Die von Kat Menschik illustrierten Bücher aus der Reihe „Lieblingsbücher“ überraschen immer wieder und sind für Büchermenschen wie mich Geschenke für alle Sinne. Sie schmeicheln allem, den Augen, den Händen, meinem Herz, meiner Seele und sind eindrücklicher Beweis dafür, was nur das gedruckte Buch kann; beseelen.
Es ist der 18. Band einer illustren Reihe kleiner, üppig illustrierter Bücher im kleinen Format, mit farbigem Schnitt und Lesebändchen, fadengeheftet – das ideale Geschenk – an sich selbst und all jene, die das schöne Buch mögen. „Der Landarzt“ von Franz Kafka, „Romeo und Julia“ von William Shakespeare, „Die Bergwerke von Falun“ von E.T.A. Hoffmann, „Unheimliche Geschichten“ von Edgar Allan Poe, „Djamila“ von Tschingis Aitmatov bis hin zu „Tomaten“ und viele andere Perlen.
Der neuste Band entstand aus einer Zusammenarbeit mit dem Schriftsteller Maxim Leo. Beide, fast gleich alt, verbrachten ihre Kindheit und Jugend in Ost-Berlin, in der DDR. „Das wir uns nicht kannten, ist merkwürdig, denn unsere Freundeskreise überschneiden sich bis heute. Wir lebten im selben Bezirk, ein paar Strassen voneinander entfernt. Wir erlebten die letzten Monate vor dem Fall der Mauer…“
In „Junge aus West-Berlin“ erzählt Maxim Leo von Marc, einer nicht ganz einfachen Jugend in West-Berlin in den zehn Jahren vor der Wende. Marc fehlt es an vielem, vor allem an Selbstbewusstsein. Er hangelt sich durch ein Leben, in dem alles, nicht nur die Stadt in ein klares Gut und Schlecht geteilt ist. Nach einem Ausflug mit der Schule nach Ost-Berlin und einer Schicksalsbegegnung mit einem Mädchen dort und dem Bewusstsein, in der grauen Hälfte der Stadt die Chance zu haben, ein ganz anderer zu sein, macht sich Marc nicht nur immer und immer wieder auf die Reise in den Osten; er macht sich zu einem Boten eines Traums, schleppt sackweise Geschenke mit in den Osten, die er vertickt oder verschenkt, nicht zuletzt, um sich Bedeutung zu verschaffen, den Nimbus des Grosszügigen, Interessanten.
Bei einer der unzähligen Partys in den Jahren vor dem Mauerfall, als die ganze Stadt, sowohl im Westen wie im Osten den Aufbruch zu spüren bekam, als in besetzten Häusern im Osten eine Parallelwelt zur Gegenkultur wurde, lernt Marc Nele kennen. Obwohl Nele Marcs Masche schnell auf die Spur kommt und sich ihre beiden Welten nur marginal überschneiden, beginnt zu wachsen, was anfangs unöglich schien. Nele und Marc werden ein Paar, das über die Dächer der Stadt streift, ein verlassenes Haus zu ihrem Schloss macht und die Geheimnisse des Verborgenen erkundet, nicht nur in der Stadt.
Wenn nur Marcs Unehrlichkeit nicht wäre. Er erzählt ihr zwar immer wieder aus seiner Welt, seiner Vergangenheit, seiner Familie und seiner Kindheit. Aber weil er noch immer fürchtet, sein Leben selbst könnte zu langweilig sein, verheimlicht er, wie er sein Geld verdient und dichtet sich ein Leben als einer von der Musikbranche an. Um in seinem Traum zu bestehen! Aber wie es kommen muss; am 9. November 1989 fällt nicht nur die Mauer. Die Erschütterungen gehen nicht nur durch das bisher geteilte Land.
Da will einer vom Westen in den Osten. Nicht weil es im Osten besser wäre, aber für ihn selbst schon. Dort ist er wer. Dort lebt Nele. Dort liebt ihn Nele. Es braucht den Osten, dass der Junge aus dem Westen bestehen bleibt. Während die Mauern fallen, droht sein Konstrukt zu fallen. Während sich Ossis und Wessis in die Arme fallen, verlieren sich Marc und Nele. „Junge aus West-Berlin“ ist eine gelungene Umkehrung dessen, was der Fall der Mauer für die meisten bedeutete.
Und dann das Buch selbst – die Illustrationen von Kat Menschik. Der Illustratiorin gelingt, was keinem Foto gelingt. Sie vergegenwärtigt ein Gefühl unmittelbar. Da filtert keine Unschärfe, kein Sepia, keine Körnung. In der Verschränkung zwischen Text und Illustration ist dieses Buch ein wahres Kunstwerk!
Maxim Leo, 1970 in Ostberlin geboren, ist gelernter Chemielaborant, studierte Politikwissenschaften, wurde Journalist. Heute schreibt er gemeinsam mit Jochen Gutsch Bestseller über sprechende Männer und Alterspubertierende, außerdem Drehbücher für den »Tatort«. 2006 erhielt er den Theodor-Wolff-Preis. Für sein autobiografisches Buch »Haltet euer Herz bereit« wurde er 2011 mit dem Europäischen Buchpreis ausgezeichnet. 2014 erschien sein Krimi »Waidmannstod«, 2015 »Auentod«. 2019 erschien sein autobiografisches Buch »Wo wir zu Hause sind«, das zum Bestseller wurde. Maxim Leo lebt mit seiner Frau und zwei Kindern in Berlin.
Rezension zu «Der Held vom Bahnhof Friedrichstrasse» auf literaturblatt.ch
Rezension zu «Wir werden jung sein» von Maxim Leo auf literaturblatt.ch
Kat Menschik ist freie Illustratorin. Ihre Reihe Lieblingsbücher gilt als eine der schönsten Buchreihen der Welt. Zahlreiche von ihr ausgestattete Bücher wurden prämiert. Zuletzt erschienen: Asta Nielsen: Im Paradies, Selbstgemachte Geschenke zum Aufessen und Das Haus verlassen.