Willi Achten «Die wir liebten», Piper, Gastbeitrag von Frank Keil

Willi Achten gibt den einstigen Heimkindern der Bundesrepublik Deutschland mit seinem wuchtigen Roman „Die wir liebten“ eine literarische Stimme. 

Frank Keil

Im Gnadenhof
Gastbeitrag von Frank Keil

Vorab zur Einleitung und zum besseren Verständnis: Was für die Schweiz die „Verding-Kinder“ sind, das sind für die Bundesrepublik die „Heimkinder“. Kinder und Jugendliche, die im Nachkriegsdeutschland ihrer Freiheit beraubt wurden; die in meist kirchlichen Heimen beider Konfessionen, aber auch in kommunalen Heimen untergebracht wurden. Die dort arbeiten mussten, deren Schulpflicht zuweilen ausgesetzt war und denen Kontaktmöglichkeiten zu Eltern, Verwandten oder Freunden untersagt wurden – ohne das staatliche Stellen ihrer Pflicht der Kontrolle nachgingen; ohne dass es irgendeine unabhängige Instanz gab, an die sich die Kinder und Jugendlichen hätten wenden können. Bis weit in die 1970er-Jahre ging das, als sich zugleich die bundesdeutsche Gesellschaft unter dem Einfluss der so genannten Studentenrevolte immer mehr liberalisierte. Salopp gesagt: Während in der Öffentlichkeit über antiautoritäre Erziehung debattiert wurde, wurde in den Heimen noch handfest und unhinterfragt geprügelt.
Erst als ab etwa Anfang bis Mitte der 1970er-Jahre eine neue Generation von Erziehern und Erzieherinnen in der staatlichen wie privaten Jugendhilfe auftauchte, änderten sich die Heime; viele wurden nach und nach geschlossen; neue Lebens- und Wohnformen für Kinder und Jugendliche aus schwierigen Familiensituationen entwickelten sich.

Und dennoch dauerte es weitere 30 Jahre, bis die Geschichte der repressiven, jahrzehntelang gültigen Heimerziehung einer breiteren Öffentlichkeit bekannt wurde und besonders die längst erwachsenen und zugleich tief traumatisierten einstigen Heimkinder gehört und dann befragt wurden. Es war interessanterweise ein Buch, das diesen Prozess einleitete: „Schläge im Namen des Herrn“ des SPIEGEL-Journalisten Peter Wensierski, 2006 (!) erschien es.

Seitdem wurde nach anfänglich erheblichen Widerständen der beiden Kirchen verschiedene Entschädigungsfonds für die einstigen Heimzöglinge aufgelegt. Seitdem gibt es auch eine tiefgehende historische Forschung – aktuell wird etwa untersucht, in wieweit an den Heimkindern nicht zugelassene Medikamente erprobt wurden und in wie weit sie wichtigen Unternehmen zuarbeiten mussten, ohne je dafür entlohnt worden zu sein. Es gibt zudem – wie bei den Verding-Kindern auch – eine Reihe von Erfahrungsberichten ehemaliger Heimkinder; Lebens- und Überlebensberichte, autobiografisch grundiert, oft in kleinen Verlagen erschienen oder in Selbstverlagen veröffentlicht.
Was aber bisher weitgehend fehlt, ist eine literarische Aufarbeitung – vergleichbar mit dem so genannten Internatsroman. Nun hat Willi Achten mit seinem Roman „Die wir liebten“ erste, wichtige Pflöcke eingeschlagen.

Und der schickt Edgar und Roman, die zwei Brüder, die Söhne des Bäckers, in die apokalyptische Heim-Welt. Die beiden Jungen kennen das Haus, vor dem sie nun stehen, zwangsweise hierher gebracht. Das Haus, das ein Heim beherbergt. Sie standen schon öfter davor; letzten Weihnachten erst, als sie den übriggebliebenen Kuchen ablieferten, eine Spende; an der Pforte hatten sie ihn abgegeben, weiter waren sie wie auch die Jahre zuvor nicht gekommen, und es war ihnen recht. Hatten dafür die Zigarre entgegengenommen, vom Heimleiter, auch wenn ihr Vater, der Bäcker, der den Kuchen spendete, der sich nicht mehr verkaufen liess, gar nicht rauchte. Aber das erzählten sie nicht, so wie sie auch nicht fragten, was das für ein Heim sei und wie es einem dort ergehe und wie man in dieses Heim komme, das „Gnadenhof“ heisst; besser nicht fragen, weil Fragen Wissen nach sich ziehen kann. Und dann – womöglich – Handeln.

Da sind wir sind Seite 253 angekommen. Alles, was wir zuvor gelesen haben, war notwendiges Vorspiel, war unverzichtbares Intro, einerseits. Ist die Vorgeschichte einer nun offen ausbrechenden Katastrophe, die notwendig zu erzählen ist, um zu verstehen, was auf den nun folgenden, etwas mehr als 100 Seiten geschieht. 

Willi Achten «Die wir lieben», Piper, 2020, 384 Seiten, CHF 32.90, ISBN 978-3-492-05994-7

Denn sie sind anfangs eine ganz normale Familie. Im Grossen und Ganzen jedenfalls, in einem kleinen Ort, im Rheinland. Vater, Mutter, zwei Kinder. Eine Grossmutter noch dazu, ein Vetter der Grossmutter, der in der väterlichen Backstube arbeitet und hilft, dann noch die Grosstante Mia; die etwas anders ist, sehr eigen sozusagen, die für ihr Leben gern strickt, alles einstrickt, wirklich alles, sitzend unter einer Marienfigur. Die Mutter hat eine Art Kiosk, einen Lottoladen, auch sie arbeitet viel, und sie arbeitet gern. Es ist das Jahr 1971, als wir dazu kommen.

Ob es zwischen den Eltern die grosse Liebe ist, wohl eher nicht. Vielleicht war sie es mal. Vielleicht haben sich die beiden durchaus mehr erhofft, voneinander. Nun sind sie eine ganz normale, eine klassische Familie, in einer Zeit – ich erinnere das, es ist eine prägende Erinnerung –, als in den Nachrichten die Zahl der unehelichen Kinder vermeldet wurde, die stieg und stieg. Und entsprechend kommt alles ins Rutschen, als der Vater auf dem Dorffest mit der Tierärztin tanzt, zu Procul Harum, zu A Whiter Shade of Pale. Und sich dann mit ihr trifft. Und dann das erste Mal nachts nicht nach Hause kommt. Sondern woanders ist, wo er bleibt. Nicht gleich, aber bald.

Die beiden Jungs ahnen, was nun passieren wird. Auch wenn sie das Gegenteil hoffen. Und der Vater ist ja morgens da, steht in der Backstube; wann immer es möglich ist, helfen ihm die Söhne, springen ein, vielleicht kann das das Schlimmste verhindern. Und noch ist der Vater ja da, noch hören sie mit ihm gemeinsam Radio, wenn Fussball ist, bis die Ergebnisse feststehen. Über das, was geschieht, mit ihnen, im Einzelnen wie mit allen zusammen, wird nicht gesprochen. Es wird gehofft. Und das ist nicht genug; es ist bei weitem nicht genug.

Denn sie alle sind nicht allein auf der Welt. Es gibt den Dorfpolizisten, der schon vorher Dorfpolizist war und dem entsprechend eine gnadenlose Brutalität zu eigen ist. Und es gibt die Fürsorgerin, die die zerbrechende Familie nicht aus ihrem Blick lässt und die nur darauf wartet, dass sie einschreiten kann; aus eigenem Antrieb heraus wie von Amts wegen. Aber erst mal nimmt sie sich Mia vor, die zurückgebliebene Großtante, das schwächste Glied in einer sich auflösenden Kette, um die sich der Staat doch zu kümmern hat. Und dann ist es soweit und Edgar und Roman können nicht mehr entkommen.

Willi Achten erzählt das so kraftvoll wie schonungslos. Er verfügt über einen realitätssicheren und wahrhaft packenden Erzählstil, dass man zuweilen kaum weiterlesen mag, weil man das fürchtet, was auf den nächsten Seiten passieren wird und das passiert dann auch. Er holt uns in eine Welt zurück, die historisch gesehen, so lange her nicht ist und auf die oft genug nur verklärend geschaut wird, weil es damals besonders schaurige Popmusik gab und die regierenden Männer unförmige, schwarze und schwere Schuhe trugen und sich das dünne Haar mit Birkenwasser tränkten, ach, ist das lange her, so gefühlt, und was war das seltsam.
Was Willi Achten uns mit seiner eigentlich ganz klassischen Familiengeschichte dagegen nahe bringt, ist ein zuweilen fast körperlich zu fassendes Erschrecken über die eingangs kurz skizzierte Erziehungswelt der 1970er-Jahre; von prügelnden Lehrern bis nahezu allmächtigen Fürsorgerinnen, flankiert von oft hilflosen Erwachsenen, die gerade anfingen an der sich vorsichtig ausbreitenden Liberalität bei der Gestaltung von Lebensentwürfen zu erproben.

Und so ist der zweite Teil des Romans nichts geringeres als eine geradezu apokalyptische Reise in die Abgründe der westdeutschen Heimerziehung, die fast lückenlos und nahezu ungebremst, weil auch personell gestützt auf die Ideale und Abläufe der Nazizeit aufbaute und die sich jahrzehntelang ungeprüft und unhinterfragt austoben konnte, auch weil sie Gesetz war und niemand in die Speichen des sich drehenden Rades griff. Und die so spät in Frage gestellt wurde und die noch später endetet, nach der so genannten Heimkampagne kritischer Pädagogikstudenten, bei der nicht zuletzt eine gewisse Ulrike Meinhof eine nicht unwichtige Rolle spielte.
Dieser Zeit und besonders ihren Opfern hat Willi Achten mit seinem Roman ein überaus lesenswertes Dokument überlassen.

Willi Achten wuchs in einem Dorf am Nieder­rhein auf. Er studierte in Bonn und Köln. Seit den frühen 1990er-Jahren ist er als Schriftsteller tätig. Er ist verheiratet und hat zwei Söhne. Willi Achten lebt im niederländischen Vaals bei Aachen.

Webseite des Autors

Beitragsfoto © Heike Lachmann / Piper Verlag

Hansjörg Schneider «Hunkeler in der Wildnis», Diogenes

Hansjörg Schneider legt mit „Hunkeler in der Wildnis“ seinen zehnten Hunkeler-Krimi vor. Der ist auch diesmal zum Niederknien. Weil alles bleibt, wie es ist. Und sich doch manches ändert.

Neues aus der alten Welt
Gastbeitrag von Frank Keil

Frank Keil

Sommer ists. So ein richtiger Sommer, warm, dann heiss, man kann nachts kaum schlafen. Was man morgens schon ahnt, wenn es noch kühl ist, dass es nicht so bleibt. Und die Wärme und die Hitze, sie werden es zum Vorschein bringen, was die Menschen freut, wenn sie etwas freut und was sie plagt, wenn sie etwas plagt.

Ein Morgen im Juni ist es, als wir lesend dazukommen. Hunkeler trinkt einen Kaffee. Er sitzt in keinem mondänen Café, an denen es in der Basler Innenstadt nicht mangelt, er sitzt vor einem Kiosk, am Eingang zum Kannenfeldpark, es gibt Brötchen mit Ei und Büchsenspargel, wenn einem danach ist. Hunkeler jedenfalls ist in diesem Moment zufrieden, die Welt ist in Ordnung für ihn, er hat in seiner Stadtwohnung übernachtet, nicht drüben in seinem Haus, im Elsass, wo es unbedingt kühler und schattiger wäre, aber wo er nicht unter Leuten sein könnte, die ihn trotzdem nicht stören, dass sie da sind.

Und dann – ein Toter. Im Park liegt er, zu dem der Kiosk gehört, von der Johanneskirche her sind die Glockenschläge zu hören. Da liegt einer, leblos, erschlagen, wie sich herausstellen wird und vorbei ist es mit der Ruhe und der Zufriedenheit, die eben noch Hunkeler mit gütiger Selbstverständlichkeit umschloss. Denn Peter Hunkeler, Kommissär, also: ehemaliger Kommissär, der froh ist, dass es vorbei ist, dass er im Kommissariat sass, unter Kollegen, die oft kaum zu ertragen waren und der so fest sich entschlossen hat, das Mörderfindungsgewerbe für immer ruhen zu lassen, wird sich einmischen. Das geht gar nicht anders, auch wenn er es anders will. 

Denn es ist seine Welt, die erneut aus den Fugen geraten ist, aus dem Gleichgewicht, das kann einer wie Hunkeler nicht stehen lassen; da kann er sich noch so dagegen wehren und beteuern, dass er diesmal sich zurückhalten will, dass er nicht einmal etwas wissen will, über das, was passiert ist, unmöglich ist das. Und er stellt seine erste Frage.

Hansjörg Schneider „Hunkeler in der Wildnis“, Diogenes, 2020; 222 Seiten, 22 Euro, CHF 29.90, ISBN 978-3-257-07097-2

82 Jahre alt ist Hansjörg Schneider jetzt, ein angesehener und auch erfolgreicher Schweizer Schriftsteller, was nicht immer zusammenfällt, der uns zum zehnten Mal in seine Hunkeler-Welt mitnimmt, in sein Hunkeler-Basel, in sein Hunkeler-Elsass. Und nicht minder wichtig sind die Wege zwischen beiden Orten, mit dem Auto, auch einmal zu Fuss, eine lange, lange Wanderung ist das, die ihn dennoch erfrischen wird, an der Tramlinie entlang nach Allschwil, zur Landesgrenze im Talgrund, weiter Richtung Folgensbourg, dann durch den Wald, bis es dunkel wird und dann ist; beide Welten sind wichtig, die Stadtwelt, die Landwelt, erzählen sie doch auch von dem tiefen Wunsch, noch einmal loszulegen und dessen Gegenstück, alles sein zu lassen, wie es nun mal ist, aufhören, still sein, einfach dasitzen.

Nur: Hunkeler, der pensionierte Kommissär, kennt den Toten; den Schmidinger, einen Journalisten, einen Kritiker; einen, der nichts anderes konnte, als Verrisse schreiben, selbst wenn ihm das gefiel, was er berufsmäßig zu begutachten hatte, da konnte er sich nicht bremsen, keine Gnade, keine Rücksicht, keine Milde – und losgeschrieben. Und also gibt es viele oder zumindest einige in der Basel-Stadt, die es nicht schade finden, dass er nun tot daliegt, mit eingeschlagenem Schädel, hinter einer Steinmauer in dem Park, in dem der Kiosk ist, wo Hunkeler morgens seinen Kaffee trinkt, wenn er in der Stadt ist.

Und – wie gesagt: Es ist der zehnte Hunkeler-Krimi – wir tauchen zum zehnten Mal in diese Hunkeler-Welt, die uns entsprechend vertraut ist. Streifen durch Basel, eine Karte zum Orientieren findet sich vorne auf der Rückseite vom Titelumschlag, baden diesmal auch im Rhein, lassen uns treiben wie ein Baumstamm sich absichtslos treiben lässt, gehen wieder gut essen, ins Restaurant Birseckerhof an der Heuwaage etwa, das seit jeher hausgemachte Teigwaren anbietet, dazu diesmal einen herben Barbera aus dem Piemont; verachten aber auch den billigen Rotwein nicht, wenn er uns nur freundlich angeboten wird, sitzen wieder mit am Küchentisch, wenn unter Glühbirnenlicht Lebensbeichten folgen, die unser Hunkeler nicht mehr hören will; gemeinsam sind wir alle ein Stück älter und vielleicht auch alt geworden, seit wir den ersten Hunkeler-Krimi aufschlugen, Anfang der 1990er-Jahre war das und diese heute alte Welt fasziniert noch immer. 

Weil uns damals gleich der Hunkeler-Ton überzeugte, diese unglaubliche Ruhe, die aus der Handlung und den Beschreibungen hervorstrahlt, Hansjörg Schneider war nie der Mann der schnellen Schnitte, mit lauter Musik unterlegt, sondern er ist der Mann der langen Einstellungen, der vorsichtigen Kamerafahrten; einer, der sich Zeit nimmt für seine Erzählungen, wenn es sein muss, alle Zeit der Welt.

Was nicht nur geblieben ist, was sich noch mehr verstärkt hat, ist die offensichtliche Dünnhäutigkeit unseres Helden, der eben noch voller Verständnis geduldig zuhört, nun brüllt, unangemessen und hartherzig, der nicht fair ist, sondern ungerecht, auch das, um sich im nächsten Moment genau dafür zu entschuldigen, das muss man können; dazu muss man bereit und fähig sein. Hedwig ist es und kann es, die Frau an seiner Seite, wie man so sagt. Die ihr eigenes Leben führt, damit Platz ist für einen wie Hunkeler.

Tiere sind diesmal wichtig, mehr als sonst schon: Schwalben, Fledermäuse, ein Fuchs, Wildschweine, ein Dachs, ein bissiger Hund, den Hunkeler mag und nicht mag. Sie bevölkern die Welt auf ihre Weise, dass sie in einem anderen Licht erscheint. Dass wir bemerken, wir sind nicht allein, da ist noch etwas anderes, schwer fassbar und greifbar. Uns zugetan und uns abgewandt und manchmal bekommen wir auch eine Ahnung, dass auch in uns eine Wildnis ist, vor der wir uns zu schützen haben und in der wir heimisch werden sollten, auch davon erzählt Hansjörg Schneider auf seine so selbstverständliche und grundruhige Art.

Foto: Philipp Keel / © Diogenes Verlag

Hansjörg Schneider, geboren 1938 in Aarau, arbeitete als Lehrer und als Journalist. Mit seinen Theaterstücken war er einer der meistaufgeführten deutschsprachigen Dramatiker, seine ›Hunkeler‹-Krimis führen regelmässig die Schweizer Bestsellerliste an. 2005 wurde er mit dem Friedrich-Glauser-Preis ausgezeichnet. Er lebt als freier Schriftsteller in Basel.

Rezension von Hansjörg Schneiders «Kind das Aare» auf literaturblatt.ch

Beitragsbild © Sandra Kottonau

Dorthe Nors «Die Sonne hat Gesellschaft», Kein & Aber

Nicht immer hat man Zeit und Lust auf einen seitenstarken Roman. Nicht immer muss es eine verschlungene, sich windende Familiensaga sein, die irgendwo kurz vor dem Ersten Weltkrieg unter sich am Himmel aufbauender Wolken beginnt und sich hochschraubt bis in unsere Gegenwart plus einen Ausblick auf die Zukunft, bevölkert von einem hundertköpfigem Helden-Ensemble, mindestens. Manchmal soll es nur eine kleine Geschichte sein.

«Geschichten wie Blitzeinschläge»
Gastbeitrag von Frank Keil

Zwei Personen treten an und auf, nicht mehr. Na gut – drei. Vielleicht noch hält sich die eine oder andere Figur im Hintergrund, die sich vage einmischt, sozusagen mit Hörensagen. Aber nicht mehr!
Hineingeworfen werden möchte man in eine Szenerie, in der es gleich im ersten Satz um aber auch alles geht. Der den Takt angibt, der erste Satz, der die Richtung zeigt, in die es nun geht, bergab, bergauf, aber meistens bergab, mit Tempo, getragen von einer gewissen Gnadenlosigkeit. Und dann ist alles schon wieder vorbei und fängt doch im eigenen Kopf erst an. Wer das mag, wer das schätzt, wer da aufschreckt im positiven Sinne auf den letzten Satz starrt, ist bei der dänischen Erzählerin Dorthe Nors genau richtig.

Dorthe Nors „Die Sonne hat Gesellschaft“, aus dem Dänischen von Frank Zuber Kein&Aber, 2020; 142 Seiten, 26 CHF, ISBN: 978-3-0369-5823-1.

Ein vor sechs Jahren erschienener Erzählband trägt den Titel „Handkantenschlag“; ein darauffolgender Roman hört auf den Titel „Rechts blinken, links abbiegen“, da weiß man gleich Bescheid. Nun ist just ein nächster Erzählband erschienen: „Die Sonne hat Gesellschaft“. Auch nicht schlecht.
Also: Ein Mann hat es satt, dass er jede, aber auch jede Auseinandersetzung mit seiner Frau verliert, und er flieht in den Wald; fürchterlich gefroren hat er in der Nacht, Tiere brachen durchs Unterholz. Zwei junge Frauen sammeln in einem heruntergekommenen Wohnviertel Spenden für die Krebshilfe, sie haben eine Büchse, mit der man gut rasseln kann, wenn ein wenig Geld sich darinnen versammelt hat, aber dann fragen sie sich plötzlich: Was machen wir hier eigentlich, in einer Gegend, in die wir nicht hineingehören, dabei läuft es nicht schlecht, also mit dem Sammeln läuft es eigentlich ganz gut, nur die Liebe – puh: die Liebe! Ein Mann besucht eine Frau, die vielleicht seine neue Freundin ist oder die es werden wird, wenn es gut wird, mal schauen, eine Nacht haben sie miteinander verbracht, und nun nimmt sie ihn mit zu einem Familienfest, in einem Gasthaus in der Nähe, ein Mittagessen, aber da duldet man ihn gerade mal so. Noch ein anderer Mann steht am Sarkophag von Lord Nelson, dem Einarmigen, der zuletzt auch einäugig war, in der Mitte der Krypta steht der Sarkophag, Erinnerungen an seine abenteuersehnsüchtige Kindheit überschwemmen unseren Mann, an Modellbauschiffe, an ruppige Eishockeyspiele denkt er, seine Frau sitzt draußen auf den Stufen, mit Sonnencreme im Gesicht und schaut gelangweilt in ihr Handy, sie spielt ein Spiel, bei dem man bunte Ballons zerplatzen lassen kann.

14 hochkonzentrierte Geschichten sind so versammelt, 14 Geschichten wie Blitzeinschläge, 14 mal Grundmomente wie Verzweiflung, Einsamkeit, aber auch des Aufbegehrens werden uns auf jeweils wenigen Seiten erzählt, das kann Literatur, das kann sie wirklich, auch das denkt man und denkt an all die Leute, die da sagen: „Bücher? Ich lese keine Bücher mehr, vielleicht mal ein Fachbuch.“. Während man durchaus angestrengt überlegt, ob man jetzt gleich die nächste Geschichte hinterherlesen will, sofort, ohne Pause, oder ob man sie sich aufsparen will, auch weil man ein wenig Angst hat, dass der Zauber und mehr noch die Macht des eben Gelesenen in die Kniee gehen könnte, wenn jetzt gleich wieder der Anfangssatz der nächsten Geschichte zündet und diese die eben Gelesene überlagert.

Dabei hat Dorthe Nors mit Romanen angefangen. Hat zugleich immer in die USA geschielt, sich ausgedacht, dass sie das nicht könne, Kurzgeschichten schreiben, aber dann setzte sie sich in eine Schulklasse von jungen Leuten, die dabei waren noch den letzten Halt zu verlieren und denen man noch eine Chance geben will, eine letzte, eine allerletzte; saß da unter ihnen, schaute hin, hörte zu, schrieb darüber einen kurzen, knappen Text, las ihn den Schülern vor und die waren begeistert, sie fühlten sich gesehen, weil sie sie gesehen hatte.
Und Dorthe Nors schrieb weiter, schrieb weitere Kurzgeschichten, eine Gattung, die es in der klassischen dänischen Literatur eher nicht gibt, sie in einem Rutsch, in einem dieser typischen Ferienhäuser an der jütländischen Westküste, das einst dem dänischen Dichter Knut Sørensen gehört und das nun für Stipendienaufenthalte zur Verfügung steht; zwei Wochen nahm sie sich Zeit, schrieb und schrieb und schrieb, was auch gut war und half: Sie war in dieser Zeit verliebt, schwer verliebt, wie man so sagt, war sich sicher, die Liebe ihres Lebens gefunden zu haben.

„Handkantenschlag“ oder übersetzt: „Karate Chop“ wurde ein Erfolg in den USA, eine Erzählung aus dieser Sammlung druckte der The New Yorker ab, so wurde sie die erste Dänin, von der ein literarischer Text im The New Yorker abgedruckt ist.
Und so ist sie – sozusagen unterbrochen von weiteren Romanen, wobei „Rechts blinken, links abbiegen“ für den Man Booker International Prize nominiert war – beim Sujet der Kurzgeschichte geblieben, was man nur begrüßen kann, und in ihrem eben neuen Erzählband gibt es neben den Geschichten über den Lord-Nelson-Fan und dem Mann im nächtlichen Wald, auch eine Geschichte über eine Schriftstellerin: Eine Schriftstellerin zieht sich zum Schreiben in das ehemalige Sommerhaus eines norwegischen Schriftstellers zurück, mitten im Wald liegt es, aber sie findet keine Ruhe zum Schreiben, eine Liebe ist zerbrochen, unweigerlich, wie soll man da schreiben, aber dann fügen sich die Dinge neu zusammen, Pferde spielen eine Rolle, das Foto von einer nackten Frau an einer Wand, eine Mutter und ihr Sohn und sie kommt ins Schreiben und der erste Satz geht so: „Es ist lange her, aber einmal wohnte ich in einem kleinen Haus in Norwegen.“

Dorthe Nors wurde 1970 in Herning, Dänemark, geboren und studierte Literaturwissenschaft und Kunstgeschichte an der Universität Åarhus. Sie ist die Autorin mehrerer Romane, Kurzgeschichten und Novellen. Bei Kein & Aber erschien 2016 ihr Roman «Rechts blinken, links abbiegen», der für den Man Booker International Prize nominiert wurde. Dorthe Nors lebt an der dänischen Westküste.

Frank Keil, Journalist, lebt und arbeitet in Hamburg und Norddeutschland. Studium der Diplom-Pädagogik. Seit 1995 unterwegs als freier Journalist, Schwerpunkte Kunst und Kultur, Geschichte sowie Bildung und Soziales. Aktuell regelmässige Beiträge für die Taz Nord, Hinz&Kunzt, Nordis, Mare, Jüdische Allgemeine, die Evangelische Wochenzeitung und andere Medien. 1990 Förderpreis für Literatur der Hansestadt Hamburg, 2009 Essaypreis der Akademie für Publizistik.

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Beitragsbild © Petra Kleis