Wer sich zu feiner, kleinräumiger aber nie beengter, emotionaler aber nie rührseliger Literatur hingezogen fühlt, liebt die Bücher von Monika Helfer. Die Intensität ihrer Literatur wird nicht nur sichtbar an der Menge und Qualität ihrer Auszeichnungen, sondern daran, dass Monika Helfer seit mehr als einem halben Jahrhundert Bücher veröffentlicht, Bücher, die im Laufe der Zeit immer mehr Aufmerksamkeit gewannen und Monika Helfer zu einem oft eingeladenen Gast an Veranstaltungen erst recht mit ihrer Trilogie „Die Bagage“, „Vati“ und „Löwenherz“ machte.
Monika Helfer lebt zusammen mit ihrem Mann Michael Köhlmeier im vorarlbergischen Hohenems eine symbiotische Lebens- und Schreibgemeinschaft in einem mit Efeu bewachsenen Haus, in dem alles der Familie, den Erinnerungen und dem Schreiben gewidmet ist. Monika Helfer und Michael Köhlmeier, beide beim gleichen Verlag, werden auch vom gleichen Lektor betreut, leben dort das Leben von zwei von Sprache Beseelten.
Monika Helfers neuer, eben erschienener Roman „Die Jungfrau“ ist erneut ein Buch, das ganz tief mit dem Leben der Autorin verwoben ist, so wie die letzten drei Romane, so wie wahrscheinlich alle ihre Roman. Und doch setzt sich „Die Jungfrau“ von der vorangegangenen Trilogie ab. Nicht thematisch, aber in der Art des Erzählens. Zum einen macht Monika Helfer im Roman immer wieder Schritte hinaus und hinein. Da sind die Momente, wo sich die Autorin über den Prozess des Schreibens äussert, Stellen, in denen sich die Perspektive verändert, zum andern blitzen Dialoge mit ihrem Mann Michael auf, Auseinandersetzungen, die bezeugen, dass die Auseinandersetzung über das Schreiben, ob mit sich selbst oder dem Lebenspartner, sehr emotional werden kann. Stellen, die dem Buch einen speziellen, beinahe dokumentarischen Einschlag geben.
Zentral in diesem Buch ist aber die Geschichte einer Freundschaft, der Freundschaft zwischen Moni und Gloria. Sie beide wachsen im Vorarlbergischen auf, Monika in einem kleinbürgerlichen Haushalt, in einer von Arbeit und Strebsamkeit geprägten Familie, Gloria in einer Villa zusammen mit ihrer Mutter, einer Frau, die sich mit aller Selbstverständlichkeit in ihrem Luxus bewegt, auch wenn die beiden in diesem grossen Hauses nur drei Zimmer mit Leben füllten. Die Freundschaft zwischen Moni und Gloria ist geprägt von maximaler Nähe und Distanz. So wie Moni schon bald spürt, dass sie Schriftstellerin werden will, soll das Leben ihrer Freundin ein glamouröses werden, programmatisch für ihren Namen. Gloria will die Welt als Schauspielerin erobern. Das Zeug dazu hat sie, auch wenn ihr Leben immer wieder in Abgründe abtaucht.
An Monikas 70, Geburtstag erhält Moni einen Brief von Gloria, nicht selbst geschrieben, aber eine deutliche Aufforderung, sie doch bitte zu besuchen, bevor sie sterbe.
Ich danke der Autorin für die Offenheit auch über die Lesung hinaus, dem Team der Bodan-Buchhandlung in Kreuzlingen für die gelungene Organisiation und kulinarischen Beigaben und Claudia Ruckstuhl für die Ermöglichung einer solchen Begegnung.
Monika Helfer liest in der Bodan Buchhandlung Kreuzlingen.
Freundschaften kommen und gehen. Aber die eine oder andere bleibt, manchmal ein ganzes Leben, wenn auch mit Pausen, jahrzehntelangen Pausen. Monika ist Schriftstellerin geworden, erfolgreich, verheiratet mit Michael, Mutter von vier Kindern. Gloria ist wie sie alt geworden. Und eines Tages schreibt eine Nichte Glorias einen Brief und bittet Monika „noch einmal mit ihr in Verbindung zu treten, bevor sie sterbe.“
Sie hatten sich schon als Kinder in der Schule gefunden. Gloria war für die schüchterne Monika ein Leuchtfeuer, eine „die meine Einbildungskraft entzündete“. Während Monika aus einfachen Verhältnissen kommt, wächst Gloria in einem grossen Haus allein mit ihrer Mutter auf. Einer Mutter, die nicht zu arbeiten braucht, in einem Haus, in dem die beiden Bewohnerinnen nur drei Zimmer bewohnen, in einem Garten, der verwildert und wie alles an Haus und Bewohnerinnen in Geheimnissen getaucht ist.
Zwischen den beiden Mädchen wächst eine Freundschaft, pendelnd von maximaler Nähe bis Distanz. Gloria ist für Monika nicht nur in Kindertagen schwer einzuschätzen. Ob als Kind oder Frau; Gloria lebt im Gegensatz zu Monika in einer Welt, die sich ständig den Realitäten zu entziehen versucht. Gloria, die permanent die Gravitation aushebeln will, der mit ihrem Aussehen und ihrer Ausstrahlung alles zu Füssen liegen scheint. Sie will Schauspielerin werden und schafft es auch tatsächlich, die Aufnahmeprüfung am Max Reinhardt Seminar in Wien zu bestehen. Noch mehr. Einer der Professoren ist derart von Gloria fasziniert, dass dieser ihr eine Wohnung einrichtet und Gloria ist dreist genug, eine Einladung ins Haus, an den Familientisch des Professors anzunehmen. Aber Gloria bricht ab, so wie sie vieles abbricht. Sie kehrt zurück ins grosse Haus ihrer Mutter und bleibt. Bis sie sich im Alter gar nicht mehr so sehr von der gescheiterten Figur ihrer Mutter unterscheidet.
So wie das Leben der erzählenden Monika in geordneten Bahnen seinen Lauf nimmt, so sehr fehlt dem Leben ihrer Freundin Gloria eine Spur. Gloria, eigentlich ein ganzes Leben für den grossen Auf- und Ausbruch bereit, ist schon mit ihrer Herkunft in dauerndem Hadern, denn wer ihr Vater ist, bleibt ein langes Geheimnis, bis Gloria, schon im reifen Alter, ihre Freundin bittet, ihrem Vater gemeinsam mit ihr einen Besuch im Pflegeheim abzustatten. Aber dort trifft sie einen dementen Mann, einen Schatten einer Existenz, der dann aber doch, nachdem die beiden für ihn ein Heinolied singen mit Daumen und Zeigerfinger ein Zeichen gibt, als wolle er die beiden Frauen abschiessen. Nicht der erste Versuch von Gloria, Monika zu ihrer Verbündeten zu machen. Eine Verbündete gegen ihren Schmerz, der wie eine Glocke über Glorias Leben steht, eine Glocke, die Gloria nie werden liess, was sie hätte werden wollen; eine Mutter, eine Geliebte, eine Ehefrau, eine Erfolgreiche, eine Souveräne.
Der Roman „Die Jungfrau“ überrascht nach der Trilogie „Die Bagage“, „Vati“ und „Löwenherz“ gleich vielfach. Monika Helfer spielt mit ihrer Erzählperspektive, erzählt von sich in der dritten Person, vom Ehemann Michael (Köhlmeier), der ihr Erzählen, ihr Schreiben begleitet, von Dialogen zwischen den beiden Schreibenden, Dialogen, die viel Intimes offenbaren. Sie erzählt die Geschichte einer Freundschaft, die zwei Leben verbindet, deren Umlaufbahnen sich immer wieder kreuzen, deren Zentrifugalkräfte aber auch zu maximaler Distanz führen. Ein Buch über Lügen und Geheimnisse, über Träume und bittere Realitäten. „Die Jungfrau“ ist ein junges Buch, alles andere als konventionell erzählt, erfrischend mutig und erstaunlich persönlich!
Monika Helfer liest und diskutiert am 15. September in der Bodan-Buchhandlung Kreuzlingen um 19.30 Uhr. Moderation: Gallus Frei Anmeldung ist erwünscht!
Monika Helfer, geboren 1947 in Au/Bregenzerwald, lebt als Schriftstellerin mit ihrem Mann Michael Köhlmeier in Vorarlberg. Sie hat zahlreiche Romane, Erzählungen und Kinderbücher veröffentlicht. Für ihre Arbeiten wurde sie unter anderem mit dem Österreichischen Würdigungspreis für Literatur, dem Solothurner Literaturpreis und dem Johann-Peter-Hebel-Preis ausgezeichnet. Mit ihrem Roman „Schau mich an, wenn ich mit dir rede“ (2017) war sie für den Deutschen Buchpreis nominiert. Für „Die Bagage“ (2020) erhielt sie den Schubart-Literaturpreis 2021 der Stadt Aalen. Zuletzt erschienen von ihr bei Hanser die Romane „Vati“ (2021), mit dem sie erneut für den Deutschen Buchpreis nominiert war, und „Löwenherz“ (2022).
Monika Helfer, geboren 1947 in Au/Bregenzerwald, lebt als Schriftstellerin mit ihrem Mann Michael Köhlmeier in Vorarlberg. Sie hat zahlreiche Romane, Erzählungen und Kinderbücher veröffentlicht. Für ihre Arbeiten wurde sie unter anderem mit dem Österreichischen Würdigungspreis für Literatur, dem Solothurner Literaturpreis und dem Johann-Peter-Hebel-Preis ausgezeichnet. Mit ihrem Roman „Schau mich an, wenn ich mit dir rede“ (2017) war sie für den Deutschen Buchpreis nominiert. Für „Die Bagage“ (Roman, 2020) erhielt sie den Schubart-Literaturpreis 2021 der Stadt Aalen. Zuletzt erschienen von ihr bei Hanser die Romane „Vati“ (2021), mit dem sie erneut für den Deutschen Buchpreis nominiert war, und „Löwenherz“ (2022).
„Die Jungfrau“ – Der neue Roman von Monika Helfer Zwei Jugendfreundinnen – die eine reich, die andere arm. Nach einem halben Jahrhundert begegnen sie sich wieder. Gloria und Moni sind beste Jugendfreundinnen – die eine reich, die andere arm. Ein halbes Jahrhundert später begegnen sich die beiden Frauen wieder und Gloria beichtet ihr Lebensgeheimnis: Nie hat sie mit jemandem geschlafen. Früher kam Gloria immer gut an, war exzentrisch und schön, wollte Schauspielerin werden, war viel unter Menschen. Gloria und Moni wachsen auf im Mief der sechziger Jahre, sind konfrontiert mit Ehe, Enge und Gewalt. Wie wurden die beiden zu denen, die sie sind? Monika Helfer macht aus Lebenserinnerung grosse Literatur. Nach der Trilogie über ihre Familie und Herkunft ist „Die Jungfrau“ ein atemloser Roman über die jahrzehntelange Freundschaft zwischen zwei Frauen.
Lesung in der Buchhandlung Bodan, Kreuzlingen, Freitag, 15. September 2023, Beginn 19.30 Uhr, Moderation Gallus Frei-Tomic, literaturblatt.ch, mit anschliessendem Apéro
Hätte es einen spür-, sicht- und hörbaren roten Faden durch die meisten der Veranstaltungen des diesjährigen Thuner Literaturfestivals gegeben, dann wäre einer davon die Frage nach Herkunft und der eigenen Geschichte gewesen. Ob Monika Helfer mit „Vati“, Andrea Neeser mit „Alpefisch“, Zora del Buona mit „Die Marschallin“ oder selbst Levin Westermann mit seinem poetischen Essay «Ovibos moschatus“, aus allen sprach die Macht, Kraft und Last des Vergangenen.
Monika Helfer, die mit ihrem neusten Roman „Vati“ das 16. Literaare-Literaturfestival eröffnete, ist schon lange im Geschäft, schreibt seit Jahrzehnten, heimst Preise noch und noch ein und lebt zusammen mit ihrem ebenfalls schreibenden Mann Michael Köhlmeier Familie. Sie ist eigetaucht in Geschichte, Geschichten, ihre eigene Geschichte. Kein Wunder schreibt sie Familienfrau über das, was ihr am nächsten ist; über ihre Familie, über eine Monika Helfer, die aus einer Familie im Vorarlbergischen stammt. Im Roman „Die Bagage“ erzählt sie von ihrer Grossmutter und Mutter, in „Vati“, der dieses Jahr erschien, von ihrem Vater. Und im Herbst dieses Jahres soll es ihr Bruder Richard sein, der mit 30 den Freitod wählte. Ein Buch, das „Löwenherz“ heissen soll.
In „Die Bagage“ ist es eine ganze Familie ohne den Schutz des Vaters, die, eh schon gebrandmarkt, durch die Geschichte und die Schönheit der Mutter an den Rand der Gesellschaft und darüber hinaus gedrängt wird. Der Mann einer jungen Frau, der Vater der Kinder wird in den ersten Weltkrieg eingezogen. Kaum aus dem Dorf wird der jungen, schönen Frau nachgestellt. Ausgerechnet der Bürgermeister des Ortes, jener Mann, den der Soldat um den Schutz seiner Familie bat, wird zum Aufdringlichsten und einer ganzen Reihe Ereignisse, die beinahe mit einem Schuss aus einem Gewehr enden. Von Maria, der Grossmutter jener Monika Helfer, die von männlicher Gier bedrängt wird, selbst in der Anwesenheit ihrer Kinder, mit unverhohlenen Drohungen, Avancen, die sich wie Schlingen um den Hals der jungen Frau ziehen und die Kinder in die Flucht schlagen. „Die Bagage“ wären Halbwilde, hätten nicht einmal elektrischen Strom. Denen sollte man die Kinder wegnehmen. Sätze, die auch heute noch über Menschen und Familien ausgesprochen werden, die aus reiner Not sind, was sie sind. Menschen, die man nicht mitnimmt, die man nicht haben will. Von Menschen ausgesprochen, die in der Überzeugung leben, ihre Privilegien seien verdient, gottgegeben, Teil einer grossen Ordnung. Von Menschen, die die scheinbare Schwäche anderer gnadenlos ausnützen und genau wissen, dass ihnen nichts entgegenzustellen ist, weil sie oben, weil sie vorne, weil sie darüber stehen.
Man müsse sich erinnern, sagt Monika Helfer. So wie sie sich erinnert, sollen sich Leser:innen erinnern, weil in allen Familien Geschichten vergraben und aktiv vergessen werden. Alles ist bloss Abbild von Wirklichkeit, verändert, verzerrt, verschoben und vernebelt. Dass das Erinnern Schärfe, Licht und Durchsicht schenkt, wenn sich die Gegenwart nicht mehr einmischt.
Monika Helfers Romane sind Offenbarung, sprachlich wie inhaltlich. Weil sie nie mit grellem Licht ausleuchten, weil Monika Helfer erzählt wie eine Mutter, alles in Liebe taucht, selbst die gestrengen Worte, den Tadel hinein in das, was geschah. Nicht mit dem Verständnis für jene, die zu Täter:innen wurden, aber für all jene, denen man keine andere Chance liess, als jene, zu Opfern zu werden.
In „Vati“ kommt ein Versehrter zurück aus einem Krieg, ihr Vater zurück aus dem verlorenen 2. Weltkrieg, von einem Schlamassel in einen anderen Schlamassel, mit nur mehr einem Bein. Die Mutter hatte damals den Mann mit Prothese, den hageren Versehrten geheiratet, um dann ein Leben lang das Gefühl mit sich herumzutragen, nur gebraucht worden zu sein.
Ein Höhepunkt für mich am diesjährigen „literaare“ war der Auftritt von Levin Westermann. Levin Westermann erzählte, er habe ein „Erweckungserlebnis“ in seiner Vergangenheit gehabt. Danach wurde „Schreiben“ zum übermächtigen Drang seines Lebens. Aber Levin Westermann ist kein Vielschreiber, sondern ein Suchender. Ob als Leser und Schreiber sucht Westermann nach dem vollendeten Satz, jenem vielstimmigen Klang, der Ober- und Untertöne mitschwingen lässt. Und wenn Westermann schreibt, seien dies nun Gedichte oder Essays, dann spüre ich als Leser diesen Strom der Leidenschaft, der durch sein Tun wirkt.
Westermanns Lyrik ist alles andere als verkopft, ist erzählender Prosa viel näher als übersinnlich entrückter Lyrik. Westermann erzählt auch, wie sehr er um Sätze ringt, wie das Schreiben alles andere als ein Entleeren, ein Hinschreiben, ein Wurf sei, sondern harte Auseinandersetzung und das lange Suchen nach dem richtigen Sound. Davon erzählt auch das titelgebende Essay in seinem neuen Buch „Ovibos moschatus“, was übersetzt „Moschusochse“ heisst. Westermann verwebt die Geschichte dieses Tiers, das als einziges grosses Säugetier arktische Winter übersteht und von Menschen gnadenlos dezimiert wurde, mit dem Prozess des Schreibens. So wie das Schreiben ein feinsinniger, feinstofflicher Prozess ist, ist für ihn auch der Umgang mit Tieren zu einer Auseinandersetzung geworden, die das Tier weit wegträgt vom reinen Rohstofflieferanten. Schreiben ist Dichten, ein Schärfen des Bewusstseins. Levin Westermann, ein Beispiel dafür wie umfassend und tiefgreifend das eigene Tun werden kann, wenn sich sämtliche Sinne miteinander verbinden.
Der Zeichner Elias Nell hat Philosophie und Soziale Arbeit in Fribourg studiert sowie in Philosophie, Soziologie und Hermeneutik einen Master an der Universität Zürich abgelegt. Heute arbeitet er im Sphères in Zürich als Buchhändler und für die Veranstaltungen verantwortlich. In seiner freien Zeit ist Elias Nell immer mit Stift und Pinsel unterwegs, um alle Cafés, Restaurants und Take-outs von Zürich und der Welt zu zeichnen. Sein Instagram-Account: @sensatio_nell #zurichbysketch
Es gibt Autorinnen und Autoren, die mit ihrem Schreiben nichts mehr beweisen müssen, weder mit einer Story, die sich in ihrer Mehrschichtigkeit überschlägt, noch in der Dramaturgie, die sich in konstruierter Spannung verheddert und schon gar nicht in Sachen Sprache, Sound und Bildern. Monika Helfer kann es, absolut überzeugend, so leichtfüssig, als wäre Schreiben ganz einfach.
Schon der Titel „Die Bagage“ ist ein Glücksgriff. Bagage ist das Gepäck, das man mit sich herumschleppt, jenes auf Reisen, jenes in seinem Leben. Das Gepäck, das einem zuweilen durch sein Gewicht, seine Last, seine Grösse niederdrückt, bremst, fesselt. Gepäck, das man nicht einfach zurücklassen kann, selbst wenn es das scheinbar Einfachste wäre. Gepäck, das mit seinen Riemen und Schnallen tiefe Schrunden in Haut und Fleisch reisst, Wunden, die nie heilen können, immer schmerzen, nie loslassen. Bagage ist aber auch ein abschätziger Begriff für eine Randgruppe. Einst waren es die Tschinggen, die italienischen „Gast“-arbeiter, heute sind es Flüchtlinge, Randständige, die, die nicht dazugehören, die das Bild einer harmonischen Gesellschaft, des sozialen Friedens zu stören scheinen.
In Monika Helfers Roman schimpft man aber die Leute ganz hinten im Tal, die Armen, jene, deren Leben nur aus Überlebenskampf, Arbeit, Sorgen und Not besteht „Bagage“. Jene, die von den Auswirkungen des ersten Weltkriegs bis in den Hungertod getrieben werden, obwohl und gerade wegen immer unmenschlicher werdender Mühsal.
Monika Helfer erzählt die Geschichte ihrer Mutter. Sie erzählt sie ganz einfach. Schlicht, ohne fabrizierte Dramatik, ohne Verklärung, ehrlich. Die Geschichte strahlt derart viel Authentizität aus, ohne sich dafür verbürgen zu müssen, soviel Nähe zu den Ereignissen vor hundert Jahren, soviel Empathie zu den Personen, dass mich die Lektüre phasenweise fast schmerzt. Es ist eine Geschichte der Ausgrenzung, der alltäglichen menschlichen Gemeinheiten, der Deformationen in Zeiten des Umbruchs, des Niedergangs, des Krieges. Wie ausgerechnet dann, wenn der Staat vom heroischen Mut, von der selbstlosen Aufopferung seiner KämpferInnen spricht, die Menschlichkeit in den Fronten hinter dem Krieg zusammenbrechen kann. Wie die Möglichkeiten der Mächtigen und die Ohnmacht der Armen und Vergessenen ein Vakuum schaffen, in dem weder die Gesetze des Staates noch die der Menschlichkeit eine Rolle spielen.
„Die Bagage“ ist die Geschichte von Maria und Josef. Josef Moosbrugger wird 1914 in den Dienst des deutschen Kaisers einberufen. Der Sieg in diesem Krieg soll sicher und schnell sein. Maria Moosbrugger, die Grossmutter der Erzählerin, bleibt nicht nur mit ihrer Familie, den Kindern, Hof und Haus, sondern mit ihrer Schönheit ungeschützt zurück. Zwar verspricht der Bürgermeister, ein Geschäftsfreund von Josef, dem Soldaten auf seine Frau aufzupassen, aber nur um ihr ungestört und ungeniert Avancen zu machen, zu Beginn mit Geschenken und Charme, dann immer zudringlicher. Die Schönheit Marias, die eigentlich ein Geschenk sein sollte, wird zur Stigmatisierung. Ein ganzes Dorf traut ihr ein lasterhaftes Leben zu, obwohl Maria zuhinterst im Tal in dem kleinen Gehöft alle Hände voll zu tun hat im Kampf ums nackte Überleben ihrer vielköpfigen Familie.
Eines Tages aber klopft ein Mann an die Tür Marias. Ein Mann aus dem Norden, einer der Hochdeutsch spricht, ein Georg aus Hannover. Einer, der es nicht unbeobachtet schafft, an den Tisch der gebeutelten Familie zu gelangen, er ebenfalls in Not, aber mit Galanterie und offenem Herzen. Und als Maria Monate nach einem Fronturlaub ihres Mannes zeigt, dass sie schwanger ist, zerreisst sich ein ganzes Dorf den Mund darüber, wer alles möglicher Verursacher sein könnte. Allen voran der Pfarrer, der sein Gift von der Kanzel spuckt und in einem regelrechten Überfall das Kreuz von der Wand bei Maria reisst.
Als der Krieg vorbei ist, Josef als ein anderer von der Front zurückkehrt, aus dem Blitzkrieg eine infernale Niederlage wurde, ein Kaiserreich sein Ende fand, der Bürgermeister nur noch Büchsenmacher Fink ist, ist Grete da, die Mutter der Erzählerin. Ein ruhiges, braves Kind. So schön wie die Mutter. Josef aber, noch immer in der Seele verwundet, misstrauisch und launisch, misstraut auch dem Kind. Grete sein Kind? Er schaut dem Mädchen kein einziges Mal in die Augen, spricht es nicht an und nennt es in Gegenwart anderer nur „Balg“.
Monika Helfer war irgendwann einmal im Kunsthistorischen Museum in Wien und sah dort die Bauernbilder von Pieter Breugel dem Älteren: Kinder wie Erwachsene, nur kleiner. Die gleichen ernsten Gesichter, nur kleinere. „Die Bagage“ ist eine Stimme, die eine Welt auftut, die Jahrhunderte weit weg scheint. Aber sie wird dann wiederkehren, wenn sich in der Geschichte der Menschheit erneut Abgründe auftun werden.
Ein Roman, ganz leise erzählt, aber mit dröhnendem Widerhall!
Der mit 15 000 CHF dotierte Solothurner Literaturpreis 2020 geht an Monika Helfer: «Ihre Figuren zeichnet ein um keine Konvention bekümmertes Selbstbewusstsein aus, eine Ehrlichkeit der Emotionen und der Haltung», so die Jury, bestehend aus Nicola Steiner (Vorsitz), Lucas Gisi und Hanspeter Müller-Drossaart. «Ihr souveräner Umgang mit Sprache, der alle Stilregister beherrscht, macht Monika Helfers Bücher und Figuren für uns Lesende so einprägsam und nachvollziehbar.»
Interview mit Monika Helfer
Sie verarbeiten, beschreiben viel Persönliches, lassen mich als Leser in Ihre Geschichte schauen. Und auch wenn eine Schriftstellerin alle Freiheiten der Fiktion besitzt, macht es nicht den Anschein, als hätten Sie viel entfremdet. Auch der frühe Tod Ihrer Tochter ist wieder ein Thema. Etwas, was mich als Vater von Kindern berührt. Ist die Monika Helfer vor der Veröffentlichung von „Die Bagage“ eine andere Monika Helfer gewesen? Oder verändern das Schreiben, Stoffe, die so nahe an der eigenen Geschichte sind, nicht sowieso?
Für mich dauert die Wahrheit in meinem Roman maximal zehn Zeilen lang, dann galoppiert die Phantasie in die Geschichte, hält inne bei dem Unglück mit Paula, jedes Mal, ob ich will oder nicht, die Fiktion rettet mich und macht mich mutig.
Ihr Roman ist die Geschichte einer Familie am Rand, wörtlich. Ihr Roman ist aber auch ein Roman über Zeiten des Zusammenbruchs, Umwälzungen. Wie sehr jene, die schwach und angreifbar sind, in Zeiten der Unsicherheit zum Freiwild werden. Wir leben hundert Jahre nach den von Ihnen beschriebenen Geschehnissen wieder in einer Zeit, in der die Welt an vielen Orten aus den Fugen gerät. Und wieder sind es die eh schon Schwachen, die am meisten zu leiden haben, vergessen werden, sich selbst überlassen sind. Schmerzt sie die Erfahrung des Lebens nicht manchmal?
Lebenserfahrung bedeutet Freude und Schmerz, sich zu erinnern ist das Suchen nach Fetzen, die dann zusammengenäht ein Stück Stoff ergeben, der wiederum zum Roman wird.
Ihre Grossmutter Maria, ihre Mutter Grete – Sie und auch ihre Tochter. Ein Frauenbuch. Ihre Grossmutter versinnbildlicht das Leben vieler Frauen bis weit ins 20. Jahrhundert; ungeschützt der männlichen Willkür ausgeliefert. Mag sein, dass wir es im begonnenen 21. Jahrhundert viel weiter gebracht haben. Aber von Gleichstellung kann noch immer keine Rede sein. Die Geschichte der Menschheit ist eine Geschichte des Kampfes um Privilegien. Ist es nur die Lust, eine Geschichte zu erzählen oder schwingt da auch Ihre Art der Kampfansage mit?
Ein Frauenbuch zu schreiben, ist für mich nahe liegend und notwendig, Gleichstellung rückt näher, aber nie will ich den Kampf darum aufgeben.
Was hielt Menschen, Frauen wie Ihre Grossmutter Maria Moosbrugger am Leben? War es einzig die Pflicht als sorgende Mutter. Der Glaube an einen Platz im Himmelreich konnte es unmöglich sein.
Die Sorge, der Stolz, die Kraft, dem Leben zu trotzen, geschehe was wolle, das hielt meine Grossmutter aufrecht.
Sie schreiben und ihr Mann Michael Köhlmeier schreibt. Beide sind Sie gefragte und preisgekrönte Schriftsteller. Wie weit beeinflusst das Schreiben des einen jenes des anderen? Monika Helfer und Michael Köhlmeier wären nach so vielen Jahren des Zusammenlebens wohl kaum jene, die sie geworden sind ohne die/den andere(n).
Ich sage immer wieder zu meinen Kindern, wählt einen Partner, der euren Ambitionen nahe steht, ein Glück für mich, mit einem Schriftsteller zusammen zu sein. Wir unterstützen uns gegenseitig, ohne den Einen ist der Andere allein.
Monika Helfer, geboren 1947 in Au/Bregenzerwald, lebt als Schriftstellerin mit ihrer Familie in Vorarlberg. Sie hat Romane, Erzählungen und Kinderbücher veröffentlicht, darunter: «Kleine Fürstin» (1995), «Wenn der Bräutigam kommt» (1998), «Bestien im Frühling» (1999), «Mein Mörder» (1999), «Bevor ich schlafen kann» (2010), «Oskar und Lilli» (2011) und «Die Bar im Freien» (2012). Im Hanser Kinderbuch veröffentlichte sie gemeinsam mit ihrem Mann Michael Köhlmeier «Rosie und der Urgroßvater» (2010). Für ihre Arbeiten wurde sie unter anderem mit dem Robert-Musil-Stipendium, dem Österreichischen Würdigungspreis für Literatur und 2020 mit dem Solothurner Literaturpreis ausgezeichnet. Mit dem Roman «Schau mich an, wenn ich mit dir rede» (2017) war sie für den Deutschen Buchpreis nominiert.
Manchmal schmerzt Lektüre. Liegt es an der Sprache, lege ich das Buch weg. Liegt es an der Geschichte, dann kann Lesen zu einer Berg- und Talfahrt werden, zuweilen zu einem Höllentripp. Monika Helfers Protagonisten in ihrem neuen Roman «Schau mich an, wenn ich mit dir rede!» sind keine Helden. Nicht einmal das Mädchen Vev, das eigentlich Genoveva heisst, das einem schon im ersten Kapitel unsäglich leid tut und mich unsicher werden lässt, ob ich mir die Geschichte ein Buch lang antun soll. Aber dieser Roman birgt so viel Kraft, so viel feinsinnige Empathie, so viel lupengenaue Beobachtung, dass ich das Buch schon aus Respekt nicht weglege.
Auf den ersten Seiten fährt Vev mit Sonja, ihrer aufgekratzten und zugedröhnten Mutter U-Bahn. Vev war bei ihrem Vater Milan und seiner neuen Frau Nati mit ihren beiden Töchtern. Sonja tut alles, um ihrer Tochter Vev wehzutun, sie vor allen anderen, die in der U-Bahrn mitfahren, blosszustellen, ihrer Tochter verbal an die Gurgel zu gehen. Schon im ersten Kapitel eine Szenerie, die über die Schmerzgrenze hinausgeht. Vevs Mutter Sonja ist bei ihrem Neuen untergekommen, nachdem sie ihre Wohnung verloren hatte, einem Grossen, der sich „The Dude“ nennt, die Dinge energisch in die Hand zu nehmen scheint und Sonjas Leben retten will. In eine Wohnung, in der im Schlafzimmer auf dem Boden ein paar Besoffene am Morgen nicht mehr wissen, wie sie dahin gekommen sind. Sonja ist noch jung, noch schön. Das weiss sie. Und „The Dude“ gross, stark und grosszügig. Nur Vev weiss nicht, wie und ob sie ihre Mutter lieben soll und kann.
Genauso wie ihren Vater Milan, der auch mit seiner neuen Familie nichts auf die Reihe bringt. Schon gar nicht, dass er sich endlich von seiner schnödenden Mutter abnabelt, die ihm immer noch jeden Monat einen weissen Umschlag mit Geld übergibt, obwohl sie kaum etwas an Milans neuer Familie goutieren kann. Milan weiss; Arbeit ist Scheisse, arbeiten tun die anderen. Milans Neue heisst Nati, eine Krankenschwester, Milans Retterin, «ihr eigener Diktator». Und Maja, die ältere von Natis Töchtern, Vevs neue Halbschwester, eine, die allzu gerne in Vevs angerissenem Leben bohrt.
Vev ist alleine, nirgends zuhause, hin- und hergerissen zwischen kaputten Welten. Sie durchschaut das Spiel der Erwachsenen, lernt durchzustehen, auszuhalten, wegzuhören.
Es gibt aber sehr wohl Gründe, sich dem schmalen aber schweren Roman Monika Helfers auszusetzen. Zum einen ist da die Sprache, der klare Blick, sind es die prägnanten, oft kurzen Sätze. Monika Helfer schlüpft nicht in die verschiedenen Perspektiven, sondern erzählt mit zarter Distanz und einem sicheren Gespür für Dialoge und die Konzentration auf Höhe- und Tiefpunkte. Sie rührt nie im sentimentalen Topf, bleibt trocken, ohne spröde zu sein und verstärkt dadurch bei mir das Gefühl von Nähe und Unmittelbarkeit.
Monika Helfer beschreibt Szenerien eines aus den Fugen geratenen Lebens, Szenen, die nichts künstlich zuspitzen und doch dramatisieren.
Zum andern spricht aus der Art und Weise, wie Monika Helfer erzählt, viel Respekt all jenen gegenüber, die verdammt sind, in diesen Welten leben zu müssen. Monika Helfer schlägt kein Kapital aus kaputten Existenzen, um eine gute Story erzählen zu können.
«Schau mich an, wenn ich mit dir rede!» ist wie im Titel des Romans unmissverständlich die Aufforderung hinzuschauen, wo man sonst gerne wegschauen würde.
Monika Helfer wurde 1947 in Au (Bregenzerwald) geboren und lebt als Schriftstellerin in Hohenems, Vorarlberg. Sie hat Romane, Erzählungen und Kinderbücher veröffentlicht, u.a. «Bevor ich schlafen kann» (2010) und «Die Bar im Freien» (2012). Ihre Bücher wurden mit zahlreichen Auszeichnungen gewürdigt, u.a. dem Robert-Musil-Stipendium 1996, dem Österreichischen Würdigungspreis für Literatur 1997 und dem Johann-Beer-Literaturpreis 2012.