Gabrielle Alioth «Die letzte Insel», Lenos

Gabrielle Alioth lebt und schreibt seit Jahrzehnten an der Ostküste Irlands. Die Insel, ein Sehnsuchtsort vieler, spielt einmal mehr die Hauptrolle in einem ihrer Bücher – diesmal in einer düsteren Perspektive, schonungslos und und ungeheuer stimmungsvoll. „Die letzte Insel“, ein Roman über das Ende.

Immer mehr Menschen erfahren die Konsequenzen dessen, was unverantwortliche Vergangenheit und Gegenwart anrichten. Seien es Dürren und Sturzfluten dort, wo man in der Vergangenheit niemals in der Intensität damit rechnen musste, Städte, die im Smog ersticken, Trockenheiten, die infernale Brände auslösen oder Altlasten aus der Vergangenheit, die uns in Gegenwart und Zukunft tödlich bedrohen; Abfälle, die in Fässern im Meer versenkt wurden, bis hin zu radioaktivem Material, Phosphor, das aus Bomben ausgestandener Kriege austritt und an die Strände gespült wird, um sich in Verbindung mit Sauerstoff unkontrolliert zu entzünden oder der steigende Meeresspiegel, der ganze Landstriche und Inseln unbewohnbar macht und letztlich noch mehr Menschen dazu zwingen wird, ihre Zukunft an einem scheinbar sicheren Ort zu suchen.

Warum ein Buch lesen, das einem weder schont noch einen Ausweg bietet, das ungeschönt schildert, was passieren wird, wenn die Mehrheit nicht zu einem Richtungswechsel bereit ist. Ist „Die letzte Insel“ ein moralisches Manifest zur Umkehr? Nein. Aber Gabrielle Alioth ist eine Schriftstellerin, die genau hinschaut, sich den Tatsachen nicht verschliesst, auch wenn die Fotografien, die sie dann und wann ins Netz stellt, glauben machen, sie lebe im Paradies. Noch ist es das. Aber es gibt wohl keinen Ort mehr, an dem nicht festgestellt werden muss, dass er auf die eine oder andere Weise, ganz direkt oder indirekt, von den Auswirkungen klimatischer oder umweltbelastender Veränderungen betroffen ist. Auch wenn politische Strippenzieher strategisch darüber hinwegsehen wollen.

Gabrielle Alioth «Die letzte Insel», Lenos, 2025, 229 Seiten, CHF 29.00, ISBN 978-3-03925-045-5

„Die letzte Insel“ erzählt von den Konsequenzen. Gabrielle Alioth spinnt weiter, was sie als aufmerksame Beobachterin nicht nur in ihrer Umgebung, sondern überall feststellen muss. Ihr Roman, der in naher Zukunft angesiedelt ist, ist weder realitätsfremder Sience-Fiction noch übertrieben dunkle Dystopie. In zwei Handlungssträngen erzählt die Autorin von Menschen, die im Leben an einen Punkt gekommen sind, an dem sie nur noch hinnehmen können, was übrig geblieben ist. Von zwei Menschen, die nicht nur in ihrem eigenen Leben, sondern auch in einer scheinbar freien Gesellschaft, im Traum von Glück an einen Endpunkt gekommen sind.

Im Nachhinein wurde Vieles zum Zeichen.

Holm ist Biologe und hat sich auf eine kleine Insel absetzen lassen. Nicht um Neues zu erforschen, sondern um das festzuhalten, was in absehbarer Zukunft durch den steigenden Meeresspiegel verschwinden wird. Völlig überrascht findet er dort eine kleine Gruppe Verbliebener, die Letzten, die trotz allem ausharren; eine kleine Gruppe Mönche. Nach einem nassen Einstand und dem Verlust eines Teils seiner Ausrüstung beginnt Holm seine Streifzüge auf der rauen, baumlosen Insel, einem Eiland, auf dem ihm sehr schnell bewusst wird, wie verloren er wäre, gäbe es die Männer in den Kutten nicht. Holm hat sich von einem totalitären System der Kontrolle und staatlich geführten Wissenschaft abgesetzt. Sein Wirken auf der Insel ist ein letztes Aufbäumen, sein letzter Kampf gegen die Resignation.

Zweite Protagonistin ist eine Schriftstellerin, die alleine und zurückgezogen mit ihrem Hund in einem Haus unweit der Küste lebt. Sie blickt von ihrem Schreibzimmer auf das, was vom grossen Garten übrig beglieben ist. Nicht enden wollende Regenfälle verursachten eine Sturzflut, überfluteten das Haus und rissen Teile des Gartens weg. Mit ihm ihren Mann Alexander. Sie trauert. Nicht nur über den Tod ihres Mannes und das Bewusstsein, wie schnell alles zu Ende sein kann. Sie trauert auch darum, in ihrem Leben nicht mit offenen Karten gespielt zu haben, um all das unrettbar Versäumte.

Beide, die Ich-Erzählerin und der Forscher, erinnern sich, lauschen den Stimmen, die sie heimsuchen, den Lieben, von denen sie lassen mussten. Beide klammern sich an das, was geblieben ist, was sie am Leben hält.

„Die letzte Insel“ ist ein leidenschaftlich erzählter Roman über das Enden. Aber nicht die Trauer darüber steht im Vordergrund, sondern die Liebe zur Natur, zu Pflanzen und Tieren, zum Wind, zum Regen und den Momenten grösster Vertrautheit mit dem, was die beiden Protagonisten und die Schriftstellerin selbst umgibt. „Die letzte Insel“ ist eine Liebeserklärung an das Leben, selbst dann, wenn nur noch wenig davon übrig bleibt, wenn man sich der Endlichkeit bewusst ist. „Die letzte Insel“ beschreibt nicht nur eine geographisch nachvollziehbare Kulisse (Gabrielle Alioth verriet mir, dass es für die Insel eine „Vorlage“ gibt: Inish Meain), sondern das, was an Erinnerungen bleibt, jene Insel, die bleibt, wenn alles andere untergeht. Vor allem die Erinnerungen an die Momente grössten Glücks, der Liebe, des Geborgenseins.

Interview

Wir leben alle auf einer Insel. Wenn ich im Sommer im Süden der Schweiz, im Tessin, zwei Wochen Ferien mache, dann bin ich auf einer Insel, die mich glauben lässt, noch wäre alles in Ordnung. Noch mehr, weil die Schweiz selber eine Insel ist, politisch und wirtschaftlich, wenn auch immer mehr in Bedrängnis. Du pendelst zwischen Irland und der Schweiz, hast im Gegensatz zu vielen Schweizer*innen den Blick von Aussen. Was beschäftigt dich am meisten als „Auslandschweizerin“?

Die Insel ist eine dankbare Metapher für unser Dasein, die Beschränktheit unserer Wahrnehmung, das Leben in einer wie auch immer gearteten „Blase» und vielleicht auch für unsere Sehnsucht nach einer Rückkehr ins Paradies.

Irland und die Schweiz haben sich in ihrer „Inselhaftigkeit“ in den letzten vierzig Jahren angenähert. Beide sind europäischer geworden, wobei Irland ein viel dynamischeres Land bleibt. Als Auslandschweizerin staune ich oft über die – teilweise durch den Föderalismus bedingte – Langsamkeit der Prozesse in der Schweiz; und da ist das gesellschaftliche und private Klagen über die Zustände. Wenn ich Schweizer*innen zuhöre, denke ich manchmal, dass Jammern eine Art «bonding experience» sein muss. Dem gegenüber steht das schweizerische Bewusstsein, dass man halt doch etwas Besseres ist. Die Schweizer reisen ja gern in die ganze Welt, aber viele, so scheint es mir, nur, um sich selbst zu beweisen, dass die Schweiz halt doch der beste Ort auf der Welt ist.

Wie viel von dem ist in diesen Roman mit eingeflossen?

Einer der interessantesten Aspekte von Inseln, denke ich, ist ihre offenkundige Begrenztheit, denn an Grenzen, in der Konfrontation mit dem Fremden/Anderen, wird man sich seiner Voreingenommenheit, seiner (Vor)Urteile bewusst, beginnt sein Verhalten, sein Versagen in einem grösseren Kontext zu sehen. In früheren Romanen ging es mir oft um gesellschaftliche Grenzen, in diesem eher um eine Auseinandersetzung mit natürlichen, bzw. den Grenzen, die eine von Menschen beschädigte Natur uns setzt. 

Ich weiss, dass du gerne lange Spaziergänge am Meer entlang machst, dass du fotografierst und dich inspirieren lässt. Vieles auf diesen Spaziergängen scheint in den Roman eingeflossen zu sein, wahrscheinlich auch Erfahrungen mit Phosphor, Erfahrungen mit Überschwemmungen und Unwettern. Wie sehr ärgert dich die Gedankenlosigkeit vieler Menschen?

Der Abfall hier an den Stränden ist ein echtes Problem, und die Iren stehen da weit hinter den Schweizern zurück. Ich sehe aber, dass man sich bemüht und dass es schon sehr viel besser geworden ist. Weniger offensichtlich sind industrielle oder staatliche/militärische Verschmutzungen, z.B. die Munition, die die Briten nach dem Zweiten Weltkrieg im Beaufort’s Dyke versenkt haben und von der immer mal wieder was an den irischen Küsten angeschwemmt wird, als versuche die Vergangenheit sich an der Gegenwart zu rächen.

Ärgern tut mich das beides nicht. Ich nehme es zur Kenntnis, finde es streckenweise interessant. Eine meiner wichtigsten Erfahrungen hier in Irland war, dass die Natur immer gewinnt. Der Bach in dem Tal, in dem ich zuerst lebte, ist jedes Jahr über die Ufer getreten, nicht weil die Umwelt sich veränderte, sondern weil sich die Landschaft über Jahrtausende so entwickelt hatte. In den ersten Jahren versuchten wir den Überschwemmungen mit Mauern und Wällen beizukommen. Aber das Wasser war immer stärker, klüger. Das hat mich Demut gelehrt und ich bin dankbar für diese Lektion. In diesem Sinne denke ich auch, dass die Natur die Klimakrise auf ihre Weise überstehen wird, ob die Menschheit dazu auch in der Lage ist, ist eine andere Frage.

Dein Roman ist weder Manifest noch Kampfschrift, keine Abrechnung, kein moralisierender Zeigefinger. Aber manchmal sind deine Schilderungen und Aufzählungen doch haarscharf daran vorbeigeschrammt. Ich bin mir des Dilemmas bewusst. Einfache Unterhaltung allein – daran warst du nicht interessiert. Gibt es während des Schreibens einen Warnmechanismus oder muss man auf ein gutes Lektorat vertrauen, dass man nicht überbordet?

Den Leser*innen irgendetwas zu vermitteln, gehört nicht zu meinen Zielen, ich habe keine „Message“. Das würde ich mir nicht anmassen und es würde meinem Grundverständnis von dem, was Literatur kann und soll, fundamental widersprechen. 

Ich denke, das Ziel eines Romans ist es, ein Geschehen und die darin involvierten Personen in seiner/ihrer Komplexität und Ambivalenz darzustellen. Dabei geht es nicht darum, eine Wirklichkeit (oder gar Wahrheit) abzubilden, sondern Zusammenhänge zu erforschen, Konstellationen auszuloten, vielleicht zu einem möglichen Ende zu führen, vielleicht auch Alternativen zu entwickeln. Grundsätzlich denke ich, was Literatur/Kunst im besten Fall erreichen kann, ist, dass der Betrachter, die Leserin seine/ihre Wirklichkeit etwas anders betrachtet, dass sich seine/ihre Wahrnehmung ein klein wenig verschiebt.     

Tatsächlich hat mich der Verlag gedrängt, den Text in dem von Dir beschriebenen Sinn zu „schärfen“. Ich habe dem nachgegeben, aber vielleicht hätte ich doch mehr Widerstand leisten sollen.

Dein Roman spielt in nicht allzuferner Zukunft. Sind deine Schilderungen das Resultat einer sorgfältigen Recherche über mögliche Zukunftsszenarien oder vertraust du deiner Intuition, deiner Beobachtung, deiner Erfahrung?

Bevor ich ernsthaft zu schreiben begann, habe ich einige Jahre als Konjunkturforscherin gearbeitet und mit ökonometrischen Simulationen die wirtschaftliche Entwicklung einzelnen Branchen prognostiziert. Lange habe ich es als 180-Wendung in meinem Leben betrachtet, dass ich dann zu schreiben begann. Inzwischen beginne ich die Ähnlichkeiten zwischen Simulation und Fiktion zu verstehen. Beide werden dort eingesetzt, wo das Wissen an eine Grenze stösst, oder wie der frühere Rektor der Uni Basel Antonio Loprieno, sagte „die literarische Fiktion und die wissenschaftliche Simulation vermitteln Bilder alternativer Realitäten.“  Beides sind Versuche, die Grenze zwischen Wissen und Glauben zu bewältigen, in beiden wird die Grenze zwischen Faktischem und Möglichem in Frage gestellt. Beide entwerfen ein Bild von dem, was sein könnte. 

Recherchen bilden einen wesentlichen Teil meines Schreibens. Ich denke, ich bin sorgfältig dabei, aber nicht in der Absicht oder gar mit dem Anspruch, etwas möglichst Plausibles zu konstruieren. Genauso wie die Vergangenheit, über die ich in früheren Romanen geschrieben habe, ist auch die Zukunft eine Funktion eines sich laufend verändernden Zustandes, eine Reflexion der Gegenwart und sagt primär etwas über diese aus.   

Ein Haus ist eine Insel. Ein Garten ist eine Insel. Eine Klostergemeinschaft ist eine Insel. Eine Liebe ist eine Insel. Wir brauchen diese Inseln. Und doch sind die Bedrohungen manigfaltig. Der Forscher Holm und die Schriftstellerin erinnern sich an ihre Insel-, ihre Liebeserlebnisse. Bleibt man letztlich nicht doch allein, auf der letzten Insel seiner selbst?

Ja ist die einfache Antwort auf diese Frage. Natürlich gibt es Momente der Geborgenheit, der Liebe, in denen wir uns mit einem Menschen, der Welt verbunden fühlen. Aber ich denke, es ist eine (schöne) Illusion zu glauben, dass wir einen anderen Menschen verstehen können oder von ihm verstanden werden, fassen können, was und wie er/sie empfindet. Wir sind zwar nicht immer einsam, aber doch immer allein und dieser Roman ist auch einer über das Scheitern der Liebe.

Gabrielle Alioth, geboren 1955 in Basel, war als Konjunkturforscherin und Übersetzerin tätig, bevor sie sich dem Schreiben zuwandte. 1990 publizierte sie ihren ersten, preisgekrönten Roman «Der Narr». Es folgten zahlreiche weitere Romane, Kurzgeschichten, Essays sowie mehrere Reisebücher und Theaterstücke. Daneben ist sie journalistisch tätig. Seit 1984 lebt Gabrielle Alioth in Irland. Für ihr Werk wurde sie 2019 mit dem Kulturpreis der Gemeinde Riehen ausgezeichnet. Gabrielle Alioth ist Präsidentin des PEN Zentrums deutschsprachiger Autoren im Ausland.

mehr von Gabrielle Alioth auf literaturblatt.ch

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Beitragsbilder © privat

An der BuchBasel 2022 öffneten sich Fenster zur Gegenwart und zur Jugend

Mit der neuen Leitung der BuchBasel hat sich das Festival in seiner Öffnung in jene Richtung weiter entwickelt, die in den Jahren zuvor einen Anfang machte. Eine Öffnung, die nicht heuer nur mehr, sondern auch jüngeres und junges Publikum anzog. Aber die BuchBasel war auch ein Festival der Gegensätze.

Hier Lesungen, wie es sie immer gab, da stumme BesucherInnen ohne AutorIn mit VAR-Brillen im Gesicht. Hier höfliches Gegenüber, dort laut und auch einmal schrill. Die eine Lesung wird zum Happening mit Glitzer und Farben, die andere gibt sich getragen, ganz der Tradition verbunden. Vielfalt war Programm. Zu hoffen ist nur, dass sich die Atmosphären mischen.

«Wagdy El Komy kommt aus Ägypten und beschreibt seit dem Arabischen Frühling die repressiven postrevolutionären Umstände im Land. Zurzeit lebt er in der Schweiz, wo er auch schon mehrfach Stipendien erhielt. El Komys Romane spielen in der Unterwelt von Kairo, erzählen von der Auflösung der ägyptischen Mittelschicht und der Widersprüchlichkeit der immer quälenderen Alltagssorgen.»

Aus den über 70 Veranstaltungen zwei:

Juri Andruchowytsch ist neben Serhij Zhadan eine der ganz wichtigen Stimmen für die Ukraine. Nicht nur in ihrem Schreiben, sondern auch deshalb, weil wie bei vielen SchriftstellerInnen dieses gebeutelten Landes fast alles, wonach sie gefragt werden, zum politischen Statement wird. Dass die BuchBasel mit Juri Andruchowytsch, der Historikerin Olha Martynyuk und dem Historiker Frithjof Benjamin Schenk ExponentInnen auf die Bühne bringt, die neben persönlicher Betroffenheit auch Kompetenz und Prägnanz in Diskussionen bringen, tut einer solchen Veranstaltung gut, wo es doch schwierig ist, den Krieg in der Ukraine nicht zum Thema zu machen.

Juri Andruchowytsch unterbrach für den Besuch an der BuchBasel seine Lesereise in der Ukraine, eine Lesereise, die ihn auch in Städte bringt, die unter russischem Beschuss liegen. Eine so ganz andere Lesereise wie eine vergleichbare in der Schweiz. Die Menschen in der Ukraine dürstet es in diesen Zeiten nach Kultur, nach Literatur. Juri Andruchowytsch erzählt, es gäbe SchriftstellerInnen an beiden Fronten, dort, wo geschossen wird und dort, wo eine ganze Nation nach Worten sucht. Juri Andruchowytsch las auch in Charkiw, in vollen Luftschutzbunkern, unterbrochen vom Luftalarm, aber immer in der Hoffnung, alles sei ein kleiner Schritt zur Normalität.

Zusammen mit Verlegern bringen SchriftstellerInnen Bücher an die Front, eine Front, die längst keine Linie mehr ist, sondern das Land in eine einzige Front verwandelt, immer und überall bedroht von russischer Willkür. Kein Strom, kein Frischwasser, kaum mehr medizinische Versorgung, Hunger und Kälte. Aber Bücher. Bücher werden zu einem Fundament ukrainischen Selbstbewusstseins. Ein Selbstbewusstsein, das sich wie die weissen Flecken im westlichen Bewusstseins um die Geschichte dieses Landes, mit Stoff füllt. Eine westliche Sicht auf Geschichte, die über Jahrzehnte eine sowjetische und postsowjetische Perspektive beschränkte. 

Nicht erst seit Februar 2022 steht die Ukraine im Krieg. Aber seit dem 24. Februar und den Geschehnissen danach reibt sich der Westen die Augen. Seit bei den Protesten 2014 auf dem Maidan in Kiew scharf geschossen wurde, seit der Annexion des Donbas und der Halbinsel Krim herrscht ein Krieg, der von Westeuropa fast ein Jahrzehnt meisterlich ignoriert wurde. Ein Krieg, der in den letzten acht Jahren das ukrainische Selbstbewusstsein nur stärkte.

«Wie haben diese Ereignisse das Land geprägt? Welchen Platz nahm und nimmt die Ukraine in Europa ein? Wie sind die Zukunftsaussichten, wenn der Krieg vorbei sein wird? Welche strukturellen und politischen Herausforderungen erwarten das Land und Europa?»

Juri Andruchowytsch beteuert, dass im Zentrum aller Kräfte in der Ukraine die Freiheit steht, eine Freiheit, die es in seinem Land nie gab, aber schon lange als Idee, Hoffnung und Ziel. Ein Besteben, das im krassen Gegensatz zum russischen Aggressor steht. Die Ukraine führe einen Krieg für die Zukunft einer Demokratie, Russland einen Zerstörungsfeldzug für eine Verteidigung eines steuernden Imperiums, der Verteidigung einer toten Vergangenheit.

***

Es gab die grossen Namen; Sibylle Berg, Tsitsi Dangarembga, Trägerin des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels, Carolin Emcke, Thomas Hürlimann, Donna Leon, Kim de l’Horizon und andere mehr.
Aber es waren auch die kleineren Veranstaltungen, die bezaubern konnten. Wie jene mit Gabrielle Alioth, die als Schweizerin seit fast 40 Jahren im County Louth an der Ostküste, nördlich von Dublin lebt und schreibt. In ihrem bei Caracol erschienenen zweisprachigen Text- und Bildband „Seapoint – Strand“ erzählt die Autorin von ihrem Leben an jenem Stand in Irland, eine zärtliche Reflexion in ein Hinein und in die Weite hinaus.

Gabrielle Alioth spaziert jeden Morgen dem Meer entlang, zwischen Himmel und Erde, zwischen Meer und Sand. Sie schreibt und fotografiert Bilder weit über Betrachtungen hinaus. Eingetaucht in die Sagen und Geschichten jenes Landes, das eigene Leben, das langsame Eintauchen in eine Kultur. Alltägliches verbindet sich mit Geschichte und Geschichten, dem Angeschwemmten, Hergetragenen, Liegengelassenen. Texte zwischen Betrachtungen und Nacherzähltem, manchmal lyrisch, manchmal episodisch.

Irische Sagen, die wie alle Sagen stark mit Orten verknüpft sind, erzählen wie die Schriftstellerin Geschichten, die klären und erklären wollen. Gabrielle Alioth klärt eine Landschaft, ohne ihre Geheimnisse entschlüsseln zu wollen. Das Meer sei ein geduldiges Gegenüber, ein unendliches Füllhorn, das die Geschichten nicht wie in den Bergen als Echo zurückwirft.

«Aufgewachsen in einem schäbigen Schweizer Vorort, ist die Erzählfigur von Blutbuch (Dumont Buchverlag, 2022) den engen Strukturen der Herkunft entkommen, lebt in Zürich und fühlt sich im nonbinären Körper wohl. Doch dann erkrankt die Grossmutter an Demenz, und das Ich beginnt, sich mit der Vergangenheit und den bruchstückhaften Erinnerungen an die eigene Kindheit auseinanderzusetzen.»

Möge das Echo dieser In Literatur getauchten Tage noch lange nachhallen!

Zum Titelbild: «Die offizielle Erinnerungspolitik und das mahnende «Nie wieder», das im Rückblick auf die Zeit des Nationalsozialismus aufgerufen wird, werden mehr und mehr zu inhaltsleeren Ritualen. Mit Texten von Überlebenden gaben Carolin Emcke, Lena Gorelik und Maryam Zaree denjenigen eine Stimme, die Lager erlebt und beschrieben haben.»

Illustrationen © Charlotte Walker 

Gabrielle Alioth «Die Überlebenden», Lenos

Gabriele Alioth hat mit einem Teil ihrer eigenen Geschichte ihrem neuen Roman Leben eingehaucht. „Die Überlebenden“ klingt dramatisch, was es und er auch ist. Der Roman ist die Geschichte des Krieges, eines Kriegs, der von aussen auf die Protagonisten einwirkt, durch die Kriege dieses Jahrhunderts und eines Krieges von Innen, gegen seelische Gewalt, gegen das Vergessen, gegen das Schweigen.

Eine Familiengeschichte, die Geschichte dreier Menschen, die auf ganz unterschiedliche Weise unter den Auswirkungen von Gewalt zu leiden hatten. Gabriele Alioth erzählt in einem Interview, wie sie vor Jahren die Briefe einer Tante an ihren Mann in die Hände bekam, einer Tante, die die Briefe nach Jahrzehnten noch einmal gelesen hatte, die der Autorin sehr schnell offenbarten, dass da Stoff für mehr als eine Geschichte zu verarbeiten war. Und doch ist Gabriele Alioths Roman „Die Überlebenden“ keine Spiegelung von Tatsachen. Der Autorin geht es um die Fragen, die aus den Leben der Protagonisten resultieren, ob man dem biographischen Gencode einer Familie entfliehen kann, wie sehr das Schweigen in einer Familie durch die Zeiten wirkt, zerstörerisch über die Jahrzehnte. Gabriele Alioth will viel mehr als nacherzählen. Ihr Roman ist der Versuch einer Einordnung, vielleicht sogar einer versöhnlichen Klärung. 

„Wie die Geschichte jeder Familie ist auch die meiner erdichtet. Ich habe sie aus Erzähltem, Erinnerten, Erdachtem und Erträumten zusammengefügt, so wie es mir heute richtig erscheint.“

Gabriele Alioth «Die Überlebenden», Lenos, 2021, 269 Seiten, CHF 32.00, ISBN 978-3-03925-015-8

Vera, die eigentliche Erzählerin im Roman, kommt aus einer Bäckerdynastie. Mina, eine Tochter jenes Grossvaters, heiratet Oskar, einen Mann, der selten zuhause ist, während und nach dem Krieg nicht nur seinen undurchsichtigen Geschäften nachgeht, sondern in der Ferne ein Leben führt, das mit dem seiner Familie, seiner Frau und seiner Kinder gar nichts zu tun hat. Mina, die gezwungen ist, ihre Familie in eigener Regie durch die Zeit zu manövrieren, wird mehr als deutlich von ihrem dominanten Mann aufgefordert, brieflich genauestens zu rapportieren, was zuhause abgeht. Mina formuliert in diesen Briefen krampfhaft beflissen und positiv, was zwischen den Zeilen mehr als deutlich ihren Kampf ausmacht. Den Kampf vieler Frauen in jener Generation, die in ihrem Alltag ihren „Mann zu stehen hatten“, während die Ehemänner an ganz anderen Fronten ihre breite Brust zeigten. Den Kampf einer Frau, die trotz Familie und Ehe alleine ist.

Irgendwann ist Mina gezwungen auch noch den Sohn ihrer Schwester in ihrer Familie aufzunehmen. Max aber ist kein leichtes Kind, viel mehr ein Rebell, ob in Minas Familie, ihrem Zuhause, in der Schule oder in der Ausbildung. Beide reiben sich aneinander, bis Max ausbricht und sich als Pilot im Vietnamkrieg seinen Feinden stellt.

Als er nach Jahren zurück an die Stadt am Rhein kommt, quartiert er sich bei seiner Cousine Vera ein, einer Frau, die Schmetterlinge züchtet, jene filigranen Lebewesen, die durch eine blosse Berührung fluguntauglich gemacht werden können. So wie die eine Tochter von Oskar, die durch einen sexuellen Übergriff ihres Vaters „fluguntauglich“ gemacht wurde, eine Tat, an der Mina ein Leben lang zu kauen hatte, nie darüber sprach, die sich wie ein Alp über die ganze Familie stülpte. Statt gegen den Mann anzutreten, kämpft sie gegen den Rebellen Max, den Pflegesohn, der seinen Kampf wiederum bis in den fernen Osten schleppt.

„Die Überlebenden“ ist keine Unterhaltungsliteratur. Auch kein Roman, der eine Geschichte linear nacherzählen will. So wie es im Nachdenken über die eigene Familiengeschichte nie um eine Chronologie der Ereignisse geht, mischt Gabriele Alioth die Ereignisse so, wie sie dem Nachdenken darüber erscheinen. Das macht es für mich als Leser nicht ganz einfach. Aber genau das entspricht der Wirklichkeit. Gabriele Alioth zeichnet in einer verdichteten Sprache, im Mäandern zwischen Briefen, Erinnertem und Erdachtem. Sie legt ein Mosaik aus Stücken zusammen, die erst aus der Distanz, nicht zuletzt aus der zeitlichen Distanz eine grosse Ordnung ergeben. Mag sein, dass die Lektüre nicht so einfach flutscht. Aber Wahrheiten flutschen selten.

Kein Buch über die «Heilige Familie».

Gabrielle Alioth, geboren 1955 in Basel, war als Konjunkturforscherin und Übersetzerin tätig, bevor sie sich dem Schreiben zuwandte. 1990 publizierte sie ihren ersten, preisgekrönten Roman «Der Narr». Es folgten zahlreiche weitere Romane, Kurzgeschichten, Essays sowie mehrere Reisebücher und Theaterstücke. Daneben ist sie journalistisch tätig. Seit 1984 lebt Gabrielle Alioth in Irland. Für ihr Werk wurde sie 2019 mit dem Kulturpreis der Gemeinde Riehen ausgezeichnet.

Rezension des Gedichtbands «The Poet’s coat – Der Mantel der Dichterin» auf literaturblatt.ch

Webseite der Autorin

Gabrielle Alioth «The Poet’s Coat», Waldgut

Nach fast dreissig Jahren Prosa veröffentlicht Gabrielle Alioth im Waldgut Verlag ihre Gedichte unter dem übersetzten Titel «Der Mantel der Dichterin». Eine ganz besondere Sammlung, denn die Schriftstellerin, die ihre Prosa nur deutsch schreibt, dichtet in der Sprache ihrer Wahlheimat, in der grossen Tradition nordirländischer Dichtung, einem Land, in dem Dichtung bis heute einen ganz anderen Stellenwert besitzt.

„Als ich die Schweiz vor 35 Jahren verliess, fand ich eine Insel, ein Leben und eine Sprache. In Irland stiess ich auf eine lebendige poetische Kultur, die den Alltag der Menschen betraf; und die Gedichte, die in den 1980er-Jahren häufig von Frauen geschrieben und zitiert wurden, berührten mich, wie es kein deutsches Gedicht je vermocht hatte…“

Time

Once I lost a future
On a warm summer evening,
And my past
In a sentence of a stranger.
Now the wind ist blowing in my hair
And the sea is in my heart.

Zeit

Einst, an einem warmen Sommerabend,
verlor ich eine Zukunft
und, im Satz einer Fremden,
meine Vergangenheit.
Jetzt bläst der Wind durch mein Haar
und das Meer ist in meinem Herzen.

„Muttersprache“ ist die Sprache des Herzens, eine Sprache, in der unweigerlich Bilder mitschwingen, die sich in einem ganzen Leben ansammeln. Eine gelernte Sprache, eine Sprache, in die man aktiv hineinwächst, ist viel weniger verschlüsselt. Gabrielle Alioth erklärte bei einer Lesung im Kultbau St. Gallen, sie sei im Schreiben von Gedichten, in der englischen Sprache eine „andere Frau“, könne viel freier agieren. Das sei auch ein Grund, warum man in einer fremden Sprache viel freier fluche als in der Muttersprache. So „distanziert“ sie in ihrem schriftstellerischen Wirken in ihrer Arbeitssprache Deutsch wirkt, in den historischen Themen wie in ihrem Ausdruck, so persönlich, so nah, so ganz anders wirken die Gedichte. So sehr die Schriftstellerin ihre Prosa einem Ziel unterwirft, so sehr ergibt sich ihre Lyrik dem Moment, auch den Momenten einer Erinnerung.

Leaving Rosemount

Snow on the hills
No winter has been so cold
And empty roads.
Could I Have died?

It will get easier
In time to come
I will get used
To leaving
Till it leaves me.

Rosemount verlassen

Schnee auf den Hügeln.
Kein Winter war je so kalt.
Und die Strassen leer.
Hätte ich sterben können?

Es wird leichter werden in Zukunft.
Ich werde mich gewöhnen
ans Verlassen.
Bis es mich verlässt.

Gabrielle Alioth schreibt seit 20 Jahren Gedichte in Englisch, von denen einige in irischen Zeitungen erschienen, in denen Gedichte noch immer nicht bloss Lückenbüsser sind. In ihren Gedichten spiegeln sich ihre Vergangenheit, Begegnungen, ihre zweite Heimat, das, was Orte mir einem tun und anstellen, was sie in uns und wir an ihnen zurücklassen. Ihre Gedichte sind Ausdruck dessen, dass sie nicht zerrissen, sondern an vielen Orten zuhause ist, dass Heimat nicht an Nationen und ihre Grenzen, nicht einmal an die Sprache gebunden sein muss. Gedichte darüber, wie wenig Orte sich an uns selbst erinnern, wenn man mit dem Bewusstsein lebt, dass man sich an die einen oder andern Orte „für immer“ erinnert.
Dichten ist Alchemie, eine Dichterin, ein Dichter ein Alchemist. Gedichte eine Form „Unerklärliches“ erklären zu wollen. Dichten sei „Altes im Feuer verbrennen, zusammen mit gesammeltem Treibholz“.

Ein besonderes Vergnügen bereitet die Gegenüberstellung der englischen Originalgedichte und die deutschen Übersetzungen von Fred Kurer. Die beiden Seiten zeigen offensichtlich und eindrücklich, was Übersetzung kann und muss, dass literarische Übersetzung viel mehr ist als das, was ein Google-Übersetzer kann, wie unterschiedlich Klang und Tiefenschärfe ist, wie viel Auseinandersetzung es braucht, bis sich Dichterin, Übersetzer (und in diesem Fall die Herausgeberin Irène Bourquin) finden.

Gabrielle Alioth, geboren 1955 in Basel, studierte Wirtschaftswissenschaften und Kunstgeschichte an den Universitäten Basel und Salzburg und war anschliessend als Konjunkturforscherin tätig. 1984 wechselte sie ihren Wohnsitz nach Irland. 1990 erschien der Roman «Der Narr», der durch das Literaturhaus Hamburg ausgezeichnet wurde. Es folgten zahlreiche weitere Romane – jüngst «Gallus, der Fremde», 2018 im Lenos Verlag – Kurzgeschichten, Essays sowie Kinder-, Reise- und Sachbücher. Gabrielle Alioth ist Dozentin an der Hochschule Luzern Design & Kunst, journalistisch tätig und hält Schreibkurse am Literaturhaus Basel.

Der Übersetzer Fred Kurer, 1936 in St. Gallen geboren, studierte nach einer Lehrerausbildung Germanistik, Anglistik, Publizistik und Theaterwissenschaften in Zürich, Wien und London. Er ist Autor eines Romans, zahlreicher Gedichtbände, Bühnencollagen, Theaterstücke und verschiedener Programme für Kleinbühnen, Kabarett, Radio und Fernsehen. Er übersetzt aus dem Englischen und Amerikanischen.

Rezension «Gallus, der Fremde» auf literaturblatt.ch

«But you don’t really care for music, do you? – Szenen zu Leonard Cohen» von Gabrielle Alioth auf der Plattform Gegenzauber

Kultbau St. Gallen

Webseite der Autorin

Illustrationen aus dem Buch © Isabelle Looser

Beitragsbild © Sandra Kottonau

Gabrielle Alioth «But you don’t really care for music, do you? – Szenen zu Leonard Cohen»

It’s time that we began to laugh and cry and cry and laugh

Ich bin dreizehn Jahre alt, meine ältere Schwester liest Salut les Copains und hört Jacques Brel. Wir haben die Maiunruhen, den Prager Frühling und den Vietnamkrieg am Fernsehen gesehen. An diesem Morgen stehe ich an der Haltestelle und warte auf den Bus, mit dem ich in die Stadt zur Schule fahren werde. Das rote Beret trage ich nicht mehr, es verrutscht auf meinem glatten braunen Haar. Dolly hat blondes gewelltes Haar, und ich bewundere sie. Sie kennt sich aus, auch mit Männern. An diesem Morgen singt sie den Refrain eines englischen Liedes. Ich verstehe fast alles, obwohl ich in der Schule nicht Englisch, sondern Altgriechisch lerne, und summe mit. Bis sie inne hält: „Du weißt natürlich, dass es laugh heißt, lachen und nicht lieben?“
„Natürlich“, lüge ich.

Many loved before us, I know that we are not new

Ich bin fünfzehn Jahre alt, und meine ältere Schwester hat mir ihr Moped geliehen. Es ist Samstagabend, und ich fahre an das Sommerfest auf dem Hügel am Stadtrand. Es dauert nicht lange, bis ich Urs finde. Er hat blaue Augen und gewelltes Haar. Er ist auf dem Weg zu einem Konzert und überrascht, als ich frage, ob ich mitkommen dürfe. Das Konzert findet in einem Gemeindesaal statt. Die erste Band spielt schon, als wir ankommen, und es ist dunkel, aber ich sehe Dolly in einer Ecke in den Armen ihres Freundes. Wir hocken uns auf den Boden zwischen die anderen. Urs küsst mich. Ich überlege, was er mit seiner Zunge in meinem Mund sucht, aber ich weiß es nicht.

I will help you if I must, I will kill you if I can

Ich bin siebzehn Jahre alt, und meine ältere Schwester wohnt nicht mehr zu Hause. Es ist Herbst, und ich fühle mich gut, aber ich kann es nicht länger verbergen. Ich muss etwas tun. Es macht überhaupt nicht weh, und als in der Nacht das Wasser bricht, hänge ich das nasse Leintuch über den Stuhl und lege mich wieder schlafen. Ich schlafe so gut in diesem Jahr. Am übernächsten Morgen bestellt meine Mutter ein Taxi. Ich schreie während der Fahrt und im Treppenhaus vor der Arztpraxis. Ich weiß, dass es Frauen gibt, die ihre Kinder allein im Urwald gebären. Eine Woche später gehe ich wieder in die Schule.

Just win me or lose me

Ich bin neunzehn Jahre alt, meine ältere Schwester ist nach Salzburg gezogen. Richard hat blaue Augen und blondes gewelltes Haar. Ich öffne den Mund, als er mich küsst. Richard ist aus gutem Haus und kennt sich aus. Ich erzähle ihm von dem Kind, aber er weiß, was er will. Nach dem Studium heiraten wir.

Waiting for the miracle to come

Es ist Sonntagnachmittag, und wir spazieren den Rhein entlang. Richard spricht über die Arbeit an seiner Dissertation. Ich denke an die Servietten, die ich noch bügeln muss, und die Kurzgeschichte über die toten Katzen, die ich gern schreiben würde. Wir setzen uns auf eine Bank. Richard erklärt mir, wer von seinen Verwandten in den Patrizierhäusern am gegenüberliegenden Ufer wohnt, und ich weiß, dass ich das nicht ein Leben lang aushalten werde.

And is this what you wanted, to live in a house that is haunted, by the ghost of you and me

Ich bin neunundzwanzig Jahre alt, und wir haben ein Haus in Irland gekauft. Es hat keine Heizung, kein Bad, die Fenster sind zerbrochen, aber es liegt am Hang eines Tales durch den ein Bach fließt. An einem Morgen im ersten Winter stehe ich am Ufer, als die Sonne aufgeht, und sehe den Tau in den Spinnweben zwischen den Schilfhalmen glitzern. Ich weiß, dass ich so lange hier bleiben werde, wie ich kann.

Give me back the Berlin wall

Im Sommer 1987 fahren wir zum ersten Mal nach Berlin. Die Grenzposten sehen so aus wie in Irland, nur dass die Soldaten ihre Gesichter nicht mit Tarnfarbe beschmiert haben. Während Richard Zeitungsredaktionen besucht, fahre ich mit der U-Bahn in den Osten und kaufe günstige Buchausgaben von Goethe, Fontane, Heinrich Mann. Unter den Linden muss ich an das Lied von Hildegard Knef denken.

And no one knows why the wine is flowing

Wir haben uns in dem Haus über dem Tal eingerichtet und mehr Land gekauft, nun gehört uns auch der Bach. Ich habe meinen ersten Roman veröffentlicht und beschlossen, weiterzuschreiben anstatt Kinder zu haben. Richard ist erfolgreich als Journalist; wenn es nötig ist, helfe ich ihm. Manchmal gehe ich gegen Abend an den Bach hinunter und schaue dem Wasser zu. In den kleinen Buchten am Ufer dreht es sich in Wirbeln. Das Tal ist ein Teil von mir, aber ich weiß es noch nicht.

Everybody knows that the war is over

Am 31. August 1994 gehe ich wie jeden Morgen mit den Hunden am Strand spazieren. Am Abend zuvor hat die IRA eine unbefristete Waffenruhe erklärt. Es wird noch vier Jahre dauern, bis das Karfreitagsabkommen unterzeichnet wird. Der Kormoran, der an diesem Morgen in der Mündung des Flusses sitzt, hat seine Flügel zum Trocknen ausgebreitet. Er sieht aus wie ein Wappentier.

Dance me to the end of love

Am Montagabend fahren wir in die Stadt für die Tanzstunden. Es ist kalt in dem großen Saal, wir sind allein mit der Lehrerin, und sie muss uns die Schritte immer wieder zeigen. Richard wird wütend, wenn er Fehler macht. Wir wissen beide, dass wir den Tango niemals lernen werden. Ich würde gern Rumba tanzen können. Es heißt, Rumba sei der Tanz der Liebe.

That’s how the light gets in

Ich arbeite an meinem vierten Roman. Es ist der hermetischste, den ich je schreiben werde, und ich weiß, dass ich am Ende eines Weges bin. Für drei Monate lebe ich in Santa Monica. Die Jacarandas blühen. Gegen Abend spaziere ich manchmal zum Meer hinunter, um den Sonnenuntergang zu sehen.

If you want a lover

Ich bin dreiundvierzig Jahre alt, als ich Dich wieder treffe. Ich weiß sofort, dass ich Dich liebe. Du sagst, es ist genauso wie damals. Ich bin glücklich, ich sehe es, als ich in den Spiegel schaue. Ich nehme mir vor, die zweite Chance nicht zu vertun.

There ain’t no cure

In unserer ersten Nacht klingelt Dein Telefon. Ein Notfall, Du musst ins Krankenhaus zurück. Vom Fenster des dunklen Zimmers aus sehe ich, wie Du auf dem Hotelparkplatz ins Auto steigst und den Motor startest. Bevor Du los fährst, blendest Du den Schweinwerfer für einen Augenblick auf. Die Zärtlichkeit des Lichts schnürt mir die Kehle zu.

It don’t matter how you worship as long as you’re down on your knees

Wir sehen uns heimlich, und oft muss ich auf Dich warten. Aber es ist besser, als nicht zu warten, und wenn Du da bist, ist es nicht mehr wichtig. Es fällt mir leicht, ein Doppelleben zu führen, und manchmal macht es auch Spaß. Ich schreibe über die Liebe.

The odds are there to beat

An einem Abendessen nach einer Lesung in Dhaka liest mir mein Tischnachbar aus der Hand. „There was an accident in your life“, sagt er. Ich weiß, wovon er spricht. „And there is another one to come.“ Die Gespräche am Tisch verstummen. Als ich am Tag darauf in einer Maschine der Bangla Airlines nach Kalkutta zurückfliege, überlege ich, ob ein Flugzeugabsturz ein accident ist. Aber natürlich stünde der nicht in meiner Hand.

If it be your will

Nach zehn Jahren erfährt Richard, dass ich ihn betrüge. Er sagt, er habe immer gewusst, dass ich eine Lügnerin sei. Der Scheidungstermin ist Ende Dezember. Die Verhandlung dauert nur ein paar Minuten, dann wünscht die Richterin uns Glück. Ich sehe Richard in seinem Regenmantel die Straße hinuntergehen und denke, dass er Dir dankbar sein sollte.

And thanks, for the trouble you took from her eyes, I thought it was there for good so I never tried

Ich gewöhne mich an das Alleinleben; an den Verlust des Tales werde ich mich nie gewöhnen. Ich richte mich in einem kleinen Haus auf einem Hügel ein, und jeden Morgen gehe ich mit dem Hund am Strand spazieren. Ich treffe Dich alle paar Wochen für zwei, drei Nächte, meist in einer fremden Stadt. Es ist nicht wichtig wo.

Everything depends upon, how near you sleep to me

Ich bin dreiundsechzig Jahre alt, Leonard Cohen ist vor zwei Jahren gestorben, meine Schwester lebt immer noch in Salzburg. Ich dachte stets, dass ich lieber ein interessantes als ein glückliches Leben hätte; es ist so schwer, über Glück zu schreiben. Heute scheint mir, dass wir unsere Möglichkeiten, über unser Leben zu entscheiden, maßlos überschätzen. Das Meiste passiert einfach – Liebe, Tod – und wir wissen nicht warum.

The story’s told, with facts and lies.

Gabrielle Alioth, geboren 1955 in Basel, war als Konjunkturforscherin und Übersetzerin tätig, bevor sie sich dem Schreiben zuwandte. 1990 publizierte sie ihren ersten, preisgekrönten Roman «Der Narr». Es folgten zahlreiche weitere Romane, Kurzgeschichten, Essays sowie mehrere Reisebücher und Theaterstücke. Daneben ist sie journalistisch tätig und unterrichtet an der Hochschule Luzern. Seit 1984 lebt Gabrielle Alioth in Irland. Ihr neuster Roman «Gallus, der Fremde» erschien bei Lenos. Im Waldgut Verlag erscheint im März erstmals ein Gedichtband «Der Mantel der Dichterin».

Rezension von «Gallus, der Fremde» auf literaturblatt.ch

Webseite der Autorin

Gabrielle Alioth «Gallus, der Fremde», Lenos

Ich heisse Gallus, weil ich vor 56 Jahren in der Stadt St. Gallen zur Welt kam. In meiner Geburtsstadt ist Gallus kein ungewöhnlicher Name. Je weiter man sich aber von St. Gallen entfernt und dabei vielleicht sogar über die Grenzen in die Nachbarländer, kann es passieren, dass man der Ernsthaftigkeit meines Namens zu misstrauen beginnt. Dabei gab vor 1400 Jahren ein von Irland kommender Mönch mit diesem römischen Namen der Buchstadt St. Gallen ihren Namen.

In der Gallus-Stadt aufgewachsen und zu Schule gegangen bin ich durchsetzt von Legenden, die sich um meinen Namensgeber ranken. Der Mann, der um 600 n. Chr. im Wald an einem Bach, unweit des Bodensees eine Klause gründete, habe nur mit Hilfe eines Bären in der unwirtlichen Umgebung überlebt (der Bär im Wappen der Stadt St. Gallen). Er sei vielleicht sogar adeliger Herkunft gewesen und man habe ihn krank auf dem Weg nach Rom zurückgelassen.

Gabrielle Alioth, die sich nicht erst mit diesem Roman historischen Stoffen annäherte, gelingt von der ersten Seite weg, was ich vor der Lektüre kaum zu hoffen wagte. Sie verfällt nicht der Versuchung, dort weiter zu erzählen, wo die Legenden enden. Sie schmückt nicht aus, was in meinen Kindheitserinnerungen an Halbwahrheiten und «Übermalungen» hängengeblieben ist. In der Kirche St. Martin in St. Gallen, jener Kirche, in der ich zur Erstkommunion ging und gefirmt wurde, in der ich zwischen Vater und Mutter nicht zu weit vorne, aber auch nicht zu weit hinten jeden Sonntag zur Messe ging, prangt an der rechten Seite ein übergrosses Mosaik meines Namensvetters. Ein alter, kräftiger Mann mit stechendem Blick mit einem jungen Bären zu seinen Füssen, der zu ihm aufschaut.

Gallus war damals mit einer Gruppe Mönche vom irischen Bangor auf dem Weg in den heidnischen Süden. Columbanus, ein charismatischer Führer leitete zwölf Brüder auf eine Reise, bei der es kein Zurück geben konnte. Eine Reise in eine Fremde, die so unwirtlich und unbekannt erscheinen musste wie heute ein fremder Planet. Eine Reise, die permanente Lebensgefahr bedeutete, die an sich Martyrium genug war, auf der der Tod in vielerlei Gestalt lauerte und Misstrauen uns Feindschaft nicht nur von aussen drohte, sondern mit Sicherheit ein Teil des Gepäcks war.

Gabrielle Alioth, die viele Jahre in Irland lebte und wohl immer wieder mit der Geschichte dieses Mannes aus dem irischen Bangor konfrontiert wurde, dessen römisch klingender Name irgendwie nicht zu seiner scheinbaren Herkunft passt, hat nicht einfach ein mögliches Abenteuer nacherzählt, die Legende eines «Heiligen» noch einmal bis zur Unkenntlichkeit aufgeblasen, was in der Vergangenheit immer wieder passierte, sondern Fragen gestellt, einem Leben, einem Entscheid, eine Reise ins vollkommen Ungewisse nachgefühlt und nachempfunden. Die Autorin erzählt auf mehreren Ebenen; Als unmittelbare Begleiterin auf der Reise bis an den Ort, an dem er nach der Legende krank geworden hängen blieb. Als Frau, die den alt gewordenen Man zwanzig Jahre später im Kreise seiner neuen Gefährten in der Siedlung unweit des Bodensees besucht und erfahren will, was den Mann damals von seinen Begleitern unumkehrbar Abschied nehmen liess und von der der Frau in der Neuzeit, die den Weg einmal weg aus der Schweiz nach Irland machte und Jahre später, in einer ganz anderen Zeit als Gallus, wieder zurück.

Gabrielle Alioth verknüpft die drei Erzählebenen kunstvoll, spürt nach und zeichnet mit wagen Strichen. Das Leben ist eine Reise. Gallus machte sich damals mit seinen Gefährten um Columbanus auf eine Reise ins Ungewisse, eine Reise an die Grenzen des Möglichen, an den Rand des sicheren Lebens, weg von aller Geborgenheit, weg von aller Gewissheit. Gabrielle Alioth zeichnet weniger ein Leben nach, als das, was aus den Konsequenzen einer Entscheidung entsteht. In «Gallus, der Fremde» bleibt Gallus fremd. Und das ist gut so, denn das wenige, dass aus gesicherten Quellen überliefert wäre, reicht nicht für eine Nacherzählung seines Lebens. Aber der Mann von der grossen Insel im Norden hat etwas mitgebracht, etwas bewirkt. Geblieben ist eine Stadt, die seinen Namen trägt, ein weltbekanntes Kloster – und ein rätselhafter Name.

«Gallus, der Fremde» nimmt einem mit auf eine Reise ins Unbekannte, im Wissen darum, dass man nie ankommt.

Ein Interview mit der Schriftstellerin:

Sie wanderten einst aus nach Irland, ins Land Ihrer Sehnsüchte. Gallus wanderte 1400 Jahre zuvor auch aus, vielleicht zuerst nach Irland, dann mit Columbanus und seinen Gefährten auf den europäischen Kontinent. Ein Abenteuer ohne Rückkehr. Wohl kaum eine Auswanderung ins Land der Sehnsüchte. Wie weit ist die Figur Gallus zu einem Spiegel geworden?

Ich denke, man darf Gallus und Columbanus neben allen religiösen Motiven, der Peregrination etc., auch eine gewisse Abenteuerlust unterstellen, und es gibt ja auch Historiker, die (etwas zynisch) meinen, die irischen Mönche hätten Irland vor allem deshalb verlassen, weil es ihnen in Irland zu langweilig war. D.h. ich denke schon, dass sie auch ihren „Sehnsüchten“ folgten; und so wie Gallus das Land, in das er auswanderte nicht kannte, habe auch ich Irland nicht gekannt, als ich beschloss, dorthin zu übersiedeln. 

Grundsätzlich denke ich, dass Romanfiguren stets Aspekte des Autors/der Autorin spiegeln. Schreibt man über die Gegenwart, wird oft automatisch unterstellt, man/frau schreibe über sich selbst. In sog. historischen Romanen kann man sich als Autorin besser „verstecken“, auf jeden Fall hat mich noch nie jemand gefragt: Wie war’s denn im Kloster? Oder: Haben Sie immer noch ein Verhältnis mit Otto von Schwaben?

Was mich an ihrem Roman beeindruckt ist die Tatsache, dass sie nicht noch weitere Schlaufen um die Legenden des Stadtgründers ziehen. Sie halten sich an die wenigen Fakten und schmücken viel mehr die Umgebung, das Umfeld des Protagonisten als seine Heiligenschein. Brauchte es Überwindung oder war es von Beginn weg Absicht?

Ich finde es stets interessant und beim Schreiben natürlich auch ganz unterhaltsam, Legenden (oder andere vorgegebenen Vorstellungen) zu entlarven bzw. nach Gründen für Legendenbildung zu suchen und deren Entstehungsprozess nachzuzeichnen. Es ist Teil des Perspektivenwechsels, das in einem Roman erlaubt, möglich und auch spannend ist. 

Zudem wird Gallus bereits in den Viten als recht widerspenstiger Heiliger dargestellt. Um Gegensatz zu Columba ging es ihm wohl nicht so sehr um seinen eigenen Ruhm und Namen, sondern viel mehr darum, sein Leben so zu führen, wie er es für richtig befand. 

 Sie fügen in ihren Roman starke Frauenfiguren ein. Zum Beispiel die Frau, die sich 20 Jahre nach Gallus Ankunft im Steinachtobel hartnäckig an die Versen der Mönche heftet, um mehr vom Leben des Siedlungsgründers zu erfahren. Oder ihre Stimme als Erzählerin, als Forscherin. Sieht der weibliche Blick auf eine Zeit, die so patriarchisch geprägt ist, anders?

Ich weiss nicht, ob jene Zeit tatsächlich so „patriarchalisch geprägt“ war. Columba und Gallus kamen aus Irland, in dem zu jener Zeit die Brehon Laws den Frauen eine Gleichberechtigung einräumte, die wohl keltische Wurzeln hatte. Und auch im Burgund war z.B. Brunichilde weit mächtiger und wichtiger als ihre Grosssohn Theuderich.

Ich weiss auch nicht, was „der weibliche Blick“ ist? Ich denke, wir schreiben aus der Summe all unserer Erfahrungen, d.h. alles was wir erleben und erfahren fliesst in unserer Schreiben ein. Das Geschlecht, das im übrigen bekanntlich sehr unterschiedlich erlebt werden kann, ist somit nur einer von vielen Faktoren, die unsere Sicht formen, und ich würde meine eigene Sicht lieber nicht auf meine Weiblichkeit reduzieren lassen.    

„Gallus, der Fremde“ ist bei weitem nicht der erste historische Stoff, dem sie sich literarisch annähern. Wo lag die Motivation, dieses Buch zu schreiben? Worin liegt der Reiz, sich immer wieder auf einen neuen historischen Horizont einzustellen?

Die Historie gibt Fakten vor, eine Art Skelett. Die Herausforderung beim Schreiben eines Romanes mit historischem Hintergrund ist es, die Lücken zwischen diesen Fakten mit einer glaubwürdigen Fiktion zu füllen. Gleichzeitig ist dies  auch das Privileg der Romanschreiberin: Dort, wo der Historiker schwiegen muss, weil ihm die Fakten fehlen, hat sie die Freiheit, über das zu spekulieren, was gewesen sein könnte.

Ein weiterer Reiz ist sicher die unter 1) genannte Möglichkeit, sich als Autorin in der Historie zu verstecken.

Und konkret zu Gallus: Diese sehr frühe Zeit hat den Vorteil, dass wir nur wenige Fakten haben, d.h. wir wissen bald einmal, was man weiss und was man nicht weiss. D.h. das Ausmass der Spekulation ist breiter als in anderen Epochen.

Grundsätzlich aber, denke ich, sind es stets einzelne Schicksale, bzw. Fragen, die diese Schicksale aufwerfen, die mich (unabhängig von der Epoche) gepackt und fasziniert haben. Bei Gallus war es die Frage nach dem, was ihn mit Columbanus verband. Was hält diese beiden willensstarken, eigensinnigen Männer über 20 Jahre zusammen, und warum trennen sie sich dann doch ? Was ist in Bregenz zu Ende gegangen? Was hat Gallus die Freiheit gegeben, sich gegen Columbanus aufzulegen? Was hat ihm die Kraft gegeben, Columbanus› Strafe und die Trennung zu ertragen?  

Ist „Gallus der Fremde“ ein Fremder geblieben?

Sicher ist, dass er sich nicht vereinnahmen liess. Er weigerte sich, Bischof zu werden, beharrte darauf, in seiner „Einsiedelei“ (die – so Cornel Dora –  ja eigentlich eine Mehrsiedelei ist) zu bleiben.

Zudem denke ich aufgrund meiner eigenen Erfahrungen – und ich lebe nun seit 34 Jahren in Irland, also länger als ich in der Schweiz gelebt habe –,  dass Exilierte, Emigranten und Migranten jenseits aller Integrationswünsche und -bestrebungen und unabhängig davon, wie «zuhause“ sie sich an einem Ort fühlen, fremd sind und fremd bleiben und dass dies ein ehrlicherer Zustand ist, als eine oberflächliche oder künstlich geschaffene Zugehörigkeit. Und es ist auch ein durchaus erstrebenswerter Zustand. Er hat Gallus erlaubt, im Steinachtal zum dem zu werden, was er war, u.a. dem Namensgeber für Kloster, Stadt und Kanton. Denn es war Gallus› Vergangenheit, der Weg, den er zurückgelegt hatte, sein Fremdsein, das ihn speziell machte. Wäre er aus Arbon oder Steinach gekommen, hätte sich niemand um ihn gekümmert. Und das Fremdsein und -bleiben hat mir erlaubt, über ihn zu schreiben, weil ich selbst weder hier noch da hin gehöre.

Gabrielle Alioth, geboren 1955 in Basel, war als Konjunkturforscherin und Übersetzerin tätig, bevor sie sich dem Schreiben zuwandte. 1990 publizierte sie ihren ersten, preisgekrönten Roman «Der Narr». Es folgten zahlreiche weitere Romane, Kurzgeschichten, Essays sowie mehrere Reisebücher und Theaterstücke. Daneben ist sie journalistisch tätig und unterrichtet an der Hochschule Luzern. Seit 1984 lebt Gabrielle Alioth in Irland.

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Beitragsbild © Sandra Kottonau