Sprengsätze
Gasttext von Alice Grünfelder, Schriftstellerin, Herausgeberin, Übersetzerin und Literaturvermittlerinvon Alice Grünfelder
Da fährt eine im Hochsommer in den Wald, der ihr aus der Kindheit vertraut ist, so heisst es. In dem sie vielleicht an der Hand ihrer Mutter, ihrer Grossmutter, wem auch immer, Beeren gesammelt hat? Wie hat man sich diese Kindheit vorzustellen, die wie «ein Kästchen ist, das explodiert, würde man es öffnen», so Friederike Kretzen, eine der beiden Herausgeberinnen des Bandes „Fern von hier“ von Adelheit Duvanel? Die Schriftstellerin fährt also in den Wald, sitzt, liegt unter einem dichten Dach aus Nadeln, Blättern – Fichten? Birken? –, vielleicht auch auf einer Lichtung, nimmt Medikamente, spürt deshalb nicht, wie es ihr mitten in diesem Julisommer kalt und kälter wird, wie das Leben aus ihr entweicht, «stirbt an Unterkühlung»: letzter Eintrag unter dem Stichwort Lebensdaten im Anhang des Erzählbands «Fern von hier» .
So unfassbar und auch unvorstellbar dieser Suizid ist, wird man dem Werk Adelheid Duvanels nicht gerecht, wenn es vom Ende her gedeutet wird, würde es damit gar pathologisieren. Manche finden ihre Texte zu schwer, andere zu dunkel, übersehen dabei womöglich das Flatterhafte der Figuren, die knapp über dem sogenannten festen Boden unter den Füssen schweben. Sich nicht verorten und auch nicht «bodigen» lassen wollen. Irritierende Figuren, die irisieren, auch wenn Duvanel ihnen konkrete Namen gibt: Allerweltsnamen wie Anton, Johannes, Manfred, Katja, Regine. Sie schickt sie zu Psychiatern und wirft die Träume vor deren Füsse, weil diese ja auch von irgendetwas leben müssen.
Darin zeigt sich Duvanels Lust an widerständigem Schreiben, an leiser Provokation, an Verdichtung des schier Unausdenkbarem auf kleinstmöglichem Raum, die Lust auch, alles, was zwischen Licht und Schatten in solch einer Existenz möglich ist, aufzuspüren. Und es zeigt sich vor allem in den Anfängen ihrer Texte, die – aneinandergereiht – eine ganz eigene Geschichte erzählen könnten:
Fern liegt wie ein milchblauer Leib die Landschaft hinter einem rostroten Gitter, wie es kahle Bäume bilden.
Ich heiße Mirjam, bin dreizehn Jahre alte und lebe im Erziehungsheim „Zuversicht“.
Der Wind reißt mit Krallen an den Telefondrähten; zu der Melodie könnte man singen.
Hubert Vollundganz ist der kleine Mann mit dem schwarzen Hut, der dort um die Ecke biegt.
Die stille Frau trägt immer einen Sack aus rotem Stoff über ihrer Schulter.
Der Himmel fällt in Fetzen herunter.
Kurt küsste vor einigen Wochen seine Halbschwester zum ersten Mal auf beide Wangen.
Jakob nennt die Suppe, die er sich täglich kocht, «Eigenbrötlersuppe».
Der Wind packt die Bäume im Genick und schüttelt sie.
Gleichwohl verweigern die Erzählungen leichtfertige Deutungen, nach solchen Anfängen ist noch immer alles möglich, bis sich die Wirklichkeitsebenen verschieben, zuerst sachte, gegen Ende oft so, dass sich die Figuren, aber auch Leserinnen und Leser nicht mehr wirklich zurecht finden. Dabei nimmt sie mit jeder neuen Geschichte neuen Anlauf, richtet sich und ihre Figuren nicht etwa ein in der Melancholie, der Ausweglosigkeit, geht indes auch kein Bündnis ein mit niemandem, warum auch. Sie wirft irre Lichter auf diese Ordnung, widerspenstig und leise streifen ihre Figuren das Netz mit hilflosen Gesten ab, wollen sich nicht darin verheddern, einfangen, einsperren lassen. Überdeutlich zeichnen sich diese Zusammenhänge ab, doch heftig ist der Überlebenswille, das tönt und klirrt in den Geschichten, und oft leuchten sie rot auf, zündrot zum Beispiel.
Den Figuren kommt man indes nicht wirklich nah, da ist auch immer eine Distanz, aus der heraus eine leise Verwunderung leuchtet. Der Blick nach aussen erfolgt oftmals durch eine Brille, ein Fenster. Dann aber – wenn man den Figuren durch Strassen folgt, wenn ihre Blicke durch Fenster in Gemütlichkeiten fallen: das Gefühl des Ausgesperrtseins.
Hilfe wiederum (Adelheid Duvanel kennt sich mit Psychiatrien aus, sie selbst war oft genug in Behandlung und in psychiatrischen Kliniken) bringt keinerlei Klärung. Duvanel reisst den vermeintlich gutmeinenden Helfern die Fratzen ab wie Masken, sieht in ihnen Stellvertreter einer Ordnung, gegen die nicht nur ihre Figuren angehen, sondern sie als Autorin anschreibt. Entlang dieser Ordnung als autoritärem Prinzip entwickelt Adelheid Duvanel ihre Gegenerzählung.
Adelheid Duvanel, von der nun 251 Geschichten vorliegen – manche nur eine Seite lang, andere drei -, sei ein Geheimtipp, habe zu Lebzeiten nicht die Achtung erfahren, die ihr zugestanden hätte, wird in Feuilletons einhellig beklagt. Doch ihre Geschichten sind seit 1980 regelmässig in Zeitungen erschienen, Klaus Siblewski hat dafür gesorgt, dass sie gleich mehrere Bände beim Luchterhand-Verlag unterbringen konnte, es gab Auswahlbände. Wen ich auch frage, alle (zumindest in der Schweiz) kennen ihren Namen. Ignoriert und unbekannt sieht anders aus.
Es bleibt also abzuwarten, wie Samuel Moser es in einem Gespräch auf den Solothurner Literaturtagen sagte, ob sich nächstes Jahr noch jemand an diesen «Geheimtipp» erinnert, wie die Rezeption von Adelheit Duvanels weitergeht, ob es nur ein kurzes Strohfeuer ist. Oder, so Friederike Kretzen im Gespräch mit Stefan Howald: «Die Zeiten sind härter geworden, jetzt kann man auch Duvanel wieder lesen.»
Adelheid Duvanel: Fern von hier. Sämtliche Erzählungen. Herausgegeben von Elsbeth Dangel-Pelloquin unter Mitwirkung von Friederike Kretzen. Limmat Verlag, 2021
Die Galerie Litar zeigt von 29.10.-11.12.2021 die Ausstellung «Adelheid Duvanels Himmel»
Adelheid Duvanel, geboren 1936 in Pratteln und aufgewachsen in Liestal, machte eine Lehre als Textilzeichnerin. Sie arbeitete auf verschiedenen Bürostellen sowie als Journalistin und Schriftstellerin. Von 1962–1981 war sie mit dem Kunstmaler Joseph Duvanel verheiratet, mit dem sie eine Tochter hatte. Bis auf ein Jahr auf Formentera lebte sie in Basel, wo sie 1996 starb. Ihre schriftstellerische Laufbahn begann sie unter dem Pseudonym Judith Januar in den Basler Nachrichten, in Anthologien und literarischen Zeitschriften. Ab 1980 erschienen ihre Erzählbände im Luchterhand Verlag. Duvanel wurde vielfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem Grossen Schillerpreis und dem Kranichsteiner Literaturpreis
«Unabweisbar bleibt die Frage, warum die deutschsprachige Literaturkritik nicht zu Lebzeiten Adelheid Dvanels die Einzigartigkeit dieser Schweizer Erzählerin bemerkt hat.» Peter Hamm
Alice Grünfelder ist geboren im Schwarzwald, aufgewachsen in Schwäbisch Gmünd, studierte nach einer Buchhändlerlehre Sinologie und Germanistik in Berlin und Chengdu (China), war 1997–99 Lektorin beim Unionsverlag in Zürich, für den sie 2004–2010 die Türkische Bibliothek betreute. Vermittelte und übersetzte Literaturen aus Asien. Seit 2010 unterrichtet sie Jugendliche und ist als freie Lektorin tätig. Februar bis Juli 2020 war sie für ein Sabbatical in Taibei (Taiwan). Sie ist Herausgeberin mehrerer Asien-Publikationen, zuletzt Vietnam fürs Handgepäck (2012) und Flügelschlag des Schmetterlings (2009). Sie veröffentlichte eigene Gedichte, Essays und Erzählungen. Ihr Roman Wüstengängerin erschien 2018, der Essay Wird unser MUT langen 2019. Nominiert für den Irseer-Pegasus-Literaturpreis 2019, Werkjahr der Stadt Zürich 2019.