Christian Kracht „Eurotrash“, Kiwi #SchweizerBuchpreis 21/4

Christian Kracht hat seinen Roman «Eurotrash» aus dem Rennen des Schweizer Buchpreises genommen. Aber auch wenn sich der Autor aus dem Wettbewerb ausklinkte, melde ich mich als Buchpreisbegleiter. Ich melde mich, weil ich sein Buch gelesen habe und es vielleicht nicht getan hätte, wäre sein Name nicht auf der Shortlist gestanden.

So wie es andere Bücher nie auf die Oberfläche des allgemeinen Interesses schaffen, so tun es andere auf jeden Fall. Und es gibt Bücher, an denen die Medien, Jurys und der Buchmarkt schlicht nicht in der Lage zu sein scheinen, an ihnen vorbeizugehen, weil sich allein die Beschäftigung mit ihnen lohnt, in Sachen Publicity oder in der Brieftasche selbst.

Ich möchte vorausschicken, dass ich zwei Bücher von Christian Kracht über die Massen schätzte und gerne gelesen habe: «Imperium» und «Die Toten» mit dem er 2016 den Schweizer Buchpreis in Empfang nehmen durfte (auch wenn man Dankbarkeit damals nicht aus seiner Reaktion lesen konnte). Beide Romane sind hohe Sprachkunst, genial konstruiert und wie immer bei Christian Kracht genial inszeniert.

Christian Kracht kann zwei Dinge unbestreitbar: Schreiben und Verunsichern. Das beweist er mit seinem Roman «Eurotrash», der es nun, als wäre es perfekt inszeniert, auf die Shortlist des Deutschen Buchpreises schaffte. Ein Roman, der mich als Leser gleichermassen faszinierte wie befremdete. Das tut dem Roman keinen Abbruch, denn ich unterstelle dem Autor, dass er genau das will. So wie er mich mit seinem Roman verunsichert, so verunsichert er mich als Person. Ich unterstelle dem Autor, dass er sich als Person und Schriftsteller perfekt vermarktet. «Christian Kracht» ist eine Marke, bei dem alles aufhorcht, wenn er sich ankündigt. Ein lebendiges Pulverfass, ein Funkelstein, der schwindlig macht, wenn man ihn lange genug fixiert.

Christian Kracht «Eurotrash», Kiepenheuer & Witsch, 2021, 224 Seiten, CHF 29.90, ISBN 978-3-462-05083-7

Der Inhalt des Romans ist schnell erzählt. Eine von Familie und Geschichte beschädigte alte Frau fährt mit ihrem von Familie und Geschichte beschädigten Sohn mit einem Taxi und einer prallvollen Plastiktüte Geld kreuz und quer durchs Land. Eigentlich tun sich beide gegenseitig nicht gut, bezichtigen sich aller erdenklichen Versäumnisse und Quälereien. Eine Tour durch ein Land durch Städte, die sie beide nicht mögen, manchmal sogar hassen, eine Tour durch Erinnerungen, die sie beide nicht mögen, manchmal sogar hassen. Eine Mutter und ein Sohn. Eine Bindung, die sich nur schwer mit Begriffen wie «Liebe», «Geborgenheit» uns «Wärme» verbinden lässt. Eine Bindung zwischen maximaler Abneigung und untrennbarer Nähe. Jeder, der liest, hat eine Mutter. Wir wissen, wie fragil eine solche Beziehung sein und werden kann. Darum schmerzt die Lektüre dieses Buches zuweilen körperlich. Nicht weil ich denke, dass der Autor die Wirklichkeit abbilden will – keinesfalls. Zuletzt bei Christian Kracht. Aber weil das Hickhack zwischen Mutter und Sohn so meisterhaft und klug inszeniert ist, dass es zumindest bei mir einen Nerz trifft, der bei der Lektüre empfindlich reagiert. Genau das, was ein Autor doch will. Einen Nerv treffen. Lesende konfrontieren, sie zur Auseinandersetzung zwingen.

Man liest «Eurotrash» nicht zur Erbauung. Und meiner Mutter würde ich das Buch zuletzt schenken. Eben perfekt inszeniert. Ein Spiel. Eine Inszenierung. So wie die Figur Christian Kracht auch. Was kann sich ein Autor mehr wünschen, dass sich eine ganze Szene Händeringen fragt, was denn der Autor eigentlich beabsichtigt. Aber möchte ich als Leser bespielt werden? Zu oft nicht. Für einen Kracht reicht es -allemal.

Fazit: Wenn sie sich trauen, dann lesen sie ihn. Wenn er ihnen nicht gefällt, ist das kein Indiz, dass der Roman nicht gut ist.

Webseite des Autors

Beitragsbilder © leafrei.com

5 Bücher, 5 Namen #SchweizerBuchpreis 21/1

Verfolgen sie das Rennen um den Schweizer Buchpreis? Beeinflusst dieses Rennen ihr «Literatur-Konsumverhalten»? Lesen sie eines oder mehrere der Bücher, die im Rennen sind? Alleweil gut ist der Preis für Überraschungen. Und immer wieder ist die Hoffnung da, dass sich all die Zwänge der Gegenwart nicht in die Auswahl einmischen?

Bis zur Verleihung des Schweizer Buchpreises in Basel am 7. November 2021 mische ich mich immer wieder in die Frage «Welches Buch muss es sein?». In der Menüleiste links finden sie einen Link, der Sie direkt zu den entsprechenden Artikeln führt!

Sie kennen Christian Kracht nicht? Er war schon einmal Träger des Schweizer Buchpreises und ist mit jedem seiner Bücher im Gespräch, sei es unter Rezensent:innen, Feuilletonist:innen oder engagierten Leser:innen. Ein Mann, der einem förmlich zur Auseinandersetzung zwingt. Dass er das auch mit seinem neuen Roman «Eurotrash», ja sogar mit dem Titel alleine schafft, lässt einem staunen. Für die einen ist Christian Kracht eine Lichtgestalt im helvetischen Literaturhimmel, auch wenn an ihm und seinem Schreiben so gar nichts Helvetisches ist. Wäre Christian Kracht nicht für den Schweizer Buchpreis nominiert, hätte ich sein Buch wohl nicht gelesen. Denn eines braucht sein Buch mit Sicherheit nicht: meinen Senf.
(Christian Kracht «Eurotrash», Kiepenheuer & Witsch)

Schon ein bisschen anders verhält es sich mit Martina Clavadetscher und Michael Hugentobler Schon alleine deshalb, weil beide schon meine Gäste waren, sei es in einer moderierten Lesung oder bei «Literatur am Tisch», einer ganz intimen Veranstaltung. 
Martina Clavadetschers erster Roman «Knochenlieder», mit dem sie schon einmal für den Schweizer Buchpreis nominiert wurde, schlug bei mir ein wie eine Bombe. Nicht weil die Geschichte in einer möglichen Zukunft spielt, nicht weil ich gerne Dystopien lese, sondern weil Martina Clavadetscher schon damals formal ein Experiment wagte. Ihre Romane sind schon alleine visuell anders, mäandern zwischen Prosa, Theater und Lyrik, versuchen eigene Wege zu gehen. Ihr neuester Roman «Die Erfindung des Ungehorsams» verfeinert das, was die Schriftstellerin schon im Roman davor begonnen hat. Ihr Roman ist ein vielstimmiges und vielschichtiges Epos, wieder in einer nicht allzu fernen Zukunft.
(Martina Clavadetscher «Die Erfindung des Ungehorsams», Unionsverlag)

Michael Hugentobler ist ein Reisender. Dass er, der nun sesshaft geworden ist und Familie hat, 13 Jahre auf Reisen war, das spürt man seinem Schreiben an. Wahrscheinlich ist sein Reservoir an Bildern und Geschichten unerschöpflich, was seinen Lesern nur recht sein kann, denn Michael Hugentobler macht Türen auf. Als Reisender nach Innen und nach Aussen, nach unzähligen Reportagen für namhafte Magazine nimmt mich Michael Hugentobler mit auf eine Reise nach Südamerika, spürt einem Indianerstamm nach, von dem nur ein Buch mit Wörtern übrig geblieben ist. Schon sein erster Roman «Louis oder Der Ritt auf der Schildkröte» riss mich mit ins 19. Jahrhundert, zuerst ins Wallis, dann zu den Aborigines in Australien und am Ende zum Finale nach London. Dorthin, wo auch sein zweiter, nun nominierter Roman «Feuerland» seinen Ursprung hat. Bilderstarke Literatur!
(Micheal Hugentobler «Feuerland», dtv)

Überraschend, zumindest für mich, sind die Nominierten Veronika Sutter und Thomas Duarte. Veronika Sutter erschien bisher gar nicht auf meinem Schirm (was nichts heissen soll) und von Thomas Duarte hörte ich nur, weil sein literarisches Debüt 2020 mit dem Studer/Ganz-Preis für das beste unveröffentlichte Debüt ausgezeichnet würde (was noch kein Grund gewesen war, das Buch zu besorgen). Da sind also ganz offensichtlich Versäumnisse meinerseits nachzuholen.
Veronika Sutters Erzählband «Grösser als du» zeichnet Menschen, «die mit einem Geheimnis leben, weil Scham oder Verleugnung sie daran hindern, über das zu sprechen, was hinter ihren Wohnungstüren passiert. Ohne es zu wissen, teilen sie die Erfahrung von Abhängigkeit, Gewalt und Unterdrückung. Sie stehen aber auch in Beziehung zueinander, ob als (Ex)Partner, Freundinnen, Nachbarn oder Verwandte. Sie biegen sich ihre Realität zurecht, um ihr Verhalten zu rechtfertigen, sei es despotisch, übergriffig oder duldsam.»
Veronika Sutter «Grösser als du», edition 8)

Und von Thomas Duarte’s Debüt «Was der Fall ist» heisst es: «Ein Mann erscheint mitten in der Nacht auf einem Polizeiposten und erzählt, wie sein bislang eintöniges Leben aus den Fugen geraten ist. Jahrzehntelang hat er für einen wohltätigen Verein gearbeitet, jetzt wird er plötzlich wegen Unregelmässigkeiten bei der Geldvergabe verdächtigt. Und nicht nur das: Im Hinterzimmer seines Büros, in dem er zeitweise selbst hauste, lässt er neuerdings die illegal arbeitende Putzfrau Mira wohnen. In seinem wahnwitzigen Bericht, dessen Charme und Menschlichkeit aber selbst den Polizisten nicht kaltlassen, entsteht das Portrait eines modernen Antihelden, der einen überraschend fröhlichen Nihilismus zum Besten gibt.»
(Thomas Duarte «Was der Fall ist», Lenos)

Spannend! Ich freue mich auf die Lektüre. Spannend, weil die fünf Finalist:innen unterschiedlicher nicht sein könnten; ein Schwergewicht, zwei Perlen und zwei Debüts! Vielleicht auch ein ungleicher «Kampf».

Illustrationen © leafrei.com

Er kam, siegte und ging. Christian Kracht

Christian Kracht hat ihn, den Preis. Und da er ihn hatte, ging er. Andere hätten gedankt, einige Worte an all jene gerichtet, die sein Buch gelesen hatten und durchaus mitfieberten. Zurück liess er ein ratloses Publikum.

83 Titel standen an, 5 schafften es auf die Shortlist. Zum 9. Mal und mit 30000 Franken dotiert. Nach einem Lesemarathon im In- und Ausland sassen die 5 Nominierten in der ersten Reihe, mit Sicherheit nicht alle ruhig und gelassen. Nachdem die letzten 5 in den letzten Wochen und Monaten heftigst img_0161besprochen, diskutiert, hoch gelobt und zerrissen wurden, während man andere Namen vermisste, bestach die Jury in ihrer Auswahl zum diesjährigen Schweizer Buchpreis durch Vielfalt, Besonder- und Eigenheiten. Der Buchpreis ist nicht das Fest des Siegers, des «übrig gebliebenen Buches», sondern ein Fest der Literatur, des Buches, dem für einmal ausserordentlich viel Publikum lauscht, ganz anders als an all den Lesungen sonst, bei denen es manchmal nur ein Dutzend zu Veranstaltungen lockt.

Kurz vor Mittag, Sonntag, 13. November 2016. Nachdem alle 5 Nominierten ihrer Laudatio lauschten und freundlich mit dem Publikum applaudierten, positionierten sich Kameraleute und Fotografen vor der ersten Stuhlreihe, während ein Mann mit Kravatte in einer trockenen Mitteilung den Schweizer Buchpreisträger verkündete. Im Anschluss verriet mir die Nominierte Michèle Steinbeck: «Aufgeregt war ich nicht, bis auf diesen einen Moment, als sich die Sucher und Objektive auf mich richteten und ich mich bemühen musste, auf keinen Fall den Eindruck von Enttäuschung zu erzeugen. Enttäuschung, die es nie und nimmer gewesen wäre.»

Eine Preisverleihung mit überraschenden Nominierungen, aber wenig Überraschung über das finale Urteil der Jury. Christian Kracht, sich endlich seines Schals und Mantels entledigend, stieg auf die Bühne, umarmte die eine und den andern, versteckte sich hinter einem übergrossen Blumenstauss, warf einen Blick auf das «Urteil» und verzog sich schnellstmöglich aus dem Gewimmel jener, die mit Gläsern auf eine paar Worte warteten. No comment!

(Titelbild: Werner Biegger)

Liest Zürich? Bestimmt Christian Kracht!

An 5 Tagen 180 Veranstaltungen rund um das Buch in Zürich, Winterthur und Umgebung. Klar, man sah einige Fahnen, Plakate – aber liest Zürich? Sieht man an diesen Tagen mehr Menschen in Zürich, die mit Buch oder eBook sitzen, stehen oder liegen und sich wegtragen lassen?

Liest Zürich, wenn ein Autor von Wien nach Winterthur reist, um aus seinem neuen Roman vorzulesen und es sitzt ein knappes Dutzend da und hört zu? Liest Zürich, wenn Christian Kracht im neuen Auditorium des Landesmuseums liest und der grosse Saal bis auf den letzten Platz proppenvoll ist? Sind das Leserinnen und Leser oder bloss solche, die eine Nase voll von dem mitbekommen wollen, was in den Medien rund um Christian Kracht breitgeschlagen wird? Spüre ich da leise Enttäuschung, wenn Christian Kracht bloss liest, erst noch lange und sich schlussendlich freundlich vor dem Publikum verbeugend, so gar nicht spektakulär? Nichts und niemanden niederreisst? Nicht der kleinste Disput, nachdem man ihn in der Kritik aus lauter Irritation und Verunsicherung entweder in den Himmel lobte oder als Machwerk zerriss.

Liest Zürich? Wahrscheinlich ebenso selten wie der Rest der Schweiz. Umso löblicher, dass «Zürich liest» so viele potente Partner mit ins Boot holen konnte, die ein solches Festival mit so vielen Veranstaltungen, Veranstaltungsorten und Akteuren überhaupt durchführen konnte. Umso schöner, dass man sich nicht entmutigen lässt und das Tram weiterhin mit Autoren und Publikum durch die Stadt fahren lässt, das Schiff auf dem See, Sofalesungen veranstaltet und grosse Namen der Literatur einlädt, wie den Niederländischen Erfolgsautor Arnon Grünberg, den Georg-Büchner-Preisträger Wilhelm Genazino oder die indisch-französische Autorin Shumona Sinha, die mit dem Roman «Erschlagt die Armen» nicht nur literarisch für Schlagzeilen sorgte. Und eben Christian Kracht.

© Frauke Finsterwalder 2016
© Frauke Finsterwalder 2016

Christian Kracht, 1966 in der Schweiz geboren und schon mit seinen Romanen «Faserland», «1979», «Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten» und «Imperium» in 30 Sprachen übersetzt und von der Kritik heftig besprochen, veröffentlichte diesen Herbst seinen neuen Roman «Die Toten». Ein Roman, der in den Jahren der Weimarer Republik spielt, wo der Schweizer Filmregisseur Emil Nägeli beauftragt wird, eine cineastische Gegenkraft, eine vereinte Achse zwischen Deutschland und Japan zu formieren gegen die beginnende Übermacht des boomenden Hollywood-Imperiums. Aber weil Christian Kracht Christian Kracht ist, geht es dem Autor in seiner Literatur nicht um den Transport einer Geschichte. Literatur soll 9783462045543Kunst sein, Kunstwerk. Bei jeder anderen Kunstgattung ist die mögliche Provokation mit eingeschlossen. Und ausgerechnet in der Literatur gibt man sich dupiert, ja fast beleidigt, wenn man als Leser und erst recht als Kititker verunsichert wird. Dabei sind Autoren wie Christian Kracht genau das, wonach es schreit; Autoren, die wagen, die verunsichern, irritieren, vielleicht sogar polarisieren. Und die Kritik ist irritiert. Irritiert von der Geschichte, weil sich Christian Kracht nicht um Konventionen und Gepflogenheiten zu kümmern scheint. Irritiert vom Ton, der sein Schreiben so eigen-artig macht. Irritiert, weil man vergeblich nach einer Message sucht, weil Verunsicherung zum Programm gehört. Irritiert, weil sich Christian Kracht auch schon nach seinem letzten Roman «Das Imperium» nicht um die kruden Behauptungen eines Spiegelberichts kümmerte, der seinem Schreiben einen Rechtsdreh andichten wollte.

Christian Kracht las fast 90 Minuten im unterkühlten Neubau des Landesmuseums, mit Mantel und Schal. Und es lauschten alle, weil jeder, der lauschte, spürte, dass da etwas Spezielles klingt.

Ich freue mich, wenn Zürich wieder liest, im Herbst 2017.