In der Schule lernen wir, dass der 2. Weltkrieg im Mai 1945 endete. Was für ein Irrtum! Paul Schwedenreiter ist Brückenmeister, prüft Risse und statische Veränderungen in Brücken. Was sich seiner Kontrolle entzieht, sind die Auswirkungen einer Chronik, die über 60 Jahre nach Ende des 2. Weltkriegs Wehrmachtsdeserteure und ihre Helferinnen zur Landplage erklären, geschrieben vom angeblichen Retter des Dorfes, einem ehemaligen SS-Mann.
Paul besitzt eine Haus in Hinterstumpf im Salzburgischen Innergebirge. Das Haus seiner Grossmutter, bei der er nach dem Tod seiner Mutter, die er nur von Bildern kennt, aufgewachsen ist. Sein Grossvater wurde an der Front als Wehrmachtssoldat verwundet und weigerte sich, sich nach einem Urlaub wieder zurückzumelden. Er versteckte sich mit anderen in den Bergen, was zu Folge hatte, dass in einer militärischen Aktion viele dieser Deserteure in den Bergen geschnappt, gefoltert und getötet wurden, genauso jene, denen man vorwarf, die Deserteure mit Lebensmitteln und anderem unterstützt zu haben. Seine Grossmutter Rosa wurde verschleppt, in eine Konzentrationslager unweit von Berlin deportiert und nach dem Krieg als Gebrandmarkte zurück in ihr Dorf gelassen, für Jahre ausgeschlossen aus der Gemeinschaft, von Almosen abhängig, während die ehemaligen Nazigrössen nach dem Krieg amnestiert wieder in ihre Ämter und Funktionen zurückkehrten.
Paul lebt immer wieder für Tage im Haus seiner verstorbenen Grossmutter, auch wenn er seinen Wohnsitz längst in der Hauptstadt hat. Aber seit dem Tod seiner Frau Meret ist er ein Dortiger überall, kein Hiesiger in Stumpf, jenem Ort, in dem er die ersten achtzehn Jahre seiner Lebens bei seinen Grosseltern verbrachte und kein Hiesiger in Wien, wo er Meret verloren hatte. Und nun raubt ihm eine Chronik, die die Ortsgeschichte dokumentieren sollte, das letzte Gefühl von Verankerung, setzt durch Aussagen einer ehemaligen Nazigrösse, die es nach dem Krieg geschafft hatte, wie Phönix aus der Asche zu steigen, die Jahre des Krieges und die Geschehnisse im Ort in ein Licht zu drehen, dass der Wahrheit nicht entspricht, den Anstrengungen der kollektiven Verdrängung aber Genüge tut.
Seine Grossmutter wurde alt, ohne je eine Entschuldigung von offizieller Seite zu erhalten und Felician, sein Grossvater desertierte und überlebte die Nazizeit und schämte sich dafür ein Leben lang. «Geschämt fürs Desertieren, geschämt für Überleben, geschämt fürs AufderWeltSein.» Paul schreibt ein Totenbuch als Gegenbuch zur Dorfchronik, ein Buch, dass all jenen gedenken soll, die zwischen die Mühlen einer Geschichte kamen, die sich nach dem Krieg nicht um Aufarbeitung scherte, sondern der es darum ging, möglichst schnell den Schrecken vergessen zu machen. Im Laufe Pauls Recherchen, die ihn immer weiter wegzutragen drohen, gerät er jenem Mann, den er nur «den Gebirgsjäger» nennt, so nahe, wie er gar nicht will und droht jene zu verlieren, denen er sich eigentlich nahe fühlt. «Der Gebirgsjäger», Lehrer, Jäger und Soldat, kriegsversehrt zurückgekehrt, um wieder Lehrer und Jäger zu sein, mit blütenweisser Weste.
Mit der Stimme Pauls gerät Hanna Sukare in unmittelbare Nähe vertuschter Kriegsverbrechen, auch solcher, die erst nach dem Krieg in der jungen Österreichischen Republik stattgefunden haben, unter dem Deckmantel der Versöhnung, erneut Verbrechen an der Wahrheit. Eine Nähe, die schmerzt, selbst mich als Leser. Der Schmerz von Paul, der unauslöschlich bleibt angesichts des Leids, dem jene Deserteure und ihre Unterstützer, die für ihre Form des Widerstands teuer bezahlten, ein Leben lang zu tragen hatten, ganz im Gegensatz zu jenen, die Verursacher und Täter waren.
Was zur Chronik wird, wird zur unreflektierten Wahrheit, stösst in Abgründe, was damit zu vergessen droht. Chroniken werden zu Gedenksteinen in Papier, bleischwer und triefender Wahrhaftigkeit.
Die Lektüre von «Schwedenreiter» hat mich tief bewegt, auch wenn sich das Buch manchmal wie ein Sachbuch liest. Aber vielleicht ist genau dieses Stilmittel nötig, um sich vom scheinbaren Nachkriegsfrieden zu distanzieren. «Schwedenreiter» ist ein wichtiges Buch, ein Buch das wachrüttelt und exemplarisch zeigt, wie Geschichte mit Wahrheit umgeht.
5 Fragen an Hanna Sukare:
In der Schule lernt man, dass der 2. Weltkrieg im Mai 1945 zu Ende war. Ihr Buch macht sich daran, mit vielen Irrtümern aufzuräumen. Auch mit dem, dass ein Krieg einfach zu Ende ist. So wie die Bewegung, als die sich der Nationalsozialismus bezeichnete, für jeden sichtbar, noch lange nicht an seinem Ende ist. Ist ihr Buch ein Buch gegen die Angst?
«Der Krieg wird nicht mehr erklärt, sondern fortgesetzt. Das Unerhörte ist alltäglich geworden», schrieb 1952 Ingeborg Bachmann in ihrem Gedicht Alle Tage. Leider gewinnen Bachmanns Worte nicht nur in Österreich an Aktualität.
Paul Schwedenreiter, die Hauptfigur des Romans, beginnt seine Suche, weil er die Vorgänge in seinem Heimatdorf nicht länger hinnehmen kann. Er will verstehen, will Gerechtigkeit. Im Laufe der Suche kommt Schwedenreiter der Verzweiflung nahe und der Angst. Sein mulmiges Gefühl verstärkt sich, als er begreift, dass die schlampige Entnazifizierung nicht nur sein Dorf betrifft, sondern zur Kinderstube der zweiten österreichischen Republik gehört.
Beim Schreiben stand die Frage der Angst nicht im Vordergrund. Gleichwohl lässt sich aus dem Text lesen, dass Angst lebenserhaltender sein kann als Heldenmut.
Sie beschreiben ein Dorf, dass sich selbst eine Chronik schenkt und unter vielen Kapiteln auch die Zeit während des Zweiten Weltkriegs beschreibt. Dabei kommen ausgerechnet jene zu Wort, die damals für viel Schrecken verantwortlich waren und es in den Nachkriegsjahren vortrefflich verstanden, sich durch „Kameradschaft“ und pro-forma-Entnazifizierung eine weisse Weste zurückzukaufen. Was war zu Beginn ihres Buches; der Schmerz über ein Land, dass sich nur zögerlich seiner Vergangenheit stellt oder die tatsächliche Geschichte?
2016 bat mich die Salzburger Literaturzeitschrift Salz um einen Beitrag zu ihrem Heft «Geschichte erzählen». Ich hatte kurz zuvor ein Interview mit dem Sohn eines der Wehrmachtsdeserteure aus dem Innergebirge gelesen. Aufgrund seines Berichts schrieb ich den kurzen Text «Zwischen zwei Sätzen.» (Salz. Zeitschrift für Literatur Jahrgang 41/III, Heft 163, März 2016).
Damals wusste ich noch nicht, dass dieser Text der Kern meines neuen Romans werden würde. Ich lernte dann Nachkommen der Deserteure kennen. Ihre Vorfahren sind im Innergebirge nach wie vor übel beleumdet, und dort erfüllen manche Orten weiterhin den Wunsch des Naziregimes, dessen Gegnern einen Grabstein bzw. einen Gedenkstein zu verweigern. Diese Haltung des Kollektivs belastet oder entzweit bis heute die Familien, aus denen die Deserteure kamen.
Selbst nach der Rehabilitierung aller von der NS-Militärjustiz Verfolgten – und dazu zählen die Deserteure – durch ein österreichisches Bundesgesetz im Jahr 2009, blieb im Innergebirge alles beim Alten.
Paul Schwedenreiter, sagt an einer Stelle: „Ich warte nicht länger. Ich bin der Enkel eines Deserteurs. Ich ertrage nicht, wie diese Ortschronik fort und fort den Ruf meines Großvaters und meiner Urgroßmutter schädigt.“
Sie schaffen die Balance zwischen Nähe und Distanz in ganz besonderer Weise. Zum einen erzählen sie die Geschichte jenes Mannes, der zwischen dem Schmerz um den Tod seiner Frau und dem seiner erlöschenden Vergangenheit pendelt, zum andern tauchen sie ein in Recherchearbeit, die aufzeigt, wie vernebelnd, irreführend und entmutigend diese sein kann. Was passierte mit ihnen während des Schreibens?
Paul Schwedenreiter erzählt in verschiedenen Situationen, wie es ihm während der Recherchen ergangen ist. Seine diesbezüglichen Erfahrungen sind mir nicht fremd.
Im Verlaufe der Lektüre stieg immer mehr die Lust, das Gelesene an Fakten anzubinden, ist das Vertuschen und Beschönigen von Fakten und Geschichte ja ein wesentlicher Bestandteil ihres Romans, der hart an der Grenze zum Sachbuch schrammt. Ich suchte im Internet und fand die Geschichte um den Gedenkstein zur Erinnerung an die Goldegger Deserteure. Zu offensichtlich scheinen die Parallelen zu ihrem Roman. Warum die Fiktionalisierung?
Für mich stellte sich während des Schreibens eher die Frage, warum nicht der gesamte Text fiktionalisiert sein kann. Im «Schwedenreiter» prallen Fiktion und Realität aufeinander.
Den zunächst Gebirgsjäger und später bei seinem Namen Genannten, hochrangiger SS-Mann und einstiger Adjutant des Salzburger Gauleiters, habe ich nicht erfunden. Alles, was ich über ihn weiß, weiß ich aus Akten und Dokumenten, die in Archiven öffentlich zugänglich sind.
Die erfundene Figur Schwedenreiter untersucht die Laufbahn des Gebirgsjägers, als wäre der ein Stück Holz, dessen Alter und Herkunft Schwedenreiter bestimmen wollte. Dies hat zwei Gründe. Zum einen lässt die Gemeinde Stumpf diesen Gebirgsjäger in ihrer Chronik als Gewährsmann gegen die Deserteure des Ortes auftreten. Er verbreitet in der Chronik Halbwahrheiten und Gerüchte, denen Schwedenreiter nur durch größtmögliche Dokumententreue und Genauigkeit entgegentreten zu können glaubt.
Ebenso gewichtig ist Schwedenreiters Weigerung, sich einen SS-Mann innerlich nahe kommen zu lassen. Schwedenreiter schützt sich mit den Dokumenten, er will von den persönlichen Mängeln und Vorzügen des Gebirgsjägers nichts wissen. In einem Moment bricht diese Distanz. Da verbietet sich Schwedenreiter sofort das Fortspinnen seines Gedankens. Schwedenreiter verweigert dem Gebirgsjäger bewusst die Beseelung, von der Thomas Mann meinte, sie müsse dem Dichter alles bedeuten. Was ist Beseelung? Die subjektive Vertiefung des Abbildes einer Wirklichkeit, sagt Mann.
Dieser bewusste Verzicht auf Beseelung war ein Experiment, das ich nicht wiederholen werde. Es verursacht eine seelische Verkühlung, als hantiere man mit einem Leichnam.
Die Frage der Namensnennung beschäftigt Schwedenreiter von Beginn an. Er sagt: „Die Ortschronik ist ein Pranger. Würde mein Bericht die Namen nennen, errichtete ich einen Gegenpranger. Namen werde ich nur dort nennen, wo sich mein Bericht von Pinz, Stumpf und Hinterstumpf entfernt.“ Spät erst findet Schwedenreiter den Grund, warum er den Namen des Gebirgsjägers nennen kann.
Den Namen des Ortes zu nennen, der den SS-Mann zu dem Gewährsmann gegen die Deserteure macht, erscheint Schwedenreiter nicht notwendig. Er nennt den Ort der Handlung Stumpf. Was sich dort ereignet hat, könnte ebenso in einem anderen österreichischen Dorf geschehen sein.
Jene Gemeinde des Salzburger Innergebirges, in der sich ähnliche Ereignisse zugetragen haben, wird sich in meinem Roman womöglich gespiegelt sehen. Dagegen habe ich nichts einzuwenden. Der «Schwedenreiter» gibt dieser Gemeinde die Chance, ihre Geschichte neu anzuschauen.
Ich war ziemlich erstaunt, als mich der Kulturverein der Gemeinde Goldegg für den 13. September 2018 zur Erstpräsentation des «Schwedenreiters» eingeladen hat. In der Ankündigung der Veranstaltung heißt es: «Die Gemeinde Goldegg wird – unter der Einbeziehung der umfangreichen Recherchen von Hanna Sukare – ihr Ortschronik zu diesem dunklen Kapitel seiner jüngeren Geschichte wissenschaftlich neu bearbeiten lassen.»
Ein erfreuliches Versprechen. Ich werde es ernst nehmen, sobald die überarbeitete Ortschronik vorliegt.
Ihr Buch kratzt an offenen Wunden. Durch persönliche Bindungen zu Südkärnten weiss ich, wie lange und hartnäckig Jahrzehnte alte Verwundungen auf allen möglichen und unmöglichen Seiten weiterleben und motten, wieviel Zorn, Ablehnung, Hass und Widerstand sie noch immer mobilisieren können. Auch in der Schweiz wehrt man sich trotz Bergier-Bericht für eine Schweiz, die sich während des Zweiten Weltkriegs angeblich nobel und neutral verhielt. Schon in ihrem ersten Roman „Staubzunge“ nahmen sie sich einem Stück dunkler Geschichte an. Woran glauben Sie?
Die Gnade des Glaubens ist mir nicht gegeben, ich bin auf Erfahrungswissen angwiesen.
Ich hatte das Privileg, zu Friedenszeiten in westlichen Demokratien aufzuwachsen. Aus solch privilegiertem Leben entstand die Erfahrung, Worte können Stummes, Dunkles, Bedrückendes, Trennendes erlösen, Worte können Hass nicht nur säen, sondern auch überwinden. Wer in einer Diktatur aufwächst, macht vermutlich die gegenteilige Erfahrung und sagt sich: Schweigen ist Gold.
Und schließlich leuchtet nach wie vor «der armselige Stern der Hoffnung über dem Herzen», wie Ingeborg Bachmann in ihrem Gedicht «Alle Tage» 1952 schrieb.
Hanna Sukare, geboren 1957 in Freiburg (i.Br.). Studierte Germanistik, Rechtswissenschaften, Ethnologie. 1991/92 Forschungsaufenthalt in Lissabon. Hanna Sukare war unter anderem als Journalistin, Redakteurin (Falter, Institut für Kulturstudien) und Wissenschaftslektorin tätig und beschäftigte sich in wissenschaftlichen Studien mit dem gesellschaftlichen Fundus des Fremden. Hanna Sukare gewann mit ihrem Debütroman «Staubzunge» den Rauriser Literaturpreis 2016 (Bilder im Interview) für die beste Prosa-Erstveröffentlichung in deutscher Sprache.
Rezension von «Staubzunge» auf literaturblatt.ch
Beitragsfoto © Sandra Kottonau