«Poesie – eine Spielart der Ketzerei» Ursula Krechel

Ursula Krechel, der am 16. Internationalen Lyrikfestival in Basel der eigentliche Eröffnungsabend zur Bühne wurde, zeigte, was sie ist; eine souveräne, stilvolle Grande Dame der Literatur, eine Dichterin, die sich nur schwer einordnen lässt, nicht einmal durch Deutungen eines Literaturprofessors. Eine Ikone, eine Lichtgestalt und doch stets nah an den «Dingen» und Menschen geblieben.

Bis zu ihrem Roman «Shanghai fern von wo», der aus einem Hörspiel entstand und sich zum ersten, grossen Verkaufserfolg der Autorin entwickelte, war Ursula Krechel einem eingeweihten Kreis bekannt als Lyrikerin, Theaterautorin und Essayisten. Der Roman von 2008 über Exilanten des NS-Regimes, die nach China flüchteten und im Shanghaier Ghetto überlebten, machte sie mit einem Mal einem viel breiteren Publikum zugänglich. So wie mir, der ich nun auch die Lyrik der Autorin zu lesen begann.

2012 folgte «Landgericht», ein Roman, eine Familiengeschichte um den jüdischen Richter Dr. Richard Kornitzer, der 1947 nach jahrelangem Exil in Havanna nach Deutschland zurückkehrt und in der Konfrontation mit Schrecken und Verlust im Nachkriegsdeutschland zerbricht. Im gleichen Jahr erhielt Ursula Krechel für diesen Roman den Deutschen Buchpreis 2012, ein Preis, der für einmal mehr als verdient war.

Ursula Krechel, die 2018 mit «Geisterbahn» den dritten Roman einer Trilogie veröffentlichte, ein Roman, den die Kritik mit Recht euphorisch beklatschte, war aber schon vor ihrem Wirken als Romanistin ein Eckpfeiler der deutschen Literatur. 1977 erschien ihr erster Lyrikband, damals noch bei Luchterhand, unter dem Titel «Nach Mainz!» über den sie schrieb: «Ich hatte mir eng begrenzte Experimentierfelder ausgesucht, vielleicht der Platte eines Tisches vergleichbar, und immer war im Persönlichen das Politische, in der schweifenden Form eine Festigkeit, der ich trauen lernte; in den Gedichten begriff ich, was ich in Begriffen nie begreifen wollte.»

Über die Perspektive

«Die Welt ist voller Unruhe, alles
drunter und drüber, und noch
weiss man nichts Gewisses!»
Öden von Horváth

Einige mächtige Männer
stehen am Horizont
verdecken die Sonne
und fragen:
Wo bleibt
eure Perspektive?

Wir sagen:
Je nachdem
wo man steht
sieht man
auf den Champs Elysées
einen Dame mit Hündchen
einen rotledernen Stiefel
den Absatz eines Stiefels
oder den Dreck daran.
Je nachdem wie man blickt
sieht man auch
Bäume von weitem.
Betrachtet
die mächtigen Äste.
Der Ast einer Kastanie
erschlug hier einen Dichter.

Geht uns aus der Sonne
dann reden wir weiter
über unsere Perspektiven.

(aus «Nach Mainz!» Gedichte. Darmstadt 1977. Ebenso in «Die da» Ausgewählte Gedichte, Jung und Jung, 2013)

 

Seither sind ein gutes Dutzend weitere Gedichtbände erschienen, reihte sich Preis an Preis. Dichtung um die Frage: Was ist Nähe? Was ist Distanz? Wo liegt der Zugang zur Welt? Unerträglich sei ihr die Distanzlosigkeit. Um zu erkennen, brauche es Distanz. Daher wohl auch ihr Bedürfnis, in Essays über das Schreiben und Dichten, die Begegnung mit Welt nachzudenken. Ursula Krechels Gedichte sind ein Nachspüren eingefangener Gedanken, Sätze, die sie nie loslassen, Einsichten aus dem eigenen Lesen. Lesen als Welterfahrung, ein Heranarbeiten an Innenwelten, aus dem wiederum Lyrik, Text entsteht.

«Stimmen aus dem harten Kern» (2005) ist ein Gedichtband, der sich mit expressiver Männlichkeit beschäftigt; mit Kriegern, Soldaten, einem kollektiven «Wir», das damals, als der Band erschien, mit dem Krieg im Irak verzahnt war. Bilder in Sprache. Bilder, die Fotographien niemals zu erzählen vermögen. Dabei mehr als deutlich die Kritik, was koloniale Macht angerichtet hat und noch immer anrichtet. Ursula Krechel nimmt kein Blatt vor den Mund. «Ich habe Angst, ich verstehe nicht wirklich.»
Sie verführt, analysiert, sie beschreibt und singt. Sie spielt, mal mit Anspielungen, mal mit Verspieltheit.

Wie sehr Ursula Krechel dabei die Form wichtig ist, lässt sich in «Stimmen aus dem harten Kern» errechnen: Alles dreht sich um die Zahl 12: 12 mal 12 mal 12 Verse.

Simulation Heimkehrumkehr

1

Wo früher die kugelsichere Weste ummantelte, klebt nun
Die Creditcard in der Brusttasche des verschwitzten Hemdes

Dazwischen ein Langstreckenflug und eine sanfte Landung
Wir sind Heldendarsteller, verabschiedet, schlüpfen in Anzüge

Von Bankangestellten. Summen, die früher die Toten zählten
Sind an Zinssätze gekoppelt, Kids lümmeln mit Plastikpistolen

Stellungskrieg des Normalen; Hausbaukredite im freien Fall
Rasende Kopfschmerzen nachts, wir träumen von Rinderherden

Mit Stricken aneinandergefesselte Tiere, die wir für Feinde hielten
Niedergemetzelt im Irrtum, sie griffen uns an, wie wir ihnen contra

Wenn Aias schrie am Morgen ai, ai, als wäre sein Name ein Schmerz
Sind wir Aias, Mörder: schuldig und ruhiggestellt durch Tranquilizer.

(aus «Stimmen aus dem harten Kern» Jung und Jung, 2005)

 

Die Lücke, die Notwendigkeit auszusparen, so wie der Dialog in den Romanen der Autorin fast durchwegs ausgespart wird, braucht die Lyrikerin Ursula Krechel Sparsamkeit, die Lücke, die Auslassung das Weglassen. Ursula Krechel ist Dichterin, Verdichtern im eigentlichen Sinne. Aus dem All(es) der Sprache, dem Empfinden von Unendlichkeit bis zur Konzentration in einem Vers ist ihr Schreiben ein permanentes Suchen auf vielen Ebenen. Ursula Krechel filtert aus der Unendlichkeit sprachliche (Bau-)Prinzipien. Ihre Gedichte brechen auf.

Eintauchen!

Ursula Krechel, Studium der Germanistik, Theaterwissenschaft und Kunstgeschichte. Lehrtätigkeit an verschiedenen Universitäten. Sie debütierte 1974 mit dem Theaterstück «Erika», das in sechs Sprachen übersetzt wurde. Erste Lyrikveröffentlichungen 1977, danach erschienen Gedichtbände, Prosa, Hörspiele und Essays.

Ich danke dem Verlag Jung und Jung für die Erlaubnis, zwei Gedichte der Autorin in den Text einzufügen.

Beitragsbild © Gunter Glücklich

Wenn sich Grösse in der Enge fast verliert; Florjan Lipuš

Der Grosse Österreichische Staatspreis ging 2018 an den Schriftsteller Florjan Lipuš. Vor einem Jahr besuchte ich den Schriftsteller in seinem Haus in Südkärnten und begegnete einem bescheidenen Schriftsteller, der in aller Stille für die Sprache, für die Literatur, gegen das Vergessen, gegen seinen Alptraum ankämpft. Unweit von seinem Haus las Florjan Lipuš im slowenischen Kulturverein Trat in Sittersdorf.

Männer mit schwarzen Anzügen und farbigen Krawatten eröffneten die feierliche Lesung im Kulturzentrum der kleinen südkärntner Ortschaft Sittersdorf. Damit ehrte Sittersdorf jenen Schriftsteller zur Verleihung des Österreichischen Staatspreises, ausgerechnet jene Gemeinde, an die Florjan Lipuš nach einem unseeligen Streit seine Ehrenbürgerschaft zurückgegeben hatte.

Jene Gemeinde, deren Gemeinderäte in der ersten Reihe sassen, stimmte 2017 gegen zweisprachige Ortsschilder, deutsch und slowenisch. Jenem Gemeinderat gab Florjan Lipuš nach dieser Verweigerung einer «offenen Zweisprachigkeit» die vor mehr als 20 Jahren verliehene Ehrenbürgerschaft zurück. Florjan Lipuš, der zwar slowenisch spricht und schreibt, aber weit über den slowenischen Sprachraum geschätzt und verehrt wird, weiss, was Ausschluss und Verweigerung von Vielfalt in Kärntens Geschichte ausrichtete. Der Ortstafelstreit in Südkärnten ist ein unleidiges Kapitel in einem seit Generationen schwelenden Sprachenstreit in Südkärnten. In diesem Streit steckt ein tief verwurzeltes Misstrauen der jeweils anderen «Volksgruppe» gegenüber, über Generationen nicht zuletzt von der Politik geschürt, durch Weltkriege bis tief in die Seelen der Landschaft gebrannt, geschossen und eingeschnitten.

Schon vor zwei Jahren war Florjan Lipuš für den Grossen Österreichischen Staatspreis vorgeschlagen, bekam ihn aber nicht. Die Begründung damals: Florjan Lipuš schreibe nicht auf Deutsch. Das sorgte international für Kritik, nicht nur in der Literaturszene. Slowenisch ist eine von mehreren Sprachen in Österreich, eine Diskussion darüber sollte gar nicht erst geführt werden müssen, so der Tenor damals.

So zart die Person des 81jährigen, so kräftig das Schreiben und die Texte des Autors, so unverrückbar und stur die Fronten des Stellvertreterkrieges in den Tälern Südkärntens. So sehr die Geschichten, Romane und Erzählungen des grossen Schriftstellers um Vergebung ringen, mit der Vergangenheit kämpfen, sich in tiefen Verletzlichkeit ereifern, so schwer tut sich die Heimat des Dichters mit seiner Zweisprachigkeit. Ausgerechnet dieses kleine Zeichen, mit dem Vielfalt und Offenheit demonstriert werden könnte, wächst sich im kleinen Dorf südlich der Drau zu einem K(r)ampf aus.

Florjan Lipuš ist die Bescheidenheit in Person. Aber eine Bescheidenheit, die kein Blatt vor den Mund nimmt, die sich einmischt. Mit dem Grossen Österreichischen Staatspreis ist zu hoffen, dass dem Dichter die gebührende Aufmerksamkeit zuteil wird und dass all die Werke, die in Deutsch nicht mehr erhältlich sind, wieder verlegt und gelesen werden.

Wären Ortsschilder-, Sprachen- und Ehrenbürgerstreit nicht Tatsachen, wären sie perfekter Stoff für einen Roman über die oberflächliche Idylle einer wunderschönen Landschaft, freundliche Leute und ein Dorf, über dem die Kirche thront, ein Idyll, dass sich Wirklichkeit und Tatsache entgegenstellt. Wenn es früher die Angst vor Vereinnahmung war, so hat sich heute die Angst nur minimal verlagert, die Angst vor «Kulturverlust» der sarazzinisch, feindlichen Übernahme, der global intellektuellen Verladung, geistiger «Verwüstung». Der Sprachenstreit ist ein Stellvertreterstreit.

Der Saal in Sittersdorf war voll. Ich sass in der hintersten Reihe. Die Texte der Musik waren slowenisch, die Texte, die Florjan Lipuš las, slowenisch. Das einzige, was ich an diesem Abend verstand, waren die übertrieben lauten Lacher und die Klingeltöne in den Taschen der Alten. Ich verstand kein Wort. Macht nichts. Ich verstehe Florjan Lipuš auch sonst. Ich war da, weil ich dem Autor die Ehre erweisen wollte, weil da ein Grosser las!

Auszug aus der Begründung des Kunstsenats des Grossen Österreichischen Staatspreises: «Florjan Lipuš, der 1937 als Sohn einer Magd in Lobnig oberhalb von Bad Eisenkappel/Zelezna kapla geboren wurde, ist ein Kärntner Schriftsteller slowenischer Sprache, der bereits 1981 mit seinem von Peter Handke und Helga Mracnikar ins Deutsche übersetzten Roman «Der Zögling Tjaž» in der internationalen Literaturwelt großes Aufsehen erregt hat. Im «Zögling Tjaž» ist sein gesamtes erzählerisches Opus thematisch angelegt, das er in zahlreichen Romanen und Erzählungen weiterentwickelt und entfaltet hat. Lipuš behandelt in seiner Literatur den Widerstand gegen den Nationalsozialismus, die Vertreibung und Ermordung der Kärntner Slowenen, die Geringschätzung der slowenischen Minderheit durch die Mehrheitsbevölkerung, aber auch die Rettung der schwindenden Welt slowenischer Wörter und Wendungen als Grundlage einer neuen selbstbewussten Identität.»

Rezension von «Seelenruhig» auf literaturblatt.ch

Beitragsbild © Marko Lipus

Florjan Lipuš „Seelenruhig“, Jung und Jung

Florjan Lipuš ist Stilist. „Seelenruhig“ ist kein Roman, keine Erzählung und auch kein Essay. Aber Sprachkunst, solche, die man nicht so einfach in sich hineingiessen kann. Es sind Sprachbilder, um die ich mich bemühen musste, die sich nicht so einfach erschlossen. Und doch betört mich das schmale Büchlein, bettet mich ein in eine dicke Wolke aus Fabulierfreude, rätselhaften Innenansichten und der Gewissheit, dass Sprache viel mehr erzeugen kann, als blosse Wiedergabe.

In Florjan Lipuš Seele ist keine Ruhe. Und doch passt der Titel. Der grosse Kärntner begegnet den verstorbenen Seelen; seiner Mutter, seinem Vater, seiner Grossmutter. Er streift durch die Landschaft seiner Heimat, vorbei an Orten, an denen scheinbar nur noch wenig erinnert an das, was einmal unauslöschlich schien. An die Orte seiner Kindheit. Den Stein, nicht weit vom kleinen Hof seiner Eltern, auf dem sein Vater während der Arbeit auf dem Feld ausruhte. Ein Stein, der heute mitten in einem Wald Wanderer dazu einlädt, eine Rast einzulegen. Ein Stück Wald, in dem nichts mehr an den einstigen Hof, sein einstiges Zuhause erinnert. Das vergessen sein wird, wenn er, Florjan Lipuš einmal nicht mehr sein wird.

“Ein Schriftsteller, der sein ganzes Leben an ein und demselben einzigen Text schreibt.“

Florjan Lipuš schreibt gegen das schwere Erbe seiner eigenen Lebensgeschichte an. Nicht nur dass man ihm als kleiner Junge seine Mutter durch Denunziation, Folter und Mord nahm. Da lastet auch ein stummer Vater, der ihm durch sein beharrliches Schweigen nicht nur seine Fragen, sondern auch seine Antworten vorenthielt. Antworten, nach denen Lipuš auch nach 80 Jahren noch sucht. Immer und immer wieder, mit jedem seiner Bücher, und in diesem mit ganz besonderer Perspektive. Ein Buch voller Fragen an den Vater, an seine Geschichte, an in den Tod gezerrte Geheimnisse.

“Sie wusste um den Albtraum, der früher auf ihm gelastet hatte und den sie mit vereinten Kräften vertrieben hatten, eigentlich war sie es, die an die Stelle des Albs ihre Liebkosungen und ihren Liebesüberschwang eingesetzt hatte.“

“Seelenruhig“ ist ein Buch über seine Leidenschaft. Eine Leidenschaft, die schon in seinen frühen Jahren, fühlbar, spürbar und sichtbar wird. Ein Blitzen um und über ihm. Eine feinstoffliche Wahrnehmung. Er beschreibt sie so bildhaft, spürt seinen Empfindungen nach, dass er mich mitnimmt, mich während des Lesens glauben macht, diesen ganz nah zu kommen. Auch wenn es sich im Nachhinein nur als Sehnsucht erweist, es dem Autor in dieser Weise gleichtun zu können.

“Wenn wir uns der Sprache bedienen, enthüllen wir mit ihr unseren Kern, geben wir unsere Charakterfestigkeit kund, kehren wir das Innerste nach aussen.“

Ich bewundere Florjan Lipuš für seinen Mut. Einen Mut, den er selbst wohl gar nicht als solchen erkennen würde. Er tut, was er kann. Und das kann er mit jedem seiner Bücher unverwechselbarer. Wie da einer schreibt, über Leidenschaft, Lust und Zorn. In einer Art, die mich zweifeln lässt, ob ich selbst schon zu taub, zu blind, zu einfältig bin, oder das Vergessen schon alles schluckte. Zorn dann, wenn sein ambivalentes Verhältnis zur Kirche hervortritt. Die Sehnsucht nach Entschleunigung, wenn ihn eine Kirche mit Ruhe umschliesst. Und die unverhohlene Kritik über eine Kirche, die zur Selbstreflexion unfähig ist. Eine machtversessene Kirche, darüber wie sehr sie knechtet und alles andere als an der Mündigkeit ihrer Seelen interessiert ist. In diesen Passagen des Buches ist keine Altersmilde zu spüren. Sein Text geisselt und schimpft.

Zugegeben, die „Erzählung“ verlangt einem einiges ab. Aber Florjan Lipuš belohnt mich mit einer Tiefe, von der es in der aktuellen Literatur dergleichen nicht viele gibt.

Florjan Lipuš veröffentlicht auf Slowenisch Romane, Prosa, Essays, szenische Texte. Mehrere seiner Bücher erschienen in deutscher Übersetzung. Für sein Werk erhielt er zahlreiche Auszeichnungen, zuletzt den Petrarca-Preis 2011 und den Franz-Nabl-Preis 2013.

Titelfoto: Sandra Kottonau

Florjan Lipuš „Ich schreibe, um mich selbst zu retten.“

Über dem Kärntner Jauntal direkt am Waldrand über der 200Seelen-Ortschaft Sele/Sielach wohnen Maria und Florjan Lipuš. Florjan Lipuš ist einer der bedeutendsten österreichischen Schriftsteller der Gegenwart. Ich besuchte den 80jährigen zusammen mit meiner Frau und staunte über die Zartheit dieses grossen Schriftstellers.

2012 erschien bei Suhrkamp eine Neuauflage des 2003 auf slowenisch erschienenen Romans „Boštjans Flug“ mit einem Nachwort von Peter Handke. Nicht erst damals war mir Florjan Lipuš ein Begriff. Aber seitdem nehme ich mir bei jedem Besuch im Geburtsort meiner Frau nicht weit von dem des Schriftstellers vor, diesen zu besuchen. Aber Florjan Lipuš ist in keinem Telefonverzeichnis zu finden, keine Adresse, im Netz bloss wage Angaben zu seinem Wohnort. Das soll wohl so sein. Florjan Lipuš liebt nichts mehr als die Stille. Also klingelten wir an der Haustür einer Familie Lipuš, an einer Tür zu einem Haus mit grossem Garten. So wie mir mein Schwager, der nicht weit von dem Haus Felder bewirtschaftet, riet. Meine Frau mit einer Tasche, ich mit einem Bündel Bücher unter dem Arm. Kein Wunder war die Frau, die uns öffnete misstrauisch. Ich an ihrer Stelle hätte Zeugen Jehowas vermutet.

Florjan Lipuš, ein grosser, stiller Schreiber, Dichter und Denker, der nirgendwo sonst leben könnte als an diesem ruhigen Ort zwischen Karawanken und Drautal. Jenem Gebiet, das wegen seiner Zweisprachigkeit Deutsch/Slowenisch wie kaum eine andere Gegend in Mitteleuropa im 20. Jahrhundert zwischen die Fronten geriet. 1937 kam Florjan Lipuš dort zur Welt, ein Kärntner Slowene. „Kärnten ist das einzige Land in Europa, das sich vor einer Sprache fürchtet.“

Florjan Lipuš schrieb Romane und Erzählungen. Sein erster Roman „Der Zögling Tjaž“ (Zmote dijaka Tjaža, 1972) wurde 1981 übersetzt von Helga Mračnikar und Peter Handke, mit dem er gemeinsam ein kirchliches Gymnasium besuchte. Alle Texte Florjan Lipuš drehen sich um seine Heimat, ohne dass er ein Heimatschriftsteller geworden wäre. Niemand schreibt schärfer als er über ein Land „am Arsch der Welt“, im Würgegriff von Zwängen und Normen. Es sind Bilder seiner Kindheit und Jugend, die ihn noch immer drangsalieren, die Verschleppung und den Mord an seiner Mutter 1943 durch die Gestapo, das Zürückgelassensein, die Lieblosigkeit. Lipuš, Sohn einer Magd und eines Knechts misstraut den Menschen, misstraut sich selbst, seinem Glück und erst recht dem Leben als „Künstler“. Seit mehr als 50 Jahren schreibt der Dichter in der Abgeschiedenheit seines Zuhauses mit Bleistift. Lipuš, der nichts so sehr verabscheut wie Oberflächlichkeit. „Ich müsste lügen, wenn ich sagen würde; ich schreibe um gelesen zu werden. Ich schreibe, um mich selbst zu retten. Florjan Lipuš, dessen Mutter im KZ Ravensbrück umgebracht wurde, weil man ihr durch eine hinterhältige Falle unterstellen konnte, mit Partisanen zu sympathisieren, dessen Vater bei der Wehrmacht war und der nach dem Tod seiner Mutter allein mit seinem kleinen Bruder im Haus zurückblieb, schreibt gegen das Trauma seiner Kindheit. Er kämpft gegen das Vergessen, das Vergessen von Geschichte. Er schreibt gegen den Schmerz, gegen das Vergessen unter dem tonnenschweren Gewicht einer Jahrhundertkatastrophe. Lesen Sie „Boštjans Flug“ in der wunderschonen Ausgabe aus dem Suhrkamp Verlag, übersetzt von Johann Strutz! Die Zartheit in seiner Person spiegelt sich in der Zartheit seiner Bilder und Sprache.

Auf literaturblatt.ch erscheint bald eine Besprechung zu seinem bei Jung und Jung erschienen Roman «Seelenruhig».

Monika Helfer «Schau mich an, wenn ich mit dir rede!», Jung und Jung Verlag

Manchmal schmerzt Lektüre. Liegt es an der Sprache, lege ich das Buch weg. Liegt es an der Geschichte, dann kann Lesen zu einer Berg- und Talfahrt werden, zuweilen zu einem Höllentripp. Monika Helfers Protagonisten in ihrem neuen Roman «Schau mich an, wenn ich mit dir rede!» sind keine Helden. Nicht einmal das Mädchen Vev, das eigentlich Genoveva heisst, das einem schon im ersten Kapitel unsäglich leid tut und mich unsicher werden lässt, ob ich mir die Geschichte ein Buch lang antun soll. Aber dieser Roman birgt so viel Kraft, so viel feinsinnige Empathie, so viel lupengenaue Beobachtung, dass ich das Buch schon aus Respekt nicht weglege.

Auf den ersten Seiten fährt Vev mit Sonja, ihrer aufgekratzten und zugedröhnten Mutter U-Bahn. Vev war bei ihrem Vater Milan und seiner neuen Frau Nati mit ihren beiden Töchtern. Sonja tut alles, um ihrer Tochter Vev wehzutun, sie vor allen anderen, die in der U-Bahrn mitfahren, blosszustellen, ihrer Tochter verbal an die Gurgel zu gehen. Schon im ersten Kapitel eine Szenerie, die über die Schmerzgrenze hinausgeht. Vevs Mutter Sonja ist bei ihrem Neuen untergekommen, nachdem sie ihre Wohnung verloren hatte, einem Grossen, der sich „The Dude“ nennt, die Dinge energisch in die Hand zu nehmen scheint und Sonjas Leben retten will. In eine Wohnung, in der im Schlafzimmer auf dem Boden ein paar Besoffene am Morgen nicht mehr wissen, wie sie dahin gekommen sind. Sonja ist noch jung, noch schön. Das weiss sie. Und „The Dude“ gross, stark und grosszügig. Nur Vev weiss nicht, wie und ob sie ihre Mutter lieben soll und kann.

Genauso wie ihren Vater Milan, der auch mit seiner neuen Familie nichts auf die Reihe bringt. Schon gar nicht, dass er sich endlich von seiner schnödenden Mutter abnabelt, die ihm immer noch jeden Monat einen weissen Umschlag mit Geld übergibt, obwohl sie kaum etwas an Milans neuer Familie goutieren kann. Milan weiss; Arbeit ist Scheisse, arbeiten tun die anderen. Milans Neue heisst Nati, eine Krankenschwester, Milans Retterin, «ihr eigener Diktator». Und Maja, die ältere von Natis Töchtern, Vevs neue Halbschwester, eine, die allzu gerne in Vevs angerissenem Leben bohrt.

Vev ist alleine, nirgends zuhause, hin- und hergerissen zwischen kaputten Welten. Sie durchschaut das Spiel der Erwachsenen, lernt durchzustehen, auszuhalten, wegzuhören. 

Es gibt aber sehr wohl Gründe, sich dem schmalen aber schweren Roman Monika Helfers auszusetzen. Zum einen ist da die Sprache, der klare Blick, sind es die prägnanten, oft kurzen Sätze. Monika Helfer schlüpft nicht in die verschiedenen Perspektiven, sondern erzählt mit zarter Distanz und einem sicheren Gespür für Dialoge und die Konzentration auf Höhe- und Tiefpunkte. Sie rührt nie im sentimentalen Topf, bleibt trocken, ohne spröde zu sein und verstärkt dadurch bei mir das Gefühl von Nähe und Unmittelbarkeit. 

Monika Helfer beschreibt Szenerien eines aus den Fugen geratenen Lebens, Szenen, die nichts künstlich zuspitzen und doch dramatisieren.

Zum andern spricht aus der Art und Weise, wie Monika Helfer erzählt, viel Respekt all jenen gegenüber, die verdammt sind, in diesen Welten leben zu müssen. Monika Helfer schlägt kein Kapital aus kaputten Existenzen, um eine gute Story erzählen zu können.

«Schau mich an, wenn ich mit dir rede!» ist wie im Titel des Romans unmissverständlich die Aufforderung hinzuschauen, wo man sonst gerne wegschauen würde.

© Stefan Kresser / Deuticke Verlag

Monika Helfer wurde 1947 in Au (Bregenzerwald) geboren und lebt als Schriftstellerin in Hohenems, Vorarlberg. Sie hat Romane, Erzählungen und Kinderbücher veröffentlicht, u.a. «Bevor ich schlafen kann» (2010) und «Die Bar im Freien» (2012). Ihre Bücher wurden mit zahlreichen Auszeichnungen gewürdigt, u.a. dem Robert-Musil-Stipendium 1996, dem Österreichischen Würdigungspreis für Literatur 1997 und dem Johann-Beer-Literaturpreis 2012.

Titelfoto: Sandra Kottonau

Lorenz Langenegger «Dorffrieden», Jung und Jung

«Ohne Geschichten kann der Mensch nicht leben, denkt Wattenhofer. Zum Überleben mögen Wasser, Brot und Wärme reichen, zum Leben aber braucht der Mensch Geschichten. Und das Schöne an Geschichten ist, dass sie jeder selbst erfinden kann. Sie kosten nichts. Sie brauchen nichts. Sie sind einfach da. Sie sind überall.»

Wattenhofer ist schon seit einer gefühlten Ewigkeit Polizist in einem zwei mal zwei Kilometer grossen Fleck, irgendwo in der Provinz. Alles nimmt seinen Lauf, nebst Parkbussen, gelegentlichen Ladendiebstählen, Ermahnungen und dem Einerlei im neuen Büro, seinen regelmässigen Besuchen bei der alten Witwe des Gemeindepräsidenten und dem wöchentlichen Training mit den Junioren im hiesigen Fussballverein. Alles hat seine Ordnung. Wenn da nur nicht Wattenhofers Sorgen um den Frieden in den eigenen vier Wänden wäre. Erst recht, als wegen eines Schlüssels in der lange verschwundenen Sporttasche seines Sohnes das Gleichgewicht nicht nur bei den Wattenhofers zu schwanken beginnt. Seit einem Monat ist der einzige Sohn Stefan ausgezogen. size_150_image553Und ausgerechnet durch Wattenhofers Ermittlungen muss der Polizeiwachtmeister feststellen, dass sein Sohn, kaum abgenabelt, auf Konfrontationskurs mit der Staatsgewalt ist. Als ihm Helen, seine Gemahlin, offenbart, dass auch sie vor seiner Zeit einmal verbotene Rauschmittel ausprobierte und im Zuge der Opernkravalle für einige Stunden ein Gefängnis ausprobierte, und sich dann auch noch auf die Seite seines abtrünnigen Sohnes schlägt, der unter die Hausbesetzer gegangen ist, spitzt sich die Lage zu. «Wenn Helen ihm zwanzig Ehejahre lang verschwiegen hat, dass sie eine Nacht im Gefängnis verbrachte, welche Geheimnisse hat sie noch?» Aber Wattenhofer taugt nicht für Schlagzeilen und Filmstoff, allerhöchstens in seinen Fantasien, die ihn in unbedachten Momenten manchmal entgleiten lassen. «Der unerträgliche Unterschied besteht darin, dass bei den Tatort-Kommissaren die Philosophie, die liebende Frau, das Kind, die Imbissbude und der Ärger über Kollegen nur die Beilagen zu einem Mordfall sind, er hingegen kaut seit fünfundzwanzig Jahren darauf herum, als wären sie der Hauptgang.» Wattenhofer ist aus seinem Idyll vertrieben, mit der Erkenntnis, dass auch ohne Mord und Todschlag nichts mehr so ist, wie es einmal war. Da braut sich die Angst wie ein Sturm zusammen. Er muss feststellen, dass er stets ausserhalb der wirklichen Welt steht, nicht dazugehört, als Polizist höchstens Staffage ist. So stürzt sich Wattenhofer in seine Ermittlungen darüber, was ein Garderobenschlüssel und ein in lauter kleine Schnipsel zerrissenes Foto seines Sohnes mit dem schief hängenden Haus- und Dorffrieden gemein haben.
Lorenz Langenegger versteht als Theaterschreiber bestens, Dramaturgie zu inszenieren, ohne die Handlung an all den Krimistereotypen aufzuhängen. Es ist nicht der Kampf zwischen Gut und Böse, nicht die Verbrecherjagd, die Bedrohung des Dorffriedens, sondern der Kampf im Polizeihauptmann selbst. Wattenhofer lässt sich immer mehr in den Sog der Geschehnisse hineinziehen und sieht sich plötzlich gezwungen, unter Aufbietung aller zur Verfügung stehender Mittel seinen Frieden wieder herzustellen.
Faszinierend, wie das Lorenz Langenegger schafft, wie er Atmosphäre und Spannung erzeugt. Ein kleines Meisterwerk!

size_125_image386Lorenz Langenegger, Jahrgang 80, lebt und arbeitet als Schriftsteller in Zürich und Wien. Er studierte Theater- und Politikwissenschaft in Bern, wo seine ersten Arbeiten fürs Theater entstanden sind. Bei Jung und Jung erschienen bisher die Romane «Hier im Regen (2009) und zuletzt «Bei 30 Grad im Schatten».

Lorenz Langenegger liest an der Schaffhauser Buchwoche!

(Titelfoto: Sandra Kottonau)