Andreas Schäfer «Das Gartenzimmer», DuMont

Häuser bergen Geschichte und Geschichten. Andreas Schäfer lässt in seinem neuen Roman „Das Gartenzimmer“ zu Beginn des 20. Jahrhunderts ein Haus bauen, das erste Haus eines jungen, aufstrebenden Architekten. Fast hundert Jahre später wird es von einer Maklerin zum Verkauf angeboten. Andreas Schäfer breitet aber nicht einfach die Geschichte eines Hauses aus, sondern das, was Mauern Geschichte und Geschichte schlucken und was von all dem auf Bewohnerinnen und Bewohner einwirken kann.

Der junge, später Weltruhm erlangende Architekt Max Taubert baut 1909 am Rande Berlins ein neoklassizistisches Landhaus für einen Professor und seine Ehefrau. Ein Haus, das ganz anders wirkt als alle anderen Häuser, die in dieser Zeit gebaut werden, nichts vom verspielten Jugendstil. Der Lichteinfall in den Zimmern, die Harmonie in der Halle, dem Mittelpunkt des Hauses, der Eindruck von Aussen, das Haus würde über dem Boden schweben. Max Taubert ist damals noch Angestellter in einem Architektenbüro und dieses Gefühl „Ich baue ein Haus“ wird für den jungen Idealisten ein Rausch. Auch für den Bauherrn, Professor Adam Rosen und seine Ehefrau Elsa ist das Haus mehr als die Hülle eines neuen Kapitels in ihrem Leben. Das Ehepaar leidet unter dem Verlust ihres Sohnes. Max Taubert soll mit seinem jugendlichen Elan etwas von dem zurückgeben, was sie durch den Tod ihres Sohnes verlieren mussten.

In den Neuzigerjahren entdeckt Frieder Lekebusch das schon lange leer stehende Haus, kauft es zusammen mit seiner Frau Hannah und renoviert es aufwändig zurück in den Zustand, als es Jahrzehnte zuvor unter Rosen zu einem Angelpunkt von Kultur und Gesellschaft wurde. Vor allem seine Frau steigert sich regelrecht in das „Kleinod der Vormoderne“, kauft Möbel, die genau passen und macht die Villa zu einem Mekka für Architekturfreaks und Max-Taubert-Fans, dem Architekten, der später in der ganzen Welt eine neue Ära mitgestalten sollte. Das Kommen und Gehen in diesem Haus und ein Brief, den ein Journalist dem Sohn des Hauses übergibt, ein Brief der damaligen Besitzerin Elsa Rosen, vergiften das Leben im Haus aber so sehr, dass auseinanderbricht, was in der perfekten Hülle hätte gedeihen sollen.

Andreas Schäfer «Das Gartenzimmer», DuMont, 2020, 352 Seiten, CHF 29.90, ISBN 978-3-8321-8390-5

Schon vor Beginn des grossen Krieges bekam die Witwe Rosen Besuch von Alfred Rosenberg, einer treibenden Kraft im Naziregime zur Germanisierung besetzter Ostgebiete und der systematischen Vernichtung der jüdischen Bevölkerung. Das Haus am Rande Berlins sollte eine ganz spezielle Rolle erlangen, sollte Hülle werden für einen der Orte, an denen der Beweis geliefert werden soll, dass die arische Rasse allen anderen überlegen ist und die Rechtfertigung liefert, alles unwerte, minderwertige Leben auszulöschen. Und als gegen Ende des Krieges Bomben auch Berlin trafen, richtete Rosenberg im Gartenzimmer der Villa einen ganz speziellen Ort der grausigen Maschinerie des Nationalsozialismus ein.

Romane, die Geschichten von Häusern erzählen, die Häuser zu eigentlichen Protagonisten machten, gibt es einige, denke ich nur schon an „Die Villa“ von Hans Joachim Schädlich. Andreas Schäfer erzählt aber weit mehr als die Geschichte eines Hauses. Was macht die Hülle eines Hauses mit seinen BewohnerInnen? Wirken Geschichten aus der Vergangenheit bis in die Gegenwart? Wieviel Kulisse ist das, was man in Dutzenden von „Schöner-Wohnen-Heftchen“ als Idylle, Ideal und Selbstverwirklichung in Hochglanz präsentiert bekommt? Kann man am Erbe eines Hauses zerbrechen? Kann man ausblenden, was an einem Ort, in einem Zimmer geschah?

„Das Gartenzimmer“ ist raffiniert erzählt, überrascht und zieht mich als Leser in einen unwiderstehlichen Sog. Nicht einfach weil die Geschichte dramaturgisch gekonnt konstruiert ist, sondern weil Andreas Schäfer mich mit seiner Sprachkunst zu bezaubern weiss, weil er mich mit der Lektüre in eigene Reflexionen zwingt, weil sich durch ein perfektes Mass an Abstand und Nähe sein Personal nie entblösst, weil er keine Übermenschen, keine Helden, keine Verlierer, nicht einmal Bösewichte schafft. Das Böse schleicht sich versteckt ein. Wie in all den Grimmmärchen, in denen vom einen Zimmer gewarnt wird, vor dem man sich hüten soll, es je zu öffnen. „Das Gartenhaus“ belehrt nicht, deckt mich nicht zu mit Rechercheverarbeitung. Dieser Roman ist wahrhaft Kunst und alles andere als künstlich!

Hervorragend!

Ein Interview

Als Mieter lebte ich mit meiner Familie immer wieder in Mauern, die Geschichte und Geschichten erzählten. Einmal besichtigten wir gar ein Jugendstilhaus, in dem es nicht einmal möglich gewesen wäre, an den bemalten Wänden Bilder aufzuhängen. Heute leben wir, ins Alter gekommen, in einer Neubauwohnung. In einer Wohnung, die nach nichts ruft, die keine Verantwortung generiert, die uns lässt, die nichts mit uns macht. Beides ist gut. Kann „Schöner wohnen“ zur Manie werden?

Natürlich kann eine übertriebene Gestaltung der eigenen Lebensräume zur Manie werden und – wenn man sein Herz zu stark an die Dinge hängt – schädlich sein oder sogar, wie im Fall des „Gartenzimmers“, auch unheimliche Dimensionen annehmen. Die eigene Wohnung, das eigene Haus ist vielerlei: Erst einmal ein Ort des Schutzes und – Sie sprachen davon – ein Ort der Familie oder einer wie auch immer gearteten Gemeinschaft. Daneben sind Häuser auch Projektionen und Traumorte und Spiegel des realen und eines gewünschten Selbst. Man kann Räume auf eine gute Art einrichten und beleben, genauso aber auf ungute, wenn es vor allem darum geht, dass Gäste die Herkunft (also auch den Preis) bestimmter Möbel erkennen. Dann wird der eigene Lebensraum zur Luft abschnürenden Statusbühne. Hannah, die neue Bewohnerin der Villa Rosen, hat eigentlich Angst vor dem Haus, weil sie keinerlei künstlerisches Gespür hat. Deshalb stürzt sie sich auf die äusseren Aspekte, auf Tauberts Ruhm und den Stolz, in einem bedeutsamen Baudenkmal zu leben. Sie richtet das Haus ein, um es zu zeigen, darüber verliert sie einen lebendigen, unmittelbaren und auch handfest pragmatischen Umgang mit den Räumen, in denen die Familie lebt. 

Im Gartenzimmer passiert Unvorstellbares. Laden wir Mauern nicht auf, weil wir mit der Sehnsucht nach Bedeutung leben? Warum wird das Geburtshaus Adolf Hitlers zur Belastung, die Statue eines Südstaatengenerals zu Provokation? Warum sind sie nicht einfach Relikte aus der Vergangenheit, Überbleibsel?

Natürlich leben wir mit der Sehnsucht nach Bedeutung, ich würde sogar sagen, mit der Notwendigkeit nach Zusammenhängen. Dinge sind erst einmal nur Dinge, aber sie können in unterschiedlichen Kontexten auch etwas Magisches oder Dämonisches erhalten; das hängt (unter anderem) von ihrem Symbolcharakter ab. Die Statue eines Südstaatengenerals ist deshalb noch immer von heikler Bedeutung, weil der Rassismus in der U.S-amerikanischen Gesellschaft nicht überwunden ist, sondern – wir sahen vor ein paar Wochen die schrecklichen Bilder von der Stürmung des Kapitols – noch immer wirkt, im Verborgenen und in immer hemmungsloser präsentierter Sichtbarkeit. Wäre der Rassismus überwunden, wäre die amerikanische Gesellschaft innerlich befriedet und vereint, würde die Statue tatsächlich zu einem Relikt aus der Vergangenheit werden, ihre Bedeutung würde zurücksinken in den Bereich des nur noch historisch Relevanten, nach dem Motto: Seht, was für Probleme wir früher hatten. Vom Kampfding würde es zur Mahnung werden und dann vielleicht irgendwann nahezu völlig bedeutungslos. Auch die Zeit spielt dabei eine Rolle. Dennoch glaube ich, dass es kontaminierte Orte oder auch Gebäude gibt. Man kann die Villa am Wannsee, in dem die Vernichtung der Juden beschlossen wurde, nicht als gewöhnliches Wohnhaus benutzen. Das Unvorstellbare, das an diesem Ort beschlossen wurde, bestimmt zu Recht noch immer unser kollektives Gedächtnis. So etwas verbietet sich einfach, im Moment und sicher noch für sehr viele Generationen. 

Der Architekt Max Taubert hat eine Mission, das Ehepaar Rosen, das die Villa baut, das Ehepaar Lekebusch, dass die Villa in der Gegenwart zu einem Mekka der Architektur macht. Ich habe eine Mission als Literaturvermittler, Sie mit Sicherheit die Ihrige auch. Gieren wir alle nach Bedeutung?

Gier, das klingt mir etwas zu negativ und nach Verurteilung eigener, im Prinzip guter Impulse. Ich denke, jeder kann und (sollte vielleicht sogar) seine Aufgabe finden, etwas, das ihn erfüllt und glücklich macht und das im besten Fall auch andere erfreut oder hilft und dabei – wenn es um Kunst geht – einen Lichtstrahl ins Dunkle lenkt, etwas sichtbar macht, was sonst vielleicht im Verborgenen bleibt (obwohl es da ist). Etwas schöpfen, Erkenntnis und Freude weitergeben – das sind die natürlichsten Vorgänge überhaupt. Selbstverständlich spielen dabei auch nicht ganz so hehre Motive eine Rolle: Ruhm, Erfolg, Reichtum, Eitelkeit, Geltungssucht. Aber zugleich sind die Ströme, in die wir uns begeben, grösser als wir selbst, zumindest grösser als ein persönliches Ego, zumindest ist das meine Erfahrung. Als Beispiel: Vielleicht sagt jemand als junger Mensch: Ich möchte ein berühmter Künstler, Wissenschaftler, Forscher oder ähnliches werden. Möglicherweise wird er angetrieben von Ruhmsucht, von der Idee eines grandiosen Selbst. Vorher muss er aber von etwas berührt worden sein, von der Schönheit und der Tiefe eines Kunstwerks oder der Genialität einer Erfindung. Diese Berührung hat etwas Ursprüngliches. Und wenn unser junger Mensch es ernst meint und sich auf die Spur dieses Ursprünglichen begibt, wird ihn der mühsame Prozess und die Notwendigkeit dabei offen zu bleiben, schon auch Demut lehren. Um beim Roman zu bleiben: Hannah Lekebusch schafft es nicht, den Zugang zu diesem Ursprünglichen zu finden, deshalb führt ihre Mission bald zu etwas Schalem, pathologisch Besessenem. 

Wo lag der Ursprung Ihres Romans, die erste Idee?

Als wir als Familie vom Zentrum Berlins in einen Aussenbezirk zogen und ich unsere Tochter täglich zur Schule in das vornehme Dahlem fuhr, war ich verzaubert von der Atmosphäre – beeindruckende Häuser in parkähnlichen Grundstücken, daneben die vielen Forschungszentren und die Freie Universität, an der ich vor Jahrzehnten studiert hatte. Eine Atmosphäre von Reichtum, Ruhe, aber auch Geist, verbunden mit einer starken Geschichtspräsenz (vielleicht wegen der Ruhe auf den Strassen?). Dahlem wurde noch in der Kaiserzeit als Villenkolonie und Wissenschaftsstandort mit vielen Kaiser-Wilhelm-Instituten gegründet, dort forschte zum Beispiel Albert Einstein bis zu seiner Emigration. Aber Dahlem war eben auch der Lieblingsbezirk von Nazigrössen. Ich wollte ein Buch schreiben, das in Dahlem spielt. Erst als zweites kam die Idee, von dieser reichen Atmosphäre, von dem Schönen und dem Schrecklichen anhand eines Hauses zu erzählen.  

Der Roman erzählt fast hundert Jahre Geschichte. Sie verlieren sich nicht in Details, bleiben stets auf der Spur. Die Fülle an Personen und Geschichten hätte genug Potenzial, um auszuschweifen. Nur schon die Geschichte eines Architekten, der nach seiner Formensprache sucht. Die Geschichte eines Fabrikanten von Generika, der sich mit einem Haus mit Bedeutung ein Original schenken will. Gab es einen Plan ins Schreiben oder sind Sie so sehr diszipliniert, dass der Roman wie ein perfekt gebautes Haus erscheint?

Das Buch und seine Struktur waren nicht sofort da, sondern entstanden in langwierigen Prozessen. Sehr früh war zum Beispiel klar, dass ich auf drei Ebenen erzählen würde, aber wie genau die Ebenen ineinander greifen würden – das stellte sich erst während des Schreibens heraus. Ich mache mir Pläne, habe einzelne Szenen und Handlungsabläufe im Kopf, aber vieles konkretisiert sich erst im Akt des Schreibens (ah, so handelt Figur x oder y also!), was dann wieder Überarbeitungen des Vorherigen zur Folge hat. Auch das Haus habe ich so beim Schreiben immer wieder aus den unterschiedlichen Perspektiven entstehen lassen. Natürlich hatte ich früh einen Grundriss, doch zum Beispiel die Einrichtung der einzelnen Räume zeigte sich erst, als diese oder jene Figur sich länger in ihnen aufhielt – also aus der Notwendigkeit, in einer ganz konkreten Erzählsituation sehr konkret zu werden. 

Welches Buch ist Ihnen in letzter Zeit hängengeblieben? Und warum?

Gerald Murnane «Die Ebenen», Bibliothek Suhrkamp, 2017, 152 Seiten, CHF 27.90, ISBN 978-3-518-22499-1

Ich lese schon seit einigen Monaten Prousts „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“. Ich hatte es als Student gelesen und mache jetzt ganz neue, mich unendlich begeisternde Erfahrungen. Wie langsam Proust unvergessliche Figuren entstehen lässt, im Wechselspiel aus Idealisierung und hochstehender Erwartung (Apropos Bedeutungssucht!) und schmerzhafter Enttäuschung; wie genau er Emotionen nachlauscht und ihnen dabei immer wieder neue Facetten abgewinnt. Proust macht glücklich, weil seine Sätze einen immer wieder daran erinnern, was Literatur zu leisten vermag. Gerade lese ich auch „Die Ebenen“ des australischen Autors Gerald Murnane. Es handelt im wahrsten Sinn von so gut wie nichts. Ein junger Filmemacher kommt ins Outback und versucht die Feinheiten eines kargen Graslandes festzuhalten und zu dokumentieren (zum Beispiel den blaugrünen Dunst über der Ebene) und gerät dabei in eine geradezu kafkaeske Anderswelt. Grossartig.  

Andreas Schäfer, 1969 in Hamburg geboren, wuchs in Frankfurt/Main auf und lebt heute als Schriftsteller und Journalist mit seiner Familie in Berlin. Bisher veröffentlichte er die Romane «Auf dem Weg nach Messara», wofür er u. a. den Bremer Literaturförderpreis erhielt, «Wir vier» (2010), der für den Deutschen Buchpreis nominiert war und mit dem Anna-Seghers-Preis ausgezeichnet wurde, und zuletzt «Gesichter» (2013).

Webseite des Autors

Beitragsbild © Mirella Weingarten

Alexa Hennig von Lange «Die Wahnsinnige», Dumont

Johanna von Kastilien war Königin von Kastilien, Aragón und León. Als sie 1555 starb, hatte sie fast 50 Jahre in einem Kloster verbracht. Nicht etwa aus Frömmigkeit, sondern weil das Leben sie in jene Isolation getrieben hatte – nicht die einzige Isolation, die die Frau erdulden musste. Mit „Die Wahnsinnige“ schrieb Alexa Hennig von Lange einen beeindruckenden Roman über ein exemplarisches Opfer der Geschichte.

Königin oder König sein. Uneingeschränkt regieren über Land und Untertanen. Ein Reich nach eigenem Gutdünken formen und gestalten. Eine beinahe kindliche Illusion! Johanna von Kastilien wurde 1479 in Toledo geboren, war Tochter von Königin Isabella I, die drei Jahrzehnte lang, bis zu ihrem Tod 1504 auf der spanischen Halbinsel gestreng und mit eiserner Hand regierte. Mutter Isabella beschäftigte sich viel mehr mit ihren Aufgaben als Regentin und führte die Inquisition ein, als dass sie eine liebende und sorgende Mutter gewesen wäre. So sehr ihr Leben in die Zwänge einer Königin eingespannt war, so sehr machte sie das Leben ihrer Tochter Johanna zu einer ungebrochenen Folge von Fremdbestimmung und Zweck. Nicht verwunderlich, dass Johanna schon früh als introvertiert, sensibel und verschlossen galt.
Sehr jung verheiratete man sie aus strategischen und politischen Gründen mit Philipp dem Schönen. Eine Ehe, die durchaus mit heftigen Gefühlen füreinander einherging, aber auch mit ebenso leidenschaftlicher Eifersucht, denn ihr Gemahl Philipp nahm den Treueschwur alles andere als ernst. Johanna gebar in der Folge sechs Kinder. Kinder, denen sie eigentlich eine gute Mutter sein wollte, denen sie all das geben wollte, was ihr ihre eigene Mutter verweigerte. Aber weil Johannas Wesen unberechenbar zu sein schien, sperrte man sie in die Festung La Mota in Kastilien, weit weg von ihren ersten Kindern, die in Flandern bei Gouvernanten am Hof ihres Ehemannes aufwuchsen.  

Alexa Hennig von Lange «Die Wahnsinnige» Dumont, 2020, 208 Seiten, CHF 30.90, ISBN 978-3-8321-8127-7

Alexa Hennig von Lange setzt mit ihrem Roman in jenen Tagen ein, in denen Johanna klar wird, dass die Festung La Mota nicht Zwischenstation ist, sondern ein Gefängnis, sie die Geisel der Politik ihrer Mutter. Dass man sie im ganzen Land „Die Wahnsinnige“ nennt, ist ebenso Strategie wie Verurteilung. Wen wundert es aus heutiger Sicht, wenn man Regentin ohne Macht ist, von seinen Kindern, der Liebe abgeschnitten, mehr bewacht als umsorgt und von den Priestern ihrer Mutter zur Beichte gedrängt und bedrängt.

Aber warum einen Roman schreiben, der im ausgehenden Mittelalter spielt? „Die Wahnsinnige“ ist ein Roman über das Leben einer Frau in den Zwängen von Geschichte, Politik und Gesellschaft. Solche Schicksale sind mit dem Mittelalter nicht verschwunden. „Die Wahnsinnige“ ist der Roman über eine starke Frau, die alles daran setzt, aus den ihr vorbestimmten Wegen auszubrechen, die ein eigenes, selbstbestimmtes Leben führen will und daran scheitert. Auch solche Geschichten sind Tatsache in der Gegenwart. Und es ist die Geschichte einer jungen Frau, einer jungen Mutter, die bereit ist, alles daran zu setzten, nicht in die Fussstapfen anderer treten zu müssen. Eine Geschichte der Emanzipation. Bin ich, was ist will? Lebe ich jenes Leben, das es sein sollte? Was zwängt und bedrängt mich, damit ich bleibe, wo ich bin?

Johannas Rolle als Königin war ein Fluch, hat ihr Leben zu einem einzigen Martyrium gemacht. Alexa Hennig von Langes Roman ist fiktionale Geschichte. Ich als Leser begleite das Leben Johannas derart nahe, dass es schmerzt. „Die Wahnsinnige“ ist ein universales Muster des Scheiterns. Alexa Hennig von Langes Johanna ist knapp über zwanzig und leidet an all dem, was das Leben einer jungen Frau traumatisch machen kann. Johanna von Kastilien lebte ein Leben lang auf dünnem Eis mit der ständigen Angst einzubrechen, unsäglich weit weg von den Menschen, die ihr am Ufer dieses kalten Sees zuschauen.

„Ich glaube, ich wär eine gute Regentin.“

Alexa Hennig von Lange, geboren 1973, wurde mit ihrem Debütroman «Relax» 1997 zu einer der erfolgreichsten Autorinnen ihrer Generation. Es folgten zahlreiche weitere Romane, Erzählungen, Theaterstücke und Jugendbücher. 2002 wurde Alexa Hennig von Lange mit dem Deutschen Jugendliteraturpreis ausgezeichnet. Bei DuMont erschienen die Romane «Risiko» (2007), «Peace» (2009), «Kampfsterne» (2018) und «Die Weihnachtsgeschwister» (2019). Die Schriftstellerin lebt mit ihrem Mann und ihren fünf Kindern in Berlin.

Webseite der Autorin

Beitragsbild © Marcus Höhn

Delphine de Vigan «Dankbarkeiten», Dumont

Michka nimmt Wörter ernst. Dort, wo sie jetzt lebt, wohnen nicht Senioren, sondern Alte. «Man sagt ja auch «die Jungen», nicht «die Junioren.» Aber ausgerechnet ihr entfallen die Wörter. Ihr, die ein Leben lang fürs Wort lebte, Korrektorin eines grossen Magazins war. Sie sucht nach ihnen, leidet unter beginnender Aphasie.

Nach einer Lesung verriet Delphine de Vigan, dass sie die Absicht mit sich herumtrage, eine Trilogie zu schreiben. Nach «Loyalitäten» 2018 nun «Dankbarkeiten». Wie schon bei Loyalitäten kein Zufall, dass die Autorin den Begriff, den Titel im Plural verwendet. Es geht nicht um das Allgemeine, sondern um das Vielschichtige, darum, dass es bei «Dankbarkeiten» um ein Lebensgefühl geht, um das Bewusstsein, dass ein Leben immer von anderen abhängig ist und sein wird. Dass es Versäumnisse geben kann, die unkorrigierbar bleiben. Dass Dankbarkeit auch eine Sache der Lebensordnung sein kann, dass sich Situationen dorthin drehen, wo sie hingehören und nicht von einer fauligen Schicht aus Schuld und schlechtem Gewissen zugedeckt werden.

editions JC Lattès

So wie im Leben der alt gewordenen Michka, die als Kind einst von einer Familie aufgenommen wurde, die in den Wirren des tobenden Krieges von ihrer flüchtenden Mutter verlassen werden musste und als Jüdin nie mehr zurückkehrte. Michka lebte dort ein paar Jahre, wie vom Zufall dorthin gespült, bis sie von einer Schwester ihrer Mutter geholt wurde und den Kontakt zu dem Ehepaar verlor, das sie vor der Verschleppung bewahrte.

So wie im Leben der beiden BesucherInnen, die Michka geblieben sind; Marie, die schon in der Wohnung für sie sorgte und Jérôme, der Michka als Logopäde zweimal pro Woche besucht. Michka war für Marie wie eine Mutter, weil ihre eigene Mutter kaum da war, weil ihr das Nest fehlte, die Sicherheit, ein Zuhause. Und von Jérôme erfährt Michka in ihrer direkten, unverblümten Art, dass dieser seinen Kontakt zu seinem Vater längst resigniert und tief verletzt abgebrochen hat.

Die Stärken des Romans liegen in der Offenheit des Dreigespanns. Delphine de Vigan erzählt aus der Sicht der alten Frau Michka, die nicht nur vom Vergessen geplagt wird, sondern von zunehmender Angst, realer Angst, alles immer mehr im Vergessen zu verlieren und der Angst, die sich in Träumen, Alpträumen wie Gewitterstürme über ihr zusammenziehen. Und sie erzählt von den Besuchen von Marie und Jérôme, wie sehr die beiden vom langsamen Untergehen der alten Frau betroffen werden. Weil Michka nicht einfach verstummt, sondern sich bis zu ihrem letzten klaren Gedanken, auch wenn dieser immer schwerer zu formulieren ist, um das Leben anderer bemüht. Der Roman überzeugt, weil vieles nur angedeutet ist und meiner Lesart überlassen wird. Delphine de Vigan erzeugt ein Gefühl, zugegeben hart an den Grenzen zur Sentimentalität, ein Gefühl, es nicht versäumen zu wollen. Die Momente, die einem durch Krankheit, das Sterben und den Tod genommen werden können. Momente der Aus- und Versöhnung. Versäumnisse, die den inneren Frieden unmöglich machen.

Und die Kraft der Sprache. Was einem genommen wird, wenn man sie Wort für Wort verliert. Michka vergisst nicht einfach. Die Wörter verschwinden, während sich der Schmerz über dieses Verschwinden wie ein schweres, nasses Tuch über das Leben der alt gewordenen Frau gelegt hat. Auch wenn Michka Sätze spricht, die unfreiwilligen Witz entfalten, hängt über jedem dieser Sätze die Verzweiflung.

„Dankbarkeiten“ ist ein einfühlsames Buch über das Altwerden, jenen letzten Teil des Lebens, über dem sich die Endgültigkeit über alles ausbreitet. Ein Roman getragen von Empathie und dem Bewusstsein, dass es letztlich für nichts zu spät ist, schon gar nicht für die Hoffnung.

© Delphine Jouandeau

Delphine de Vigan, geboren 1966, erreichte ihren endgültigen Durchbruch als Schriftstellerin mit dem Roman «No & ich» (2007), für den sie mit dem Prix des Libraires und dem Prix Rotary International 2008 ausgezeichnet wurde. Ihr Roman «Nach einer wahren Geschichte» (2016) stand wochenlang auf der Bestsellerliste in Frankreich und erhielt 2015 den Prix Renaudot. Bei DuMont erschien ausserdem 2017 ihr Debütroman «Tage ohne Hunger» und 2018 der Roman «Loyalitäten». Die Autorin lebt mit ihren Kindern in Paris.

Rezension «Loyalitäten» auf literaturblatt.ch

Rezension «Nach einer wahren Geschichte» auf literaturblatt.ch

Beitragsbild © Sandra Kottonau

Von Frankreich bis nach Paris, eine Nachlese zu den 17. Sprachsalz Literaturtagen in Hall in Tirol

So sehr es für viele ein Traum bleibt, ein Künstlerleben zu führen, so sehr versteigt man sich in der Vorstellung darüber, was und wie ein solches sein kann in romantisierten Vorstellungen, die mit der Härte der Wirklichkeit nichts zu tun haben. So sehr Japan für viele ein Land der Kirschblüten und Traditionen voller Grazie ist, so sehr ist dieses Land eines der Tabus. Marie Modiano und Durian Sukegawa sind sprachmächtige Türöffner.

Eine junge Frau zieht mit einer Theatergruppe kreuz und quer durch Europa. Später als Musikerin, Sängerin von einem Ort zum nächsten. Was mit dem Theaterensemble noch den Hauch von Nobles hatte, waren es doch Häuser mit Tradition und Hotels mit Stil, wird als Musikerin von Kleinbühne zum nächsten Spielort eine Odyssee der Trostlosigkeit. Nicht nur in seiner Kulisse, sondern weil sich im Leben der Frau die Liebe auf immer verabschiedete.

Marie Modiano und Thomas Sarbacher © Yves Noir

Er sei vor Einbruch der Dunkelheit zurück, hatte er gesagt. Valentine wartet, wartet lange. Sie blättert nicht nur in den verwaisten Schreibheften, sondern über Jahre in den Erinnerungen, in der Zeit, als ihre grosse Liebe mit seinem ersten Manuskript auf seinen ersten Erfolg als Schriftsteller wartete. Valentines Warten, aus dem sie sich in ihrem eigenen Leben längst herausgenommen hat. Die kleine Rolle, die man ihr im Ensemble gegeben und die sie über Monate zu spielen hatte, beweist ihr wie Jahre später das Singen vor fast leeren Rängen und desinteressiertem Publikum mit keine Faser, dass sie richtig lebt. Und als sich der Erfolg ihrer grossen Liebe dann doch einstellt, ist dieser diesem nicht gewachsen, er versinkt im Schmerz. Je mehr er sich von ihr physisch entfernt, desto intensiver wird die Erinnerung und das Sehnen nach jener schmalen Zeit des Glücks, irgendwo in der Vergangenheit.

«Ende der Spielzeit» ist die Geschichte einer Künstlerin, die sich mit ihrem Sehnen nach künstlerischen Ausdruck auf eine endlos scheinende Reise begibt. Mit dem Theater auf Bühnen in Lausanne, Hamburg, Zürich, Bochum, Wien oder München. Als Musikerin auch in die Provinz. Meist allein, allein mit sich selbst, unter den Scheinwerfern, auf einer Bühne, weit weg vom Publikum, ihnen allen etwas vorspielend. Eine junge Frau, die, wenn es nicht mehr zu vermeiden ist, möglichst Fragen stellt, um nicht über sich selbst sprechen zu müssen. Eine junge Frau, die in ihrer einzigen grossen Liebe, in ihrer allernächsten Nähe verletzt wurde und sich trotz Theater und Musik in sich selbst zurückzieht. Eine junge Frau, der man alles Zuhause genommen hat und die sich nur dort geborgen fühlt, wo Ruhe ist, im Schminkraum, in der Garderobe, im Hotelzimmer.

«Gewisse Momente im Leben dienen nur dazu, sich fast sofort in Erinnerungen zu verwandeln. Würde man versuchen, sie auszudehnen, verlören sie ihren Wert.»

Valentine reist von Ort zu Ort, ohne vorwärts zu kommen, in Rückblenden, die in anderer Perspektive erzählt sind. Verharrend, obwohl sie örtlich dauernd unterwegs ist. Kaum einem Menschen begegnend, ausser sie öffnet unvermittelt eine Tür, um einem fremden Leben mit uferloser Intensität ausgesetzt zu sein.
Ein unspektakuläres Buch, eine Reisebuch durch ein Leben, das mit einer Trennung aus dem Tritt geriet. Ein autofiktionaler Roman über die Härten eines Künsterlebens, der Sehnsucht nach tiefer Liebe.

Der Blick Marie Modianis während der Lesung der deutschen Stimme Thomas Sarbachers in die Runde der ZuhörerInnen, etwas wie ein Kontrollblick, ob und wie man reagiert. Sie ist amüsiert, wenn der Schauspieler dramatisiert, was die hexenähnliche Apothekerin mit den Raubvogelaugen krächzt oder der Wirt raunzt, als die Protagonistin in der Saufhalle eintrifft, wo das alte Klavier steht, dem sie Melodien entlocken soll.

Durian Sukegawa © Yves Noir

Durian Sukegawa gehört in Japan zu den ganz grossen, ist Verfasser von über 40 Veröffentlichungen, darunter Romane, Übersetzungen, Essays, Sience Fictions. Er schreibt, ist Musiker, Schauspieler, war Clown und Radiomoderator. Während einer solchen Radiosendung stiess er auf das Schicksal japanischer Leprakranker, die, selbst als sie gesund waren, von der Gesellschaft stigmatisiert mundtot gemacht, durch ein Gesetz von 1931 bis in die Neuzeit weggesperrt wurden. Nicht bloss diskriminiert, sondern hinter Hecken und Mauern eingesperrt und vergessen. Ein Tabuthema, das durch den Roman «Kirschblüten und rote Bohnen» zaghaft in das Bewusstsein der japanischen Gesellschaft eindrang, so explosiv, dass sich der Stammverlag des Autors erst weigerte, den Roman zu veröffentlichen.

«Kirschblüten und rote Bohnen», 2015 äusserst erfolgreich von der japanischen Regisseurin Naomi Kawase verfilmt, erzählt die Geschichte einer zaghaften Freundschaft zwischen dem Pfannkuchenbäcker Sentaro, der alten Tokue, die bei ihm zu arbeiten beginnt und den dahinsiechenden Laden zu neuer Blüte bringt, aber ein Geheimnis mit sich trägt, und dem Mädchen Wakana, das mehr als nur die Türen zu diesem Geheimnis öffnet.

Ich traf den japanischen Autor etwas abseits in der Hotellobby, in der das Festival stattfindet in sein Mobiltelefon vertieft. Aber als ich in bat, die beiden mitgebrachten Romane zu signieren, gehörte die dezidiert konzentrierte Aufmerksamkeit ganz mir, dem Leser, der seine Geschichten mag, die Melancholie, den nicht zu brechenden Glauben an das Gute im Menschen und das Wissen, dass wahre Grösse in den kleinen Gesten steckt. Zwei Stunden später ist der Pullover und die Jeans in Jacket und Bügelfalte getauscht, ein akkurat gefaltetes Stofftaschentuch neben dem Mikrofon platziert und die mehr als hundert Anwesenden lauschen den Geschichten um Kirschblüten und rote Bohnen. Unbedingt lesen (Buch) und schauen (Film).

Trailer zu «Kirschblüten und rote Bohnen»

Ich danke Heinz D. Heisl, Max Hafele, Magdalena Kauz, Urs Heinz Aerni, Ulrike Wörner, den Machern von Sprachsalz.

Beitragsbild: Ernst Molden © Denis Moergenthaler (Ernst Molden mit einem poetischen und musikalischen Blick auf seinen Wiener Kosmos, dem er zahlreiche Liebeserklärungen widmete.)

Ewald Arenz «Alte Sorten», Dumont

Zwei Leben treffen aufeinander. Eine junge Frau, noch nicht achtzehn und auf der Flucht vor sich selbst und eine mehr als doppelt so alte Frau, gefesselt von ihrer Geschichte. Irgendwo in einem Dorf umgeben von Rebbergen, auf einem Hof, in dem der Alp in den Mauern sitzt. Zwei Gestirne, die sich umkreisen, bis die Gravitation, die sie auf Abstand hält, in sich zusammenfällt.

Sally haut aus der Klinik ab, in der ihr mit vorgespielter Betroffenheit die immer gleichen Fragen gestellt werden, in der man sie in ein Krankheitsbild einmauert und ihr genau das verweigert, was sie bräuchte; Abstand und Zeit. Liss, vergrämt, gezeichnet von inneren Vernarbungen, verbittert und gefesselt an einen Hof, der sie an eine Vergangenheit kettet, nimmt sie auf. Sally bekommt ein Bett, bleibt auf dem Hof, zuerst nur eine Nacht, eine Woche, immer länger. Und Liss stellt keine Fragen, nimmt sie mit aufs Feld zu den Kartoffeln, in den Garten mit den alten Birnbäumen, in den Wald, stellt einen Teller mehr auf den Tisch in die Küche, macht keine Vorschriften. Selbst als die Narben auf Sallys Haut sichtbar werden, startet Liss nicht wie andere die Maschinerie von «professioneller Nettigkeit und Verständnis».

«Jeder war allein. Keiner verstand den anderen jemals wirklich.»

Aber auch Sally spürt und merkt, dass das Leben der Frau auf dem Hof irgendwann ordentlich aus dem Tritt gekommen sein musste. Liss ist allein, wird nicht besucht. Fragen nach ihrer Vergangenheit blockt sie genauso wie Sally jene nach ihrer Gesundheit. Und als Liss mit Sally im Wald ein Reh mit ihrem Traktor verletzt, Liss mit aller Selbstverständlichkeit eine Pistole aus einer Box holt und dem Leiden des Rehs mit einem schnellen Schuss ein Ende setzt, weiss Sally endgültig, dass Liss nicht einfach nur verschroben und verschlossen ist. Liss ist geprügelt von einer Vergangenheit, einem dominanten Vater, der seine Macht einzusetzen wusste. Sie verliebte sich in einem Mann. Eine Liebe, die grösstmögliche Freiheit versprach und in einem fatalen Reflex endete. Sally ist umklammert von Mutter- und Vaterliebe, die ihr nicht bloss den Atem nimmt, sondern all den Platz, den sie bräuchte, um ihren übergrossen Gefühle in den Griff zu bekommen.

«Ich ertrinke, dachte sie. Ich stehe an Land und ertrinke.»

Was sich auf diesem Hof im Niemandsland an aufeinanderprallenden Biographien ineinander zu verkrallen beginnt, wird zu einer Bindung, die für beide gleichermassen befreiend wirkt. Da sind für einmal keine Erwartungen. Liss spürt, dass Sally etwas hat, was sie glaubt, verloren zu haben. Als sie in einem Obstgarten alte Birnensorten ernten, ‹Alexander Lucas›, ‹Herzogin Elsa›, ‹Madame Vertu›, sieht Liss, wie sehr sich Sally ins Schmecken dieser besonderen Säfte hineingeben kann. Etwas, was ihr selbst auch Routine und Verhärtung verloren ging.

«Wann hatte sie vorher jemals die Hände in der Erde gehabt? Wann Bienen auf der Haut? Ja, vielleicht war es das?

Ewald Arenz schildert die Annäherung zweier Gestirne ganz behutsam, setzt sie in ein filigranes Netz von Beziehungen, die das zarte Gegenüber der beiden immer wieder zu torpedieren beginnen. Erstaunlich, wie tief und emphatisch er sich an die beiden Protagonistinnen annähert, sie nicht schublaisiert, mich als Leser immer wieder zu überraschen weiss. «Alte Sorten» beschreibt sechs Wochen. Als würde Liss aus weiter Distanz jene Wochen beschreiben, die aus einer Flucht den Anfang einer Heimat machten.
Natürlich darf man sich fragen, ob die Welt eine Literatur braucht, die vordergründig erklärt, dass die Lösung aller Probleme in der archaischen Welt eines Bauernhofs liegt. Aber darum geht es Arenz nicht. «Alte Sorten» ist ein Roman darüber, wie sehr uns Leben weggenommen wird und wie schwer es ist, zurückzufinden.

Ewald Arenz, 1965 in Nürnberg geboren, hat englische und amerikanische Literatur und Geschichte studiert. Er arbeitet als Lehrer an einem Gymnasium in Nürnberg. Seine Romane und Theaterstücke sind mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet worden. Der Autor lebt mit seiner Familie in der Nähe von Fürth. Im ars vivendi Verlag erschienen bisher seine Romane «Der Teezauberer» (2002), «Die Erfindung des Gustav Lichtenberg» (2004), «Der Duft von Schokolade» (2007), «Ehrlich & Söhne» (2009), der historische Kriminalroman «Das Diamantenmädchen» (2011), «Don Fernando erbt Amerika» (Neuausgabe 2012) und «Ein Lied über der Stadt» (2013). «Alte Sorten» ist sein erster Roman bei Dumont.

Beitragsbild © Lowarig

Delphine de Vigan «Loyalitäten», DuMont

Delphine de Vigan erzählt jenen Teil des Lebens, der schmerzt. Und dabei schont sie weder sich selbst noch den Leser. Man kann Delphine de Vigans neusten Roman als eine verwobene Geschichte derer erzählen, die sich in entgegengesetzten Loyalitäten unentwirrbar verstricken. Oder aber man liest ihren Roman als gesellschaftlichen «Klimabericht», wie sich Wolken und Stürme zusammenbrauen, die sich die Gesellschaft selbst einbrockte.

Théo ist 12, ein guter Schüler, still, zurückhaltend, unauffällig. Er trifft sich mit seinem einzigen Freund Mathis, manchmal in einem Versteck unter einer Treppe im Schulhaus, manchmal bei Mathis zuhause oder irgendwo in den Regionen der Grossstadt Paris, die sich der Kontrolle entziehen. Sie trinken. Flaschenweise. Immer mehr. Trinken, bis ihnen der Boden unter den Füssen wegbricht, bis sie sich im Dämmerzustand von Rausch und Beinahebewusslosigkeit von all den Zwängen und Klammergriffen befreien können. Théo Eltern sind getrennt, entzweit. Seine Mutter eingespannt in ihren Beruf, ihr schlechtes Gewissen und die Angst, dass alles zu kippen droht. Sein Vater lebt abgeschottet in seiner Depression in seiner vermüllten Wohnung in einem Hochhaus in der gleichen Stadt. Arbeitslos geworden, aus dem Tritt geraten ringt er seinem Sohn, der jede zweite Woche bei ihm verbringt, das Versprechen ab, seiner Ex nichts von seinem Niedergang, seinem Elend, seiner Ausweglosigkeit erzählen, aus Angst, damit das Sorgerecht zu verlieren.

Théo lebt viele Leben. Das des perfekten Sohnes und Schülers, das des Verbündeten seines Vaters. Das des letzten Rettungsankers im kaputten Leben eines Ausgestossenen. Das eines braven Verbündeten einer Mutter, die vom Vater nicht einmal den Geruch in den Kleidern des Sohnes erträgt. Das des Wissenden, Weiler genau spürt, wie sehr seine Mutter unter dem Druck ihres Lebens zu schwanken beginnt. Ein Leben zwischen Loyalitäten.

Mathis macht mit, trinkt mit. Auch er Opfer im Grabenkrieg seiner Eltern. Einer Familie, die sich hinter einer wohlgehüteten Fassade versteckt, alles tut, damit die stinkenden Geheimnisse nicht ans Licht geraten. Mathis will weder seine Eltern noch seinen Freund verlieren, spürt aber ganz genau, dass der Abgrund an beiden Fronten unaufhaltsam auf ihn zurast. Nur zu gerne würde sich Mathis seiner Mutter anvertrauen. Aber er weiss, dass dann Welten einstürzen, seine Freundschaft in Gefahr ist. Ein Leben zwischen Loyalitäten.

Und Helène, die junge Lehrerin der beiden Freude, der das Verhalten der beiden immer mehr Rätsel aufgibt, lässt sich zu Spekulationen hinreissen, spürt, dass etwas geschieht, was schlecht ist, was aufzuhalten wäre. Sie, die als Kind von ihrem Vater misshandelt und gedemütigt wurde, die sich geschworen hat, nicht und niemals wegzuschauen. Sie, deren Blick durch die eigenen Biographie geschärft ist, die Dinge wahrnimmt, die anderen entgehen. Sie setzt sich ein und damit aus, eckt an, verteilt sich in ihrem ungebrochenen Eifer, droht alles aufs Spiel zu setzen, an ihrem Kampf zu zerbrechen. Ein Leben zwischen Loyalitäten.

Was mit Théo und Mathis geschieht ist Spiegel der Gesellschaft. Immer früher werden Sucht- und Betäubungsmittel aller Art zu ständigen Begleitern, auch bei Kindern. Die Lust, Grenzen auszuloten mag eine Ursache sein. Aber als Erklärung taugt «Grenzerfahrung» nicht. Théo zerstört sich.

Delphine de Vigan beschreibt Enge, manövriert mich als Leser in eine Atmosphäre der psychischen Gewalt, die selbst die Autorin während des Schreibens zu überraschen schien, wie sie an einer Lesung im Literaturhaus Zürich erklärte. «Brutal und banal.» Scheidungskinder, die in Extremsituationen stehen, nur schon dann, wenn Elternteile verbal über den jeweils anderen herziehen, die sie als Kinder beide lieben wollen (und müssen). Delphine de Vigan schürt nicht in Gefühlen, auch nicht in jenen des Lesers. Sie ist Seismographin, Stimmengeberin jener, denen die Lautstärke und Kraft fehlt.

© Delphine Jouandeau

Delphine de Vigan, geboren 1966, erreichte ihren endgültigen Durchbruch als Schriftstellerin mit dem Roman «No & ich» (2007), für den sie mit dem Prix des Libraires und dem Prix Rotary International 2008 ausgezeichnet wurde. Ihr Roman «Nach einer wahren Geschichte» (DuMont 2016) stand wochenlang auf der Bestsellerliste in Frankreich und erhielt 2015 den Prix Renaudot. Bei DuMont erschien 2017 ihr Debütroman «Tage ohne Hunger». Die Autorin lebt mit ihren Kindern in Paris.

Rezension von «Nach einer wahren Geschichte» auf literaturblatt.ch

Beitragsfoto © Sandra Kottonau