Das Literaturfestival Leukerbad stellt sich den schweren Zeiten.

Man muss sich warm anziehen am 26. Literaturfestival in Leukerbad. Nicht nur wegen der zum Teil garstigen Temperaturen und des Wetters, das sich effektvoll über dem Tal inszeniert, sondern wegen der Themen, die sich unüberhörbar einmischen!

Nichts, aber auch gar nichts kann darüber hinwegtäuschen, dass sich auch das Literaturfestival in schwierigen Zeiten befindet. Da kann der Himmel noch so blau sein, die Kulisse noch so imposant, die Namen im Festivalprogramm noch so prominent und das Programm selbst den Zeiten angepasst.
 Sinnbildlich dafür war ein Gespräch im grossen Festivalzelt zwischen der ukrainischen Schriftstellerin Tanja Maljartschuk («Blauwal der Erinnerung», Kiepenheuer & Witsch 2019) und dem deutschen Historiker und Russlandkenner Karl Schlögel («Der Duft der Imperien», Hanser 2020). Während sich die beiden in einem Gespräch versuchten, das immer mehr zu einem verzweifelten Aufruf gegen das Vergessen und die gegenwärtige Gewöhnung eines nicht fassbaren Ausnahmezustands wurde, braute sich über dem Zelt ein infernalisches Gewitter zusammen. Während Tanja Maljartschuk von ihrer kollektiven und ganz persönlichen Verzweiflung berichtete und Karl Schlögel klarzumachen versuchte, dass die Katastrophe nicht erst am 24. Februar dieses Jahres begonnen hatte und das Land, dass im Bombenhagel eines Diktators und Geschichtsverdrehers in eine Trümmerwüste mit Millionen Vertriebener verwandelt wird, seit bald einem Jahrhundert zwischen den Fronten zerrieben wird, entlud sich das Gewitter, prasselte der Regen auf das Stoffdach, krachte der Donner. Man musste sich im Zelt warm anziehen, so wie sich ein ganzer Kontinent in den kommenden Monaten und Jahren warm anziehen muss, weil nichts mehr so sein wird, wie es einmal war – auch weit weg vom Krieg in der Ukraine.

Marie NDiaye

Schwierige Zeiten für die Literatur und ein Literaturfestival, wenn man sich nur noch mit Vorbehalt, einer gewissen Hemmung und latent ungutem Gewissen dem reinen Sprachgenuss hingeben kann. Taugt Literatur noch zum ungehemmten Genuss? Vielleicht ist deshalb Leukerbad genau der richtige Ort für ein solches Festival, denn der Ort Leukerbad selbst kann nicht leugnen, dass wir uns auf einem „absteigenden Ast“ befinden, dass punktuelle Korrekturen nicht mehr reichen, um das in Schieflage geratene Schiff auf Kurs zu halten. Schriftstellerinnen wie Hiromi Ito („Dornauszieher“, Matthes & Seitz 2021), die in Japan zu den wichtigsten literarischen Stimmen gehört oder die aus Frankreich angereiste Emmanuelle Bayamack-Tam („Sommerjungs“, Secession 2022) oder Marie NDiaye („Die Rache ist mein“, Suhrkamp 2021), eine Grande Dame der französischen Gegenwartsliteratur erzählen vom Schlachtfeld Familie, von den grossen und kleinen Katastrophen, die sich unter den Oberflächen abspielen und hervorbrechen. Schwierige Zeiten, weil neben dem Selbstverständnis Familie auch das Selbstverständnis Geschlecht zu wanken beginnt, weil Ordnungen permanent in Frage gestellt werden, Krusten durchbrochen, Ketten gesprengt und gewissen Fragen endlich zugelassen werden.

Alois Hotschnig

Vieles am diesjährigen Literaturfestival in Leukerbad setzte sich mit scheinbaren Wahrheiten, scheinbaren Ordnungen auseinander. Während man sich beim Bachmannwettlesen in Klagenfurt wundert, dass das blosse Erzählen nicht mehr reichen will, wird klar, dass die Literatur wie keine Kunstrichtung sonst in die Pflicht genommen wird, sich mit den aktuellen Fragestellungen der Gegenwart zu stellen. Kein Wunder, dass es die leiseren Stimmen sowohl am Festival wie auch auf den medialen Bühnen der Literatur überall schwerer haben, sich an ihrem Platz zu behaupten. So waren die Lesungen des Österreichers Alois Hotschnig („Der Silberfuchs meiner Mutter“, Kiepenheuer & Witsch 2021) oder des in Rom lebenden Schweizers Pascal Janovjak („Der Zoo in Rom“, Lenos 2021) Stimmen, die sich mit der Vergangenheit und Innenwelten beschäftigen. Sie beschäftigen sich mit den Spuren eines Lebens, mit Geschichten in der Geschichte, mit filigranen Erzählstrukturen, Fragestellungen, die mir als Leser aber gleichwohl gestellt werden, existenziellen Auseinandersetzungen, die mich mitnehmen, wenn ich bereit bin, mich ihnen zu stellen. Erzählt in einer Sprache, sie sich nicht am Effekt orientiert.

Das Literaturfestival Leukerbad stellt sich den schweren Zeiten.

Beitragsbilder © Internationales Literaturfestival Leukerbad

40° Literatur am Festival Leukerbad, Rückblick 2/3

Am Literaturfestival Leukerbad zur Tradition geworden, lädt diese ihre Gäste seit Jahren zu Beginn des Festivals zu einer «Literarischen Wanderung» ein. Hoch über dem Rhonetal von Erschmatt bis Leuk ging die diesjährige Literaturwanderung, durch Geschichte, Geschichten und Gedichte, über Spuren der Zeit, unter der glühenden Sonne der Gegenwart.

Vom Sortengarten, an Findlingen so gross wie Häuser vorbei, begleitet vom «Carillon», umarmt und betört von den Satzsalven eines Dichters, über Ho Briggu in den Schatten einer Eiche, der Angst vor einem Eichhörnchen ausgesetzt, über Brenntjong, an riesigen, stählernen Ohren vorbei bis nach Guttet – ein heisses, literarisches Abenteuer!

Die in der Ukraine aufgewachsene Tanja Maljartschuk, die vor drei Jahren das letzte Mal mit ihrem Roman «Biographie eines zufälligen Wunders» in Leukerbad las und mich damit bezauberte und Christian Uetz, wortgewaltiger Performer, Lyriker und Erzähler vom Bodensee begleiteten eine mehr oder weniger hitzeresistente Schar Wortverliebter durch die Glut eines literarischen Sommertages. 

Tanja Maljartschuk und Christian Uetz bildeten ein kongeniales Begleitpaar. Die eine mit feinem Witz, grosser Beobachtungsgabe und Empathie – der andere mit grosse Geste, laut und raumgreifend, von der Sprache berauscht. Man geht und hört, man nimmt auf und reflektiert schweigend in sich hinein, gibt sich dem Rhythmus von Sprache und Schritt, spürt den Puls innen und aussen!

© Michael Schwarz

Tanja Maljartschuk, geboren 1983, ist in der Ukraine aufgewachsen, wo sie einige Jahre als Journalistin gearbeitet und schon mehrere Bücher publiziert hat. Sie schreibt regelmässig Kolumnen für die Deutsche Welle (Ukraine) und für Zeit Online. Seit einigen Jahren lebt und arbeitet sie in Wien. 2018 hat sie mit ihrem ersten auf Deutsch geschriebenen Text den Bachmann-Preis gewonnen. In ihrem neusten Roman Blauwal der Erinnerung schreibt sie über den vergessenen ukrainischen Volkshelden Wjatscheslaw Lypynskyj, dessen Leben auf kunstvolle Weise mit dem der Ich-Erzählerin verknüpft wird: Sie sucht in dessen Vergangenheit nach Spuren, um besser mit ihrer eigenen Gegenwart zurechtzukommen. Lypynskyj befasste sich politisch und historisch mit der zwischen Polen und Russland zerrissenen Ukraine und forderte wie besessen ihre staatliche Unabhängigkeit. Ähnlich kränklich wie diese historische Figur und – wie er – auf der Suche nach Zugehörigkeit, folgt die Erzählerin diesem stolzen, kompromisslosen, hypochondrischen Mann, um durch die Erinnerung der sowjetischen Entwurzelung zu trotzen. Ein literarisch beeindruckender Roman, der zeigt, was es heisst, wenn die eigene Identität aus Angst, Gehorsamkeit und Vergessen besteht.
Die Frankfurter Rundschau über den Roman: «Das Tröstliche an diesem Buch ist seine Untröstlichkeit. Der Blauwal schliesst sein Maul und schwimmt weiter.»

© Literaturfestival Leukerbad

Der 1963 in Egnach am Bodensee geborene Christian Uetz ist studierter Philosoph, und er glaubt an keine Wahrheit ausserhalb der Sprache. Ob im Gedicht oder in der Prosa: Sein Tanz an ihren Rändern ist immer auch ein Seiltanz über den Abgründen der Existenz. Und er gilt als Virtuose, wenn es um die Intensität der Sprache geht. Auswendig und in einem rasenden Tempo rezitiert er seine Texte bei Auftritten, dass einem Hören und Verstehen vergeht. Das ist gewollt. Einzig die Wortkraft zählt und die Suggestivkraft der Sätze, kaum deren Inhalt. In seinem Gedichtband Engel der Illusionformuliert Uetz spielerisch und doch souverän Gedichte um gewichtige Themen: um die Präsenz des Anderen im Selbst, um Anwesenheit und Abwesenheit, um Negativität und Transzendenz. Mit seinen bildgewaltigen, selbstverlorenen und dabei tief nachdenklichen Gedichten sucht Christian Uetz in der Sprache nach der verborgenen Präsenz dieser Engel der Illusion, um ihr Scheinen erfahrbar zu machen. Was seine Texte so hervorbringen, sind Ekstasen der Begierde und die Trunkenheit der Vernunft. Es ist der Wahnsinn des Tages. Ihr Fluchtpunkt bleibt dabei stets eine mitreissende Affirmation des Lebens und der Sinnlichkeit, ein Lob der Sprache als derjenigen Kraft, welche die Illusion als Wahrheit, das Jenseits als Teil des Diesseits erkennbar macht.

Christian Uetz ist Gast an den 15. Frauenfelder Lyriktagen vom 13. – 15. September!

Rezension von Tanja Maljartschuks Erzählung «Überflutet» auf literaturblatt.ch

Fotos © Literaturfestival Leukerbad