber Kareem tat es beim Zusahen weh. Instinktiv zog er die Hoden ein.
Tanja trat noch einmal zu und dann noch einmal. Das Bündel krümmte sich, so gut es ging. Kareem zog sie weg.
Sie blies vor Wut. »Am Anfang haben sie gesagt, dass Washington nie wieder einen hochkriegt. So sehr haben sie ihn getreten. Da lag er ja schon am Boden. Und …«
»Wie viele waren die denn?«, fragte Issam.
»Drei. Der eine hat mich festgehalten. Und die anderen haben Washington verprügelt. Und als er am Boden lag haben sie ihn zuerst gegen den Kopf getreten. Und dann … Es war so schrecklich. Der war das.«
»Und dann?«, fragte Issam.
»Der, der mich festgehalten hat, der hat mir eine geschallert. Ganz fest. Aber ich hab das gar nicht gemerkt. Ich hab nur Washington gesehen. Dann sind sie weg.«
Eine S-Bahn passierte die Brücke von Tempelhof kommend.
»Jetzt?«, fragte Kareem und ließ Tanja los.
Issam griff sich die Füße. Tanja griff unter die Knie. Kareem bückte sich und wartete auf Emeka. Auntie Mo stand dabei und sagte kein Wort. Das Bündel wand sich. Vor Schmerz oder um sich zu wehren.
»Bestimmt kommt bald eine«, sagte Tanja.
»Beeilung«, sagte Issam.
»Kommt«, sagte Emeka.
Als sie ihn sicher im Griff hatten, erlahmte der Widerstand des Bündels etwas. Kareem überprüfte, ob die Straße frei war. »Also«, sagte er.
Sie stürzten aus dem Gebüsch und gingen eilig zur Brücke. Der Typ war mager und leicht.
An der Hermannstraße wartete eine S-Bahn auf die Weiterfahrt. Sie konnten die Scheinwerfer sehen. Ganz leise war die Ansage zu hören. Das Bündel begann, sich zusammenzuziehen. Die Türen der Bahn würden sich jetzt schließen. Sie hatten ihn immer noch fest im Griff, als die S-Bahn losfuhr.
»Wir müssen ihn aufs Geländer legen«, sagte Emeka.
»Mit Schwung dann.« Kareem war der Zug schon viel zu nah. Jetzt mussten sie sich beeilen. »Auf drei«, sagte er. »Eins …«
»Zwei …«, sagte Issam.
»Halt«, rief Tanja. »Das ist er nicht.«
Alle ließen zur gleichen Zeit los. Das Bündel knallte gegen das Geländer und fiel dann vor ihnen auf den Fußweg. Die S-Bahn rauschte unter ihnen hindurch.
»Was heißt: Das ist er nicht?« Emeka stand direkt vor Tanja. Auntie Mo schüttelte den Kopf.
»Da«, sagte Kareem. Er zeigte auf das Gesicht. »Die Narbe.«
»Sie ist auf der falschen Seite.«
»Wie falsche Seite?«
»Die falsche Seite.«
Alle beugten sich über das Bündel.
»Da …«, sagte Tanja. Sie fuhr die Narbe unter dem rechten Auge nach. Kurz und dick gab sie dem Auge den Anschein, als würde es leicht schräg zu dem anderen liegen.
»Die muss da sein«, sagte Tanja. Sie zeigte auf die linke Wange. »Von hier …« Das war direkt neben dem Auge. »Bis da …« Das war fast am Mundwinkel. »Ganz anders.«
»You sure?«, fragte Auntie Mo.
»Ja. Absolut. Er hat mich immer wieder so angegrinst, als er Washington zwischen die Beine getreten hat. Das vergisst man ja nicht.«
Alle richteten sich wieder auf.
»Und was machen wir jetzt?«, fragte Issam.
Schweigen. Eine S-Bahn kam aus Tempelhof.
»Nazi ist er auf jeden Fall«, sagte Emeka. »Keine Frage.« »Hast du denn die beiden anderen gesehen«, fragte Kareem.
»Den einen gar nicht. Den, der mich festgehalten hat. Und den anderen nicht richtig.«
»And these guys in the car?«, fragte Auntie Mo.
»Keine Ahnung. Die konnte man ja nicht erkennen.« »Wisst ihr was?« Issam hielt den Zeigefinger hoch. »Wir lassen ihn hier liegen. Dann kommt die Polizei und findet ihn. Der hat bestimmt einen Haftbefehl offen …«
»Wenn die Polizei das überhaupt mal interessiert?«, sagte Kareem. »Aber okay …« Er dachte nach. »Schillerkiez? Ein letztes Bier?«
Alle setzten sich in Bewegung. An der Kreuzung, ganz in der Nähe vom Gebüsch, wo sie sich versteckt hatten, fiel Kareem noch etwas ein. Er ging zurück zu dem Bündel.
Als er sich über den Jungen beugte, weiteten sich dessen Augen. Er hatte immer noch Angst. Kareem zog ihm die Borussia-Dortmund-Hose aus dem Mund.
Die Augen des Jungen wurden schmaler. Kareem sah, wie er die Muskeln um seinen Mund herum anspannte. »Kanacke«, sagte der Junge heiser.
Kareem holte das Telefon des Nazis aus der Hosentasche. Er warf es auf die Gleise, als an der Hermannstraße eine S-Bahn startete. Dann drehte er sich um und ging den ande- ren hinterher. Er freute sich auf das Bier.

Max Annas «Der Hochsitz» Rowohlt, 2021, 272 Seiten, CHF 32.90, ISBN 978-3-498-00208-4

Max Annas, geboren 1963, arbeitete lange als Journalist, lebte in Südafrika und wurde für seine Romane «Die Farm» (2014), «Die Mauer» (2016), «Finsterwalde» (2018) und «Morduntersuchungskommission» (2019) sowie zuletzt «Morduntersuchungskommission: Der Fall Melchior Nikolai» (2020) fünfmal mit dem Deutschen Krimipreis ausgezeichnet. Bei Rowohlt erschien ausserdem «Illegal» (2017).

Rezension mit Interview von «Der Hochsitz» auf literaturblatt.ch

Beitragsbild © Max Annas

Alexandra Lavizzari «Silke», ein Romananfang

Seit Tagen herrschte mieses Wetter. Ich meine, wirklich mieses Wetter. Nicht grollender Donner und blendende Blitze, das wäre ja noch aufregend gewesen, auch stürzten keine golfballgrossen Hagelkörner runter, nein, es tröpfelte nur leise, dafür anhaltend. Das war eine Weile in Ordnung, tut ja den Blumen im Garten gut, aber als es dann am nächsten und übernächsten Tag immer noch leise und anhaltend tröpftelte, wurde es langweilig, zumal das Grau über den Dächern sich auch nie veränderte oder, wenn man genau hinschaute, höchstens mal von asch- zu mausgrau wechselte und umgekehrt.
Mies eben.
Als ich jung war, verliefen meine Launen und Gemütsschwankungen unabhängig vom Wetter. Ich konnte im tiefsten Winter die glücklichste Schneeprinzessin sein und im Hochsommer ein Häufchen Elend. Mit zunehmendem Alter begann ich jedoch, mein inneres Klima dem äusseren anzugleichen, ich weiß nicht, warum das so ist; vielleicht waren es die Hormone, es sind ja immer die Hormone, wenn man nicht weiß, warum einem so oder so zumute ist, jedenfalls funktionieren wir inzwischen fast schon in vollkommener Harmonie, das Wetter und ich, womit ich letztlich sagen will, dass es mir damals seit Tagen mies ging.
Wenn es mir mies geht, schlurfe ich entweder ziellos durchs Haus oder verkrieche mich mit einem Buch ins Bett, das ich nach drei Seiten weglege, um mich unter der Decke zu verstecken. Das Herumschlurfen tue ich im Bademantel, denn zur miesen Befindlichkeit gehört, dass ich den Sinn des Duschens, Haarekämmens und Ankleidens nicht einsehe und es mir auch egal ist, was Martin von mir denkt. Jene Tage aber waren anders. Ich fühlte mich mies, keine Frage, doch duschte ich morgens, kämmte mich und zog auch was einigermaßen Hübsches an. Ich konnte sogar mit Martin einen Spaziergang machen und die Kirschblüten bewundern – wir waren im Mai – , und wenn es sein musste, führte ich auch ein Gespräch mit ihm. Es waren keine tiefen Gespräche, nichts Philosophisches oder Politisches, aber besprechen, was wir einkaufen sollten und wer diese Woche den Rasen mäht, das ging. Alles andere war verlorene Mühe, ich war einfach nicht dabei. Wer redete, war weit weg von mir, und ebenso erging es mir, wenn ich Nachrichten oder einen Film schaute. Bilder und Wörter bedeuteten rein gar nichts, und da sass ich dann Abende lang neben Martin auf dem Sofa und hatte keine Ahnung, was ablief.
Immerhin wusste ich diesmal, warum ich in diesem Zustand war. Das Wetter spielte sicher eine Rolle. Jedesmal wenn ich aus dem Fenster blickte, schlugen mir das leise, anhaltende Tröpfeln und ewige Himmelgrau ein bisschen mehr aufs Gemüt, aber der eigentliche Grund lag anderswo, nämlich buchstäblich in der obersten Schublade des Flurmöbels zwischen Schlüsselbund und Sonnenbrillenetui. Dort hatte ich Silkes neue Ansichtskarte versorgt. Ad acta gelegt sozusagen.
Wobei ich mir keine Illusionen machte; nach unzähligen ähnlichen Karten wusste ich, dass ich sie nicht so ohne weiteres würde ad acta legen können. Die Karte blieb in meinem Kopf eingraviert, ob sie nun im Flurmöbel lag oder im Papierkorb landete. Einstweilen hatte das Flurmöbel den Vorteil, dass die Ansichtskarte unsichtbar und gleichzeitig in Reichweite blieb. Ich konnte daneben stehen und es beim Zuknöpfens der Jacke bei einem flüchtig unangenehmen Gefühl belassen, oder, auch möglich, vor dem Hinausgehen die Schublade ziehen und mich der Ungeheuerlichkeit stellen. Letzteres wagte ich selten und nur, wenn ich allein war. Das unangenehme Gefühl war schwer genug zu verkraften, es schwankte zwischen Wut und Hilflosigkeit und machte mich grantig, doch mit etwas Glück lenkte mich Martin ab, weil er gerade den Mantelärmel nicht erwischte oder den Schirm nicht fand, so dass ich beim Helfen auf andere Gedanken kam.
Besagte Ansichtskarte war nicht irgendeine Ansichtskarte, sondern Silkes Ansichtskarte. Der Name stand gut lesbar am unteren rechten Rand hinter den herzlichen Grüssen, als wäre es das Selbstverständlichste der Welt gewesen, dass sie mir welche schickt. Überhaupt gab sich diese Karte verglichen mit früheren ziemlich harmlos. Keine Ansicht von Weimar mit tiefgründigem Goethezitat, keine Reproduktion von Magrittes ‚Die durchbohrte Zeit‘, über deren Bedeutung ich mir den Kopf zerbrechen musste, nichts Verfängliches diesmal, sondern bloss ein Strand, weit und golden wie auf Werbeprospekten, dahinter ein Streifen Meer, in das eine Seebrücke hineinwächst, und das Wort ‚Ahlbeck‘ in Kursivschrift quer über den Himmel gezogen. Ich hatte noch nie was von Ahlbeck gehört, doch dank Google war ich bald im Bild: Ahlbeck liegt auf der Insel Usedom nahe der polnischen Grenze, zählt zusammen mit Heringsdorf und Bansin zu den drei sogenannten Kaiserbädern und besitzt eine der imposantesten Seebrücken der Ostsee. Ein eleganter Bade-, Ferien- und Kurort also: Das passte zu Silke. Wenn ich mich nicht täusche, kam sie sogar von dieser Ecke.
Martin habe ich nie von Silke erzählt. Selbst am Anfang nicht, als wir uns noch für unsere Vorgeschichten interessierten. Ich beichtete ihm damals ein paar Ladendiebstähle und Tändeleien mit Unikollegen, erwähnte vielleicht auch diese oder jene Schulfreundin, mit der ich nach der Matur eine Weile in Kontakt blieb, aber über das letzte Schuljahr, jenes, in dem Silke zu uns stieß, habe ich stets geschwiegen. Hätte die Karte im Flurmöbel doch mal Martins Neugier geweckt, was ich bezweifelte, hätte ich versucht, so gelassen wie möglich zu antworten: „Silke? Ach, das ist eine ehemalige Schulkameradin von mir. Keine Ahnung, warum sie mir immer wieder Karten schreibt. Ich schreibe jedenfalls nie zurück, wüsste nicht einmal, wohin.“ Es wäre nicht gelogen gewesen – aber die Wahrheit wiederum auch nicht. Wie auch immer, ich brauchte mir deswegen keine Gedanken zu machen, Martin fragte nicht. Er stellt mir kaum Fragen, über meine Vergangenheit schon gar nicht. Vielleicht fürchtet er, ich könnte mit etwas Unerhörtem aufwarten, das ihm sein Bild von mir zerstört; er schaut mich manchmal ganz unauffällig von der Seite an und beisst sich dabei auf die Unterlippe, das tut er immer, wenn ihn etwas beschäftigt, aber wenn ich ihn frage, was los ist, ob ich Zahnpasta im Mundwinkel habe oder meine Wimperntusche schmiert, sagt er immer „nichts, Schatz, alles ist in Ordnung“ und blickt auf den Boden. So einer ist Martin. Ein Verschlossener, nach innen Gewandter. Einer, den ich an guten Tagen ‚mein stilles Wasser‘ nenne und an schlechten ‚die Wand‘.
An dem Tag war er irgendwie beides. Wir schwiegen während der ganzen Dauer unseres Spaziergangs zum Fluss und anschliessenden Einkaufsbummels. Daran ist an sich nichts Aussergewöhnliches, wir schweigen fast immer, wenn wir nebeneinander gehen, aber der Einkauf nahm dieses Mal mehr Zeit in Anspruch, weil ich im Bioladen Sanddornsaft und in der Papeterie Pauspapier kaufen wollte, und dort kam Martins zwiespältiges Schweigen plötzlich zu voller Geltung. Im Bioladen war es noch das klassische Stilles-Wasser-Schweigen, an das ich mich über die Jahre gewöhnt habe, aber als ich mir in der Papeterie noch das neu eingetroffene handgeschöpfte japanische Papier zeigen liess, spürte ich, wie sich Martin hinter meinem Rücken versteifte. Beim vierten Papierbogen war die Verwandlung vollzogen und es herrschte Wandschweigen. Klar, einkaufen ist nicht Martins Ding, ich weiß das, er kommt nur mit, um die Taschen zu tragen und mir nicht das Gefühl zu geben, dass ich immer alles allein machen muss. Vielleicht war es sogar meine Schuld, das Wandschweigen. Weil ich seine Geduld strapazierte, weil ich mich zu sehr ablenken liess, weil ich zu neugierig auf neue Produkte war, will heissen ‚zu kapitalistisch veranlagt‘, meinetwegen. Ich habe das alles, und mehr, schon hundert Mal aus seinem Schweigen herausgehört. Da Martin seine Vorwürfe jedoch nur im Extremfall ausspricht, kann ich nicht sicher sein, was ihn genau stört, und an jenem Morgen, da ich nicht bei der Sache war, schon gar nicht.
Immerhin hatte ich mir mit einem japanischen Papierbogen eine kleine Freude gegönnt. Es brauchte wenig, um meine Laune um ein paar Grad und ein paar Stunden zu heben, ein mit Goldpailletten durchzogenes Stück Washi, keine zehn Gramm schwer, und schon verzog sich ein Wölkchen am dunklen Horizont. Die schwerste Wolke aber drückte weiter auf meinem Gemüt. Als ich den Papierbogen im Atelier auspackte und mir schon ausmalte, wie der nächste Holzdruck darauf wirken würde, überrollte mich die Ungeheuerlichkeit von Silkes Karte wie ein Tsunami. Ich spürte, wie das Blut mir in den Kopf raste, sah für den Bruchteil einer Sekunde schwarz, ja, ich schwamm plötzlich in einem Meer unendlicher, tiefster Schwärze, schwankte haltlos, bevor ich irgendwie die Stuhllehne erwischte, mich setzen konnte und langsam wieder klar sah. Silke! Sie war vor neununddreissig Jahren gestorben! Sie konnte mir gar keine Karten schreiben, weder aus Ahlbeck noch aus Weimar. Und aus dem Jenseits schon gar nicht. Diese Einsicht war natürlich nicht neu, ich wusste in jeder Minute meines Lebens, dass Silke tot ist. Aber es gibt wissen und wissen. Wie beim eigenen Tod. Man weiß, dass man irgendwann drankommt, doch dieses Wissen dringt gewöhnlich nicht durch, es bleibt beim vagen Irgendwann, das kann man aushalten, und dann gibt es wie aus heiterem Himmel Momente, in denen die Einsicht tiefer dringt und unseren ganzen Körper, unser Denken und Fühlen schlagartig mit Grausen erfüllt.

Alexandra Lavizzari, 1953 geboren in Basel, studierte sie Ethnologie und Islamwissenschaft. Nach langjährigen Aufenthalten in Nepal, Pakistan und Thailand lebt sie seit 1999 in Rom, in der Schweiz und in England. Sie schreibt für Schweizer Zeitungen und ist Autorin von zahlreichen belletristischen, kunstgeschichtlichen und literaturkritischen Werken. Für ihr Schaffen wurde sie mehrfach ausgezeichnet, u. a. mit dem Bieler Literaturpreis, dem 13. Würth Literaturpreis, der Poetik-Dozentur der Universität Tübingen und dem Feldkircher Lyrikpreis.

Peter Henisch «Über Rilke (eine Textstelle, die es nicht in den Jahrhundertroman schaffte)»

Angeblich schrieb er zuerst etwas ganz Anderes. Sollte irgendwelche Briefe beantworten, die ihm lästig waren, vielleicht Fanpost. Saß, so heißt es, im Zimmer, das war wahrscheinlich ein hoher Raum. Aber trotzdem, so empfand er es möglicherweise in diesem Moment, von einer beklemmender Enge.

Draußen blies die Bora, dieser berüchtigte, enervierende Wind. Da spürte er den Druck an den Schläfen, den wetterfühlige Leute schon bei Föhn spüren. Und gewiss war er wetterfühlig, das kann man sich vorstellen, wenn man ein Foto von ihm ansieht. Er hat so was im Gesicht, so eine Hypersensibilität, so eine mit der Zeit zum physiognomisch sichtbaren Ausdruck gewordene Überempfindlichkeit.

Und er steht auf vom Schreibtisch auf und tritt ans Fenster.

Und sieht, fast erschrocken über so viel plötzlich über ihn hereinbrechende Helligkeit das Meer glänzen.

Und obwohl das Licht draußen noch greller sein wird, und seine Augen erst recht überempfindlich sind, wird er hinaus ins Freie stürmen. Und wird aus dem Sturm eine Stimme hören – vielleicht das Echo seiner eigenen Stimme, obwohl er noch gar nicht gerufen hat.

Wer, wenn ich schriee –

hörte mich denn aus der Engel

Ordnungen

Und das ist zweifellos eine recht hochgestochene, hochgeschraubte Formulierung, aber gewiss auch, ja doch, ein gewaltiger Satz.

Den habe Rilke, heißt es, sofort niedergeschrieben, Notizbuch und Bleistift hatte er anscheinend bei sich, der heftige Wind hat ihn dabei merkwürdigerweise nicht gestört.

Stimmt, Roch erinnert sich: Er war mit Ingrid dort gewesen. Auf dem Rilke-Pfad, zwischen Duino und Sistiana. Unten das Meer, glitzernd, oben ein Raubvogel mit von der Sonne durchleuchteten Flügeln. Schön, aber trotzdem enttäuschend – der Pfad war auf halbem Weg gesperrt.

Sie wollten über das Gitter klettern, sie fühlten sich damals noch jung. Aber da war ein Custode, der sie daran hinderte. E pericoloso! Der Weg sei durch Unwetter beschädigt. Der Rand drohe abzurutschen. Sie würden abstürzen.

Dann am Abend, im Albergo, hatten sie die erste Elegie nachgelesen.

Wer, wenn ich schriee … Zweifellos beeindruckend … Aber nicht doch auch eine Spur zu prätentiös?

Übrigens sei dieser Text, so groß er im Ansatz klang, in gewisser Hinsicht auch kleinmütig

Um an sich als Engelbeschwörer zu glauben, dazu war dieser beinah Begnadete dann doch wieder zu skeptisch.

Dann am Abend, im Albergo, hatten sie die erste Elegie nachgelesen.

Wer, wenn ich schriee … Zweifellos beeindruckend … Aber nicht doch auch eine Spur zu prätentiös?

Übrigens sei dieser Text, so groß er im Ansatz klang, in gewisser Hinsicht auch kleinmütig

Um an sich als Engelbeschwörer zu glauben, dazu war dieser beinah Begnadete dann doch wieder zu skeptisch.

Sie blätterten damals auch in einer Biographie, die, adrett arrangiert, unter einer Vase mit parfumierten Kunstblumen, auf dem Tisch ihres Zimmerchens lag. Rainer Maria Rilke, in vergoldeten Lettern. Dieser Mensch hatte (abgesehen von seiner literarischen Begabung) ein erstaunliches Talent, noble Bekanntschaften zu machen. Gast auf Schloss Duino, eingeladen von einer Fürstin, Marie von Thurn & Taxis Hohenlohe und weiß Gott was noch.

Anfangs leistete sie ihm noch Gesellschaft, lud ein paar andere Gäste ein, die den Dichter besichtigen durften, aber dann (ab Mitte Dezember 1911) überließ sie ihn sich selbst. Begab sich auf ein anderes ihrer Schlösser. Aber die Köchin und der Kammerdiener blieben natürlich zu Rilkes Verfügung. Offenbar dezente Personen, die er nur sehr nebenbei bemerken musste.

Nun bin ich wirklich, seit vorgestern, ganz allein in dem alten Gemäuer, schrieb der Dichter an eine andere edle Freundin, eine geborene Prinzessin von und zu – den Adelsnamen hatte Roch vergessen.

Nein, hatte Ingrid gesagt, ich halte diesen Typ nicht aus!

Aber er ist ein Jahrhundertdichter, hatte Roch eingewandt.

Schon möglich, so Ingrid, aber dann hat sich im Jahrhundert geirrt – in was für einer Welt hat denn der gelebt, ich bitt dich!?

Aber er habe doch auch Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge geschrieben und das sei doch ein durch und durch moderner Roman.

Ach was, sagte Ingrid, der Protagonist, dieser überempfindsame Däne in Paris, sei ja im Grunde auch von einem anderen Stern.

Ein Wort gab das andere. Am Ende waren sie fast aufeinander böse gewesen wegen Rilke. Und hatten sich erst im Bett versöhnt, in dem sie, zuerst voneinander abgewandt, bald aufeinander zu rollen mussten, weil die Matratze derart durchhing.

Und Roch blättert weiter. Er sucht ja nach wie vor Musil. Doch ein paar Seiten später: noch immer Rilke. Allerdings nicht mehr in Duino, in diesem Schloß mit der atemberaubenden Aussicht. Sondern in der Stiftskaserne, einem schmutzig- kaisergelben Gebäude im siebenten Wiener Bezirk.

Die Fenster sind offen, die Räume müssen täglich zwei Mal gelüftet werden. Das hat der Major, dem die dubiosen Schreiber in dieser Abteilung unterstellt sind, so angeordnet. Rilke hüstelt, er ist für Verkühlungen anfällig. Doch so viel ist wahr, gelüftet muss werden, jeweils mindestens zehn Minuten sollen die Fensterflügel sperrangelweit offen stehen, sonst hält man den Mief hier drinnen einfach nicht aus.

Da sitzt er nun, Rilke – hängende Schultern, runder Rücken, vor sich eine verblichen grüne Schreibunterlage aus Filz. Durch die halb vergitterten Fenster sieht man nichts als die Häuserfront vis à vis. Und dort auf dem Dachfirst ein paar steinerne Engel. Allerdings elend schlecht gelungene, zu Karikaturen misslungene Engel aus irgendeiner mediokren Manufaktur.

Rilke, der zu einer Zeit, die nun sehr fern scheint, fast unwirklich, weil es damals zwischen Deutschland und Frankreich noch keine von Tag zu Tag wachsende Barriere aus Leichen gab –

Rilke, der die Arbeit des großen Rodin in seinem Atelier zu Paris beobachtet und beschrieben hat –

der die Entstehung von Skulpturen bis in die Fingerspitzen, bis an die Schmerzgrenze nachfühlt –

Rilke kann diese Engel gar nicht länger ansehen.

Diese bedauernswerten Engel, die später dem Zweiten Weltkrieg zum Opfer fallen werden. (Von dem man damals, mitten im ersten, noch nichts ahnt.) Diese Engel haben Käppchen aus dreckigem Schnee auf den Köpfen. Unter ihren Füßen hängen Wächten,

von denen ab und zu ein Stück abstürzt, was jedes Mal ein dumpfes Geräusch auf dem Gehsteig verursacht.

Und da sitzt er nun also fröstelnd am Schreibtisch. Es ist Februar 1916, die Nachrichten von den Fronten sind schlecht. Eine trübe Verdrießlichkeit liegt in der Luft, ein bis in die Knochen spürbarer Pessimismus. Sogar die Stimmen der Fiakerkutscher, die unten vor dem Tor der Stiftskaserne auf Offiziere warten, klingen inzwischen kleinlaut.

Ein paar Wochen wird es dauern, hat es im August 1914 geheißen, vielleicht ein paar Monate. Und gewiß wird man Opfer bringen müssen, Soldaten werden fallen, doch dazu sind sie schließlich da. Aber das wird sich unten in Serbien abspielen oder oben in Galizien und der Bukowina. Na ja und wenn die deutschen Bundesgenossen durchaus wollen, dann sollen sie halt dort drüben in Frankreich einmarschieren.

Bloß: Dass man hier, in dieser Haupt- und Residenzstadt, in der zwar vielleicht manchmal streitlustige aber im Grund ihres Herzens doch friedliche Menschen (ungefähr zwei Millionen) wohnen, auf einmal von der Heimatfront reden wird, das hat man nicht erwartet. Und dass man nicht nur Fleisch und Gemüse kaum mehr bekommt, sondern nun auch schon Marken für Brot und Mehl braucht. Die Freude am Krieg, falls es die je gegeben hat, kommt da leicht abhanden. Dagegen muss was getan werden, diesen defätistischen Schlendrian, darf man nicht einfach einreißen lassen.

So der Major. Das ist doch nicht zu viel verlangt. Ein bisschen dichten, meine Herrn, ein bisschen über den Krieg dichten. Über die Tapferkeit und das Durchhaltevermögen unserer Feldgrauen, über den auch bei taktischen Rückzügen ungebrochenen Willen zum Vormarsch. Sie haben doch Fantasie, sie müssen nicht wirklich dabei sein, ich würde sagen, das ist ein entscheidender Vorteil.

Und Sie, Rilke, werden doch auch noch was zustande bringen. Sie können das nicht? Sie würden einfache Abschreibarbeiten vorziehen? Jetzt reden Sie keinen Blödsinn, dafür haben wir Sie nicht hierhergeholt! Nehmen Sie sich ein Beispiel an Ihren Kollegen Werfel und Kisch, die können das ja auch.

Peter Henisch, geboren 1943 in Wien. Nachkriegskindheit, Wiederaufbaupubertät. Studium der Philosophie und Psychologie. 1969 gemeinsam mit Helmut Zenker Begründung der Zeitschrift «Wespennest». Seit den 1970er­n freischwebender Schriftsteller. 1975 erschien Henischs erster Roman «Die kleine Figur meines Vaters», seitdem zahlreiche Romane. Zahlreiche Auszeichnungen, u. a. den Österreichischen Kunstpreis

Rezension von «Der Jahrhunderroman» auf literaturblatt.ch

Beitragsbild @ Eva Schobel