Joachim Zelter «Staffellauf», Kröner

Joachim Zelter überrascht wie jedes Mal. Sein neuster Streich ist Sprachkunst und vielschichtiges Geschichtengeflecht. Ein Künstlerroman, ein Kunstroman, eine Liebesgeschichte, die Geschichte von Irrtum und Irrglauben, von Freundschaft und grenzenloser Einsamkeit. Ein Buch wie ein Kaleidoskop.

Sie gilt als vielversprechende Malerin, geht ganz auf in ihrer Malerei, erhält Zuspruch und empfindet grösstes Glück, wenn auf der Staffelei etwas gelungen scheint. Eines Tages erscheint ein seltsam steifer Mann im Atelier, geht von Bild zu Bild, lässt sich einiges erklären, stellt Fragen, ohne dass Bernadette hätte sagen können, die Bilder würden dem Mann gefallen. Obwohl er keines ihrer Bilder kauft, erscheint er immer wieder in ihrem Atelier, ohne je um ihre Zustimmung gebeten zu haben. Er sitzt in dem einen bequemen Sessel im Atelier, schaut, liest und kommentiert. Manchmal schweigt er auch nur und schaut zu, Bernadette immer mehr verunsichert, weil sie nicht weiss, wie ihr geschieht und weil sie den Mut nicht findet, den Mann, der sich dann irgendwann als Karl Staffelstein vorstellt, vor die Tür zu setzen. Der Mann wird zu einem Ding in ihrem Leben, einem Gegenstand, der sich nicht mehr fortschaffen lässt. Erst recht, als er die bittet, seine Frau zu werden.

Wie oft nimmt unser Leben eine Wendung ein, die keiner wirklichen Entscheidung entspringt? Es geschieht einfach. Manchmal, weil man die Kraft nicht aufbringt, sich dagegenzustemmen oder weil einem der Mut fehlt, laut und deutlich Nein zu sagen, die Richtung zu ändern. Bernadette rutscht in ein Leben, das sie sich nicht ausgesucht hat, obwohl ihr die Familie ihres Gemahls die kalte Schulter zeigt, als notwendiges Übel akzeptiert, nicht zuletzt in der Hoffnung, dereinst mit einer kleinen Schar Stammhalter die noble Art zu erhalten, zählte man doch einst zu den Freunden Schillers.

Joachim Zelter «Staffellauf», Kröner Edition Klöpfer, 2024, 192 Seiten, CHF ca. 32.90, ISBN 978-3-520-76609-0

Nun wird Bernadette zum Gegenstand; zur Ehefrau, zur Hausfrau, zur Mutter, irgendwann mit drei Kindern, zum Accessoire, das gut in den Haushalt passt, dem man mit der attraktiven Frau eine Würze gibt, die der über Jahrzehnte gepflegten Steifheit etwas Künstlerisches gibt. Ihr Mann ist Beamter, hoch gestellt, steigt tüchtig auf, wechselt mit der flotten Familie von Ort zu Ort. Die Staffelei, die Leinwände und Farben bleiben in einem Schuppen. Bernadettes Herz verkümmert. Und als man sie zum ersten Mal in die Klinik einweist, ist klar, es liegt in ihrer Familie. Kein Wunder, wenn schon ihr Bruder dem Wahn verfiel.

Im zweiten Teil des Romans erzählt Joachim Zelter die Geschichte von Jakob, dem ältesten der drei Kinder von Bernadette und Karl. Nie die Sicherheit einer liebenden Familie erfahren, lässt sich auch er von den Vorstellungen anderer in ein Leben zwingen, dass nie einer Entscheidung entsprang. Er studiert, nachdem seine Grossmutter stets kontrollierte, ermutigte und drängte. Durchaus erfolgreich doktoriert er und traut sich endlich zu tun, was er wirklich will; schreiben. Er tut es, weil es das einzige ist, was sich wie echtes Leben anfühlt. Nicht weil es ein Traum ist, sondern der einzige Weg, auf die Spur zu kommen. Und trotz vieler Widrigkeiten und weil gar niemand auf den eigenartigen Kauz gewartet hat, wird aus einem Manuskript ein Buch, nicht zuletzt mit Hilfe einer Freundin, einer zarten Liebe, einer Freundschaft, die sich nur schwer in Jakobs Leben einordnen lässt. 

Die Leben von Bernadette und ihrem Sohn Jakob spiegeln sich. Während Bernadette, die die Malerei durch all die Zwänge aufgeben muss, verkümmert und erkrankt, erwacht Jakob erst spät aus einem Dämmerzustand. Bernadette verliert das Glück, obwohl sie doch genau spürte, dass ihre Bestimmung Malerin gewesen wäre und nicht der «sichere Hafen einer Ehe». Jakob gewinnt das Glück erst, als er seinen sicheren Hafen verlässt.

„Staffellauf“ ist ein grossartiger Roman, ein schillerndes Kunstwerk, das viel mehr sein will, als bloss die Nacherzählung eines Geschichtengeflechts. Joachim Zelter fabuliert und spielt. Bei einem Staffellauf gibt man den Stab dem Nächsten weiter. Aber das wahre Leben ist nicht wie auf der Tartanbahn durch zwei weisse Linien markiert. Wir hätten die Wahl!

Interview

Du beschreibst Szenarien, nicht zuletzt jene in Karl Staffelsteins Stammhaus, in dem man viel auf Herkunft und Etikette gibt, derart beklemmend, dass sie nur schwer zu ertragen sind. Aber eigentlich ist es die scheinbare Willenlosigkeit der jungen Bernadette, die so schwer auszuhalten ist. Warum gehen wir offenen Auges ins Verderben? Wir haben ein einziges Leben zur Verfügung und es fällt uns derart schwer, unseren ganz eigenen Weg zu finden?

Nach meinem Gefühl hat Bernadette durchaus einen Willen, sogar einen sehr ausgeprägten, aber sie kann ihn nur schwer artikulieren, geschweige denn durchsetzen. Mit dem Willen ist das so eine Sache. Der eigene Wille stösst oftmals auf den Willen anderer Menschen, der sich als stärker und mächtiger und durchsetzungsfähiger erweist als der eigene. Nicht selten wird der eigene Wille buchstäblich aufgefressen und verspeist von einem mächtigeren Willen. „Ein Käfig ging einen Vogel suchen.“ Dieser Satz von Franz Kafka bringt es auf den Punkt. Manche Menschen sind Vögel, andere Käfige. Darin liegt ein Unheil. Man darf auch nicht vergessen. Der Roman nimmt in den frühen Sechzigerjahren seinen Anfang. In dieser Zeit hatte eine junge Frau (zumal eine mittellose Malerin) viel weniger Möglichkeiten der Abgrenzung oder der Durchsetzung eigener Wünsche. Eine männliche, hierarchisch-autoritäre Gesellschaft stand gegen sie, flankiert von Mächten und Institutionen wie Kirche, Familie und Valium verschreibenden Ärzten. Für all sie war die Eheschliessung und die Gründung einer gutbürgerlichen Familie das höchste Ideal. Doch ich räume ein: es liegt in der Art und Weise, wie Bernadette sich auf eine ungewollte Ehe tatsächlich einlässt, etwas Unbegreifliches. Genau diese Unbegreiflichkeit versuche ich in meinem Roman (eigentlich in all meinen Romanen) auszuloten. Ab wann steht man gegenüber einem nahen Menschen derart im Wort oder in einer zwischenmenschlichen Pflicht, dass es kein Zurück mehr zu geben scheint, oder allenfalls ein Zurück, in dem man oder frau nicht umhinkommt, dem anderen massive Schmerzen zuzufügen.

Dein Roman ist alles andere als ein Plädoyer für die Institution Ehe. Die Ehe ist nicht das einzige Abhängigkeitsverhältnis, in das sich der Mensch mit wehenden Fahnen stürzt. Nicht zuletzt der Kultur-, der Literaturbetrieb ist voller solcher Abhängigkeiten. Bernadette vergisst die Freiheit, die sie einst besass. Jakob gewinnt sie erst spät. Ist die Zuweisung Bernadette als Verliererin und Jakob als zaghafter Gewinner nicht ein potenzieller Fettnapf?

Ich sehe Bernadette nicht als Verliererin und Jakob auch nicht als Gewinner. Jedes Leben ist ein einzigartiger Versuch, mit der Geworfenheit unserer Existenz irgendwie zurechtzukommen. Der Roman, ein Familienroman, beschreibt über mehrere Generationen hinweg, neuralgische Lebenssituationen, in denen sich Menschen so oder so entscheiden können, also entweder für äussere Vorgaben (sei es nun Ehe, Familie oder materielle Absicherung) oder für sich selbst. Jakob entscheidet sich (anders als seine Mutter) in einer entscheidenden Lebenssituation für sich selbst, das heisst, er entscheidet sich, Schriftsteller zu werden, obgleich alle gesellschaftlichen Normen und Vorgaben dagegensprechen. Der Sohn tut also etwas, was auch seine Mutter hätte tun können, eine Entscheidung für sich selbst zu treffen, wobei es den Sohn ja gar nicht geben würde, hätte seine Mutter sich damals anders entschieden. In dieser existentiellen Paradoxie bewegt sich der Roman und zugleich drängt er darauf, dass Kinder vielleicht viele, viele Jahre später etwas anders machen können als ihre Eltern. Deshalb auch der Titel: STAFFELLAUF.

Bernadette findet auf einem ihrer Stadtstreifzüge in einer Buchhandlung ein Buch mit dem Titel „Die Lieb-Haberin“. Ein klasse Titel. Könnte doch auch ein Buch von Joachim Zelter sein, zumal sich Liebe und Haben ziemlich streiten? Und alles, was streitet, erzählt Geschichten.

Ja, das Buch (DIE LIEB-HABERIN) ist in der Tat von mir. Ich habe es vor mehr als 20 Jahren geschrieben und veröffentlicht. Dieser Roman erzählt eine ähnliche Geschichte wie STAFFELLAUF, nur unter inversen Vorzeichen: keine Frau, sondern ein junger Mann gerät hier immer tiefer in den Strudel einer Beziehung, die er überhaupt nicht will. Je mehr er sich dieser Beziehung zu entziehen versucht, desto mehr verstrickt er sich in sie. Es ist ein durch und durch erfolgloser Roman gegen alle kulturellen Vorgaben und Konditionierungen: kein Liebesroman, sondern ein Nicht- oder Anti-Liebesroman; nicht die Erfüllung einer Liebe steht dort im Mittelpunkt, sondern ihr Abwehren, ihr Verweigern; kein entschiedenes Ja ist irgendwo zu hören, sondern allenfalls die Unfähigkeit, Nein zu sagen; keine gefällige Liebhaberin ist die Geliebte, sondern eine besitzergreifende Lieb-Haberin. Der Roman steht so sehr gegen alle gängigen Erwartungen, dass ihm etwas Unglaubliches, Surreales, geradezu Groteskes innewohnt. STAFFELLAUF ist der Versuch, ein ähnliches Thema noch einmal neu zu erzählen, neu zu fassen, es in einen anderen, viel ursprünglicheren Kontext meines Lebens zu stellen.

Bernadette findet in einem ihre Klinikaufenthalte in Johannes ein Gegenüber, der das Zeug gehabt hätte, zum Retter zu werden. Aber du lässt Johannes wieder abtauchen, so wie einmal bedeutende Menschen mit der Zeit nach und nach aus unseren Geschichten verschwinden. Hat sich der so einfach aus deinem Roman entfernt? Musstest du ihn loswerden?

Ich wollte die beiden in der Tat durchbrennen lassen, sie ein neues gemeinsames Leben beginnen lassen. Ich habe es ernsthaft versucht, doch es hat schon nach wenigen Seiten – trotz aller literarischen Bemühungen – nicht funktioniert. Der ganze Roman hat sich dagegen gesträubt. Der Roman wäre durch eine solche Wendung gesprengt worden, wäre ins Märchenhafte oder Phantastische abgeglitten. „Ein Bürgermädchen kann sich die Illusion machen, dass ein Prinz kommen wird, um sie herauszuholen.“ Nach Sigmund Freud ist das aber wenig wahrscheinlich. Wie hätte auch ein gemeinsames Leben der beiden glücken sollen: Johannes, ein mittelloser Schriftsteller, Bernadette eine ebenfalls mittellose Malerin, die seit Jahren von schweren Depressionen gezeichnet ist. Dazu hat sie zwei Kinder, die daheim auf sie warten. Eine solche Beziehung hätte kaum funktioniert, weder literarisch noch nach Massgabe irgendeines Realitätsprinzips. Die eigentlichen Liebesgeschichten sind (jedenfalls seit Romeo und Julia) ohnehin diejenigen, die von vornherein zum Scheitern verurteilt sind. Sollte eine Liebesgeschichte je glücken, dann wäre es keine Liebesgeschichte mehr.

Jakobs Geschichte ist das Spiegelbild der Geschichte seiner Mutter, wenn auch spiegelverkehrt. Er schafft es irgendwie, sich zu befreien. Wenn auch zu einem hohen Preis. Jakob ist Schriftsteller. Wie viel Joachim Zelter steckt in Jakob Staffelstein?

Ziemlich viel. Der ganze Roman bewegt sich nah an der Realität. Obgleich man sich fragen kann: Was ist schon Realität? Je mehr man sie zu begreifen versucht, desto mehr entzieht sie sich, beginnt man umzustellen, neu zu ordnen, neu nachzudenken oder vieles auszulassen. 

Jakobs Doktorarbeit wird zu einem Sprachmonster, zu einem Sprachpanoptikum. Eigentlich eine wissenschaftliche Arbeit, in Tat und Wahrheit aber ein riesiger Zettelkasten voller Kuriositäten. Steckt da auch ein Zeltertraum, irgendwann beim Schreiben allen Konventionen zu entsagen?

Ja, es ist der Traum, allen Vorgaben und Konventionen zu entsagen. Von Nietzsche gibt es den schönen Satz über Lawrence Sterne: Er sei „der freieste Schriftsteller aller Zeiten“ gewesen. Ein wenig dieser unermesslichen Freiheit wollte auch ich mir herausnehmen. Die Literaturgeschichte ist eine Geschichte der Konventionen, sie ist aber noch viel mehr eine Geschichte des Überschreitens oder der Sprengung von Konventionen. Jahrelang schreibt Jakob Staffelstein an einer Doktorarbeit. Eigentlich ist eine Doktorarbeit der Inbegriff gnadenloser Akribie und Strenge. Doch innerhalb dieser rigiden Strenge findet er in den Fussnoten, die er verfasst, einen unterirdischen Raum für seine eigensten und innersten Gedanken, die er einfach niederschreibt, gegen alle wissenschaftlichen Vorgaben und Konventionen. Die Doktorarbeit markiert somit den Übergang von der Wissenschaft in die literarische Kreativität, von der toten Mechanik akademischen Arbeitens ins überbordende Leben. Eine Doktorarbeit kann am Ende geistreicher und kreativer sein als so mancher Roman.

Auch in Jakobs Leben gibt es eine „Liebe“, eine Frau, eine Retterin, Gesine. Aber auch sie verschwindet. Es scheint, als hättest du die Liebesgeschichte um jeden Preis verhindern wollen.

Der Autor, der Roman, all die Buchstaben und Worte und ihre innersten Wünsche und Absichten hätten sehr gerne die Beziehung zwischen Jakob und Gesine fortgesetzt. Liebend gerne. Für Jakob ist Gesine die Liebe, die Frau seines Lebens, aber (wie im wirklichen Leben) können auch literarische Figuren sich dem entziehen und ihre eigenen Wege gehen. Oder auch nicht ihre eigenen Wege. Denn Gesines Situation ähnelt in mancherlei Hinsicht der Situation von Jakobs Mutter dreissig Jahre früher. Gesine und Jakobs Mutter sind Spiegelbilder. Auch Gesine ist verheiratet und hat Kinder und entscheidet sich in einem entscheidenden Lebensmoment für Werte wie Sicherheit und Familie statt für Wahrhaftigkeit, Selbstverwirklichung oder Freiheit. Aber: Ob nun verheiratet oder nicht, am Ende sind und bleiben viele Menschen mit sich oder mit anderen allein.

Joachim Zelter, 1962 in Freiburg geboren, studierte und lehrte Literatur in Tübingen und Yale. Seit 1997 freier Schriftsteller. Bei Klöpfer & Meyer erschienen u. a. «Der Ministerpräsident» (2010), nominiert für den Deutschen Buchpreis, sowie «Im Feld» (2018). In der KrönerEditionKlöpfer erschienen «Die Verabschiebung» (2021) und «Professor Lear» (2022). Joachim Zelter erhielt zahlreiche Auszeichnungen: u. a. den begehrten Preis der LiteraTourNord. Er ist Mitglied im Verband deutscher Schriftsteller und im Deutschen PEN.

«Imperia», Rezension auf literaturblatt.ch

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Beitragsbild © Yvonne Berardi

Nina Jäckle «Verschlungen», Kröner Edition Klöpfer

Nina Jäckle ist eine absolut faszinierende Erzählerin. Ihre Art des Geschichtenerzählens richtet sich nach Innen, ohne den Blick auf das Darüberhinaus zu verlieren. „Verschlungen“ ist ein Tauchgang in die Psyche einer Frau, die sich verzweifelt zu befreien versucht.

Im Heute wünschen wir uns Nähe und verabscheuen Dichtestress. Ganz offensichtlich wird der Akt der menschlichen Annäherung ein immer problematischerer, gespickt mit Fallgruben und bösen Überraschungen. Im Zug aber suche ich lieber ein freies Abteil und pfropfe Kopfhörer in die Ohrmuscheln, um mehr als deutlich zu signalisieren: „Ich will nicht“.

In Nina Jäckles neuntem Roman „Verschlungen“ geht es um eine in die Jahre gekommene, namenlose Frau. Sie wohnt abgeschieden und völlig zurückgezogen in einem kleinen Haus im Wald. Ihre Mutter und ihre Schwester hat sie verloren, die einzigen Personen in ihrem Leben, die eine Rolle spielten. Seit zwei Jahren versucht sie sich zurechtzufinden. Sie sucht ihren Platz, ihren Stand, ihre Mitte, ein Selbstbildnis, das nicht ständig massregelt, schimpft und straft, denn Ewa, ihre eineiige Zwillingsschwester, hat sie alleine zurückgelassen. Sie, die in tausendfachen Schwüren versprach, stets zu teilen, sie nie zu verlassen, im absoluten Gleichschritt durchs Leben zu gehen, als wären sie in zwei Körpern geborene Siamesische Zwillinge.

Libelle, Zeichnung © Renata Jäckle

«Wie kannst du nur ablassen von mir, wie kannst du es wagen, unsere Verträge zu missachten, keiner wird uns je küssen, keiner wird uns je berühren. Das haben wir uns auf immer geschworen.»

Nina Jäckle «Verschlungen», Kröner Edition Klöpfer, 2023, 160 Seiten, CHF 29.90, ISBN 978-3-520-77101-8

Sie und ihre Schwester Ewa blieben bis ins Erwachsenenalter bei ihrer Mutter und begleiteten sie bis in den Tod. Eine Art des Begleitens, die schon lange zuvor ein Distanzieren geworden war, denn je älter die Zwillinge geworden waren, desto unergründlicher und fremder wurden sie für eine Mutter, die sich mehr und mehr ausgeschlossen fühlen musste. Und weil es durch Erbschaften für die Zwillinge nie nötig wurde, sich mit anderen Menschen einzulassen und die beiden sich schworen, sich nie von Männern berühren zu lassen, weil diese nur zur Bedrohung ihrer Einheit werden würden, genügten sie sich selbst, auch wenn diese Genügsamkeit durch Schwüre, Drohungen und einem permanenten Hinundher zwischen Abstossung und maximaler Nähe verkettet werden musste.

«Das Zusammengehören also ist wie eine chronische Krankheit.»

Ewa, zwölf Minuten später zur Welt gekommen, schien die immer Stärkere, Dominantere, Herrschendere zu sein – die bessere Variante. Was sich ein Leben lang zwischen den beiden abspielte, war und ist eine Mischung aus Selbstzerstörung und Selbstzersetzung. Jedes noch so kleine Fünkchen Eigenständigkeit wurde zum Akt grösster Kraftaufwendung und selbst der Schnitt im Finger in Kindertagen, ein kleines Unterscheidungsmerkmal, wird zur offensichtlichen Bedrohung.

«Geborgenheit bezahlt man mit Enge.»

Nun, die Mutter gestorben und sie seit zwei Jahren von einem Teil ihrer selbst abgeschnitten, amputiert und unheilbar verwundet, versucht die Erzählerin mit Verbannungen sich selbst zurechtzufinden. In Rückblenden, die sich lesen, als würde die Protagonistin in ihr Spiegelbild erzählen und Einsprengsel aus ihrem geheim geführten Tagebuch, öffnet sich das Psychogramm einer Eingeschlossenen, die verzweifelt versucht zu verstehen. Es braucht genau jenes Verstehen, um aus dem Gefängnis, der allumfassenden Umklammerung ausbrechen zu können. Nina Jäckle schreibt meisterlich, fesselt nicht nur mit der Ungewissheit, was aus Ewa geworden ist, sondern mit der Intensität ihrer Sprachkunst und der Tiefenschärfe ihres Erzählens. In „Verschlungen“ liegt derart viel Verblüffendes, dass ich während der Lektüre im Staunen versank.

Ameise, Zeichnung © Renata Jäckle

Interview

Ich bin überwältigt von Deinem neuen Roman, von Deiner Sprache, der Konstruktion, der Erzählweise und Deinem Mut. Du beschreibst eine Innenwelt, einen verzweifelten, lebenslangen Ausbruchsversuch. Die Sprache deshalb, weil der Sound das Zerstörerische, die Hilflosigkeit, die Angst miteinschliesst. Die Konstruktion deshalb, weil du Deinen Erzählperspektiven absolut treu bleibst und all jenen Verlockungen, denen ich erlegen wäre, widerstanden hast. Die Erzählweise darum, weil Du in Tiefen abtauchst, die mich schwindeln lassen und den Mut, weil Du durch Auslassungen meiner Lust nach Aufklärung entgegenwirkst. Alles geplante Absicht?
Geplante Absicht kenne ich beim Schreiben nicht. Nachdem ich merke, dass mich etwas thematisch interessiert und ich also erste Sätze dazu bilde, gerate ich in eine Stimmung. An dieser Stimmung entlang lasse ich meine Figuren denken und tun. Ich habe auf meinem Schreibtisch einen kleinen Lautsprecher und ich höre zum Schreiben, und natürlich passend zu dieser Stimmung, Musik. So entsteht nach und nach eine Playlist, eine Sammlung von Stücken, die in gewisser Weise am Tonfall des Textes mitwirken, Tag für Tag. Musik, die vielleicht sogar textliche Bewegungen mitgestaltet. Ich schreibe nicht planvoll, ich nehme niemanden an die Hand, ich führe niemanden von einem geplanten A nach einem geplanten B. Ich sammle Kleines auf, um Generelles darin abzubilden. In dieser dauererregten Zeit versuche ich, das Konzentrierte, die leisen Gedanken aus leiser Sprache mit einem eher reduzierten Plot dem Oberflächentrubel unserer Zeit entgegenzusetzen. Natürlich birgt dies das Risiko des Überhörtwerdens. Darüber denke ich aber nicht mehr nach, denn das Einflüstern ist meins, nicht das Ausrufen.

Wir leben in Zeiten von grassierender Einsamkeit und bedrohlichem Dichtestress. Dein Roman beleuchtet genau dies aus absolut überraschender Perspektive und in einer derartig beklemmenden Intensität, dass ich mir nicht vorstellen kann, dass eine solche Geschichte so einfach ersonnen ist. Dein Roman übersteigt ein Mass der Einfühlsamkeit, die mich rätseln lässt. Wie bist Du eingetaucht?
Alles ist ersonnen. Das ganze Buch, von vorne bis hinten. Gespeist natürlich. In meinem Leben gibt es Rückzug und Einsamkeit und eine sehr enge Beziehung, es gibt in meinem Umfeld Falter und streunende Katzen, es gibt das Haus und windschief gewachsene Bäume. Es gibt Elfen-Krokusse und es gibt auch die Frage danach, „was man als gegeben gelten lassen, was man als gegeben anerkennen muss. Und so macht man sich auf die Suche nach dem Vorgegebenen und ebenso nach der definierbaren eigenen Form. Man versucht zu komponieren, auf dass man Urheber der Melodie des geführten Lebens werde…“

Heuschrecke, Zeichnung © Renata Jäckle

Der Name der Ich-Erzählerin wird nicht ein einziges Mal genannt. Das ist absolut konsequent, denn sie erlebt sich als eineiig, monozygot. Auch wenn ihr ganzes gemeinsames Leben mit ihrer Zwillingsschwester ein permanenter Versuch der Absetzung war, wenn auch nur in kleinen Aktionen. Du bist in den Körper der Erzählerin hineingeschlüpft und erzählst in der ersten Person.
Meine Protagonistin hat deshalb keinen Namen, weil es aus der Erzählperspektive heraus nicht plausibel wäre, ihn zu erwähnen. Und weil es mir unter Umständen nicht gelungen wäre, so lückenlos sie zu sein, wenn ich sie mit einem Namen ausgestattet hätte, der nicht der meine ist. Das „Ich“ wäre mir wohl dann wie eine Lüge vorgekommen. Aber Letzteres ist lediglich Spekulation.

„Verschlungen“ ist vieles, auch ein Roman über die Sehnsucht nach Individualität. Entspricht die rein menschliche Sehnsucht nach Individualität, nicht eigentlich einer völligen Selbstüberschätzung?
Natürlich ist „Verschlungen“ ein Text über die Sehnsucht nach Individualität. (Ich weiss nicht, ist es Selbstüberschätzung oder vielmehr der rührend verzweifelte Wunsch nach Bedeutung?) Auch schreibe ich über Obsession. Darüber, besessen zu werden und besessen zu sein, darüber, an einer Abhängigkeit von einem anderen Menschen zu erkranken, ich schreibe über den selbstzersetzenden Versuch, sich von einem Menschen abzuwenden, der genetisch mit dir vollkommen übereinstimmt. “Ich weiss nicht, und vermutlich werde ich es niemals wissen, bin ich denn nun durch dich das Doppelte, oder bin ich die Hälfte von eins?“, fragt sich jene ohne Namen, und ich kann es ihr nicht wirklich beantworten, tendiere aber zur Hälfte. Der Versuch, sich selbst in aller Ruhe und auch Brutalität auseinanderzunehmen, um sich dann in aller Ruhe neu zusammenzusetzen, also eine radikale „Selbstersetzung“ durchzuspielen, hat mich enorm gereizt.   

Ich danke Nina Jäckle für alles!

Teil 2

Teil 3

GzD-Gallus-Frei-final Nina Jäckle wurde 1966 in Schwenningen geboren, wuchs in Stuttgart auf und begann früh, Hörspiele zu schreiben; es folgten Erzählungen und Romane, mit gehörigem Erfolg: Nina Jäckle erhielt u. a. den Tukan-Preis, den Evangelischen Buchpreis, den Italo-Svevo-Preis, die Förderung des Deutschen Literaturfonds sowie die Stipendien der Deutschen Akademie Rom Villa Massimo und des Internationalen Künstlerhauses Villa Concordia. Bei Klöpfer & Meyer erschienen zuletzt die Romane «Der lange Atem» (2014) und «Stillhalten» (2017).

Renata Jäckle, 88, studierte an der Kunstakademie Braunschweig und ist gelernte Grafikerin, sie lebt in Hamburg. Sie malt sowohl grossformatig in Mischtechnik auf Leinwand als auch in kleinerer Form mit Tusche.

Rezension von «Warten» auf literaturblatt.ch

Setzkastentexte auf der Plattform Gegenzauber

Beitragsbild © privat

Joachim Zelter «Die Verabschiebung», Kröner Edition Klöpfer

Man verliebt sich, zieht zusammen und heiratet. Julia und Faizan tun genau das. Aber nichts scheint im Glück zu enden, viel mehr in Aussichtslosigkeit. Denn Faizan ist Asylbewerber aus Pakistan. Und Julia wollte genau das eine mit Sicherheit nie im Leben: Heiraten. Beide kommen in Deutschland nie an!

Was soll Literatur? Unterhalten? Provozieren? Streicheln? Sticheln? Aufbauen? Niederreissen? Weder das eine noch das andere allein. Im besten Fall mehreres zugleich. Selbst auf die Gefahr hin, das Leserinnen und Leser nicht alles in den Kram passt, was da geschrieben steht. Je mehr ein Buch aus der eigenen Innerlichkeit schöpft, je mehr es die Innenseite eines Autors offenbart, desto grösser das Risiko, mit dem Werk gleichgesetzt zu werden. Joachim Zelter schrieb aus tiefer Betroffenheit einen Roman, der zu tiefst betroffen macht. Einen Roman, den man nur schwer zuhause auf dem Liegestuhl, an der Sonne, am Strand, im Flugzeug lesen kann. Und doch ist sein neuer Roman literarische Auseinandersetzung. Aber die Geschichte für einmal nicht bloss der Träger der Sprache.

„Die Verabschiebung“ macht genau das, was im Titel des Romans passiert: Eigentlich verändert sich nur wenig, ein Buchstabe, und aus einem üblichen Vorgang wird eine Katastrophe. Wir wissen, dass es sie gibt, die Abschiebungen abgewiesener Flüchtlinge, die begleiteten Flüge, diskret, von fremden Augen abgeschottet, die Dramen, die Fesselungen, die Tränen, die Katastrophen. Manchmal dringen sie an die Oberfläche des öffentlichen Interesses, kurzzeitig, wie Strohfeuer. Eigentlich verändert sich nur wenig; meine Perspektive als Leser. Hätte ich Joachim Zelters Buch weggelegt, käme es einer Verweigerung gleich, einem Nicht-hinschauen-wollen.

Joachim Zelter «Die Verabschiebung», Kröner, 2021, 160 Seiten, CHF 27.90, ISBN 978-3-520-75201-7

2018 wurden aus Deutschland fast 24000 Menschen abgeschoben, in der Schweiz etwas über 3000. Joachim Zelter erzählt ein Stück Geschichte eines Mannes namens Faizan Muhammad Amir. Fiktiv, wie der Autor in einer Vorbemerkung betont: „Dieser Roman ist eine fiktive Geschichte. Darin liegt seine Wahrheit. Es handelt sich um eine literarische, menschliche und gesellschaftliche Wahrheit, nicht um die faktengetreue Wiedergabe tatsächlicher Ereignisse.“ Faizan floh auf dem Landweg von Pakistan nach Deutschland. Eine Flucht, die beinahe ewig dauerte und mit der Ankunft in Deutschland nie zu Ende war. Aus Pakistan, einem Land mit einer Militärregierung. Aber eben nicht Afghanistan oder Syrien. Faizan lernt Julia Kaiser kennen, auf der Treppe vor einem Tanzlokal; Faizan, der in einer Containersiedlung mit anderen Flüchtlingen auf engstem Raum zusammenlebt, Julia, die ihr Studium abgebrochen hatte und mit einem Job in einer Bücherei ihr enges Leben in den Griff zu bekommen versucht. Sie mögen sich, und weil ein Anwalt meint, es verbessere Faizans Aussichten in Deutschland bleiben zu können, würden sie heiraten, tun sie es. Durchaus aus Liebe, aber eigentlich nur, weil sie die Bürokratie, der Apparat zu diesem Schritt zwingt. Ausgerechnet Julia, die eine Magisterarbeit schrieb über die Zwänge der Institution Ehe, über die Unhaltbarkeit der Ehe, in philosophischer, literarischer, ästhetischer und jeder anderer Hinsicht. Sie heiraten schnell und still. Aber eben dieser Apparat schlägt gnadenlos zurück, denn nun ist staatlich zu prüfen, ob die Ehe zwischen den beiden eine vorgetäuschte Lebensgemeinschaft sei und damit Grund genug, um einer Aufnahme als Flüchtling unabwendbar einen Riegel zu schieben.

Was nach einem Plan aussah, was ein bisschen Hoffnung schenkte, erweist sich als Spiessrutenlauf. Ein Beamter erscheint fast täglich und bohrt. Faizans Panikattaken wachsen. Julia rennt von Amt zu Amt. Ihr Konto rutscht für Anwälte ins tiefrote Minus. Bis dann doch das Kommando auftaucht und Faizan drei Minuten Zeit gibt, das Wichtigste zu packen und einen letzten Anruf zu tätigen.

Erzählt werden die Monate von Johannes, Julias Bruder, der auf den ersten Seiten des Romans eine PIA besteigt, eine Boeing 474 der Pakistan International Airlines. Johannes, der wie alle andern im Umfeld von Julia und Faizan nie ganz begreifen konnte, was die Situation derart entgleiten liess, macht sich nach Pakistan auf, weil es sonst sein 83jähriger Vater getan hätte. Auf die Suche nach der Liebe.

Interview

Ich las dein Buch auf meinem Sofa in meiner Bibliothek. Andere lesen es vielleicht im Liegestuhl, im Flugzeug oder auf El Hierro am Strand. Eigentlich fast unerträglich. Unweigerlich stellt sich ein Gefühl der Scham ein. Muss und soll das passieren? Oder geht es dir gar nicht darum.
Niemand soll sich schämen. Schon gar nicht meine wenigen Leserinnen und Leser. Ich halte es da mit Nietzsche: „Was ist dir das Menschlichste? – Jemandem Scham ersparen.“

„Bitte verlassen Sie die Bundesrepublik Deutschland (könnte auch heissen „Bitte verlassen Sie die Schweiz.“)“ Hinter diesem «Bitte» steckt wenig Bitten, höchstens Schönfärberei. Für die einen logische Konsequenz einer propagierten Flüchtlingspolitik, für die anderen ebenso logische Konsequenz von Unmenschlichkeit und Angst. Ein ewiges Dilemma?
Als Autor interessiert mich weniger dieses Dilemma als vielmehr die euphemistische Sprache, die sich darin entfaltet. Je unmenschlicher die Sätze in ihrer tiefsten Substanz, desto mehr Anästhetikum im Vorgang einer alles benebelnden Sprache. Die ganze Asylverfahrenssprache, die ich in meinem Roman zitiere, sie ist sogar gendergerecht und politisch korrekt bis in die letzte Verästelung verfasst. Dazu noch auf Umweltpapier gedruckt. In jedem Universitätsseminar würde eine solche (sich nach allen Seiten immunisierende) Sprache eine Eins mit Sternchen bekommen. Doch am Ende scheut sie nicht davor zurück, Menschen gegen ihren Willen in ein Flugzeug zu setzen und sie ausser Landes zu schaffen.

Weder Julia noch Faizan entsprechen den Normen. Wer den Normen entspricht, wird vom Apparat in Ruhe gelassen. Sei dies in Deutschland, der Schweiz oder Pakistan. Was du mit deinem Roman tust, entspricht wohl für viele auch schon nicht mehr einer Norm, denn es lässt sich mehr als deutlich eine politische und gesellschaftlich Haltung ablesen. Julia und Faizan bezahlen dafür. Sollten sich Schriftstellerinnen und Schriftsteller nicht viel mehr „ausserhalb der Literatur“ zu aktuellen Themen äussern? Selbst auf die Gefahr hin, sich damit die Finger zu verbrennen?
Ich selbst tue mich schwer mit punktgenauen Äusserungen zur Politik, gerade ausserhalb der Literatur. Vielmehr neige ich dazu, das Politische direkt (oder indirekt) in die Literatur zu nehmen. Ich denke da an meine Romane SCHULE DER ARBEITSLOSEN, DER MINISTERPRÄSIDENT, UNTERTAN oder IM FELD. Innerhalb der deutschsprachigen Literatur sehe ich mich da in einer Tradition mit Heinrich Mann oder auch Friedrich Dürrenmatt, den ich in der VERABSCHIEBUNG einige Male erwähne. In der englischsprachigen Welt sind es Autoren wie Jonathan Swift, George Orwell oder Aldous Huxley, alles eminent politische Autoren. Für mich bilden Literatur und Politik keine Gegensätze. Jeder literarische Text ist politisch, selbst dann, wenn er sich unpolitisch gibt. Das Unpolitische ist am Ende noch politischer als das Politische: in seiner völligen Anpassung und Hinnahme bestehender Verhältnisse. Die Frage ist, ob der Autor oder die Autorin davon weiss – oder nicht. 

Wäre Faizan Informatiker, Wissenschaftler, Arzt oder Fussballer bei Bayern München, würde man ihn niemals unfreiwillig mit Begleitschutz in einen Flieger setzen. Man behandelt Menschen nach ihrem möglichst messbaren Wert. Von Menschenmaterial kann man sich sehr effektiv trennen. Davon zeugt die Geschichte. Materialismus bis ins Menschenbild?
Leider stimmt das. Menschen werden sehr stark auf ihre (überwiegend ökonomisch gedachte) Nützlichkeit reduziert, entgegen aller Ethik und auch entgegen des ersten Artikels des deutschen Grundgesetzes: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ Doch diese Ökonomisierung geht weit über ein Asylverfahren hinaus. Wir sprechen ja auch von unserer Jugend oder von der Bildung als unserem grössten Kapital. Oder von einem Buch als einem hervorragenden Buch, wenn es sich gut verkauft. Das Gegenstück dazu ist der wunderbare Satz von Oscar Wilde: „All Art is quite useless.“ Dieser Satz begründet eine ganze Ethik. 

Julia Kaiser riskiert alles. Das weibliche Urbild der sich Aufopfernden? Hätte die Geschichte auch mit vertauschten Rollen funktioniert?
Eine gute Frage. Doch ich glaube, dass die Geschichte auch mit vertauschten Rollen funktionieren würde. Julia opfert sich zu einem gewissen Grad auf, das stimmt, doch das Wort Aufopferung greift zu kurz. Julia gewinnt auch sehr viel – an Nähe, Wärme, Kraft, Verbundenheit und Zuneigung. So wie umgekehrt die Menschen, die so sehr darauf bedacht sind, alles Fremde von sich zu halten, damit auch viel verlieren. Der Bildende Künstler Jo Winter brachte es einmal auf den Punkt: Wer die Welt ausschliesst, schliesst sich selbst immer mehr ein. Denmark is a prison.

© Yvonne Berardi

Joachim Zelter, 1962 in Freiburg geboren, studierte und lehrte Literatur in Tübingen und Yale. Seit 1997 freier Schriftsteller. Bei Klöpfer & Meyer erschienen u. a. «Der Ministerpräsident» (2010), nominiert für den Deutschen Buchpreis, sowie «Im Feld» (2018). Zuletzt erschien «Imperia» (2020).
Joachim Zelter erhielt zahlreiche Auszeichnungen: u. a. den begehrten Preis der ›LiteraTourNord‹. Er ist Mitglied im Deutschen PEN.

Rezension von «Imperia» auf literaturblatt.ch

Rezension von «Im Feld» auf literaturblatt.ch

Joachim Zelter «Gegen die Gewissheiten» auf der Plattform Gegenzauber

Webseite des Autors

Beitragsbild © Yvonne Berardi

Walle Sayer … lesen und staunen

Per Zufall entdeckte ich Walle Sayers Texte auf einem Blog mit literarischen Alltagsbetrachtungen. Da schreibt er über eine späte Heimfahrt nach einem Rockkonzert übers süddeutsche Land, bezeichnet Autobahnen als Krampfadern – und mir war die Landschaft, auch die sprachliche, sofort vertraut.

Gastbeitrag von Alice Grünfelder

Walle Sayer lebt und schreibt in Horb, kam nach diversen «Kneipensemestern» in einer selbstverwalteten Kneipe – «Studium des Lebens», nennt Walle Sayer diese Zeit – übers Lesen zum Schreiben, zu Gedichten als Gegenwelt zu seiner Kaufmannslehre in einer Bank, später engagierte er sich in der Friedensbewegung. Er spielte das Grosse im Kleinen durch, die ersten Bücher, so sagt er in einer online-Lesung im April 2021, waren ungelesen, ungesehen, sagt aber auch, dass er diesen Schonraum geschätzt habe, in dem er sich entwickeln konnte, unterstützt von gelegentlichen Stipendien, die «schon wichtig» waren.

Ich beginne mit der Lektüre «Beschaffenheit des Staunens» und stosse erneut auf vertraute Bilder von Mofarockern und Jugendlichen auf einem «Verlassenheitsareal, auf dem man nur Fehlzeiten verbringen kann. Von den Jugendversehrten, die sich untereinander mit Stummelsätzen verständigen, erzählt einer nebenbei, dass die Mutter gestern im Suff sein Sparschwein aufgebrochen habe. (…) Als von irgendwoher (…) der Wortführer hallend gerufen wird, dreht der einfach das dröhnende Gerät weiter auf, bis zum scheppernden Anschlag.» 

Walle Sayer «Mitbringsel», Klöpfer Narr, 122 Seiten, CHF 29.90, ISBN 978-3-7496-1011-2

Wie Walle Sayer fern von jedem Pathos Landschaften und Alltagsmomente beschreibt, ist mir indes neu, diesen Ton aus der Provinz habe ich so noch nie gelesen und werde fortan an keinem Holzschopf mehr vorbeigehen können, ohne an Walle Sayer zu denken, der in seiner archäologisch angelegten Prosaminiatur «Betrachtung» übereinandergeklebte Plakate von Dorfversammlungen, Verkaufsmessen, Sichelhenkeln und damit einen Flickenteppich von Triumpf und Vergänglichkeit beschreibt. So könnte ich weiter staunen und schreiben über seine lakonischen Notate zum Beispiel über Menschen und ihre Liebe: «Die beiden fangen ein Vierecksverhältnis an mit den Bildern, die sie sich voneinander machen.» In solchen Zeilen zeigt sich der Meister der Kürze oder, wie Denis Scheck es treffend sagt, ein Misstrauen gegenüber jeder Ausführlichkeit. In dem Band «Mitbringsel» treibt er es damit auf die Spitze, indem er Wörter aneinanderreiht, die er oder sein Lektor gestrichen haben.

Seine leichte Sprache entfaltet eine starke Wirkung, das Hingetuschte wirkt bei Walle Sayer keineswegs leicht, das Leben und Sterben ist es gleichermassen nicht, denn „die Kehrseite der Kehrseite ist noch lange nicht die Vorderseite.“ So notiert er es in einem nicht ganz ernst gemeinten Sitzungsprotokoll.

So kann nur einer schreiben, dem „Wachsein vor dem Aufsein“ eingeschrieben ist in ein Leben abseits der Metropolen, der nach Wortkrumen in seinem Dialekt sucht wie ein Archivar, und diese Wörter so behutsam einsetzt, des Klanges wegen oder auch nur, wenn es kein anderes adäquates gibt, dass sie aufleuchten statt abzustossen. Und nein, er schreibt nicht über sich selbst, stülpt nicht das Innen ins Aussen, sagt stattdessen: «Wohl bietet die eigene Biografie Material, aus dem man schöpft, aber man muss nicht über sich selbst schreiben.» Vielmehr sucht Walle Sayer im Alltag nach einem «Tagesleck», das er mit einem Satz abdichten will, damit es nicht im Alltagsrauschen untergeht, so erklärt er sein Schreiben.

Walle Sayer «Nichts, nur», Edition Klöpfer, 2021, 240 Seiten, CHF 40.90, ISBN 978-3-520-75501-8

Der Verlag schenkte Walle Sayer zu seinem 60. Geburtstag «Nichts, nur». Nichts passt wohl besser zu Walle Sayer als dieses Understatement. Das Buch ist Querschnitt und Zwischensumme zugleich seiner Poeme und Prosaminiaturen. «Nichts, nur», so sagte es die Moderatorin anlässlich der Buchvorstellung im April 2021 in Dornstetten, könnte vor jedem seiner Gedichte stehen.

Nichts, nur der Vollmond, der sich spiegelt im ruhigen Wasser, ein an den See entrichteter Obolus der Nacht. 
Nichts, nur ein paar Raben, Funktionäre der Farbe Schwarz, hocken im Geäst, zerkrächzen die Sicht.

Nichts, nur die Runde am Nebentisch, Schaumkronen setzen sie sich auf, erlassen ihre Edikte, danken ab.
Nichts, nur: diese Tonfolge, dieser Auftakt.

Walle Sayers Werke sind meistens im Verlag Klöpfer&Meyer erschienen, einen Überblick über seine Bücher lässt sich am besten auf literaturport nachlesen. 

© Burkhard Riegels-Winsauer

Beitragsbild © Charly Kuball