Jürg Beeler «Der blinde König und sein Narr», Dörlemann

Manchmal gibt es das eine nicht ohne das andere, selbst in der Liebe. In „Der blinde König und sein Narr“ verliebt sich der Erzähler, ein Schriftsteller, in eine Antiquarin. Beide lieben die Sprache, Bücher. Wenn Mara nur diesen Papagei nicht hätte, ein Tier, das sich mehr und mehr nicht nur zwischen die beiden stellt, sondern dem Schriftsteller all die lieben Gewohnheiten nimmt.

Jürg Beeler ist kein Plotschreiber. Seine Geschichten sind die Träger seiner Sprache. Seine Sprache ist sein Instrument. Welches Stück er spielt, ist sekundär. Wichtig ist, dass er spielt, dass ich Gelegenheit habe, seiner Sprachmusik zuzuhören. Es ist der Klang, die Melodie, es sind die leisen Töne, das Dazwischen, das mich an Jürg Beelers Schreiben fasziniert. Da sind die Störungen eines krächzenden Papageien sinnbildlich, eigentlich kaum zu übertreffen. Vor allem dann, wenn es der blinde König (Maras Papagei ist auf einem Auge blind und auch das andere trübt mehr und mehr ein.) schafft, seinen Narr zu seinem getreuen Untergebenen macht, wenn aus der unliebsamen Begleiterscheinung über die Zeit eine manchmal fast grotesk erscheinende Zweisamkeit wird, auf die der König nicht verzichten kann und sein Narr nicht verzichten darf.

Der Erzähler lebt als Schriftsteller schon einige Jahre im Norden Deutschlands, blieb wegen einer Frau hängen. Weil der Süden, das Meer, die lauen Winde, die mediterane Landschaft aber Sehnsuchtsort geblieben sind, setzt der Erzähler alles daran, seinen damals verlassenen Schreibort wieder zurückzugewinnen. Er kauft sich aus der Ferne ein Haus, an dem Ort, wo er die Stille wiederfindet, die Cafés, Bistros und Bars, die ihm zu Schreib- und Lebensorten wurden, weg aus der feuchten Kühle des Nordens.

Jürg Beeler «Der blinde König und sein Narr», Dörlemann, 2024, 176 Seiten, CHF 32.90, ISBN 978-3-03820-142-

Ausgerechnet in dieser Zeit des Aufbruchs, der Neuorientierung, verliebt sich der Erzähler in Mara, die in der Stadt ein Autiquariat führt. Und weil sie mit dem Gedanken spielt, ihr Antiquariat an einen Nachfolger, der bereits feststeht, weiterzugeben, ist der Gedanke, mit ihrem Liebsten in den Süden zu ziehen, ein durchaus reizvoller. Wenn da nur Friedolin nicht wäre. Ein gefiederter Schreihals, ein Krachmacher, ein Senegalpapagei, ein Tier, das an ihr hängengeblieben war und sich längst zum fixen Familienmitglied gemacht hatte. Friedolin mit ie strahlt so gar keinen Frieden aus. Da ist ein Tier, das durch sein besitzergreifendes Gehabe sehr schnell klar macht, dass mit keinerlei Entscheidungen an ihm vorbeigegangen werden kann. Friedolin schafft es mit Leichtigkeit, den Erzähler in seine Absichten einzubinden. Erst recht, als Mara ihn bittet, in der Zeit der Geschäftsübergabe für Fiedolin da zu sein. Noch viel mehr als Maras Nachfolger gesundheitliche Probleme bekommt und Maras Absenzen in der sich langsam auflösenden Wohnung immer länger werden.

Zwischen dem Tier und dem Erzähler entwickelt sich eine Schicksalsgemeinschaft, ein Machtkampf, der bis zum Überlebenskampf wird. An Schreiben ist nicht mehr zu denken. Im Gegenteil. Der Erzähler wird mehr und mehr zum Narr des blinden Königs und als man sich mit dem Auto zu zweit unterwegs in den Süden macht, weil der Erzähler glaubt, seine Anwesenheit dort sei unbedingt erforderlich, wird aus dem ungleichen Miteinander in der Stadt ein wilder Roadtripp in den Süden. Was würden Sie sagen, wenn sie an einer Rezeption eines Hotels einem Mann mit einem Papagei auf der Schulter begegnen würden, einem sonst stillen Mann, dessen Vogel am Ohr seines „Herrchens“ knabbert und seinen Unwillen über dessen Entscheidungen mit lautem Krächzen quittiert.

So poetisch die Formulierungen, wenn es um das Daseins eines Schriftstellers geht, um die Ergebenheit in ein überstülptes Schicksal, in die Liebe zur Sprache, ebenso wie zur Stille, so witzig und grotesk sind die Szenerien mit dem Vogel. Es gab schon lange kein Lesevergnügen mehr, dass mir ein so nachhaltiges Lächeln schenkte, wie dieses Buch. „Der blinde König und sein Narr“ ist köstlich.

Und ganz nebenbei ist dieses Buch ein rührendes Porträt einer aussterbenden Gattung Mensch. Jürg Beelers Roman ist durchaus metaphorisch zu verstehen, wenn man die Präsenz der Gegenwart als aufsässiges Kreischen, besitzergreifendes Gehabe versteht.

Interview

Sie erzählen das Buch so, dass die Frage nach Fiktion schnell beantwortet werden kann, auch wenn man dieses Zugeständnis durchaus literarisch verstehen kann. Wie leben in einer Zeit, in der man der Fiktion nicht mehr zu trauen scheint, dabei ist Literatur doch die einzige Möglichkeit, stilvoll zu lügen. Aber im Zeitalter alternativer Fakten und Fakenews ist das Bedürfnis nach möglichst realem Erzählen gross, ob das nun autobiographisch oder autofiktional heisst. Mich ärgert diese Entwicklung. Nicht einmal die Bibel kann wörtlich genommen werden, auch wenn es welche gibt, die das versuchen. Darf Literatur, Kunst nicht viel, viel mehr, als bloss abzubilden?

Wer ist der König, wer der Narr? Der Ich-Erzähler oder der Autor? Eine schwierige Frage. Man setzt sich ein Krönchen auf, und bleibt doch ein Narr. Nun bin ich schon so alt geworden, und immer noch ist es mir nicht gelungen, mein durchsichtiges Krönchen abzulegen, das zum Glück niemandem auffällt.

Was ist fiktiv, was nicht? Das bleibt das Geheimnis des Autors. In diesem Sinne ist „Der blinde König und sein Narr“ ein zugleich offenes und verschlossenes Buch. Dichtung und Wahrheit zugleich, denn die eine ist nicht ohne die andere zu haben.

Natürlich verstehe ich mich mit meinem Ich-Erzähler gut. Aber da verstand ich mich auch mit den Protagonisten meiner früheren Romane. Trotzdem steht unzweifelhaft fest: hätte nicht auch ich mich mit einem Papagei angefreundet, wäre ich mit diesem Erzähler nicht so gnädig verfahren. Trotzdem ärgert er mich immer wieder, und ich erhebe Einspruch und sage ihm, nun, übertreib mal nicht. Natürlich hörte er nicht auf mich. Ich muss aufpassen, dass ich nicht über ihn herziehe. Zum Glück führt er ein eigenständiges, anderes Leben als ich, das mildert mein Urteil ein wenig. 

Der Erzähler ist wegen einer Beziehung im Norden Deutschlands, weit weg von den Orten, an denen er weiss, dass sie ihm beim Schreiben helfen, weit weg vom Süden. Es kommt zur Trennung, weil jene Frau ihn einen Schriftsteller schimpft, der nichts für seine Karriere tut, der noch von Hand schreibt, keine Homepage bewirtschaftet, ohne Facebook oder Twitter. Mir sind solche Menschen höchst sympathisch. Und ich weiss von vielen jungen Menschen, die sich gerne aus den Schlingen der Neuzeit befreien würden. Schwierig bloss, dass sich der Kultur- und Literaturbetrieb ganz stark diesem Intrumentarium bedient, der einsame, stille Schiftsteller ein auslaufendes Modell zu sein scheint. Gibt es eine Angst vor dem Verschwinden?

Das ist eine weitläufige Frage. Was heißt verschwinden? Man kann aus den Medien verschwinden oder in die Medien verschwinden, in beiden Fällen ist man auf unterschiedliche Weise nicht mehr existent. Wir leben in beiden, im privaten wie im öffentlichen Raum. Ist aber das Spiel entschieden, ist die Öffentlichkeit der Sieger, wie das heute der Fall zu sein scheint, so nehmen die Ängste naturgemäß zu: Die Angst, sich selbst zu verlieren, und gleichzeitig die Angst, im öffentlichen Raum niemand mehr zu sein. Das führt, wie der Literaturbetrieb lehrt, zu einer eigentümlichen, mich immer wieder erheiternden Hektik: Jeder versucht sich panisch der eigenen Präsenz im medialen, virtuellen Raum zu versichern. In solchen Zeiten hat es die Literatur schwer, denn die Revolte (oder die existentielle Selbstversicherung) kommt nicht aus dem öffentlichen Raum, sondern aus dem privaten. Und dieser private Raum ist nicht medial verhandelbar. Für eine jüngere Generation ist das nicht einfach. Der öffentliche Raum bietet ihr immer weniger Möglichkeiten der existentiellen Selbstversicherung. Das stimmt mich traurig. 

Die Liebe des Schriftstellers heisst Mara. Sie ist Antiquarin. Auch eine aussterbende Gattung Mensch. Auch Mara kannte die Stille. Die Stille der Bücherschluchten, die Stille der erzählenden Canyons. Still schon. Aber hinter all den Buchrücken rumort es ganz ordentlich. Alle, die lesen, befreien die aufgestauten Geschichten, Stimmen aus dem Papier. Bei mir zuhause ummanteln mich auch Bücher. Sie umarmen mich, betten mich und schützen mich vor der Oberflächlichkeit der Welt. Ob Jürg Beeler oder der Erzähler in ihrem Buch. Er sucht die Stille. Ist Schreiben die Spur durch diese Stille?

Schreiben kann die Spur durch diese Stille sein. Das hängt davon ab, was man unter Stille versteht. Stille ist kein akustisches Phänomen, nicht die Abwesenheit von Lärm. Darin bin ich mit dem Protagonisten einig. Sie ist auch kein Rückzug aus dem Leben. Mein Protagonist stellt fest, dass Stille in jedem Land anders wahrgenommen wird, so wie der Umgang mit der Zeit in verschiedenen Kulturen ein anderer ist. Er sucht, was ihm oft fehlt: die Stille. In diesem Sinne versetzt sie ihn immer wieder in Unruhe.  

Die Spur, die der Erzähler durch die Zeit gelegt hat, ist seine eigene und die durch Jahrhunderte. Sie ist zugleich persönlich und unpersönlich. Auf seinem Weg scheint er etwas gefunden zu haben, das ihm Gelassenheit gibt. Dieses Phänomen versucht er immer wieder in Worte zu fassen. Ich glaube, dass „Der blinde König und sein Narr“ ein gelasseneres Buch ist als seine Vorgänger, dass der Ich-Erzähler den Autor in gewisser Weise angesteckt hat. 

Eine Stille, die sich ausgerechnet in Cafés, Bistros oder Bars findet. Im gleichförmigen Teppich aus Stimmen und Geräuschen. Ein Teppich, der im Süden anders sein muss als im Norden. Warum?

Es ist weniger der Geräuschteppich, der den Norden vom Süden unterscheidet. Deutschland kennt die Tradition des Bistros und Cafés nicht. Es imitiert sie aus Modegründen, doch das Imitat ist immer etwas anderes als das Original. Dort, wo ich lebe, in Südfrankreich, in einer der ärmsten Gegenden des Landes, ist das Bistro oder das Café immer noch Treffpunkt für alle Generationen. Im Café oder Bistro sitzt die Oma mit der Enkelin, der Geschäftsmann, der Rentner und der Schüler. In Bremen oder Berlin war ich in einem Lokal oft nur von Rentnern umgeben oder von einer mehr oder weniger homogenen Altersklasse, die einer bestimmten Szene angehörte. In Berlin, viel schlimmer, gab es noch die Schriftstellercafés. Man ist gut sortiert in Deutschland. 

Es ist nicht der Geräuschteppich, der eine Bar, ein Bistro oder Café im Süden zu einem anderen Ort macht, sondern die andere Lebensweise. Wenn ich nun von mir rede, von mir als Schriftsteller, nicht vom Protagonisten meines Romans: Nicht von Anfang an waren Cafés meine Schreiborte. Ich bewohnte als Student und auch später nie ruhige Zimmer. Also flüchtete ich ins Café, um arbeiten zu können. Ich gewöhnte mich daran, und diese Gewohnheit ist mir geblieben. Alle meine bisherigen Versuche, dies wieder zu ändern, scheiterten bisher. 

Nicht immer ist der Geräuschteppich in einem Café angenehm oder dem Schreiben zuträglich. Doch das Café kann ich wechseln, meine Wohnung nicht. Diese Möglichkeit schafft eine ganz andere Leichtigkeit. Geräusche lullen ein, lenken ab, erlauben eine „gleichschwebende Aufmerksamkeit“. Man ist konzentriert und doch nicht, man läßt sich ablenken, und plötzlich schreibt sich der Text wie von selbst weiter. Menschen im Café sind meist friedlich, ich bin also an meinem kleinen Tisch von friedlichen Zeitgenossen umgeben. Ich sitze vor meinem kleinen Kaffee und denke, diese armen Teufel, die jetzt eingekerkert in ihrer Schreibstube sitzen, auf den Bildschirm starren und am nächsten Satz ihres Romans herumlaborieren. 

Der Papgei, der sich ziemlich entschlossen und deftig ins Leben des Erzählers einmischt, heisst Friedolin. Mit ie! „Der Friedensreiche“. Ein ziemlicher Gegensatz zu seiner Lebensweise, seinen Geräuschen, seiner Aufsässigkeit. Und trotzdem wird aus dem genervten Erzähler ein Kämpfer und Streiter, ein Tierfreund. Müsste ich es mit meiner Hundephobie ähnlich angehen?

Die Literatur kennt keine Ratschläge, die findet man in den Buchhandlungen unter „Lebenshilfe“. Dort findet man alles, was im Leben nicht hilft. 

Ihr Roman ist auch ein Roman über Ihr Schreiben. Eine Vergewisserung. Ein Sehnsuchtsroman?

Sehnsucht wonach? Nach einer Welt, wie sie war? Diese Art der Sehnsucht scheint mir ein Phänomen des Alterns zu sein. Es ist nicht mehr meine Generation, die das Sagen hat. Plötzlich entdeckt man, dass man alleine ist, immer alleine war. Schwierig, sehr schwierig, wenn einem das erst in vorgerücktem Alter aufgeht. 

Meist halten wir die Welt für schlecht, weil sie sich beim Älterwerden immer mehr von uns entfernt. Wir wollen die Welt so alt, wie wir selber sind, wir nehmen in unserer Umgebung meist nur uns selber wahr, aber selten die andern. Der Welt ein faltiges Gesicht zu wünschen, nur weil man selber runzelig geworden ist, gehört zu einer verbreiteten Verhaltensweise, deren Egozentrik merkwürdigerweise kaum je auffällt. 

Sehnsucht hat viele Farben. Sie ist und war auf jeden Fall eine literarische Triebkraft für viele Autoren. Augustinus und Rousseau, Stendhal, Baudelaire, Flaubert oder Joseph Roth kannten sie, auch Tolstoj und Turgenjew, ebenso viele japanische Autoren wie Tanizaki, Kawabata oder Soseki. Die Sehnsucht nach dem entschwundenen Paradies, von dem sie nur zu gut wußten, dass es auch eine Hölle war, schärfte ihren Blick für die Gegenwart und schürte die Hoffnung auf eine bessere Zukunft. 

Die Welt des Handels und der Werbung ist eine Welt ohne Zukunft und Vergangenheit, eine Welt purer Gegenwart, sie produziert täglich das immer Neue und Aktuelle. Ihre Sprache ist identisch mit dem Produkt, das sie verkauft. In dieser Dialektik ist das Aktuelle und Neue immer schon der Schrott von morgen. Es ist die Dialektik der virtuellen und medialen Welten, in denen wir uns immer mehr einrichten. Sie kennt keine Scham und keine Sehnsucht. 

Auch die Literatur und ihr Betrieb wird nicht davon verschont. Das weiß mein Protagonist natürlich. Nicht ohne Grund schreibt er noch von Hand, verzichtet auf Homepage und Handy, nicht ohne Grund ist er Nomade und schreibt in Cafés, Bistros oder Bars. Ich kann es ihm nicht verübeln. Ich kenne das Glück und den Rausch dieser Freiheit.

Jürg Beeler, geboren 1957 in Zürich, studierte Germanistik und Vergleichende Literaturwissenschaft in Genf, Tübingen und Zürich. Arbeitete als Reisejournalist, Magaziner, bei verschiedenen Institutionen, u.a. Aids-Hilfe-Schweiz. Lebt in Südfrankreich und Zürich. Für seine literarische Tätigkeit wurde er verschiedentlich ausgezeichnet, u.a. mit dem Schweizerischen Schillerpreis 2003 für «Die Liebe, sagte Stradivari». Bei Dörlemann erschienen Zuvor erschien 2022 «Die Zartheit der Stühle«.

Beitragsfoto © Werner Gadliger

Jürg Beeler «Möglicher Anfang eines Romans», Plattform Gegenzauber

1

Nun ist es still geworden um mich, endgültig still, und ich weiß nicht, ob ich diese Stille mag, ob ich für sie geschaffen bin.
Vielleicht bin ich bald einer wie mein Vater. In den letzten Jahren seines Lebens trug er immer dasselbe Sakko, das ihm zu groß war. Jedes Jahr wurde es größer, jedes Jahr sah er darin noch verlorener aus. Bald kannst du darin zelten, sagte ich ihm.

 

2

Mein Vater saß in den Drei Mönchen vor seinem Glas, als wir uns zum letzten Mal sahen. Schnee fiel hier noch nie, sagte er, und das Licht ist dasselbe wie in der Stadt, nur fällt es anders, stiller.

Mein Vater konnte nur mit Mühe lesen, mit dem Alphabet stand er auf Kriegsfuß, wie er mit vielen Dingen im Leben auf Kriegsfuß stand.
Wenn ich mit dem Schulbus an der Tankstelle vorbeikam, winkte mein Vater im blauen Overall. Im Sommer saß er auf einem Klappsessel im Schatten, wartete auf Kunden und hätte gerne den neuesten Lancia oder Alfa Romeo gefahren, doch er bediente lediglich die Zapfsäule und fuhr mit dem Schwamm über die Frontscheibe, wenn ein Kunde es verlangte. Nachher hätte man auch bei klarem Himmel nur Nebel gesehen.

Sobald mein Vater nach Hause kam, stellte meine Mutter das Radio lauter. Es gefiel ihr nicht, dass sie ausgerechnet mit diesem Mann verheiratet war. Einem Mann, der eines Tages in dem Hotel abgestiegen war, in dem sie arbeitete. Es regnete nicht, der Himmel war von urlaubsmäßigem Blau, doch die Gassen der Stadt waren überflutet. Nichts zu machen, er konnte das Hotel nicht verlassen, und die Frau, die am Empfang saß, war zu hübsch, um sich darüber zu beschweren. Zwei Wochen später als vorgesehen kehrte er aus dem Urlaub zurück, eine Ungeheuerlichkeit, die ihn seine dritte Stelle kostete. Doch er war noch jung, zwanzig erst, und machte sich keine Sorgen.

 

3

Meine Mutter kam aus Venedig. Genauer aus Mestre, aber sie sagte immer Venedig. Das ist nicht dasselbe, Venedig und Mestre sind durch einen Damm voneinander getrennt, korrigierte sie mein Vater, um sie zu ärgern, doch meine Mutter ignorierte diesen Damm, wie sie im Leben überhaupt Dämme und Grenzen nicht mochte.
Ich war fünf oder sechs Jahre alt, als wir aus der Stadt ins Dorf zogen. Die Wäsche meiner Mutter trocknete im Freien, und man sah, was sie unter den Röcken trug: verschiedene Farben, leuchtende Farben, und das sorgte für Unruhe im Dorf.

Nie lud ich Kameraden nach Hause ein. Meine Mutter wunderte sich, dass ich nicht Fußball spielte wie andere Jungs. Lass ihn doch, sagte Onkel Karl. Hauptsache, er wird größer.
Für Onkel Karl, der nie Fußball gespielt hatte, war Größerwerden schon viel, mehr konnte man von einem Kind nicht verlangen.
Der Fußball ist eine vollkommen nutzlose Erfindung, doch ich lag gerne auf einem verlassenen Fußballplatz und betrachtete den Himmel. Kaum fixierte ich eine Wolke, erschrak sie und veränderte sich unter meinem Blick, dehnte sich aus, ballte oder teilte sich, ich betrachtete den Himmel, und irgendwann zogen immer Wolken auf.
Der Junge zieht das Unglück an, behauptete meine Mutter. Dasselbe soll auch Fernando Pessoas Mutter von ihrem Sohn gesagt haben, aber das wußte ich damals noch nicht.

Wenigstens einmal im Leben eine Haremsdame sein, notierte dieser große portugiesische Dichter gleich zwei Mal in seinem Buch der Unruhe. Pessoa war ein scheuer Mensch, darum träumte er sich in einen Harem hinein. In seiner Phantasie war er der Scheich, den die Haremsdamen liebten wie eine Mutter ihr Kind, zugleich war er die Haremsdame, die leidet. Er wollte beides sein, Mann und Frau, er wollte als Mann in sich selbst eindringen, in sich als Frau. Er war zu delikat gebaut, zu melancholisch und luzide, um dem Terror eines Ehelebens etwas abgewinnen zu können.
Was ist ein Harem, fragte ich als kleiner Junge Onkel Karl. In einem Harem gehören alle Frauen dir, und das macht das Leben weniger kompliziert.

Onkel Karl war der Jüngste von Vaters Brüdern. In den Augen seiner Frau brauchte er für alles zu lange. Warum muss immer alles so schnell gehen, beschwerte er sich, rückte vor dem Spiegel seine Weste zurecht, zupfte an seinem Schnauzbart und lächelte, als wäre er sehr eingenommen von der Begegnung mit seinem Doppel.
Mach schon, wir kommen zu spät!
Wenn man sich Zeit lässt, ist man überall rechtzeitig, antwortete Onkel Karl und holte zu einer weitschweifigen Erklärung aus, um die Geduld seiner Frau noch ein wenig zu strapazieren.
Bevor ich das Haus verlasse, will ich überprüfen, ob ich wirklich mit meinem Spiegelbild identisch bin. Wäre das nicht der Fall, hätte ich dauernd Meinungsverschiedenheiten mit mir, ich läge mit mir im Streit, und das brächte niemandem Glück. Man sollte keine Freunde besuchen, wenn man nicht im Einklang mit sich selbst ist. Aber heute bringt ja keiner mehr die Geduld auf, solche Dinge zu überprüfen, als wäre völlig egal, wer wir sind.

 

4

Mein Vater saß in seinen letzten Jahren fast täglich in den Drei Mönchen. Ich habe ihn in diesen Jahren nie mehr lachen gehört, aber er lächelte, wenn ich kam.
Warum sagte er, Schnee fiel hier noch nie? In der Ferne sah man die Voralpen, Schnee fiel im Dorf fast jeden Winter. Ich fragte nicht nach, mein Vater war keiner, der sich die Dinge erklärte.
Noch abwesender als sonst schien er, als hätte er sich von dieser Welt bereits verabschiedet. Doch das wurde mir erst in der Erinnerung deutlich, denn die späteren Ereignisse ließen mich unser Treffen anders sehen.
Ich werde die Wohnung verkaufen, sagte er. Ich will noch einmal verreisen, diesmal endgültig. Ich will mein Leben nicht in diesem Nest beenden.
Ich nickte, seit Jahren schon redete er davon, dass er seine Frau, meine Mutter, noch einmal sehen wolle, ich nahm seine Worte nicht sehr ernst. Warum sollte er, der im Leben nie etwas angepackt hatte, sich ausgerechnet jetzt aufraffen?
Ich ahnte nicht, dass es unsere letzte Begegnung sein würde. Mein Vater musste schon länger in den Drei Mönchen auf mich gewartet haben, sein Weinglas war fast leer.
Du weißt es wohl noch nicht, sagte er. Karl ist gestorben.
Onkel Karl?
Im vergangenen Sommer.

Mit einer Trompete flog ich am nächsten Morgen nach Lissabon zurück. Mit Onkel Karls Trompete. Mein Vater hatte sie mit in die Drei Mönche genommen. Sie gehört dir. Karl hat dich immer besonders gemocht.

 

5

Onkel Karl war Trompeter im Orchester des Opernhauses gewesen, der einzige Stadtmensch unter meinen zahlreichen Onkeln. Trotzdem war er häufig bei uns auf dem Land.
Wenn Onkel Karl uns besuchte, war meine Mutter glücklich und nachsichtig mit meinem Vater und mir. Onkel Karl war ein schwerer Mann, doch in seiner Nähe fühlte ich mich leicht. Gespannt beobachtete ich, wie sich Onkel Karl auf einen der morschen Gartenstühle setzte, aber Onkel Karl zauberte, der Stuhl krachte unter ihm nicht zusammen.
Eines Tages nahm mich Onkel Karl mit in die Stadt, wir besuchten den Zoo. Die Flamingos standen auf einem Bein, reglos, den Kopf im Gefieder. Noch nie hatte ich einbeinige Vögel gesehen, doch Onkel Karl schüttelte den Kopf. Sie haben zwei Beine wie alle Vögel, erklärte er.
Was macht das andere Bein, fragte ich.
Es schläft.
Wacht es nie auf?
Doch. Wenn es aufwacht, geht das andere Bein schlafen. Die Beine wechseln einander ab.
Träumt das Bein, wenn es schläft?
Natürlich träumt es. Und wenn es aufwacht, erzählt es dem Flamingo seine Träume, und darum wird es dem Flamingo nie langweilig.

Jürg Beeler anlässlich einer Lesung aus «Die Zartheit der Stühle» auf Schloss Mörsburg

Jürg Beeler, geboren 1957 in Zürich, studierte Germanistik in Genf, Tübingen und Zürich. Arbeitete als Deutsch- und Fremdsprachenlehrer und als Reisejournalist. Lebt in Südfrankreich und Zürich. Für seine literarische Tätigkeit wurde er verschiedentlich ausgezeichnet. Publikationen (Auswahl): «Die Liebe, sagte Stradivari» (2002), «Das Gewicht einer Nacht» (2004), «Solo für eine Kellnerin» (2008), «Der Mann, der Balzacs Romane schrieb» (2014), «Die Zartheit der Stühle» (2022)

Beitragsbild © Barbara Dietl

Jürg Beeler «Die Zartheit der Stühle», Dörlemann

Eigentlich flieht Matteo. Er flieht, weil ihm das Leben die Stimme nahm. Weil er als König mitten im Stück den Text verlor, auf der Bühne in Shakespeares King Lear. Weil wenige Tage zuvor Zofia, die Frau seines Lebens gestorben war. Weil er von all dem weg wollte, was sich seinem einsam gewordenen Leben querstellte. „Die Zartheit der Stühle“ ist ein Buch der Liebe, ein unsäglich zartes Buch.

Dass Jürg Beeler kein ganzes Regalbrett füllt, obwohl er schon vierzig Jahre schreibt, mag daran liegen, dass sich Beeler als Lyriker sieht und nicht eigentlich als Erzähler, obwohl „Die Zartheit der Stühle“ sein siebter Roman ist. „Das ist viel Arbeit“, meint der Schriftsteller in einem Porträt lakonisch. Vielleicht liegt es auch daran, dass Jürg Beeler wie ein Lyriker Romane schreibt, auf jedes Wort achtend, viel mehr als blosses Erzählen. Das spüre ich diesem Buch an, einem Buch, dem ich die Nominierung für den Schweizer Buchpreis 2022 wünsche, weil es sinnlich erzählt, weil es sich nicht dem Spektakel verschreibt, dafür umso mehr den unendlichen Irrgärten des menschlichen Seins, weil das Kleine, Zarte auf das Grosse weist und weil meine Frau und ich uns das Buch gegenseitig vorlasen und dabei regelrecht beglückt wurden.

Matteo ist ein Einzelgänger, hat es nicht gerne, wenn sich Ausgelassenheit ausbreitet, obwohl er lange Jahre gefeierter Schauspieler war und man nach Premieren gerne mit ihm gefeiert hätte. Auf der Bühne fand er stets seinen Ton, seine Stimme, hatte er Präsenz und Wirkung. Im Privaten fiel im das Sprechen stets schwer und er verkroch sich lieber in seiner immer kleiner werdenden Welt. Zofia war die einzige Frau, mit der er seine Einsamkeit gerne teilte, mit der er lange Jahre zusammenlebte. Dann aber, als er erfahren musste, dass sie unheilbar erkrankt war und nicht beabsichtigte, sich durch weitere Therapien quälen zu lassen, trennte sie sich von ihm, ging auf Distanz. Sie starb. Ihr Tod lähmte ihn. Man begrub sie in ihrer Heimat Warschau, ein Abschied, den er in keiner Weise akzeptieren konnte.

Jürg Beeler «Die Zartheit der Stühle», Dörlemann, 2022, 224 Seiten, CHF 28.00, ISBN 978-3-03820-105-2

Matteo sucht Sammlung in Lerone, einer kleinen Stadt ganz im Süden Italiens, einem Sehnsuchtsort, den er schon mit Zofia teilte. Er will nichts mehr. Nur in Ruhe an der Piazza d’Oriente im Leonardo sitzen und schreiben, ohne Ziel. Aber kaum ist er dort, mischt sich die Anwesenheit einer Frau ein, einer Frau, die wie er an einem der Tische an der Piazza sitzt und schreibt. Später erfährt Matteo, dass sie Vera heisst und komponiert. Vera beginnt Platz einzunehmen, Platz, den Matteo eigentlich nur sein er grossen Liebe Zofia zugestehen will. Aber da auch sein dortiger Freund und Anwalt Ettore von der geheimnisvollen Frau angetan ist, beginnen sich Welten ganz zaghaft zu begegnen. Vera verrät nicht viel. Manchmal ist sie da, manchmal verschwindet sie für Tage oder gar Wochen. Aber sie nimmt stets etwas mit, etwas, was Matteo die Ruhe raubt, was ihn nicht in Ruhe lässt. Bis sie eines Tages mit zwei Koffern vor seiner Tür steht und fragt, ob sie für unbestimmte Zeit bleiben dürfe.

Zofia distanzierte sich in der letzten Monaten ihres Lebens. Als er sich nach ihrem Tod mit einem verloren geglaubten Schlüssel Zugang zu ihrer Wohnung verschafft, merkt er, dass er bei weitem nicht der einzige ist, der an der Hinterlassenschaft seiner Frau Interesse zeigte. Er war Eindringling. Und jetzt, Monate später, taucht Vera auf, Jahre jünger als er und stösst ihn in eine Geschichte, aus der es kein Aussteigen mehr gibt.

Matteo erzählt seine Geschichte in einer grossen Rückblende, schreibt in seine Hefte, in der Absicht „ein Buch der Liebe“ zu schreiben. Jürg Beeler trifft in seinem Schreiben als Matteo, manchmal ganz direkt im Du an Zofia gerichtet, genau jenen Ton, den ein solches „Buch der Liebe“ treffen muss. Es ist mit grosser Behutsamkeit geschrieben, immer im Wissen darum, dass Liebe in all seinen Formen, auch in der Verzweiflung und Enttäuschung an flüchtiges, schwer fassbares Gefühl bleibt. Genauso ist dieser Roman geschrieben, absolut überzeugend in seinem Ton, gespickt mit Sätzen, die sich wie Amorpfeile ins Herz bohren.

Interview

Matteo schreibt schon lange. Was wir unter dem Titel „Die Zartheit der Stühle“ lesen, sind die Hefte Nr. 73 bis 77. Alle Hefte zusammen scheinen Matteos Versuch zu sein, sein „Buch über die Liebe“ zu schreiben. Was hinderte Sie daran, Ihrem Roman den Titel „Buch über die Liebe“ zu geben? (Obwohl ich gestehe, dass mir der tatsächliche Titel besser gefällt!) 
„Liebe“ ist ein Allerweltswort, mit „Buch über die Liebe“ hätte ich mich auf ein zu gefälliges Terrain begeben. Jeder glaubt ja zu diesem Thema das Allerwichtigste zu sagen zu haben, nur weil ihm die Liebe einmal etwas unsanft auf die kleine Zehe getreten ist. 
„Die Zartheit der Stühle“ öffnet andere Türen. Dieser Titel hat, so wie ich es empfinde, etwas Poetisches und Schelmisches zugleich und passt gut zum Protagonisten. Matteo war Clown, Pantomime, auf der Bühne trat er stumm auf, auch im Alltag ist er eher ein Stummer geblieben. 
Wie Matteo liebe ich Strassen, Plätze und Cafés. Stühle werfen zarte Schatten, und wenn sie Schatten werfen, was sie im Süden häufiger tun als im Norden, beginnen sie zu erzählen. Ich habe Zeit, ich höre ihnen gerne zu. Oft stellen sie mir provozierende Fragen. Was, wenn unsere Liebe zu Objekten tiefer ist als die zu den Menschen? Oder wenn Liebe ein Phantom ist, wie Matteo einmal vermutet?

Matteo will eigentlich fliehen, nicht zuletzt vor sich selbst, gerät aber immer mehr in den Strudel seiner Vergangenheit, in den Sog des Unberechenbaren. Keine Flucht, sondern sein Besteben, Ruhe zu finden, die Nähe zu sich selbst. Ein Gegenentwurf zu den vielfachen Möglichkeiten der Betäubung unserer Gegenwart?
Alle drei Figuren, Matteo, Zofia, Vera müssen mit Ereignissen zurechtkommen, die ihr Leben einschneidend verändern und bedrohen. Sie sind nicht mehr jung, sie empfinden sich in ihrer Zeit zunehmend als Fremde. Die Gegenwart scheint für sie keine verlässlichen Worte und damit Lebensentwürfe mehr bereitzuhalten. Menschenkenntnis wurde im Alltag durch Vulgärpsychologie und einen kommerzialisierten Zwang zur Selbstverwirklichung ersetzt, was zur kollektiven Übung der Selbstentfremdung verkam. 
In unseren Wohlstandsregimen haben wir die Fähigkeit, die inneren Regungen und Beweggründe des anderen zu erraten, längst verloren. Dazu haben wir auch gar keine Zeit mehr. Vera, Zofia und Matteo versuchen je auf ihre Weise, diese Echolosigkeit zu durchbrechen, einen Weg aus der allgemeinen Betäubung zu finden, der sie wieder in eine Gegenwart zurückführt. 

Zofia sagte sich in ihrem Sterben von Matteo los, wollte ihn in der letzten Phase ihrer Krankheit nicht mehr an ihrer Seite haben. Ist Schonung auch eine Form der Liebe?
Ich glaube ja, eine sehr tiefe. Zofias Rückzug mag vieles zugrundeliegen, sei es Enttäuschung, sei es Diskretion oder Scham. Ein etwas bösartig gestimmter oder pessimistischer Leser könnte in diesem Rückzug allerdings auch eine heimliche Bestrafung des Partners vermuten. Doch Zofia ist eine Figur, die sich dem einfachen Zugriff entzieht. Vielleicht gehört es zur Magie des Romans, dass er eine völlig subjektive Interpretation dem Leser als die objektive vorspiegelt. 
Die Schonung des Partners trägt auf jeden Fall der Erkenntnis Rechnung, dass die Menschen verschieden sind und jeder seinen Weg letztlich allein zu gehen hat. Dem andern sein Leben lassen – darin kommt etwas zum Ausdruck, das vielleicht wichtiger ist als die Liebe: die Freundschaft.  

@ Werner Gadliger

Matteo trägt seinen Schmerz in sich, seine Partnerin Zofia, erst recht Vera. Matteo schreibt die Geschichte dieses Dreigestirns in seine Hefte. Schreiben als ein Versuch, Ordnung in Leben zu bringen. Das Schreiben eines Romans ist ausgebreitete Ordnung. Gedichte hingegen brechen Ordnungen auf. Obwohl Sie in einem Beitrag sagen, Sie schreiben viel lieber Gedichte, Sie wären eigentlich Lyriker, ist „Die Zartheit der Stühle“ Ihr siebter Roman. Was macht die Magie des Romanschreibens aus? 
Ist es nicht einfach die erfolgsversprechendere Möglichkeit, vom Schreiben zu leben?
Mit dem Roman tauche ich in eine Assenwelt ein, er legt in anderer Weise die Spur einer Lebenserfahrung als die Lyrik, die den Rückzug in ein Sprachgehäuse eher erlaubt. Der Roman legt eine Schmerzspur. Doch auch in der Lyrik schaffe ich ‚Ordnung’. Sie ist vielleicht verborgener als die eines Romans. Eine innere Kohärenz – dies mein Anspruch – muss die vordergründig disparaten Zeilen eines Gedichts zusammenhalten. Diese Stimmigkeit muss für den Leser spürbar sein. So gesehen hat das Gedicht immer eine metaphysische Dimension, weil es jede Beliebigkeit ausschliesst. 
Die Anfänge dieses Romans reichen viele Jahre zurück. Die Hauptfigur stand mir von Anfang an deutlich vor Augen, ebenso waren die Atmosphäre, die Musik des Romans von Anfang an da. Die Herausforderung bestand darin, die zu den Figuren passende Geschichte zu finden. Ein Unterfangen, das nicht planbar ist, für mich auf jeden Fall nicht, ich bin da sehr von Stimmungen, von der Umgebung, von der Gunst des Augenblicks abhängig. Ob ich eine Figur auf diese oder eine andere Weise handeln lasse, ist ein intuitiver Entscheid. Letztlich ist es die Sprache, ihre Musik, ihre Atmosphäre, die mich führt. 

Die Musik eines Romans wird nicht von allen Lesern wahrgenommen. Dieses Nicht-Wahrnehmen des für mich Offensichtlichen macht mich immer wieder fassungslos. Manche Leser fürchten das Ambivalente, sie suchen das Erklärbare und Sichere, sie sind glücklich, wenn sie den Protagonisten als ‚Looser’ oder ‚Macho’ identifizieren können. Doch der Roman verhandelt nicht Begriffe, die immer nur kollektiven und fragwürdigen Klassifizierungen entsprechen, er erzählt vom Individuum in seiner Unverwechselbarkeit. In dieser Hinsicht ist er subversiv, und dieses subversive Element übt auf mich einen unwiderstehlichen Sog aus. 

Das Epizentrum eines Romans verbirgt sich in seiner Musik. Seine Unterfütterung kann heiter oder melancholisch sein. Heiterkeit und Melancholie widersprechen sich nicht unbedingt. Auf jeden Fall nicht, wenn man von einer spezifisch romanischen Melancholie spricht. „Auch wenn sie düster und tief ist, findet die Melancholie noch Quellen von Zärtlichkeit. Man könnte sagen, ihr Charakter ist die Sanftheit“, schreibt der italienische Schriftsteller Alberto Savinio. Melancholie ist das Bewusstsein, dass die Zeit verströmt und wir nichts gegen sie ausrichten können. Sie widersetzt sich unseren Plänen, wir können ihr nichts abtrotzen. Das Schreiben setzt sich diesem Fliessen aus, ein Roman kann nicht erzwungen werden. Wer im deutschsprachigen Raum aufwächst, vor allem in den protestantisch-ehrgeizigen Gegenden Deutschlands, neigt weniger zur Melancholie als zur Depression, das mediterrane Laissez-faire ist ihm fremd. Ja, ich liebe Stühle. Sie sind melancholisch und zärtlich. Sie haben immer genauso viel Zeit wie ich, was ich von meinen Mitmenschen nicht unbedingt behaupten kann.  

 „Die Zartheit der Stühle“ ist eine vielfache Liebesgeschichte. Nicht zuletzt jene der nie erfüllten. Wir werden in den Medien überschwemmt von „Liebesgeschichten“, von kitschig über verklärt bis reisserisch. Das alles ist Ihr Roman nicht. Spürten Sie Grenzen, die nicht überschritten werden durften?
Ja, sehr deutlich. Ich habe auch, das muss ich sagen, aus den Fehlern meiner früheren Romane gelernt. Die Frage nach den Grenzen und Tabus, nach der Grenze zwischen Privatem und Allgemeinen ist eine der heikelsten. Gibt es sie nicht mehr, ist der Mensch seiner seelischen Entwicklungsmöglichkeiten beraubt. Mit dem Erkennen des Unausgesprochenen, des Ungesagten im alltäglichen Umgang (sowie in Texten) wird erst ein Reifeprozess möglich. 

Auf Verletzung von Grenzen reagiere ich besonders empfindlich, was mit meiner Biographie zusammenhängen mag. Ich bin auf dem Land aufgewachsen und hatte mich sehr früh – als einziger unter den Schulkameraden – für klassische Musik begeistert. Damit war man der perfekte Exote und folglich ausgegrenzt. Nicht für Filmschauspielerinnen schwärmte ich, sondern für Pianistinnen. Die französische Bibliothek meiner Mutter zog mich mehr an als die Schullektüre, ich war ein begeisterter Leser von Baudelaire, Nerval und Rimbaud. Folglich war ich in meiner eigenen Generation ein Fremder geblieben, was sie interessierte, interessierte mich nicht, und umgekehrt. Ich vermauerte mich gegen eine Zeit, die das „Sie“ und das Private als bürgerlich verschrie und genau wusste, welches das richtige Leben war. Ich fürchtete mich vor dem Terror dieser Nivellierung und dem Ausgrenzungswahn von allem, was fremd und anders war. Unfreiwillig wurde ich zum Verweigerer des angesagten Lebens, mit allen Vor- und Nachteilen, die das mit sich brachte. Für mein Schreiben allerdings entpuppte sich meine merkwürdige Bootsfahrt als unschätzbarer Gewinn. 
Nach wie vor reagiere ich äusserst empfindlich auf Ausgrenzungen, und wir leben heute leider wieder in einer Zeit der Diffamierung. Sie macht mir Angst. Rasch ist man mit Worten zu Hand, um den andern zu beschuldigen oder anzuklagen. Sei es, weil er das falsche Geschlecht besitzt, nicht zur gefragten Altersklasse gehört oder einfach Johann Sebastian Bach liebt. 

Aus meiner Generation rettete ich mich in die romanischen Länder. Kurz nach Francos Tod, sehr jung, blieb ich in Spanien hängen und verliebte mich. Ich machte in Madrid die befreiende Erfahrung, dass Bildung nicht als „elitär“ galt. Das Gespür für Grenzen ist in romanischen Ländern immer noch stärker ausgeprägt, auch in der romanischen Literatur. Sie hat den Erzählfaden nie verloren. Nicht ohne Grund lebe ich heute in Frankreich, nah an der spanischen Grenze. Im Vorfeld der Solothurner Literaturtage forderten offenbar einzelne Stimmen lautstark die Abschaffung der „Wasserglas-Lesungen“. Ein keulenartiges Schlagwort. Zum Glück werde ich in dieser ärmeren Gegend von solchen wohlstandsverwöhnten Diskussionen verschont. Man hat hier andere Probleme. 

Flüstert Ihr Papagei noch immer? 
Leider nicht mehr, er ist im vergangenen Sommer gestorben. Dieser uralte, blinde Vogel sass immer auf meiner Schulter, wenn ich schrieb. Gelegentlich wollte er mit mir plaudern, manchmal steckte er seinen Kopf ins Gefieder und schlief. Dann durfte ich mich nicht mehr bewegen. Er fehlt mir, ich rede immer noch mit ihm, vor allem, wenn der Schreibfluss stockt. 

Jürg Beeler, geboren 1957 in Zürich, studierte Germanistik in Genf, Tübingen und Zürich. Arbeitete als Deutsch- und Fremdsprachenlehrer und als Reisejournalist. Lebt in Südfrankreich und Zürich. Für seine literarische Tätigkeit wurde er verschiedentlich ausgezeichnet. Publikationen (Auswahl): «Die Liebe, sagte Stradivari» (2002), «Das Gewicht einer Nacht» (2004), «Solo für eine Kellnerin» (2008), «Der Mann, der Balzacs Romane schrieb» (2014).

Beitragsbild © Werner Gadliger