Adelheid Duvanel «Fern von hier» Gesammelte Erzählungen, Limmat

Sprengsätze

© Mine Dal

Gasttext von Alice Grünfelder, Schriftstellerin, Herausgeberin, Übersetzerin und Literaturvermittlerinvon Alice Grünfelder

Da fährt eine im Hochsommer in den Wald, der ihr aus der Kindheit vertraut ist, so heisst es. In dem sie vielleicht an der Hand ihrer Mutter, ihrer Grossmutter, wem auch immer, Beeren gesammelt hat? Wie hat man sich diese Kindheit vorzustellen, die wie «ein Kästchen ist, das explodiert, würde man es öffnen», so Friederike Kretzen, eine der beiden Herausgeberinnen des Bandes „Fern von hier“ von Adelheit Duvanel? Die Schriftstellerin fährt also in den Wald, sitzt, liegt unter einem dichten Dach aus Nadeln, Blättern – Fichten? Birken? –, vielleicht auch auf einer Lichtung, nimmt Medikamente, spürt deshalb nicht, wie es ihr mitten in diesem Julisommer kalt und kälter wird, wie das Leben aus ihr entweicht, «stirbt an Unterkühlung»: letzter Eintrag unter dem Stichwort Lebensdaten im Anhang des Erzählbands «Fern von hier» .

So unfassbar und auch unvorstellbar dieser Suizid ist, wird man dem Werk Adelheid Duvanels nicht gerecht, wenn es vom Ende her gedeutet wird, würde es damit gar pathologisieren. Manche finden ihre Texte zu schwer, andere zu dunkel, übersehen dabei womöglich das Flatterhafte der Figuren, die knapp über dem sogenannten festen Boden unter den Füssen schweben. Sich nicht verorten und auch nicht «bodigen» lassen wollen. Irritierende Figuren, die irisieren, auch wenn Duvanel ihnen konkrete Namen gibt: Allerweltsnamen wie Anton, Johannes, Manfred, Katja, Regine. Sie schickt sie zu Psychiatern und wirft die Träume vor deren Füsse, weil diese ja auch von irgendetwas leben müssen.

Darin zeigt sich Duvanels Lust an widerständigem Schreiben, an leiser Provokation, an Verdichtung des schier Unausdenkbarem auf kleinstmöglichem Raum, die Lust auch, alles, was zwischen Licht und Schatten in solch einer Existenz möglich ist, aufzuspüren. Und es zeigt sich vor allem in den Anfängen ihrer Texte, die – aneinandergereiht – eine ganz eigene Geschichte erzählen könnten:

Fern liegt wie ein milchblauer Leib die Landschaft hinter einem rostroten Gitter, wie es kahle Bäume bilden.
Ich heiße Mirjam, bin dreizehn Jahre alte und lebe im Erziehungsheim „Zuversicht“.
Der Wind reißt mit Krallen an den Telefondrähten; zu der Melodie könnte man singen. 
Hubert Vollundganz ist der kleine Mann mit dem schwarzen Hut, der dort um die Ecke biegt.

Die stille Frau trägt immer einen Sack aus rotem Stoff über ihrer Schulter.
Der Himmel fällt in Fetzen herunter.
Kurt küsste vor einigen Wochen seine Halbschwester zum ersten Mal auf beide Wangen.
Jakob nennt die Suppe, die er sich täglich kocht, «Eigenbrötlersuppe».
Der Wind packt die Bäume im Genick und schüttelt sie.

Gleichwohl verweigern die Erzählungen leichtfertige Deutungen, nach solchen Anfängen ist noch immer alles möglich, bis sich die Wirklichkeitsebenen verschieben, zuerst sachte, gegen Ende oft so, dass sich die Figuren, aber auch Leserinnen und Leser nicht mehr wirklich zurecht finden. Dabei nimmt sie mit jeder neuen Geschichte neuen Anlauf, richtet sich und ihre Figuren nicht etwa ein in der Melancholie, der Ausweglosigkeit, geht indes auch kein Bündnis ein mit niemandem, warum auch. Sie wirft irre Lichter auf diese Ordnung, widerspenstig und leise streifen ihre Figuren das Netz mit hilflosen Gesten ab, wollen sich nicht darin verheddern, einfangen, einsperren lassen. Überdeutlich zeichnen sich diese Zusammenhänge ab, doch heftig ist der Überlebenswille, das tönt und klirrt in den Geschichten, und oft leuchten sie rot auf, zündrot zum Beispiel.

Den Figuren kommt man indes nicht wirklich nah, da ist auch immer eine Distanz, aus der heraus eine leise Verwunderung leuchtet. Der Blick nach aussen erfolgt oftmals durch eine Brille, ein Fenster. Dann aber – wenn man den Figuren durch Strassen folgt, wenn ihre Blicke durch Fenster in Gemütlichkeiten fallen: das Gefühl des Ausgesperrtseins.

Hilfe wiederum (Adelheid Duvanel kennt sich mit Psychiatrien aus, sie selbst war oft genug in Behandlung und in psychiatrischen Kliniken) bringt keinerlei Klärung. Duvanel reisst den vermeintlich gutmeinenden Helfern die Fratzen ab wie Masken, sieht in ihnen Stellvertreter einer Ordnung, gegen die nicht nur ihre Figuren angehen, sondern sie als Autorin anschreibt. Entlang dieser Ordnung als autoritärem Prinzip entwickelt Adelheid Duvanel ihre Gegenerzählung.

Adelheid Duvanel, von der nun 251 Geschichten vorliegen – manche nur eine Seite lang, andere drei -, sei ein Geheimtipp, habe zu Lebzeiten nicht die Achtung erfahren, die ihr zugestanden hätte, wird in Feuilletons einhellig beklagt. Doch ihre Geschichten sind seit 1980 regelmässig in Zeitungen erschienen, Klaus Siblewski hat dafür gesorgt, dass sie gleich mehrere Bände beim Luchterhand-Verlag unterbringen konnte, es gab Auswahlbände. Wen ich auch frage, alle (zumindest in der Schweiz) kennen ihren Namen. Ignoriert und unbekannt sieht anders aus.

Es bleibt also abzuwarten, wie Samuel Moser es in einem Gespräch auf den Solothurner Literaturtagen sagte, ob sich nächstes Jahr noch jemand an diesen «Geheimtipp» erinnert, wie die Rezeption von Adelheit Duvanels weitergeht, ob es nur ein kurzes Strohfeuer ist. Oder, so Friederike Kretzen im Gespräch mit Stefan Howald: «Die Zeiten sind härter geworden, jetzt kann man auch Duvanel wieder lesen.»

Adelheid Duvanel: Fern von hier. Sämtliche Erzählungen. Herausgegeben von Elsbeth Dangel-Pelloquin unter Mitwirkung von Friederike Kretzen. Limmat Verlag, 2021

Die Galerie Litar zeigt von 29.10.-11.12.2021 die Ausstellung «Adelheid Duvanels Himmel»

Adelheid Duvanel, geboren 1936 in Pratteln und aufgewachsen in Liestal, machte eine Lehre als Textilzeichnerin. Sie arbeitete auf verschiedenen Bürostellen sowie als Journalistin und Schriftstellerin. Von 1962–1981 war sie mit dem Kunstmaler Joseph Duvanel verheiratet, mit dem sie eine Tochter hatte. Bis auf ein Jahr auf Formentera lebte sie in Basel, wo sie 1996 starb. Ihre schriftstellerische Laufbahn begann sie unter dem Pseudonym Judith Januar in den Basler Nachrichten, in Anthologien und literarischen Zeitschriften. Ab 1980 erschienen ihre Erzählbände im Luchterhand Verlag. Duvanel wurde vielfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem Grossen Schillerpreis und dem Kranichsteiner Literaturpreis

«Unabweisbar bleibt die Frage, warum die deutschsprachige Literaturkritik nicht zu Lebzeiten Adelheid Dvanels die Einzigartigkeit dieser Schweizer Erzählerin bemerkt hat.» Peter Hamm

Alice Grünfelder ist geboren im Schwarzwald, aufgewachsen in Schwäbisch Gmünd, studierte nach einer Buchhändlerlehre Sinologie und Germanistik in Berlin und Chengdu (China), war 1997–99 Lektorin beim Unionsverlag in Zürich, für den sie 2004–2010 die Türkische Bibliothek betreute. Vermittelte und übersetzte Literaturen aus Asien. Seit 2010 unterrichtet sie Jugendliche und ist als freie Lektorin tätig. Februar bis Juli 2020 war sie für ein Sabbatical in Taibei (Taiwan). Sie ist Herausgeberin mehrerer Asien-Publikationen, zuletzt Vietnam fürs Handgepäck (2012) und Flügelschlag des Schmetterlings (2009). Sie veröffentlichte eigene Gedichte, Essays und Erzählungen. Ihr Roman Wüstengängerin erschien 2018, der Essay Wird unser MUT langen 2019. Nominiert für den Irseer-Pegasus-Literaturpreis 2019, Werkjahr der Stadt Zürich 2019.

Walle Sayer … lesen und staunen

Per Zufall entdeckte ich Walle Sayers Texte auf einem Blog mit literarischen Alltagsbetrachtungen. Da schreibt er über eine späte Heimfahrt nach einem Rockkonzert übers süddeutsche Land, bezeichnet Autobahnen als Krampfadern – und mir war die Landschaft, auch die sprachliche, sofort vertraut.

Gastbeitrag von Alice Grünfelder

Walle Sayer lebt und schreibt in Horb, kam nach diversen «Kneipensemestern» in einer selbstverwalteten Kneipe – «Studium des Lebens», nennt Walle Sayer diese Zeit – übers Lesen zum Schreiben, zu Gedichten als Gegenwelt zu seiner Kaufmannslehre in einer Bank, später engagierte er sich in der Friedensbewegung. Er spielte das Grosse im Kleinen durch, die ersten Bücher, so sagt er in einer online-Lesung im April 2021, waren ungelesen, ungesehen, sagt aber auch, dass er diesen Schonraum geschätzt habe, in dem er sich entwickeln konnte, unterstützt von gelegentlichen Stipendien, die «schon wichtig» waren.

Ich beginne mit der Lektüre «Beschaffenheit des Staunens» und stosse erneut auf vertraute Bilder von Mofarockern und Jugendlichen auf einem «Verlassenheitsareal, auf dem man nur Fehlzeiten verbringen kann. Von den Jugendversehrten, die sich untereinander mit Stummelsätzen verständigen, erzählt einer nebenbei, dass die Mutter gestern im Suff sein Sparschwein aufgebrochen habe. (…) Als von irgendwoher (…) der Wortführer hallend gerufen wird, dreht der einfach das dröhnende Gerät weiter auf, bis zum scheppernden Anschlag.» 

Walle Sayer «Mitbringsel», Klöpfer Narr, 122 Seiten, CHF 29.90, ISBN 978-3-7496-1011-2

Wie Walle Sayer fern von jedem Pathos Landschaften und Alltagsmomente beschreibt, ist mir indes neu, diesen Ton aus der Provinz habe ich so noch nie gelesen und werde fortan an keinem Holzschopf mehr vorbeigehen können, ohne an Walle Sayer zu denken, der in seiner archäologisch angelegten Prosaminiatur «Betrachtung» übereinandergeklebte Plakate von Dorfversammlungen, Verkaufsmessen, Sichelhenkeln und damit einen Flickenteppich von Triumpf und Vergänglichkeit beschreibt. So könnte ich weiter staunen und schreiben über seine lakonischen Notate zum Beispiel über Menschen und ihre Liebe: «Die beiden fangen ein Vierecksverhältnis an mit den Bildern, die sie sich voneinander machen.» In solchen Zeilen zeigt sich der Meister der Kürze oder, wie Denis Scheck es treffend sagt, ein Misstrauen gegenüber jeder Ausführlichkeit. In dem Band «Mitbringsel» treibt er es damit auf die Spitze, indem er Wörter aneinanderreiht, die er oder sein Lektor gestrichen haben.

Seine leichte Sprache entfaltet eine starke Wirkung, das Hingetuschte wirkt bei Walle Sayer keineswegs leicht, das Leben und Sterben ist es gleichermassen nicht, denn „die Kehrseite der Kehrseite ist noch lange nicht die Vorderseite.“ So notiert er es in einem nicht ganz ernst gemeinten Sitzungsprotokoll.

So kann nur einer schreiben, dem „Wachsein vor dem Aufsein“ eingeschrieben ist in ein Leben abseits der Metropolen, der nach Wortkrumen in seinem Dialekt sucht wie ein Archivar, und diese Wörter so behutsam einsetzt, des Klanges wegen oder auch nur, wenn es kein anderes adäquates gibt, dass sie aufleuchten statt abzustossen. Und nein, er schreibt nicht über sich selbst, stülpt nicht das Innen ins Aussen, sagt stattdessen: «Wohl bietet die eigene Biografie Material, aus dem man schöpft, aber man muss nicht über sich selbst schreiben.» Vielmehr sucht Walle Sayer im Alltag nach einem «Tagesleck», das er mit einem Satz abdichten will, damit es nicht im Alltagsrauschen untergeht, so erklärt er sein Schreiben.

Walle Sayer «Nichts, nur», Edition Klöpfer, 2021, 240 Seiten, CHF 40.90, ISBN 978-3-520-75501-8

Der Verlag schenkte Walle Sayer zu seinem 60. Geburtstag «Nichts, nur». Nichts passt wohl besser zu Walle Sayer als dieses Understatement. Das Buch ist Querschnitt und Zwischensumme zugleich seiner Poeme und Prosaminiaturen. «Nichts, nur», so sagte es die Moderatorin anlässlich der Buchvorstellung im April 2021 in Dornstetten, könnte vor jedem seiner Gedichte stehen.

Nichts, nur der Vollmond, der sich spiegelt im ruhigen Wasser, ein an den See entrichteter Obolus der Nacht. 
Nichts, nur ein paar Raben, Funktionäre der Farbe Schwarz, hocken im Geäst, zerkrächzen die Sicht.

Nichts, nur die Runde am Nebentisch, Schaumkronen setzen sie sich auf, erlassen ihre Edikte, danken ab.
Nichts, nur: diese Tonfolge, dieser Auftakt.

Walle Sayers Werke sind meistens im Verlag Klöpfer&Meyer erschienen, einen Überblick über seine Bücher lässt sich am besten auf literaturport nachlesen. 

© Burkhard Riegels-Winsauer

Beitragsbild © Charly Kuball

Anne Weber «Annette, ein Heldinnenepos», Matthes und Seitz, Gasttext von Alice Grünfelder

Es sind wenig mehr als Gedanken, die ich hier notiere, weil sie mir beim Lesen unentwegt durch den Kopf gesprungen sind. Ich bin angenehm überrascht, dass solch ein ungewöhnliches – im sprachlich-formalen und thematischen Sinne – Buch den deutschen Buchpreis erhalten hat, was mich doch noch an die Vernunft der Vergabepraxis glauben lässt. 

© Mine Dal

Heldinnen früher und heute
Gasttext von Alice Grünfelder, Schriftstellerin, Herausgeberin, Übersetzerin und Literaturvermittlerinvon Alice Grünfelder

Ich ärgerte mich über so manchen Feuilletonisten, der meinte, mit der Form, also eine Biografie in Versform, hätte Anne Weber den Stoff arg tief gehängt. Dabei ist es gerade diese Form, die Ambivalenz eines Heldinnenlebens in wenigen Worten und mit einer stupenden Präzision zu verdichten, um damit gleichsam die Widersprüche dieses Jahrhunderts auf den Punkt zu bringen. Jedes weitere und unnötige Wort würde ihr Ansinnen verwässern.

Doch ich rätselte mitunter, warum dieser Titel – von der Autorin? Vom Verlag? – gewählt wurde, denn ist Anne Beaumanoir wirklich eine Heldin? Eine vermeintliche, eine verblendete? Die Heldin folgt dem Prinzip Gleichheit und Gleichberechtigung, und wegen dieses Prinzips ist sie immer mal wieder auf dem einen Auge oder gleich beiden blind. Was auch nicht weiter verwunderlich ist, wenn Zweifel im «Sand der Gegenwart», dem algerischen wohlgemerkt, vergraben werden. Anne Beaumanoir sieht dieser Wahrheit erst spät ins Gesicht, als sie sich monatelang in einem Keller verstecken muss: «Die Wahrheit ist, dass sie für einen souveränen Staat (den algerischen A.d.R.), der binnen kurzer Zeit zu einem Militärregime mutiert ist, alles eingebüßt hat.» Vor allem unter dem Verlust ihrer drei Kinder leidet die Frau, die sie jahrelang nicht sehen durfte, denn um einer zehnjährigen Haftstrafe in Frankreich zu entgehen, floh sie auf Umwegen nach Tunesien. 

Man mache es sich zu leicht, schreibt Anne Weber, aus der Vergangenheit zurückzublicken und zu kritisieren, man bedenke indes, dass dies ungerecht sei, denn wenn man im Nebel stecke, sehe man die Möglichkeiten nicht unbedingt, die sich erst Jahre später herausschälen. Die Autorin blendet ihre Zweifel nicht aus, gräbt tief, fragt nach, hinterfragt die einstigen Ideale, will diese schillernde Persönlichkeit verstehen, die so viel aufgegeben hat, um am Ende ihres Lebens am Fuss eines Berges zu stehen und einen Stein hinaufrollen zu wollen. Wer nun an Camus‘ Sisyphos denkt, denkt richtig, denn mit ihm schliesst dieses Versepos: «Der Kampf, das andauernde Plagen und Bemühen hin zu grossen Höhen, reicht aus, ein Menschenherz zu füllen. Weshalb wir uns Sisyphos am besten glücklich vorstellen.»

mehr über Anne Beaumanoir

Die Schriftstellerin und Übersetzerin Anne Weber wurde 1964 in Offenbach geboren und lebt seit 1983 in Paris. Sie hat sowohl aus dem Deutschen ins Französische übersetzt (u.a. Sibylle Lewitscharoff, Wilhelm Genazino) als auch umgekehrt (Pierre Michon, Marguerite Duras). Ihre eigenen Büchern schreibt sie sowohl in deutscher als auch in französischer Sprache. Ihre Werke wurden u. a. mit dem Heimito von Doderer-Literaturpreis, dem 3sat-Preis, dem Kranichsteiner Literaturpreis und dem Johann-Heinrich-Voß-Preis ausgezeichnet. Für ihr Buch «Annette, ein Heldinnenepos» wurde Anne Weber mit dem Deutschen Buchpreis 2020 ausgezeichnet.

Beitragsbild © Thorsten Greve

Vom gesellschaftskritischen Kommentator zum altersweisen Zeitengänger

Taiwans lyrische Welt ist vielfältig, Lyrik hat einen höheren Stellenwert, wird mehr gelesen, auch von Jüngeren, als hierzulande. Und fällt der Name Yang Mu, nickt man dazu: Die Anerkennung ist einhellig. Er gilt als erster Dichter von Rang, der seine taiwanische Herkunft und Identität in seinen Gedichten anklingen lässt, aber auch die damit einhergehende Zerrissenheit wie beispielsweise in dem Gedicht «Jemand fragt mich nach Gerechtigkeit».

von Alice Grünfelder

Neben Gedichten, für die er nicht nur in Taiwan bekannt ist, schrieb Yang Mu auch Essays (beispielsweise in «Die Spinne, das Silberfischchen und ich), ebenfalls übersetzt von Susanne Hornfeck und Wang Jue.
Im März veröffentlichte die Taipei Times einen Nachruf auf Yang Mu, nachdem er im Alter von 79 Jahren nach Herz- und Lungenbeschwerden im Krankenhaus starb. Eine seiner Lebensfragen hängt seither über meinem Schreibtisch: «How to get involved without being swallowed?»

Seit 1995 setzt Ihr Euch mit dem Werk Yang Mus auseinander – weil er als bedeutendster Lyriker Taiwans gilt?

Ja, wir beschäftigen uns schon lange mit dem Autor, haben sowohl Lyrik (Patt beim Go 2002) als auch Essays („Norden“, in Neue Sirene 1995, und «Die Spinne, das Silberfischchen und ich» 2013) von ihm übersetzt und finden ihn auch deshalb so spannend, weil in seinem Werk so vieles zusammenkommt: die Tradition der chinesischen Poesie, die westliche klassische Moderne und die Einflüsse seiner taiwanischen Heimat. Tilman Spengler hat in seinem Nachruf geschrieben, wir sollten ihn in Erinnerung behalten «als einen Bewahrer der Kunst des Gesangs, von ihren Ursprüngen in China und Griechenland, seinen chinesischen Vorläufern so nahe wie den Griechen, den amerikanischen Zeitgenossen – oder dem jungen Hölderlin».
Besonders froh sind wir, dass er die Nachricht von der deutschen Veröffentlichung seines letzten Gedichtbands – die erste vollständige Übersetzung in eine westliche Sprache – noch freudig zur Kenntnis nehmen konnte. Das fertige Produkt hielt er leider nicht mehr in Händen, aber am 5. September 2020 findet in der Nationalbibliothek Taipeh eine Gedenkveranstaltung statt, bei der Wissenschaftler und Weggefährten an ihn erinnern. Da wird unser Band dann auch aufliegen.


Die lyrische Welt im früheren Band «Patt beim Go» ist zugänglicher als die «Balladen», andererseits finde ich die neun Variationen über die Zittermelodie «Baldige Heimkehr» von Han Yu äussert reizvoll und gelungene Übersetzungen. Wie seid Ihr bei der Auswahl der Gedichte vorgegangen, die Ihr übersetzt habt?

«Patt beim» Go war eine Auswahl, wir haben dabei aus zahlreichen Gedichtsammlungen der Jahre 1969 bis 2000 geschöpft. Wir haben versucht, möglichst repräsentative Texte auszuwählen, aber natürlich springen einen jene an, die einem besonders nahe gehen, in die man sich gut hineindenken kann. Das ist sicher ein Grund, warum die Texte in dieser Auswahl «zugänglicher» wirken. Den Band «Lange und kurze Balladen» haben wir komplett übersetzt. Das heisst, wir mussten uns auch den Gedichten stellen, die für uns schwierig und zunächst unverständlich waren. Die «Variationen» mit ihrem wunderbaren Motto von Han Yu (768–824) sind sicher eines der leichter zugänglichen Kapitel, sie sind von der Länge her überschaubar und beschäftigen sich meist mit konkreten sinnlichen Erfahrungen.

Hat die zunehmende Verschlossenheit seiner Gedichte vielleicht auch etwas mit dem Alter zu tun? Einmal erscheint Yang Mu alterweise und wie die griechischen Götter aus der Ferne auf eine Vergangenheit zu schauen, dann wieder zur Verzweiflung getrieben wegen der «Wirkung der endlos sich dehnenden Zeit». Denke ich z.B. an das Gedicht «Vor den Panzern», das Yang Mu dem Tankmann auf dem Platz des Himmlischen Friedens gewidmet ist, so muten die Gedichte in «Balladen» fast schon ätherisch an. Vom kritischen Kommentator zum feingeistigen metaphysischen Denker?

Ja, das Alterswerk, das dieser Band versammelt, ist sicher abgeklärter. Nicht umsonst taucht immer wieder das Bild der im Olymp thronenden griechischen Götter auf, aber die sind sich ja keineswegs einig, sie streiten und hadern und stiften Chaos. Und im vierten Kapitel, das Taiwan gewidmet ist, wird deutlich, dass die Insel nicht nur geologisch, sondern auch historisch/politisch in einer prekären Lage ist.

 

 



Wie übersetzt ihr? Fertigt Wang Jue zuerst eine Interlinear-Übersetzung an, die Susanne Hornfeck dann überarbeitet, oder wie kann man sich die Zusammenarbeit vorstellen?

Ich würde mich allein nie an diese Texte heranwagen. Die Sprache changiert zwischen klassischem Chinesisch und naturwissenschaftlichen oder philosophisch abstrakten Begriffen, überall lauern Bezüge zu klassischer Lyrik. Erst in der bewährten Zusammenarbeit mit Wang Jue fühle ich mich da einigermassen sicher. Sie macht eine Interlinearversion, meist mündlich, die sie mir als mp3-Datei schickt, zusammen mit ihren erläuternden Kommentaren. Ich nehme mir dann den chinesischen Text vor und erstelle mit Hilfe ihrer Vorarbeit eine deutsche Fassung, die dann noch mehrmals hin- und hergeht. Oder wir telefonieren zu einzelnen Stellen. Leider wohnt sie nicht um die Ecke, sondern in Seattle.
Zu diesem Punkt meldet sich auch Wang Jue zu Wort und verweist auf die drei Zielvorstellungen beim Übersetzen: 信 Verstehen und Treue zum Original, 達 die Gewandtheit des Ausdrucks und 雅 stilistische Eleganz. Für das erste fühlt sie sich zuständig, für die beiden letzten sieht sie mich in der Pflicht.

Was ist das Herausfordernde an Yang Mus Lyrik, was ist besonders schwierig? Wie entscheidet Ihr Euch, denn gerade bei Lyrik-Übersetzungen aus dem Chinesischen ist die Bandbreite möglicher Interpretationen enorm, das kann man auch in dem Band «19 Arten Wang Wei zu betrachten» von Eliot Weinberger nachlesen.

Wie schon gesagt, sein Vokabular ist komplex, die Zusammenhänge der oft sehr langen Perioden nicht immer leicht zu durchschauen. Da müssen erst mal die Bezüge geklärt werden. Im Deutschen muss man ja leider vieles «vereindeutigen», was im Chinesischen wunderbar vage bleiben kann. Gelegentlich habe ich Wang Jue mit Fragen wie «Wer spricht hier?» oder «Wo ist das Subjekt?» zur Verzweiflung getrieben.
Und – du erwähnst das Bändchen von Eliot Weinberger – aus der Bandbreite des Interpretationsspektrums muss man sich für eine Lesart entscheiden. Wir versuchen dabei relativ eng am Text zu bleiben. Englische Übersetzungen lesen sich da oft flotter, tun sich – auch von der Sprachstruktur her – mit ihren praktischen Partizipialkonstruktionen leichter. Aber im Deutschen kann man nicht «schummeln», da muss man grammatikalisch «Farbe bekennen». Andererseits gibt es im Deutschen – darauf hat mich Wang Jue hingewiesen – die zusammengesetzten Hauptwörter, eine wunderbar kreative Form der Verknappung.

Yang Mu «Lange und kurze Balladen», Gedichte chinesisch – deutsch, iudicium, 2020, 143 Seiten, CHF 25.90, ISBN 978-3-86205-530-2

Ihr bittet im Nachwort von «Lange und kurze Balladen» um Nachsicht bei der Beurteilung Eurer Übersetzung und verweist auf die Schwierigkeiten beim Übersetzen chinesischer Lyrik, denn: «Was sich im Chinesischen elegant aneinanderreiht, muss im Deutschen in kausale und temporale Zusammenhänge gebracht werden. Wo das Chinesische auf ein Agens verzichten kann, braucht der deutsche Satz ein Subjekt.» Beide Bände, die Ihr übersetzt habt, sind zweisprachig erschienen. Scheut Ihr nicht die Reaktionen kritischer sinologischer Übersetzerkollegen oder jener, die des Chinesisch mächtig sind, die akribisch Original mit der Übersetzung vergleichen?

Natürlich macht man sich angreifbar, wenn der chinesische Text danebensteht. Und natürlich gibt es immer kritische Leser, die es besser zu wissen meinen, aber die müssen, wenn sie das Original anschauen, auch eingestehen, welch hohen Schwierigkeitsgrad diese Texte haben. Das Gedicht überhaupt zu verstehen, ist schon eine Herausforderung. Und wie gesagt, wir präsentieren hier unsere Lesart. Zweifellos gibt es andere. Weinberger spricht ja in seinem Buchtitel nicht umsonst vom «betrachten»; schon die Betrachtung kann sehr unterschiedlich sein, um wie viel mehr dann erst die Übersetzung.
In jedem Fall ist es für den Leser eine Bereicherung, die chinesischen Zeichen im Blick zu haben. Wie knapp und elegant sie sind im Vergleich zu dem verbalen Aufwand, den wir betreiben müssen.

Werdet ihr weiter Gedichte von Yang Mu übersetzen, oder Euch vielleicht einem anderen Lyriker, einer Lyrikerin zuwenden?

Ja, nach dem Spiel ist vor dem Spiel. Aber momentan sind wir erst mal glücklich erschöpft, das geschafft zu haben.

Die Fragen beantwortete Susanne Hornfeck in Absprache mit Wang Jue, die Fragen stellte Alice Grünfelder.

Alice Grünfelder, lebt in Zürich, studierte nach einer Buchhändlerlehre Sinologie und Germanistik in Berlin und China. 1997–99 Lektorin beim Unionsverlag in Zürich, für den sie 2004–2010 die Türkische Bibliothek betreute. Von 2001–2010 eigene Literaturagentur für Literaturen aus Asien. Unterrichtet Jugendliche und ist als freie Lektorin tätig. Sie leitet diverse Workshops rund ums Thema Schreiben und seit fünf Jahren den Kinderschreibworkshop „Wortschatz“ im Aargauer Literaturhaus in Lenzburg. Als Herausgeberin und Übersetzerin aus dem Chinesischen und Englischen publizierte sie Bücher über Asien, zuletzt Sri Lanka. Geschichten und Berichte(2014) und Flügelschlag des Schmetterlings. Tibeter erzählen (2009). (Unionsverlag) 2018 erschien ihr erster Roman Die Wüstengängerin (Verlag edition 8).

Susanne Hornfeck ist Germanistin und Sinologin. Sie lehrte fünf Jahre als Dozentin an der Universität Taipeh/Taiwan und arbeitet heute als Autorin und literarische Übersetzerin. Seit vielen Jahren leitet sie im Übersetzerhaus Looren bei Zürich englisch-deutsche Übersetzerwerkstätten für Jugendliche.
Wang Jue stammt aus Shanghai, studierte in Taiwan klassische chinesische Literatur und war später in der Ostasiatischen Sammlung der Bayerischen Staatsbibliothek in München tätig. Heute lebt sie in Seatle und arbeitet als freiberufliche Beraterin für Museen und als literarische Übersetzerin.

Bibliografische Nachweise
Yang Mu: «Patt beim Go». Aus dem Chinesischen von Susanne Hornfeck und Wang Jue, zweisprachig, 216 Seiten, A1-Verlag, 2002
Yang Mu: «Lange und kurze Balladen». Aus dem Chinesischen von Susanne Hornfeck und Wang Jue, zweisprachig, 142 Seiten, iudicium-Verlag, 2020

Alice Grünfelder „Postkarten aus Taiwan“ VII

Alice Grünfelder ist (noch) in Taiwan auf Spurensuche und schickte ihr Gewölk aus Gedanken, Beschreibungen, Zitaten in Miniaturen verdichtet per Postkarte ans literaturblatt.ch – jeden Monat eine. Diesmal, zum letzten Mal, versuchte sie es wieder mit Briefmarke und Stempel. Erfolglos. Dafür wieder digitanolog!

Taiwan – zum Letzten:
Eine Teeaffäre: Der Alte thront vor dem Teegeschirr
gießt Wasser vom Kännchen ins Schälchen
klopft den Wasserhahn gerade das Wasser fließt über
die Sonne geht auf, aber zu spät, wir sehen nur noch,
wie sie sich über den Drachenrücken schiebt und in Wolken verschwindet
er lächelt dazu und zieht erst die Augenbrauen in seinem Gesicht hoch
runzligkantig, als wir ihm von einer Schlange erzählen.

Design und Typo: Hsuan Liang Lin

Alice Grünfelder, lebt in Zürich, studierte nach einer Buchhändlerlehre Sinologie und Germanistik in Berlin und China. 1997–99 Lektorin beim Unionsverlag in Zürich, für den sie 2004–2010 die Türkische Bibliothek betreute. Von 2001–2010 eigene Literaturagentur für Literaturen aus Asien. Unterrichtet Jugendliche und ist als freie Lektorin tätig. Sie leitet diverse Workshops rund ums Thema Schreiben und seit fünf Jahren den Kinderschreibworkshop „Wortschatz“ im Aargauer Literaturhaus in Lenzburg. Als Herausgeberin und Übersetzerin aus dem Chinesischen und Englischen publizierte sie Bücher über Asien, zuletzt „Sri Lanka. Geschichten und Berichte“ (2014) und „Flügelschlag des Schmetterlings. Tibeter erzählen“ (2009). (Unionsverlag) 2018 erschien ihr erster Roman „Die Wüstengängerin“ (Verlag edition8).

Alice Grünfelder „Postkarten aus Taiwan“ I

Alice Grünfelder „Postkarten aus Taiwan“ II

Alice Grünfelder „Postkarten aus Taiwan“ III

Alice Grünfelder „Postkarten aus Taiwan“ IV

Alice Grünfelder „Postkarten aus Taiwan“ V

Alice Grünfelder «Postkarten aus Taiwan» VI

Beitragsbild ©Alice Grünfelder 

Alice Grünfelder „Postkarten aus Taiwan“ VI

Alice Grünfelder ist in Taiwan auf Spurensuche und schickt ihr Gewölk aus Gedanken, Beschreibungen, Zitaten in Miniaturen verdichtet per Postkarte ans literaturblatt.ch – jeden Monat eine. Aber weil die Taiwanesische Post wegen der Pandemie noch immer keine Post nach Europa ausliefert, geschieht das auch diesmal ohne Stempel.

Ruhe und hoch das Paddel vor dem Stich
ins Wasser ein Ruck zurück die Trommel dazu.

Ruhe ist, weil nichts gehört
er nicht und auch nicht die anderen
wundwaid rechten
den Mächtgen und Gefälligen
in Arm und Wort fallen.
Er fechtet mit Worten statt mit Degen
merkt nicht den Stich in den Rücken
bevor er vertrieben.

Hoch in den Bergen windet er
Girlanden aus Gladiolen
aus Efeu ein Gewand
streift umher in üppiger Einsiedelei
niemand hört ihn mehr.
Bambus splittert, Herbstastern stechen
Sommer und Winter im Einerlei.

© aus einer unveröffentlichten Rhapsodie auf Qu Yuan

Das Drachenbootfest wird am 5. Tag des 5. Monats nach dem chinesischen Mondkalender zu Ehren des Beamten und Urvaters der chinesischen Lyrik Qu Yuan gefeiert – dieses Jahr also am 25. Juni. Aus dieser historischen Legende wuchs die Tradition des Festes: Vom König wegen seiner Kritik an dessen Politik ins Exil geschickt, stürzte sich Qu Yuan mit einem Stein um den Hals in den Fluss, als seine Heimat von fremden Truppen erobert wurde. Damit ihn die Fische nicht fressen, trommelten die Fischer und warfen Nahrungsreste ins Wasser. Zum Fest werden heute Zongzi (Bambusblätter mit diversen Füllungen) gegessen und duftende Beutel gegen diverse Seuchen aufgehängt. Jeder kennt Qu Yuan, nur wenige kennen seine Schriften.

Alice Grünfelder, lebt in Zürich, studierte nach einer Buchhändlerlehre Sinologie und Germanistik in Berlin und China. 1997–99 Lektorin beim Unionsverlag in Zürich, für den sie 2004–2010 die Türkische Bibliothek betreute. Von 2001–2010 eigene Literaturagentur für Literaturen aus Asien. Unterrichtet Jugendliche und ist als freie Lektorin tätig. Sie leitet diverse Workshops rund ums Thema Schreiben und seit fünf Jahren den Kinderschreibworkshop „Wortschatz“ im Aargauer Literaturhaus in Lenzburg. Als Herausgeberin und Übersetzerin aus dem Chinesischen und Englischen publizierte sie Bücher über Asien, zuletzt „Sri Lanka. Geschichten und Berichte“ (2014) und „Flügelschlag des Schmetterlings. Tibeter erzählen“ (2009). (Unionsverlag) 2018 erschien ihr erster Roman „Die Wüstengängerin“ (Verlag edition8).

Alice Grünfelder „Postkarten aus Taiwan“ I

Alice Grünfelder „Postkarten aus Taiwan“ II

Alice Grünfelder «Postkarten aus Taiwan» III

Alice Grünfelder «Postkarten aus Taiwan» IV

Alice Grünfelder «Postkarten aus Taiwan» V

Beitragsbild ©Alice Grünfelder (absichtlich auf den Kopf gestellt)

Alice Grünfelder „Postkarten aus Taiwan“ V

Alice Grünfelder ist in Taiwan auf Spurensuche und schickt ihr Gewölk aus Gedanken, Beschreibungen, Zitaten in Miniaturen verdichtet per Postkarte ans literaturblatt.ch – jeden Monat eine. Aber weil die Taiwanesische Post wegen der Pandemie keine Post nach Europa ausliefert, geschieht das für einmal ohne Stempel.

Shilin 士林

(Lang-Haiku)

Surrende Morgen
im Wald der Gelehrten wie
ein Dorf in der Stadt
Tofuverkäufer richten
die Stände Nudeln werden
geschlürft Kinder auf
Motorrollern zur Schule
gefahren derweil
das Café an der Ecke
geschlossen wegen
der Krise alte
Frauen und Männer schwingen
Arme und Beine
im Kinderwagen sitzt ein
Hund Frauen wollen
keine Männer regieren
besonnen das Land.
Warum werden Graffiti
bald weiss übermalt?
Die hohen Betonmauern
schützen vorm Fluss wenn
der Taifun Wasser
in die Stadt treibt weit schwingen
Brücken zähmen die
Natur Mensch gefangen
im löchrigen Netz.

Alice Grünfelder, lebt in Zürich, studierte nach einer Buchhändlerlehre Sinologie und Germanistik in Berlin und China. 1997–99 Lektorin beim Unionsverlag in Zürich, für den sie 2004–2010 die Türkische Bibliothek betreute. Von 2001–2010 eigene Literaturagentur für Literaturen aus Asien. Unterrichtet Jugendliche und ist als freie Lektorin tätig. Sie leitet diverse Workshops rund ums Thema Schreiben und seit fünf Jahren den Kinderschreibworkshop „Wortschatz“ im Aargauer Literaturhaus in Lenzburg. Als Herausgeberin und Übersetzerin aus dem Chinesischen und Englischen publizierte sie Bücher über Asien, zuletzt „Sri Lanka. Geschichten und Berichte“ (2014) und „Flügelschlag des Schmetterlings. Tibeter erzählen“ (2009). (Unionsverlag) 2018 erschien ihr erster Roman „Die Wüstengängerin“ (Verlag edition8).

Alice Grünfelder „Postkarten aus Taiwan“ I

Alice Grünfelder „Postkarten aus Taiwan“ II

Alice Grünfelder «Postkarten aus Taiwan» III

Alice Grünfelder «Postkarten aus Taiwan IV

Alice Grünfelder „Postkarten aus Taiwan“ IV

Alice Grünfelder ist in Taiwan auf Spurensuche und schickt ihr Gewölk aus Gedanken, Beschreibungen, Zitaten in Miniaturen verdichtet per Postkarte ans literaturblatt.ch – jeden Monat eine. Aber weil die Taiwanesische Post wegen der Pandemie keine Post nach Europa ausliefert, geschieht das für einmal ohne Stempel.

LINIEN ziehen durch meine Gedanken, Linien auch beim Blick aus dem Fenster, Gitterlinien zwar, nicht einmal zwanghaft strukturierend oder einengend, eher ein Zurückgeworfensein auf sich selbst, damit die Gedanken nicht davonflattern.

ALS (Flug-)Linien gekappt wurden, ging ich eines Morgens hinunter zum Fluss und zog mit meinen Armen Linien durch die Luft, ließ die letzte Brokatübung ausklingen, als von weither Schlagermusik nahte. Eine Frau mit Sonnenbrille trotz bewölktem Himmel, gelber Nylonjacke, geblümtem Rock hängte eine Plastiktüte an den Baum, darin schepperte die Musik weiter. Sie bückte sich, zog ihre Jacke aus, schwang ihre Arme und klatschte in die Hände, nestelte an der Tüte herum, doch ich hoffte vergebens, dass sie die Musik abstellen würde. Mit hoch erhobenem Kopf zog ich – wie lächerlich! – davon.

UND meinte doch kurz zuvor, im glücklichen Nichts-mehr-Wollen angekommen zu sein.

Blick aus dem Fenster © Alice Grünfelder

Alice Grünfelder, lebt in Zürich, studierte nach einer Buchhändlerlehre Sinologie und Germanistik in Berlin und China. 1997–99 Lektorin beim Unionsverlag in Zürich, für den sie 2004–2010 die Türkische Bibliothek betreute. Von 2001–2010 eigene Literaturagentur für Literaturen aus Asien. Unterrichtet Jugendliche und ist als freie Lektorin tätig. Sie leitet diverse Workshops rund ums Thema Schreiben und seit fünf Jahren den Kinderschreibworkshop „Wortschatz“ im Aargauer Literaturhaus in Lenzburg. Als Herausgeberin und Übersetzerin aus dem Chinesischen und Englischen publizierte sie Bücher über Asien, zuletzt „Sri Lanka. Geschichten und Berichte“ (2014) und „Flügelschlag des Schmetterlings. Tibeter erzählen“ (2009). (Unionsverlag) 2018 erschien ihr erster Roman „Die Wüstengängerin“ (Verlag edition8).

Alice Grünfelder „Postkarten aus Taiwan“ I

Alice Grünfelder „Postkarten aus Taiwan“ II

Alice Grünfelder «Postkarten aus Taiwan» III

Alice Grünfelder «Der Unwetterer – Biji* über den Maler Adolf Stäbli»

Wolken, Unwetter, dunkle Welten – Drohungen oder Visionen? Die Wege sind verschattet. Umrisse scharf in dieser Millisekunde, bevor das Gewitter sich entlädt. An den Bildern des Unwettermalers Adolf Stäbli riss sich jedenfalls mein Auge auf, als ich sie das erste Mal sah.

Ihretwegen fahre ich Monate später wieder zurück, dieses Mal ist Brugg durch das Stadtfest wie verwandelt, ich finde mich nicht mehr zurecht vor lauter Schildern, die hinführen zur Kletterwand, Swingroom, zu Barbecue, thailändischen Nudeln und tibetischen Momos … Zwar sehe ich schon die Gemäuer der Altstadt, finde jedoch keinen Zugang. Eine Frau nimmt mich mit, wir gehen hinter einem Kinderkarussell unter einem steinernen Bogen hindurch. Die Gassen winden und krümmen sich, dass ich bald die Orientierung verliere, und nein, ins Legionärsmuseum Vindonissa möchte ich nicht, sondern eben ins Stadtmuseum, das aber kennt sie nicht. Ob Brugg überhaupt ein solches hätte? Sie wohne auf der anderen Seite der Aare, woher ich denn käme? Ein paar Schilder und Häuserecken weiter stehen wir vor dem Museum.
Wegen Adolf Stäbli sei ich hier, sage ich.
Sie wohne am Stäbli-Platz, welch ein Zufall, aber nein, das Museum, der Maler interessieren sie nicht, antwortet sie, als ich sie frage, ob sie nicht mit hineinkommen möchte.

Still ist es im Stäbli-Saal. An blauen Wänden hängen 33 Bilder. Wie zufällig trete ich vor die drei Porträts: der junge Adolf Stäbli mit rötlichem Haar, das Gesicht frei; später im Alter sind die Wangen gefleckt, der Bart schimmert rötlich. Der Blick des Mannes auf dem dritten Gemälde aus dem Jahr 1893 ist einer, der vom Leben nicht mehr allzu viel erwartet, die Augen haben schon zu viel gesehen.
Und mit diesen Augen im Kopf gehe ich an den Bildern entlang und versuche zu sehen, was Adolf Stäbli gesehen hat, versuche zu verstehen, warum das Unwetter ihn anzog, die düsteren, flachen Landschaften, über denen sich Wolken aufbäumen und am Bildrand entladen, die Welt auf jedem Bild unterzugehen droht.

Neben den Porträts hängt ein „Kruzifix am Weg“. Efeu rankt daran empor, der helle Himmel darüber, so scheint mir, wurde mit einem Spachtel glattgestrichen, nur oben am rechten Bildrand düstert es noch dunkler. Dagegen können auch die weißen Punkte – sind es Margeriten? – und die blauen – Enziane? – nicht ankommen, sie verschwinden fast in dem dunklen Gras.
Weite Steppe und davor eine Birke, die seit Jahren vergebens dem Wind trotzt, nun gebeugt von diesem Kampf; der Blick geht hinaus in ein weites Land, folgt dem Weg durch die Felder, die sich bis zu einem See erstrecken – oder ist’s ein Meer? Und dahinter, darüber wieder diese Wolken, die sich stauen, jagen oder als wachten sie darüber, dass unter ihnen alles so weit und flach bleiben möge, wo sie selbst oben schon den nächsten Windstoß erwarten. Kein Mensch, nirgends, auch kein Tier, nicht einmal Vögel, die doch sonst den Himmel bevölkern und zirpen und kreiseln, wenn ein Unwetter aufzieht. Das Bild „Weites Land“ erzählt nicht viel von dem, was fehlt.
Auf einem der nächsten Bilder grellt der Schnee in den Bergflanken, so dunkel ist der Grat, der Wald, und unten fettes, grünes Land, Wald und Blumen und Gräser, vom Wind aufgefächelt. So als bräuchte auch das Unwetter in Stäblis Welt einmal eine Pause, vielleicht hat er sie in der „Gebirgslandschaft bei Patenkirchen“ gefunden?

Immer wieder öffnet sich Tür, quietscht in ihren Angeln, ein Kommen und Gehen von Stadtfestgängern, niemand verweilt länger als fünf Minuten, es quirrt der ganze Raum, wenn oben die Menschen zwischen den Vitrinen umhergehen, fast unheimlich ist dann der Blick in den Saal, der nun leer ist, wo unter der Woche und an Samstagen gern geheiratet wird. Leise und beständig surrt nur die Klimaanlage. Ich schaue hinaus zu den Geranien, wie sie prall vor den Fenstern hängen, zu den Fensterläden, die schräg gestellt sind, um die Hitze auszusperren, und ich stehe wieder vor den Bildern und suche nach etwas, das ich nicht finde.
Eine Zeichnung sieht aus wie der flüchtige Versuch, den Wald, die Büsche, das Gewaltvolle zu fassen. Mich erinnert sie an die Baumtempel des Angkor Wat, wo Tempelruinen, Wurzeln, Steinblöcke in einer Weise ineinander übergehen, dass einem das Auge überfließt und der Verstand erst recht. Man bewegt sich dort wie in einem Fluidum, und wären der Saal und das Stöhnen des ganzen Hauses unter den Schritten der Menschen nicht, könnte es hier in der Welt des Adolf Stäbli ähnlich sein.
In der „Flachlandschaft“ steht eine Rinderherde am Himmel, wirft sich übereinander, drängt sich wie auf einem Schlachtfeld.

Vorwärtsdrängende
Rinderherde am Himmel
den Süden im Aug

Und immer wieder weites flaches Land, über das der Wind hinwegfegt und das Gebüsch, auch Häuser sich ducken, Felsen gar. Ich habe das Lied von Jacques Brel im Ohr: „Le plat pays“, suche dort nach den Worten, die mir hier fehlen. Auch bei ihm kämpft das flache Land gegen Wasser und Wind, der Mensch schüttet Dämme auf und kann doch nichts ausrichten. Und die Weite wird zur Wüste, wo der Teufel seine Krallen nach den Wolken streckt, während er sich im geborstenen Gemäuer versteckt.

„Überschwemmung“ heißt ein Gemälde, Baumstämme umwirbelt vom panzergrünen Strom, die Welt kämpft hier gegen den Untergang, ragt entkräftet empor, Weiden, Grasinseln, wie lange noch? Regenfäden am Horizont, die Welt regnet sich ein, hell ist’s über der Baumgruppe, vielleicht doch ein Streifen Zuversicht inmitten der Trostlosigkeit?
Sandkuhlen, Heidekraut und Felsen in der „Regenlandschaft im Harz“. Würde die Sonne scheinen, ein angenehmer Ort, der einen weiten Blick erlaubt, so aber unter wüstgrauen Wolken? Die Platane beugt sich im Wind, der von Osten weht – wenn der rechte Bildrand denn Osten ist? Wie verhält es sich überhaupt mit Windrichtungen auf Gemälden? Wo zieht das Gewitter auf? Woher kommen die Wolken, wohin ziehen sie?
Viel Unruhe ist in den Gemälden, aber sie sind auch still, totenstill, trotz der Lichtstreifen, auch sie fast auf jedem Bild, hängt der Himmel durch, die Natur ist verloren, der Mensch ohnehin?
Ich denke an chinesische Landschaftsmalereien, wo alles in sich zu ruhen scheint, jedes Element an seinem Platz und somit Harmonie gewährt ist. Das Wetter bei Stäbli hat nichts Erhabenes, er verschmäht alles Liebliche, Ordnungen werden bedroht durch Wolkenexzesse, ein Aufruhr, ein innerer oder auch ein Weltenaufruhr, ein Wüten gegen die Welt – als wollte er sich durch das Malen von der Weltendüsternis befreien. Gleichzeitig spricht eine unsägliche Traurigkeit aus den Bildern, Trauer über eine untergehende Welt? Ist Stäbli also nicht nur ein Wettermaler, sondern auch Prophet, spürt er, welche Unwetter über Europa aufziehen? Und zerbricht darüber.
Der Mensch hat in solchen Welten jedenfalls nichts zu gewinnen. Ein Wettersturz enthebt den Menschen all seiner Funktion und seiner Überlegenheit. Es ist die durchkomponierte und variierte Aussichtlosigkeit, die mich Schritt um Schritt überwältigt, herumwirbelt in diesem aufkochenden Gewölk. Vielleicht ist es doch an der Zeit, wie Kant einst im „Streit der Fakultäten“ schrieb, dass die Menschen von der Bühne treten müssen? Was, wenn die Natur von der Menschheit verlange, ihren exklusiven Platz aufzugeben und an andere Lebewesen abzutreten?

Biji = Pinselnotiz, chinesische literarische Gattung, essayistische Miniaturen, verdichten Erlebnisse, Beobachtungen, Reflexionen assoziativ.

Alice Grünfelder «Die Wüstengängerin», Edition 8: Die Sinologiestudentin Roxana reist Anfang der 1990er Jahre die Seidenstrasse entlang, um noch unbekannte buddhistische Höhlenmalereien in der Provinz Xinjiang im Nordwesten Chinas zu erforschen. Sie will zeigen, dass die Region nicht immer islamisch war, sondern buddhistische Wurzeln hat. Roxanas jahrelange Recherchen führen nicht zum erhofften Erfolg, doch mit leeren Händen will sie nicht nach Europa zurück, zumal es nichts gibt, wofür es sich lohnen würde heimzukehren. Ihr Aufbruch in die Fremde verliert sich im Sand der Wüste Taklamakan, der ›Wüste ohne Rückkehr‹.

20 Jahre später reist die schwerkranke Linda für ihr letztes Entwicklungsprojekt nach Xinjiang. Doch die Behörden verweigern die zugesicherte Zusammenarbeit. Im Gästehaus zur Untätigkeit verdammt, stösst Linda auf die Aufzeichnungen, welche die verschollene Roxana zurückgelassen hat, und sie folgt deren Spuren.

Vor dem Hintergrund des Widerstands der UigurInnen gegen die chinesische Regierung in Xinjiang, der spätestens seit 2009 auch im deutschsprachigen Raum Schlagzeilen macht, verstrickt sich das Schicksal der zwei eigenwilligen Frauen. Erstmals wird aus europäischer Perspektive von der Geschichte und Gegenwart einer wenig beachteten Region erzählt. Feinfühlig und kenntnisreich zeichnet die Autorin ein Panorama der Schicksale von Menschen, die in China an den Rand gedrängt werden.

Ziviler Ungehorsam für den Frieden.
Ein Essay von Alice Grünfelder.

Alice Grünfelder, geboren im Schwarzwald, aufgewachsen in Mutlangen, studierte nach einer Lehre als Buchhändlerin Sinologie und Germanistik in Berlin und Chengdu (China). Sie arbeitete jahrelang als Lektorin, betreute u.a. die Türkische Bibliothek im Unionsverlag, führte eine eigene Agentur für Literaturen aus Asien, übersetzte aus dem Chinesischen und gab mehrere Erzählbände heraus. 2018 ist ihr erster Roman «Die Wüstengängerin» erschienen, der in Xinjiang spielt. Nominiert für den Irseer-Pegasus-Literaturpreis 2019. Werkjahr der Stadt Zürich 2019.

Webseite der Autorin

Alice Grünfelder «Postkarten aus Taiwan» III

Alice Grünfelder ist in Taiwan auf Spurensuche und schickt ihr Gewölk aus Gedanken, Beschreibungen, Zitaten in Miniaturen verdichtet per Postkarte ans literaturblatt.ch – jeden Monat eine.

Collage von A. Grünfelder

Glück ist…

… wenn die sichelförmigen Holzplättchen im Tempel richtig fallen
und eine Frage mit Ja oder Nein beantwortet wird.

… wenn zum Ausfüllen eines Formulars die Behörde drei Lesebrillen
mit drei verschiedenen Dioptrien zur Verfügung stellt.

…. wenn einer sein Schwein mit einem Glücksbringer am Halsband
im Park spazieren führt.

… wenn die Erde einmal nicht bebt.

Alice Grünfelder, lebt in Zürich, studierte nach einer Buchhändlerlehre Sinologie und Germanistik in Berlin und China. 1997–99 Lektorin beim Unionsverlag in Zürich, für den sie 2004–2010 die Türkische Bibliothek betreute. Von 2001–2010 eigene Literaturagentur für Literaturen aus Asien. Unterrichtet Jugendliche und ist als freie Lektorin tätig. Sie leitet diverse Workshops rund ums Thema Schreiben und seit fünf Jahren den Kinderschreibworkshop „Wortschatz“ im Aargauer Literaturhaus in Lenzburg. Als Herausgeberin und Übersetzerin aus dem Chinesischen und Englischen publizierte sie Bücher über Asien, zuletzt „Sri Lanka. Geschichten und Berichte“ (2014) und „Flügelschlag des Schmetterlings. Tibeter erzählen“ (2009). (Unionsverlag) 2018 erschien ihr erster Roman „Die Wüstengängerin“ (Verlag edition8).

Alice Grünfelder «Postkarten aus Taiwan» I

Alice Grünfelder «Postkarten aus Taiwan» II